Zweite Nachschrift an den Leser

Manche Bücher scheinen wie der Magnet einer größeren periodischen Einwirkung unterworfen zu seyn, die mit den gewöhnlichen Jahreszeiten der Büchermesse und den Monatszeichen der Recensionen in keiner Verbindung steht. So ließe sich wenigstens jezt die wiederholte Nachfrage nach dem Wunderhorn erklären, ungeachtet der erste Band schon seit längerer Zeit vergriffen war und überall vergessen schien. Die Herren Verleger wünschten einen neuen Abdruck, und ich mußte zum Entschlusse kommen, diesen entweder unverändert zu veranstalten, oder die vielfachen Nachträge und Verbesserungen, die theils von uns selbst aufgefunden, theils uns übersandt oder in Zeitschriften und Büchern der Welt mitgetheilt sind, an rechter Stelle einzuschalten. Die Stimme vieler Leser, die das Wunderhorn in seiner alten Gestalt lieb gewonnen hatten, dann auch die Rücksicht auf mehrere größere Sammlungen geehrter Freunde, die mit frischer Liebe in andern Gegenden sogenannte Volkslieder aufgesucht haben und sie bald bekannt zu machen denken, durch welche denn unser Wunderhorn ohnehin ergänzt wurde, bestimmten mich den Plan einer, alles Bedeutende umfassenden Auswahl bis auf spätere Jahre auszusetzen, wenn endlich der Fleiß bis in den [370] verstecktesten Winkeln, wo sich immer noch das meiste erhält, seine Aehrenlese beendet hat. So ward ich schnell für den unveränderten Abdruck der Lieder bestimmt, blieb aber um so zweifelhafter, ob das Sendschreiben am Schlusse des ersten Bandes vom Wunderhorn noch einmal der Welt vorgelegt werden sollte. Ich überdachte es noch einmal aufmerksam und verwunderte mich über manchen [370] wichtigen Blick in eine Zukunft, die wir jezt schon Vergangenheit nennen. Wäre mir jezt ein gleicher Blick gegönnt, ich möchte dieses neue Bild der Zukunft an die Stelle jenes alten setzen. Doch jezt verschwebt mir das Zukünftige in ungewissen Nebelmassen, aus denen kaum einzelne Thurmspitzen hervorragen, und die Gegenwart übt ihr näheres Recht und drängt sich zwischen die Betrachtung. Woher dieser Unterschied? – Erfahrne Feldmesser wissen recht gut, daß ihnen in den zweifelhaften Tagen, kurz vor dem Eintritte des schlimmen Wetters, der deutlichste Blick in die Ferne gestattet ist, sie arbeiten dann um so rastloser, das unsichtbare Netz zu schließen, mit welchem sie die Erde umspannt und sie den Sternen verbunden haben. So war auch mir in der beschaulichen, wenn gleich zweifelhaften Zeit, welche im nördlichen Deutschlande der allgemeinen Zerstörung vorausging, die Aussicht in die Ferne eröffnet, Schrecknisse und Hoffnungen der Zukunft mit Deutlichkeit voraus zu sehen. Dies er klärt manches ernste warnende Wort jenes Anhangs, der damals einigen Freunden nur ein Zeichen übler Laune schien. Zehen Jahre der Verwirrung haben Zeugniß für die ruhige Besonnenheit abgelegt, mit der ich meine Ansicht vom Zufälligen frey zu erhalten wußte. Diese Ansicht ist seitdem von vielen ergriffen und zu längeren Werken ausgearbeitet worden, manches hat sich durch strenge Lehrjahre gebessert, und erscheint auch der Uebergang hin und wieder wie bey den Leibesübungen, die ich (S. 442.) vermißte, bey der Religion, auf die ich hoffte (S. 459.) etwas fratzenhaft unter den Zeitgenossen, die Bewegung ist doch vorhanden und läßt das Lebende nicht mehr untersinken. Was ich dem Wehrstand (S. 449.) vorwarf, hat sich im Großen und Ganzen gebessert, auch die Zünfte (S. 442.) scheinen wieder zu Ehren zu kommen, es wird im Studentenleben ein höherer Sinn erkannt, das leichtsinnige Gesetzgeben (S. 438.) scheint endlich zu stocken, die Nothwendigkeit allgemeiner Berathung und Mitwirkung soll durch Verfassungen begründet werden. Alles, was einmal ernst und tief in die allgemeine Geistesbildung eingriff, wird immerdar einen belehrenden [371] Anklang bewahren, und so sey denn dieser Anhang als ein ausgewachsenes Kleid der herangewachsenen Welt, der es einst zu weit war, als Erinnerung beygefügt. Ziehet hin in alter Ordnung ihr Sternbilder und ihr Wolkenzüge, ihr Schatten und ihr Lichtblicke, ihr gehört nun einmal zusammen, geliebte Worte in abgesungenen Weisen; scheint der neuen Welt wieder einmal neu, spiegelt ihr nebenher einen nun fast zerstreuten Kreis verbundner Gesinnung, manche mühsame Stunde, Frost auf Bibliotheken, Hitze beym Schreiben, manchen lohnenden Abend auf den besonnten Straßen am Neckar, wenn die Wachteln aus den reifen Getraidefeldern uns riefen. Mein Gefühl für diese Lieder und für jene Sammlerzeit kann ich nicht besser schildern, als mit den Worten eines Lieben Unbekannten:


Als Knabe stieg ich in die Hallen
Verlassner Burgen oft hinan,
Durch alte Städte thät ich wallen
Und saß die hohen Münster an.
Da war es, daß mit stillem Mahnen
Der Geist der Vorwelt bei mir stand,
Da ließ er frühe schon mich ahnen,
Was später ich in Büchern fand.
Daß Jungfraun dort von ew'gem Preise,
Die heilgen Lieder einst gewohnt,
Und in der Edelfrauen Kreise
Beim Feste des Gesangs gethront.
Da kam der Krieger wild Geschlechte
Und warf den Brand ins frohe Haus,
Die Schwestern flohn im Graun der Nächte
Nach allen Seiten bebend aus.
[372]
Wie manche schmachtet hart gefangen
In eines Kerkers dunklem Grund?
Zu keinem milden Ohr gelangen
Die Kläng aus ihrem zarten Mund.
Ach, manche, die auf öden Wegen
Umhergeirret, krank und müd,
Sie ist dem schweren Gram erlegen
Und sang noch einmal, eh sie schied.
In eines armen Mädchens Kammer
Ist einer Andern Aufenthalt,
Sie mischt sich in der Freundin Jammer,
Wenn still der Mond am Himmel wallt;
Auch manche wagt der Märtirinnen
Sich in des Marktes frech Gewühl,
Sie will der Menschen Herz gewinnen
Und singet sanft zum Saitenspiel.
Getrost! schon sinken eure Bande,
Und Boten ziehn nach Ost und West,
In eine Stadt am Neckarstrande
Zu laden euch zum neuen Fest:
Ihr Heitern, kommt zu Tanzes Feier,
Laßt wehn das rosige Gewand,
Ihr Ernsten, singt im Nonnenschleier
Die weiße Lilie in der Hand.

Ausser dieser vom Dichter so schön ausgesprochenen Absicht bey der Sammlung des Wunderhorns, wurde uns nicht selten die Absicht von Günstigen und Ungünstigen untergelegt, als ob wir eine Art poetischer Revoluzion gegen die geehrten Liederdichter der Zeit[373] hätten machen wollen. Wie wenig dies unsre Absicht gewesen, mag außer der Aufnahme von mehreren ganz neuen Liedern, die eine Berührung mit den früheren Volksliedern hatten, oder volksmäßig geworden waren, beweisen, ja wir hätten deren gern mehr, von jedem Dichter gern das Gelungenste und Gesungenste aufgenommen, wenn es der Raum gestattet hätte. Eine andre Absicht, jene Eintönigkeit und Fremdartigkeit, die sich im Nachbilden fremder Sprachen über unsre Dichter verbreitete, durch diese würdigen Zeichen eigner mannigfaltiger Regung in unserm Volke zu durchbrechen, ist längst eingestanden, ja großentheils schon wirklich erreicht worden. Es möchte wenig spätere Liedersammlungen geben, die nicht Zeichen dieser Einwirkung trügen, die Dichter fingen wieder an von unten auf zu lernen und zu dienen, sie erkannten, daß die literarische Welt, mit ihrem Ernst und Scherz, nicht die einzige bewohnte und belebte auf Erden sey. Herzlichen Dank manchem neuen frischen Liedlein, herzlichen Dank allen neuen Melodien, mit denen das Wunderhorn von geschickten Händen ausgestattet wurde. Hier stehe Reichardts Name wie im Sendschreiben wieder oben an, verbunden mit dem Namen seiner Tochter Luise, dann Zelter, der ein Paar kräftige Trinklieder mehrstimmig für die Liedertafel gesetzt hat, dann Himmel wegen seiner Reihe meist burlesker Melodieen; auch die Heidelberger Melodieensammlung hat sich ein Verdienst erworben, wie so manche, die ohne Anspruch an Oeffentlichkeit, die Lieder in ihrem Kreise durch wohlgewählte Melodieen verbreitet haben. Für diese Anerkennung und Einwirkung auf die Menge war vor allem thätig, was der ehrwürdige Meister des deutschen Liedes in einer Recension (Jenaische Litteratur Zeitung Nr. 18. 1806. S. 137.f.) über den ersten Band des Wunderhorns sagte. Es sey mir erlaubt, einige Stellen dieser Beurtheilung hier noch einmal für die Verständigung derer abzuschreiben, denen die Sache noch neu ist, oder denen sie wieder neu geworden, diese Stellen haben das Eigenthümliche mit allen Schriften ihres Verfassers gemeinschaftlich, daß sie sich nicht umschreiben lassen, es läßt sich [374] alles nicht anders sagen, als es da gesagt ist, sonst möchte ich des Anstandes wegen gern ein wenig Lob auslassen:

»Die Kritik dürfte sich vorerst nach unserem Dafürhalten mit dieser Sammlung nicht befassen. Die Herausgeber haben solche mit soviel Neigung, Fleiß, Geschmack, Zartheit zusammengebracht und behandelt, daß ihre Landsleute dieser liebevollen Mühe nun wohl erst mit gutem Willen, Theilnahme und Mitgenuß zu danken hätten. Von Rechtswegen sollte dieses Büchlein in jedem Hause, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unterm Spiegel oder wo sonst Gesang- und Kochbücher zu liegen pflegen zu finden seyn, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblick, der Stimmung, oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände, wenn man auch das Blatt ein Paarmal umschlagen müßte. Am besten läge aber doch dieser Band auf dem Clavier des Liebhabers oder Meisters der Tonkunst, um den darin enthaltenen Liedern entweder mit bekannten hergebrachten Melodieen ganz ihr Recht widerfahren zu lassen, oder, wenn Gott wollte, neue bedeutende Melodieen durch sie hervorzulocken. Würden dann diese Lieder nach und nach in ihrem eigenen Ton- und Klangelemente von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund getragen, kehrten sie allmälig belebt und verherrlicht zum Volke zurück, von dem sie zum Theil gewissermaßen ausgegangen: so könnte man sagen, das Büchlein habe seine Bestimmung erfüllt und könnte nun wieder, als geschrieben und gedruckt, verloren gehen, weil es in Leben und Bildung der Nation übergegangen. Weil nun aber in der neueren Zeit, besonders in Deutschland nichts zu existiren und zu wirken scheint, wenn nicht darüber geschrieben und geurtheilt und gestritten wird, so mag denn auch über diese Sammlung hier einige Betrachtung stehen, die, wenn sie den Genuß auch nicht erhöht und verbreitet, doch wenigstens ihm nicht entgegen wirken soll. Was man entschieden zu Lob und Ehren dieser Sammlung sagen kann, ist, daß die Theile derselben durchaus mannichfaltig characteristisch sind. Sie enthält über zwey hundert Gedichte aus den drey letzten Jahrhunderten, [375] sämmtlich dem Sinne, der Erfindung, dem Ton, der Art und Weise nach dergestalt von einander unterschieden, daß man keins dein andern vollkommen gleichstellen kann. Diese Art Gedichte, die wir seit Jahren Volkslieder zu nennen pflegen, ob sie gleich eigentlich weder vom Volk noch fürs Volk gedichtet sind, sondern weil sie so etwas Stämmiges, Tüchtiges in sich haben und begreifen, daß der Kern und stammhafte Theil der Nationen dergleichen Dinge faßt, behält, sich zueignet und mitunter fortpflanzt, dergleichen Gedichte sind so wahre Poesie, als sie irgend nur seyn kann, sie haben einen unglaublichen Reiz selbst für uns, die wir auf einer höhern Stufe der Bildung stehen, wie der Anblick und die Erinnerung der Jugend fürs Alter hat. Hier ist die Kunst mit der Natur im Conflickt und eben dieses Werden, dieses wechselseitige Wirken, dieses Streben scheint ein Ziel zu suchen und es hat sein Ziel schon erreicht. Das wahre dichterische Genie, wo es auftritt, ist in sich vollendet, mag ihm Unvollkommenheit der Sprache, der äußern Technick, und was sonst will entgegenstehen, es besitzt die höhere innere Form, der doch am Ende alles zu Gebote steht und wirkt selbst im dunklen und trüben Elemente oft herrlicher, als es später im klaren vermag. Das lebhafte poetische Anschauen eines beschränkten Zustandes erhebt ein Einzelnes zum zwar begrenzten, doch unumschränkten All, so daß wir im kleinen Raume die ganze Welt zu sehen glauben. Der Drang einer tiefen Anschauung fordert Lakonismus, was der Poesie ein unverzeihliches Hinderniß zuvörderst wäre, ist dem wahren poetischen Sinne Nothwendigkeit, Tugend und selbst das Ungehörige wenn es an unsere ganze Kraft mit Ernst anspricht, regt sie zu einer unglaublich genußreichen Thätigkeit auf. Haben wir gleich zu Anfang die Competenz der Kritik selbst im höhern Sinn, auf diese Arbeit gewissermaßen bezweifelt, so finden wir noch mehr Ursach, eine sondernde Untersuchung, in wie fern das alles, was uns hier gebracht ist, völlig ächt, oder mehr und weniger restaurirt sey, von diesen Blättern abzulehnen. Die Herausgeber sind im Sinne des Erfordernisses so sehr, als man es in späterer Zeit seyn kann, und das [376] hie und da Restaurirte, aus fremdartigen Theilen verbundene, ja das Untergeschobene, ist mit Dank anzunehmen. Wer weiß nicht, was ein Lied auszustehen hat, wenn es durch den Mund des Volkes und nicht etwa nur des ungebildeten, eine Weile durchgeht. Warum soll der, der es in letzter Instanz aufzeichnet, mit andern zusammengestellt, nicht auch ein gewisses Recht daran haben? Besitzen wir doch aus früherer Zeit kein poetisches und kein heiliges Buch als insofern es dem Auf- und Abschreiber solches zu überliefern gelang, oder beliebte. Wenn wir in diesem Sinne die vor uns liegende gedruckte Sammlung dankbar und läßlich behandeln, so legen wir den Herausgebern desto ernstlicher ans Herz, ihr poetisches Archiv rein, streng und ordentlich zu halten. Es ist nicht nütze, daß alles gedruckt werde; aber sie werden sich ein Verdienst um die Nation erwerben, wenn sie mitwirken, daß wir eine Geschichte unserer Poesie und poetischen Cultur, worauf es denn doch nun mehr nach und nach hinausgehen muß, gründlich, aufrichtig und geistreich erhalten.«

So billig diese Anforderung an uns erscheinen mag, bey einer Fortsetzung des Werks, das Geschichtliche mehr vor Augen zu haben, so wenig Beruf scheinen wir beyde Herausgeber dennoch dazu gehabt zu haben, daß wir nur ungern uns zu einigen Mittheilungen der Art in der Fortsetzung bequemten und selbst diese als ein Hinderniß des eigentlichen Bemühens ansahen. Die eigentliche Geschichte war mir damals unter der trübsinnigen Last, die auf Deutschland ruhte ein Gegenstand des Abscheus, ich suchte sie bey der Poesie zu vergessen, ich fand in ihr etwas, das sein Wesen nicht von der Jahrszahl borgte, sondern das frey durch alle Zeiten hindurchlebte. Diesem Wesen, das mich in neuen und alten Schriften gleich lebhaft anregte, suchte ich in seinen sichtbarsten Zeichen auch andern mitzutheilen, ich verschmähte es nicht, wo ich es in mir selbst zu entdecken glaubte, und so wurden auch die beyden folgenden Bände ein Aufnehmen des Fremden in uns. Es würde uns jezt fast unmöglich seyn durch Zeichen, wie einige gewünscht haben, anzudeuten, [377] wo die Restaurazion anfängt und das Alte aufhört. Diesen Zustand selbst bezeichnet Göthe sehr schön in der begeisterten Periode seines Lebens mit den Worten: (III. Th. S. 434) Ein Gefühl aber, das bey mir gewaltig überhand nahm und sich nicht wundersam genug äussern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins, eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie wirkt im Gedicht immer wohlthätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann seltsam, unerklärlich vielleicht unerfreulich scheinen mußte.

Aus dieser Bemerkung mag es sich erklären, daß mir statt aller litterarischen Notizen und geschichtlichen Betrachtungen über das Volkslied die ich hier gern einschaltete, in diesem Augenblicke nur mein damaliges mit alten Bildern beschlagenes Stehpult auf Brentano's Zimmer in Heidelberg vorschwebt, von welchem ich umher auf einen reichen Schatz gesammelter alter Bücher und Handschriften und in die Ferne auf die abgestuften Weinberge jenseits des Neckars blickte, es klingen ordentlich vor meinen Ohren statt der ächthistorischen von uns verbesserten Uebelklänge in den Liedern, so wichtig sie seyn mögen, die Takte und Tonschläge der großen Trommel, welche die lustigen und leisen Walzer in den Tanzsälen jenseits des Neckars regelte, ja ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, so ein Lied habe seine beste Geschichte in sich selbst und freue sich recht herzlich, wenn es ein andrer mit wahrer Zuneigung in seine Seele aufnimmt und nach seinem inneren Verlangen gestaltet. Was demnach an unsrer Sammlung auch vermisst werde, eine Gewißheit hege ich, daß wir den Unglimpf nicht verdient hatten, mit dem ein andrer berühmter Mann die Fortsetzung unserer Arbeit (Morgenblatt 1808 Nr. 283. November) begrüßte. Nach einer Reihe von Jahren, die inzwischen vergangen, ist es mir verwunderlich, wie etwas so völlig Nichtiges wie jener Tadel mich damals kränken konnte. Die anspruchlose Bemühung um die Ergänzung verstümmelter Lieder wird da Betrug und Verfälschung genannt! Mögen andere an unsre [378] Lieder die Liebe wenden, die wir an jene alten gewendet haben; statt um Entschuldigung bey den Lesern zu bitten, daß wir so manches in den Liedern änderten, bitte ich jezt um Nachsicht, daß nicht noch manches andere darin gerundet, gekürzt und ergänzt ist; habe ich doch von Musikfreunden beym Einsingen so manche lobenswerthe Aenderung der Worte aus dem Stegreife dazu erfinden hören, auf die wir früher auch wohl bey wiederholter Ansicht hätten fallen können. Sucht jeder sinnige Leser, wenn ihn eins dieser Lieder innerlich berührt, alles ihn Störende hinwegzuräumen, alles hinzuzufügen, was es in ihm bildete und anregte, so hat unser Bemühen sein höchstes Ziel erreicht, und wir verschwinden unter der Menge sorgfältiger und erfindsamer Mitherausgeber des Wunderhorns.


Berlin den 20. Sept. 1818.


Lud. Achim von Arnim. [379]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Arnim, Ludwig Achim von. Gedichte. Des Knaben Wunderhorn. Band 1. Von Volksliedern. Zweite Nachschrift an den Leser. Zweite Nachschrift an den Leser. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-0A6B-7