Zaunkönig

1852.


Zaunkönig, kleinstes Vögelein,
Wie fliegst du einsam und allein?
Was baust du vor dem Maienwest
Dein traurig kaltes Winternest,
In stillster Eck', im kahlen Strauch
Ganz wider jeden Vogelbrauch?
Das Vöglein spricht: »Leicht wird gefragt,
Doch Antwort oft mit Not gesagt;
Denn altes Leid und altes Glück
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Schaut hinter sich nicht gern zurück.
Wohl tausend Jahr' und noch viel mehr
Ist Antwort und Geschichte her –
Viel tausend Jahre – Wonnezeit!
Da trug Zaunkönig Königskleid,
Goldkronen goldner tausendmal,
Als feinstes Gold im Sonnenstrahl;
Im Fluge und Gesang voran
War er der Vögel Vordermann,
So klein, so golden doch und groß
Saß er dem Glück und Ruhm im Schoß.
Doch zu viel Glück tut selten gut
Und schwellt den grünen Übermut.
So ging es auch dem Vögelein:
Es wollte was Besondres sein;
Ein Ausderspur und ein Fürsich
Hielt's einen gar selbsteignen Strich
Und macht' in stolzer Phantasei
Von Gott und von Natur sich frei,
Wollt' gar im Winter Nester baun.
Als das die andern Vögel schaun,
Beginnt Verwundern, Schrein und Graun
Ob solchem unerhörten Stolz,
Und wie die Glut aus dürrem Holz
Schlägt aus dem Graun der Zorn herauf.
Drob rufet alles Volk zuhauf
Der Federträger ein Prophet
Und Seher, stark vom Geist durchweht –
Der Rabe führt und nimmt das Wort.
Er schreit: ›Fort mit dem Frevler! Fort!‹
Er ruft dreimal: ›Schafft ab! Schafft ab!
Was lockt des Himmels Fluch herab!
Fort mit dem kleinen Übermut,
Der sich Gott gleich gebärden tut,
Als hätt' er's Wetter in der Hand!
Er werd' aus unserm Volk verbannt,
Der eitle Geck, der Schneephantast,
Der seines Volkes Sitten haßt –
Man haue Acht und Aberacht
Dem, der vorm Lenz den Frühling macht!‹
So ward's. Ich armes Vögelein
Muß drum noch heute einsam sein,
[285]
Im kalten Winter, wo andre ruhn,
Als hätt' ich vollen Frühling, tun,
Tragen Moos und Gras fürs öde Nest,
Wo mich der Nord mit Schnee umbläst;
Einsam allein bis diesen Tag
Verbüß' ich, was der Ahn verbrach.«
Was meinet diese Kindermär?
Sie schlägt und bohrt mit scharfem Speer
Und spricht: »Mach' dir nicht selbst was weis,
Halt hübsch das eingefahrne Gleis,
Hänge jeden überschwenglichen Traum
An den ersten besten Galgenbaum:
Denn stets jagt Acht und Aberacht
Den, der vorm Lenz den Frühling macht.«

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2011). Arndt, Ernst Moritz. Gedichte. Gedichte. Zaunkönig. Zaunkönig. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-0526-9