VII.
Ivo, der Hajrle.

[205][207]

1. Die Primiz

1.
Die Primiz.

An einem Samstag Nachmittage wurde auf der Hochbux emsig gezimmert und gehämmert. Der Zimmermeister Valentin schlug mit seinen beiden Söhnen ein Gerüste auf, das nichts weniger war, als ein Altar und eine Kanzel. Des Schneider Christle's Gregor sollte hier morgen seine Primiz 1 halten, so nennt man nämlich die Feier des ersten Meßopfers und die erste Predigt eines neugeweihten Geistlichen.

Ivo, der kleinste Sohn Valentins, ein blonder Knabe von sechs Jahren, half seinem Vater mit wichtiger Miene bei der Arbeit. Barhaupt und barfuß kletterte er behend wie ein Eichhorn auf dem Gebälke umher, bei jeder Hebung eines Balkens schrie er gleichfalls: Holz her! stemmte sich an und schnaufte, als ob er das meiste dazu vollbringe. Valentin gab dem kleinen Ivo auch sonst immer »etwas zu schaffen«; er mußte den Bindfaden auf die Spule wickeln, das [207] (Handwerks-) »Geschirr« zusammentragen, oder die Späne auf einen Haufen sammeln. Mit einem Ernst und mit emsigen Gebärden, als ob er das größte Werk vollführe, befolgte Ivo seinen Auftrag, und als er einmal als Beschwerungslast auf die Spitze eines schwanken Balkens sitzen mußte, zitterten ihm die Bewegungen der Säge so durch alle Glieder, daß er beständig laut auflachen mußte und fast herunterfiel; er hielt sich aber fest und bemühte sich, sein gewichtiges Amt still zu vollziehen.

Das Gerüste war endlich fertig. Der Sattler Ludwig war bereit, die Teppiche anzunageln. Ivo wollte ihm gleichfalls dabei helfen, aber der barsche Mann jagte ihn fort, und Ivo setzte sich still auf die zusammengelesenen Späne und schaute hinaus nach den jenseitigen Bergen, über denen die Sonne glühendroth unterging. Da hörte er den Pfiff seines Vaters, er sprang auf und eilte zu ihm.

»Vater,« sagte Ivo, »wenn ich nur einmal in Hochdorf wär'.«

»Warum?«

»Gucket, das ist ganz nah beim Himmel, und da möcht' ich einmal 'naufsteigen.«

»Du dummes Kind, das ist nur so, wie wenn dort der Himmel aufstehen thät; hinter Hochdorf ist noch weit bis Stuttgart, und von da ist es auch noch weit bis in den Himmel.«

[208] »Wie weit?«

»Man kann eben nicht hinkommen, bis man todt ist.«

Seinen kleinen Sohn an der rechten Hand führend und am linken Arm das Handwerkszeug tragend, ging Valentin durch das Dorf. Ueberall wurde gescheuert und gewaschen, die Stühle und Tische standen vor den Häusern; denn jedes erwartete zu der heiligen Handlung auf morgen einen Besuch aus einem nahen oder entfernten Dorfe.

Als Valentin an des Schneider Christle's Haus vorüber ging, langte er an seine Mütze, bereit, sie abzuziehen, wenn jemand heraussähe; aber es sah niemand heraus, das ganze Haus war so still wie ein Kloster. Einige Bauernweiber gingen mit Schüsseln unter den Schürzen in das Haus, andere kamen mit leeren Schüsseln unterm Arme heraus; sie begrüßten sich still; sie hatten die Hochzeitsgeschenke für den jungen Pfarrer in's Haus gebracht, der ja morgen öffentlich getraut wurde mit seiner heiligen Braut, der Kirche.

Die Abendglocke läutete, Valentin ließ die Hand seines Sohnes los, der schnell seine Händchen faltete; auch Valentin legte über dem schweren Handwerkszeuge die Hände übereinander und betete ein Ave. – –

Andern Morgens schaute ein heller Tag auf das[209] Dorf herab. Ivo wurde schon früh von seiner Mutter schön angekleidet mit einem neuen Janker von gestreiftem Manchester und, wie ihm schien, silbernen Knöpfen und frisch gewaschenen, kurzen ledernen Beinkleidern; er sollte das Kruzifix tragen. Gretle, die älteste Schwester Ivo's, nahm diesen bei der Hand und führte ihn auf die Gasse, damit es »Platz im Hause gebe«. Sie schärfte ihm ein, daß er ja nicht mehr zurückkehren solle; dann eilte sie geschäftig in's Haus zurück. Ivo ging das Dorf hinein, überall standen die Männer und Burschen in Rädchen auf der Straße; sie waren nur in halbem Putze, ohne Jacke oder Rock, die weißen Hemdärmel zur Schau tragend. Hier und dort sprangen Frauen und Mädchen, ebenfalls ohne Mieder, mit halb aufgelösten Haaren und das flatternde rothe Wickelband in der Hand tragend, von einem Hause in's andere. Es erschien Ivo als eine grausame Tyrannei seiner Schwester, daß er so aus dem Hause verstoßen war. Er wäre auch gar zu gerne wie die großen Leute zuerst im Halbstaate und dann unter dem Geläute der Glocken in voller Pracht erschienen; aber er wagte es nicht, wieder zurückzukehren, noch irgendwo sich niederzulassen, aus Furcht, seine Kleider zu verderben. Behutsam ging er so durch das Dorf. Wagen an Wagen brachte fremde Bauern und Bäuerinnen, aus den Häusern wurden ihnen [210] Stühle zum Absteigen entgegengetragen und sie freundlich bewillkommt. Alle Leute sahen heute so in sich vergnügt, so erhaben aus, wie eine Einwohnerschaft, die einen sieggekrönten Helden aus ihrer Mitte im Triumphe empfängt. Von der Kirche bis zur Hochbux war die Straße mit Gras und Blumen bestreut, die einen würzigen Duft emporsteigen ließen. Der Schultheiß kam aus des Schneider Christle's Haus und setzte erst auf der Straße seinen Hut wieder auf. Der Soges hatte ein frisch lackiertes Bandelier an seinem Säbel.

Bald darauf kam auch die Frau Schultheißin, ihr sechsjähriges Töchterchen, Bäbele, an der Hand führend. Bäbele war geschmückt, just wie eine Braut. Es hatte die Schappel samt dem Kränzchen auf dem Kopfe und war überaus prächtig gekleidet; in der That stellte Bäbele, als reine Jungfrau, die Braut des jungen Geistlichen vor.

Es läutete zum erstenmal, und wie durch einen Zauberruf zerstreuten sich plötzlich die Gruppen der hemdärmeligen Leute, sie gingen in die Häuser, um sich würdig anzukleiden, Ivo ging nach der Kirche.

Unter dem Geläute aller Glocken bewegte sich endlich der Zug aus der Kirche hervor. Die Fahnen flatterten, die Stadtmusik, die von Horb herbeigekommen war, schallte drein, und dazwischen hörte man wieder die Gebete der Männer und Frauen. [211] Ivo ging voraus neben dem Lehrer mit dem Kruzifix. Auf der Hochbux war der Altar schön geschmückt, die Kelche und Lampen, die Flitterkleider der Heiligen glitzerten im Sonnenlichte, und unabsehbar über die ganze Heide und über die Felder war die Menge der Andächtigen ausgebreitet. Ivo wagte es kaum, den Hajrle 2 anzuschauen, der in golddurchwirktem Gewande, entblößten, nur mit dem goldenen Kranze geschmückten Hauptes und bleichen, frommen Antlitzes, unter dem Schalle der Musik sich stets tief verbeugend, die kleinen weißen Hände auf der Brust übereinander legend, die Stufen des Altars hinaufstieg. Ihm voraus war des Schultheißen Bäbele gegangen, das als seine Braut eine mit Rosmarin umwundene, brennende Kerze in der Hand trug. Es stellte sich zur Seite des Altars auf. Das Hochamt begann, und als die Klingel läutete, stürzte Alles auf das Antlitz nieder, kein Laut war weit umher vernehmbar; nur ein Flug Tauben flog gerade über den Altar weg, und man hörte das Flattern und Zwitschern dieser Thiere, das man stets bei ihrem Fluge vernimmt. Um Alles in der Welt hätte Ivo nicht aufgeschaut, denn er wußte wohl, daß jetzt der heilige Geist herniedersteigt, um die geheimnisvolle Wandlung des Weines in Blut und des Brodes in Fleisch vorzunehmen, und daß kein [212] sterbliches Auge sich zu ihm erheben darf, ohne zu erblinden.

Der Kaplan von Horb bestieg nun die Kanzel und redete den Primizianten feierlich an.

Hierauf bestieg der Hajrle die Kanzel. Ivo saß nicht weit davon auf einem Schemel; den rechten Arm auf das Knie gestemmt und das Kinn auf die Hand gelehnt, horchte er eifrig zu. Er verstand wenig von Allem, aber sein Blick hing an den Lippen und den Mienen des Predigers, die so treuherzig sprachen, und sein Sinn war kindlich und liebend bei Gott und dem guten Hajrle.

Als darauf unter abermaligem Geläute der Glocken und den Siegestönen der rauschenden Musik der Zug sich wieder heim nach der Kirche bewegte, da faßte Ivo das Kruzifix mit beiden Händen fest; es war, als ob er mit erneuter Kraft seinen Herrgott vor sich hertragen wollte.

Unter der Menge, die sich nun zerstreute, sprach Alles mit Entzücken von dem Hajrle, und wie glücklich die Eltern eines solchen Sohnes zu preisen wären. Der Schneider Christle und seine Frau gingen, von seliger Lust getragen, die überdachte Treppe an dem Kirchberg herab. Man achtete doch sonst wenig auf diese Leute, heute aber drängte sich Alles mit ausnehmender Verehrung zu ihnen, um ihnen Glück zu wünschen. Die Mutter des jungen Pfarrers [213] dankte mit thränenverklärten Blicken, sie konnte vor seligem Weinen nicht reden. – Ivo hörte von seiner Base aus Rexingen, die zu der heiligen Handlung herübergekommen war, daß die Eltern Gregor's diesen nun mit Sie anreden müßten.

»Ist das wahr, Mutter?« fragte er.

»G'wiß, der ist jetzt mehr, als andere Menschen,« lautete die Antwort.

Bei allem Entzücken blieb auch der wirkliche Vortheil des Schneider Christle's nicht unbesprochen. Man sagte, der habe nun ausgesorgt für sein ganzes Leben; das Kordele, des Gregor's Schwester, werde »Hause re« 3, und der Gregor sei ein Glück für die ganze Familie und eine Ehre für das ganze Dorf.

Zwischen seinen Eltern, von beiden an der Hand geführt, ging Ivo nach Haus.

»Vater,« sagte er, »der Gregor sollt' hier Pfarrer sein.«

»Das geht nicht, man macht nie einen zum Pfarrer, wo er geboren ist.«

»Warum?«

»Mit deinem ewigen dummen Warum! Weil's eben so ist,« entgegnete Valentin. Die Mutter aber sagte: »Er hätt' sonst zu viel Anhang im Dorf und wär' nicht unparteiisch.«

Entweder wußte sie es nicht oder konnte sie dem[214] Kinde nicht erklären, daß bei einem Ortsangehörigen die Heiligkeit des Amtes und die Ehrfurcht vor der Person des Priesters beeinträchtigt würde, da man seinen menschlichen Ursprung und sein Wachstum kennt.

Valentin aber sagte nach einer Weile:

»Das best' Leben hat doch so ein Pfarrer. Er kriegt keine Schwiele in die Hand vom Pflügen und kein Rückenweh vom Schneiden, und die Pfarrscheuer ist doch voll Frucht; er legt sich aufs Kanapee hin und denkt sich sein' Predigt aus und macht seine ganze Familie glücklich. Ivo, wenn du brav bist, kannst du auch Hajrle werden. Möchtest du gern?«

»Ja,« sagte Ivo mit voller Stimme und schaute mit weit aufgerissenen Augen nach seinem Vater auf, »aber Ihr dürfet nicht Sie zu mir sagen,« setzte er dann hinzu.

»Das hat noch gute Weil',« erwiederte Valentin lächelnd.

Nach dem Mittagessen stellte sich Ivo hinter dem Tisch auf die Bank, dort in die Ecke unter dem Kruzifix, wo der Vater gesessen. Zuerst bewegten sich seine Lippen leise, dann hielt er mit lauter Stimme eine Predigt. Mit der ernstesten Miene sprach er das kunterbunteste Zeug, er wollte gar nicht aufhören, bis ihm Valentin freundlich mit der Hand über den Kopf fuhr und sagte: »So, jetzt ist's genug.«

[215] Die Mutter aber nahm den Ivo herab auf ihren Schooß, herzte und küßte ihn und sagte fast weinend: »O liebe Mutter Gottes! ich möcht' nicht länger leben, als daß mich unser Herrgott den Tag sehen ließ', an dem du dein' Primiz hältst;« dann setzte sie kopfschüttelnd und leise hinzu: »Verzeih mir Gott meine Sünden, ich denk' schon wieder zu viel an mich.« Sie stellte ihren Sohn nieder und hielt ihre Hand auf seinem Kopfe.

»Gelt,« sagte Ivo, »und unser Gretle wird mein' Hauserin, und ich laß ihm auch Stadtkleider machen, wie die Pfarrköchin hat?«

Die gute Base Magdalena von Rexingen schenkte dem Ivo einen Kreuzer für seine Predigt. Schnell sprang er dann zu dem Knechte, der vor dem Hause unter dem Nußbaum saß, und erzählte ihm, daß er Hajrle werde. Nazi schüttelte nur mit dem Kopfe und drückte den überquellenden, brennenden Tabak in seiner Pfeife nieder.

Die Mittagskirche war nicht so feierlich und so besucht wie sonst, die Andacht hatte sich heute morgen erschöpft.

Gegen Abend ging der junge Pfarrer mit dem Kaplan von Horb und mehreren andern Geistlichen durch das Dorf. Alle Leute, die vor den Häusern saßen, standen auf und grüßten freundlich; die ältern Frauen lächelten dem jungen Pfarrer zu, wie [216] wenn sie sagen wollten: »Wir kennen dich und haben dich gern; denkt dir' s noch, wie ich dir eine Birn' geschenkt hab'? Und ich hab's ja schon lang gesagt, der Gregor wird ein großer Mann.« Die jungen Burschen zogen die Pfeifen aus dem Munde und die Mützen ab, und die Mädchen flüchteten sich unter ein Haus und stießen einander und blickten verstohlen heraus. Die Kinder aber kamen herbei, gaben dem Gregor die Hand und küßten die seinige.

Auch Ivo kam herbei. Der junge Geistliche mochte vielleicht das Zittern des Knaben und seinen andächtig frommen Kuß herausfühlen, er hielt seine Hand noch länger, strich ihm mit der andern Hand über die Wange und sagte:

»Wie heißt du, liebes Kind?«

»Ivo.«

»Und dein Vater?«

»Der Zimmermann Valentin.«

»Sag einen schönen Gruß von mir an deinen Vater und deine Mutter und sei recht fromm und brav.«

Ivo stand noch lange wie festgezaubert da, als die Männer schon längst fort waren, es war ihm, als ob ihm ein Heiliger erschienen wäre und mit ihm geredet hätte. Er blickte lange staunend zur Erde, dann eilte er in großen Sätzen jubelnd nach Hause und erzählte Alles.

Die ganze Familie saß auf dem Bauholze unter [217] dem Nußbaume, der Nazi nicht weit davon auf einem Steine an der Hausthür. Ivo ging zu ihm und berichtete auch ihm seine Begegnung, der Knecht aber war heute mürrisch, und Ivo setzte sich zu Füßen seines Vaters nieder.

Es war Nacht geworden, man sprach wenig, nur der Schreiner Koch sagte noch:

»Ich will sehen, wo Ihr Geld krieget unter fünf Prozent.« Niemand antwortete.

Ivo blickte einmal zu seinem Vater auf, aus seinem Auge leuchtete eine stille Verklärung, niemand konnte ahnen, was die junge Seele bewegte.

»Vater,« sagte Ivo, »schlaft denn des Schneider Christle's Hajrle auch wie andere Menschen?«

»Ja, aber nicht so lang wie du; wenn man Hajrle werden will, muß man früh aufstehen und beten und lernen. Gang jetzt, marsch in's Bett.«

Die Mutter begleitete Ivo in's Haus, und in sein Nachtgebet, das er ihr vorsagte, schloß er freiwillig neben den namhaft gemachten Verwandten auch den Hajrle ein.

Die Primiz hatte die unmittelbarsten Folgen. Gleich andern Tages ging der Hansjörg, den wir noch von der Kriegspfeife her kennen, mit seinem Sohne, Peter, nach Horb zum Kaplan; auch der reiche Johannesle von der Bruck, der den Beinamen der Schmutzige hatte, brachte seinen Constantin, einen [218] aufgeweckten, gescheiten Buben, zum Kaplan. Die beiden Knaben sollten fortan die lateinische Schule besuchen, Ivo war hierfür noch zu jung. –

Wir treffen die beiden andern Knaben wohl später wieder, jetzt bleiben wir beim Ivo und wollen sein ganzes Jugendleben möglichst genau beobachten.

Fußnoten

1 Primitiae, latein. Anfang.

2 Herrlein, Pfarrer.

3 Hauserin, Haushälterin.

2. Der Lehrer

2.
Der Lehrer.

Der Lehrer im Dorfe war ein heller Kopf, dabei aber heftig; seine Neigung und sein Haupttalent war die Musik. Er hatte wenig Einfluß auf Ivo, wie dieß ein einzelner Mann bei hundertzwanzig Kindern auch sonst nicht wohl haben konnte. Der beste Lehrer Ivo's, wer sollte es denken! war der Nazi, der nicht schreiben und kaum lesen konnte.

Man nennt bei uns die Dienstboten »Ehhalten«, was ihre Bedeutung gar schön bezeichnet, und wie man sie schon in der Stadt das Unterschicksal des Familienlebens nennen kann, so sind sie das noch weit mehr im Dorfe, wo das ganze Leben des Hauses ein in Arbeit und Genuß gemeinsames ist. Weil nun in einer guten Haushaltung die Eltern und das Gesinde friedlich zusammenleben, kann man um so gefahrloser die Kinder den Einflüssen des Gesindes überlassen, da man sie genau kennt.

[219] Bei dem Nazi aber war gewiß nichts zu gefährden. Auf der Krippe und im Heuschober errichtete Nazi seinen Lehrstuhl, antwortete auf die eifrigen Fragen seines Zöglings oder erzählte ihm wunderbare Geschichten.

Nazi war am liebsten mit den Thieren zusammen, und wenn er auch mit ihnen reden konnte, und wenn besonders das Falb Menschenverstand hatte, man konnte doch keine rechte Antwort bekommen, so viel man auch redete; der Ivo aber konnte doch wenigstens einmal die Hände zusammenschlagen und »Ei Herr Jerem« rufen. So hatte Nazi den Knaben gern bei sich. Wie ein Füllen neben dem im Wagen eingespannten Pferde los und ledig einherrennt und allerlei Sprünge macht, so sprang Ivo immer neben dem Nazi einher, wo er auch hingehen mochte.

Wenn dann wieder die beiden auf dem Stroh saßen und Nazi die Geschichte vom Mockle 1-Peter, vom Wacholdermännchen, oder von dem verwunschenen Fräulein von Isenburg erzählte, da bildeten die dumpfen Töne der fressenden Thiere eine schauerliche Begleitung zu der Rede Nazi's. Besonders die Geschichte vom Mockle-Peter, der den jungen Tannen, die noch bluteten, muthwillig die Kronen abriß und der als Baummörder in der Egelsthaler Halde geistet 2, [220] so wie die Geschichte vom Wacholdermännchen, das ein graues und ein schwarzes Aug' hat, die jedes Jahr mit ihrer Farbe abwechseln, diese Geschichten mußte Nazi oft erzählen; denn die Kinder sind noch nicht so verwöhnt, daß sie immer was Neues haben wollen.

Bei diesen Wiederholungen hatte indes Nazi einen schweren Stand, denn sobald er etwas nicht mehr genau wußte oder anders erzählen wollte, fiel Ivo ein: »ei das ist ja nicht so.« Dann hob ihn Nazi auf den Schooß und sagte: »du hast recht, ich kann mich nicht mehr so recht darauf besinnen. Narrle, es gehen mir noch viele andere Sachen im Kopf herum,« und dann erzählte Ivo mit großem Eifer den weitern Verlauf, so daß Nazi von der Gelehrigkeit seines Schülers entzückt war.

Oft aber sprachen auch die beiden über allerlei Lebensverhältnisse, von denen die Stadtkinder erst spät Einsicht und Kunde erhalten: von Reichtum und Armuth, Treue und Falschheit, Handel und dergleichen; denn das Leben im Dorfe ist stets ein offenkundiges, das Innere des Hauses ist Allen bekannt, groß und klein.

Einst ging Ivo mit seinem Vater vom Zimmerplatze nach Hause.

»Vater,« sagte er, »warum hat denn unser Heiland die Bäum' nicht viereckig gemacht, da braucht' man's ja auch nicht zu behauen?«

[221] »Warum? dummer Jung', da bräucht' man ja auch keine Zimmerleut' und hätt' auch keine Spän'.«

Ivo war still, und der Vater dachte darüber nach, daß der Bub doch eigentlich gar »gut gekopft« sei, und daß es unrecht sei, ihn so barsch anzufahren; er sagte daher nach einer Weile:

»Ivo, so Sachen fragt man in der Schul' den Lehrer oder den Herrn Pfarrer. Merk' dir das.«

Das war brav von Valentin. Nur wenige Eltern sind so gewissenhaft und so klug, diesen allein richtigen Ausweg aus ihrer etwaigen Unwissenheit zu ergreifen.

Ivo fragte aber nicht den Schullehrer und nicht den Pfarrer. Er ging zu Nazi und sagte: »Weißt du auch schon, warum unser Heiland die Bäum' nicht viereckig, gerade recht zum Bauholz gemacht hat?«

»Weil man die Bäum' zu noch viel mehr Sachen als zum Bauen braucht.«

Ivo stand verwundert da, das war noch eine andere Antwort.

Dadurch, daß Ivo sich so innig an Nazi anschloß, hatte er unter seinen Altersgenossen keinen Kameraden; dafür betrachtete ihn aber auch Nazi wie seinen Vertrauten, und wenn er ihn liebkoste, sagte er: »Du gute alte Seele!« In besonders gemüthlichen Stunden erzählte er ihm dann auch viel von seinem Hellauf, dem Hunde, den er früher als [222] Schäfer gehabt hatte, und der »gescheiter war als zehn Doktor«. »Ich sag' dir's,« beteuerte Nazi, »der Hellauf hat meine verborgensten Gedanken errathen; wenn er mich nume angesehen hat, hat er gleich gewußt, was ich will. Hast du schon einmal so einen Hund genau betrachtet? Die haben oft ein Gesicht, auf dem der Kummer ausgeschüttet liegt, grad' wie wenn es sagen thät: ich möcht' flennen, weil ich nicht mit dir schwätzen kann. Wenn ich meinen Hellauf so angesehen hab', da hat er gebellt und geheult und hat dabei die Augen zugedrückt, daß es mir durch die Seel' gangen ist. Wenn ich ihm nume ein bös Wörtle geben hab', hat er den ganzen Tag keinen Bissen gefressen, es war ein Thier, es war zu gut für diese Welt.«

»Kommen die Hund' auch in Himmel?« fragte Ivo.

»Ich weiß nicht, es steht nichts davon geschrieben,« erwiderte Nazi.

Besondere Freude machte es dann Nazi, daß auch Ivo eine so innige Liebe zu den Thieren hatte; denn ganz alte einsame Leute oder Kinder, die beide mit ihrer Liebe nicht recht wissen, wohin, wenden ihre Neigung den Thieren zu. Diese machen keine Ansprüche, man hat wenig Pflichten für sie, und besonders erfährt man von ihnen nie Widerspruch, welchen sowohl die alten als auch die jungen Kinder nicht leiden mögen.

[223] »So eine Sau ist doch ein arm's Thierle,« sagte Ivo einmal, »die ist doch nur auf der Welt, um gemetzget zu werden; die andern Thiere kann man doch auch noch lebig gebrauchen.« Nazi nickte vergnügt mit dem Kopfe. Nach einer Weile sagte er: »Es kann wohl sein, daß dessenthalben auch so eine Sau am ärgsten schreit und heult, wenn man's metzget.«

Durch mancherlei Fragen, Bemerkungen und Reden galt Ivo im ganzen Dorf als ein »unterhaltsamer, aufgeweckter Bub«. Niemand ahnte seinen Wecker. Der Schullehrer aber war unzufrieden mit ihm, weil er nie, wie es die Schulordnung verlangt, ruhig nach Hause ging, sondern stets tollte und schrie wie besessen. Die armen Kinder! sie müssen stundenlang in sich zusammengepreßt sitzen; wenn es dann endlich fortgeht, können sie nicht anders, sie müssen sich aufrütteln und frei in die Luft hinein jubeln. Darum ist es oft um elf Uhr, als ob das wilde Heer käme.

Niemand zweifelte, daß der Ivo einst ein tüchtiger Pfarrer würde, er war sonst fromm und gesittet. Der Valentin berühmte sich einst im Adler, sein Ivo werde des Hansjörgs Peter und des Johannesle's Constantin noch weit überholen.

Dazu hatte es indes noch Zeit.

Fußnoten

1 Tannzapfen.

2 Als Geist umgeht.

3. Kinderliebe

3.
Kinderliebe.

Neben Valentin wohnte des Schackerle's Michel, ein armer Mann, der bloß an Kindern reich war, von denen das jüngste Emmerenz hieß; die Zimmermännin war dessen Patin, und die Emmerenz war nun fast den ganzen Tag bei ihr im Hause, sie aß und trank dort und schlief nur bei ihren Eltern. Emmerenz war fast gerade so alt als Ivo, und die beiden Kinder waren unzertrennlich. Obgleich Ivo deshalb von seinen ungalanten Schulkameraden »Mädleschmecker« geschimpft wurde, ließ er doch nicht von der Emmerenz. Sie hatten sogar gemeinschaftlich einen Maunkel; so nennt man nämlich einen Schatz gesammelten Obstes, den man unter dem größten Geheimniß im Heu versteckt und der dem Speicher eines Kornhamsters nicht unähnlich sieht. Da saßen denn die Kinder mit heimlich stillem Entzücken bei ihrem Schatze. Ivo zeigte sich schon darin als Mann, daß er bis hundert zählen konnte. Er zählte die Aepfel, Birnen und Zwetschen. Emmerenz hörte ihm andächtig zu und sprach leise die Zahlen nach. Die anbrüchigen Stücke und die von ungerader Zahl wurden zu gleichen Teilen verzehrt. Oft aber gab es auch Händel, und das Vereinsgut wurde dann alsbald getheilt.

[225] Diese Trennung dauerte aber nie länger als einen Tag, denn die beiden hätten ja sonst nicht mehr mit einander von ihrem Reichtum sprechen können.

Große Veränderungen aber gingen bald mit den beiden Kindern vor; Ivo bekam vom Nazi eine Peitsche, und Emmerenz lernte stricken.

In der Stadt bekommen die Kinder eine Trommel oder einen kleinen Kaufladen, sie spielen dann Soldaterles oder Handelns, bis es Ernst mit dem Leben wird; auf dem Dorfe beginnt mit der Peitsche das Bauernspiel.

Ivo stand nun oft auf dem leeren Wagen vor dem Hause, knallte nach der leeren Deichsel hinab und schrie: Hio, Hist und Hott. Sobald er aus der Schule kam, wurden Schiefertafel und Lineal auf den Tritt hinter den Ofen gestellt und mit knallender Peitsche die Hühner und Gänse auf der Straße herumgejagt. So tollte er eines Mittags umher, da sah er die Emmerenz, die mit ihrem Strickzeuge unter dem Nußbaume saß. Nicht weit davon lag ihr kleines schwarzes Kätzchen, Miezchen genannt, in der Sonne und pustete und putzte sich emsig. Das runde, blondhaarige Mädchen knüpfte mit einem Eifer die Maschen, daß es nicht aufzuschauen wagte; ein so ungewöhnlicher Ernst schwebte um die zusammengepreßten Lippen, als gälte es, dem [226] bergeshohen Schneemann, dem Winter, eine wollene Jacke zu stricken.

Ivo stand eine Weile ruhig neben Emmerenz und schaute ihr zu, dann sagte er: »strickst du Strümpf' für dein' Katz'?« Emmerenz gab keine Antwort und strickte ohne Unterlaß fort. Da kitzelte Ivo der Muthwille, er zog rasch die Nadeln aus dem Strickzeug und sprang davon.

Emmerenz stand schnell auf und warf ihm einen Stein nach; da sie ihn aber, nach Art der Mädchen, nicht über die Schulter erhob, sondern nur gerade vor sich hinschleuderte, fiel er kaum drei Schritte vor ihr nieder. Nachdem sie die Nadeln zusammengelesen, ging sie weinend nach Haus.

Nachmittags machte Ivo seine Grausamkeit schnell vergessen, er brachte der Emmerenz ein Stück blaues Glas von einer zerbrochenen Flasche. Eins nach dem andern betrachtete nun die Sonne durch das Glas und rief: »Ujadele, wie schön!« Ivo wickelte das Kleinod in ein Papierchen und schenkte es der Emmerenz.

Einst kam ein Mann in das Dorf, der, wie weiland der kühne Rattenfänger, alle Kinder hinter sich dreinzog; das war nämlich der »Holgen 1-Mann«, der für zerbrochenes Glaswerk den Kindern gemalte Bilder verhandelte. Ivo lief im ganzen Hause [227] umher, bis er sich die blinkende Münze erobert, und dann brachte er den Preis der Emmerenz.

Aber nicht nur beim Sonnenschein, auch beim Regen treffen wir die Kinder bei einander.

Der alte Valentin sah stillvergnügt zum Fenster hinaus, denn man kann gar leicht, ohne etwas Bestimmtes zu denken und zu haben, doch stillvergnügt einem Regen zusehen, da wird Körper und Seele wie mit einem erquicklich leichten, feinen Nebel angehaucht, und wie man träumerisch dem Wellenspiele eines Stromes zusieht, so sieht man nun von den Dächern überall die Tropfen rinnen; Alles, was uns umgibt, die stillfließende Luft selber, hat Stimme und Gestalt gewonnen.

Ivo und Emmerenz hatten sich unter die offene Scheune geflüchtet, auch der kleine Jakobele, des Schultheißen dreijähriger Knabe, war dabei. Die Hühner hatten auch gleiche Zuflucht gesucht, sie standen neben den Kindern, ließen ihre Schwänze hängen und schüttelten sich oft. Das schwarze Kätzchen kam gleichfalls ganz hart am Hause hergeschlichen, es ging so leise und trat so behutsam auf und schüttelte nach jedem Auftreten die Pfote, daß man sein Herbeikommen gar nicht merkte, bis die Hühner aufgackerten; es verschwand aber schnell in dem offenen Stallfensterchen.

Anfangs rieselte es so zart, daß man nur an [228] der Dunkelheit des offenen Dachfensters gegenüber merkte, daß Tropfen herunterfielen; bald aber plätscherte es gewaltig und Ivo sagte: »Ah! das thut meinen Nägele 2 im Garten gut.« – »Garten gut,« wiederholte der kleine Jakobele. Dann sagte Ivo wieder: »Ah, das gibt einen großen Bach.« – »Großen Bach,« wiederholte Jakobele abermals, Ivo sah ihn grimmig an, dann sang er, auf Emmerenz schlagend:


Es regnet regnet Tropfe,

Die Mädle muß mer klopfe,

Die Bube muß mer Kutsche fahre,

Die Mädle muß mer in Neckar trage.


Emmerenz machte sich los und sang, auf Ivo schlagend:

Es regnet regnet Tropfe,

Die Bube muß mer klopfe,

Die Mädle legt mer in ein golden Bett,

Die Bube in ein' Dornenheck.


Bauern fuhren mit leeren Säcken auf dem Kopfe schreiend vorbei, um dem schweren Wetter zu entfliehen; die Kinder lachten sie aus und schrieen ebenfalls Hio! Emmerenz stand da, den Kopf auf die linke Seite geneigt und die Händchen unter der Schürze übereinander gehalten; als es aber gerade [229] am ärgsten regnete, stieß Ivo sie hinaus unter die Dachtraufe. Der Jakobele sprang von selbst hinaus, gleichsam den Regen herausfordernd; er duckte aber doch blinzelnd seinen Kopf unter, als wollte er nicht zu schwer von dem Regen getroffen werden. Mit der Schürze über dem Kopfe gab sich nun Emmerenz alle Mühe, wieder unter Dach zu kommen, aber Ivo hielt strenge Wacht, und erst als sie weinte, ließ er sie herein.

Der Regen hörte endlich auf, die Sonne schien hell, und mit unnennbarer Lust sprangen die Kinder umher; es war als ob die erfrischte Luft auch diese jungen Menschenpflänzchen neu belebte. Braune Ströme hatten sich neben der Straße gebildet, die Kinder ließen Späne als Flöße darauf schwimmen und wateten mit Lust in dem Wasser, nach Eisen darin suchend. Ivo, der immer weitere Pläne hatte, wollte ein Mühlrad bauen, aber lange ehe das Rad fertig war, war das Wasser verflossen.

Wie oft geht das so, daß wir Gewerke herrichten für den Strom unserer Lebenstage, und ehe das Gewerk nur halb fertig, ist Alles versiegt und trocken.

So neckisch auch Ivo manchmal gegen Emmerenz war, so ließ er ihr doch von niemand ein Leid anthun. Einst ging er aus der Schule nach Haus, da sah er, wie die Emmerenz von zwei Unholden, [230] zwei alten, grauen Gänsen, verfolgt wurde. Schreiend und wehklagend floh das Mädchen mit rückwärts gekehrtem Kopfe. Schon hatte eins der Unholde ihr Kleid erfaßt und zerrte daran, da sprang Ivo, gerüstet, wie er war, mit seinem Schilde, der Schiefertafel, und seinem Schwerthe, dem Lineal, auf die Verfolger los und trieb sie nach schwerem, aber muthigem Kampfe in die Flucht. Mit heldenmüthigem Selbstgefühl hob er dann Emmerenz, die auf den Boden gefallen war, auf und schritt triumphierend in seinem Waffenschmucke neben ihr her.

Nazi hatte ihm von Rittern erzählt, die wehrlose Fräulein von Drachen erretteten; er erschien sich jetzt als ein solcher Ritter und war gar zufrieden und vergnügt.

Fußnoten

1 Heiligenbild.

2 Nelken.

4. Muckele und Wusele

4.
Muckele und Wusele.

Das Haus Valentins wurde um ein Glied vermehrt, auf das die Blicke aller gerichtet waren; Valentin brachte nämlich vom Oberndorfer Markt eine schöne Kuhkalbin mit. Ehe das Thier in's Haus gebracht wurde, musterten und schätzten es die Nachbarn und alle Vorübergehenden. Die Mutter, Ivo und Nazi gingen dem Ankömmling bis vor die Thüre entgegen. Hier erhielt Ivo ein hölzernes Pferd, [231] dann übergab Valentin, vergnügt um sich schauend, das Seil an Nazi, herausfordernd betrachtete er die Nachbarn und wiederum das »ausbundige« Thier, das er mit einem Schlage in den Stall entließ. Das Thier war schön und stattlich, mit einem Worte, so was man eine »rechtschaffene, stolze Kuh« nennt.

Als die offene Stelle im Stalle wieder besetzt war, eilte Ivo, sein hölzernes Pferd auf der Brust tragend, mit Nazi in den Schuppen; sie brachten »kurz Futter« für die Fremde, aber das Thier öffnete den Mund nicht und brummte nur so vor sich hin. Ivo strich ihm sanft mit der Hand über die zarten Haare, es wendete den Kopf nach dem Knaben und schaute ihn lange an.

Ivo tummelte dann sein hölzernes Pferd, das that gar nicht fremd, es war überall zu Hause und trug den Kopf mit der Hahnenfeder immer stolz.

Nachts erwachte Ivo plötzlich von seinem Schlafe; er hörte ein Jammern, das ihm durch die Seele schütterte. Die Klagen der Allgäuer Kalbin erschollen immer tiefer und tiefer aus dem Innersten heraus, und es war, als ob sie ihr ganzes Leben damit ausklagen müßte.

Ivo hörte lange zu, wie das Schreien durch die Stille der Nacht so wehvoll und schauerlich klang. So oft das Thier eine Pause machte, horchte er mit angehaltenem Athem; er glaubte, jetzt und jetzt müsse [232] doch das Klagen aufhören, aber es kam immer wieder. Ivo weckte endlich seinen Vater.

»Was gibt's?«

»Die fremd' Kalbin schreit.«

»Laß sie schreien, schlaf, du dummer Bub, die Kalbin hat eben Jammer 1, und da ist's nicht anders.«

Ivo verdeckte sich die Ohren mit dem Kissen und schlief wieder ein.

Fast drei Tage lang fraß die Kalbin keinen Bissen, endlich aber gewöhnte sie sich an das andere Vieh im Stalle und war still und fraß wie die andern. Zu neuem Jammer gingen ihr aber die Klauen an den Vorderfüßen ab; sie waren nur gewohnt, auf weicher Weide, nicht aber einen so weiten Weg auf harter Straße zu gehen.

Ivo half nun oft dem Nazi der Kalbin die Füße verbinden, seine Demuth und sein Mitleid, das er der Fremden bezeigte, war gar groß; sie erwiderte aber auch, so weit sie vermochte, seine Theilnahme, und Nazi, der sich gar wohl auf die Thiere verstand, sagte: »Der Hirtenbub von der Allgäuerin hat dir ähnlich gesehen, Ivo, das merk' ich wohl.«

So viel Freude nun Ivo an der Allgäuerin gewonnen, ebensoviel Schmerz erlebte er an seinem hölzernen Pferde. Dieses war durch den Lauf der [233] Zeit unsauber geworden. Ganz in aller Stille lief er daher eines Morgens nach der Schwemme, wusch und putzte es tüchtig, aber laut wehklagend kehrte er heim, denn alle Farben waren abgelaufen.

So erfuhr Ivo schon frühe, wie wenig dem gemachten Spielzeuge zu trauen ist. Das Schicksal gab ihm aber reichlichen Ersatz für seinen Verlust.

Es war wiederum einmal spät in der Nacht, da war Alles im Hause wegen der Kalbin auf den Beinen; sie gebar ein Junges.

Ivo durfte nicht in den Stall, er hörte von ferne ein jämmerlich dumpfes Wehklagen, denn auch die Hausthiere hat der Fluch getroffen, daß sie »mit Schmerzen gebären«.

Als es kaum Tag war, eilte Ivo in den Stall. Er sah das schöne Kälbchen zu den Füßen der Mutter, es war ein Stromel 2, die Mutter küßte und leckte es mit ihrer Zunge; niemand durfte sich ihm nahen, denn die Kuh war dann wie wütend, nur als Ivo hinzu kam und das Kälbchen schüchtern berührte, war die Allgäuerin ruhig; ihr Erstgebornes war ein Sohn, und Ivo ließ bei seinem Vater nicht nach, bis er ihm das Versprechen gab, daß man das Kälbchen »anbinden«, das heißt: großziehen wolle.

Von nun an war Ivo jedesmal in der Küche dabei, wenn der Wöchnerin warme Tränke bereitet [234] wurde, und niemand als er durfte ihr den Kübel hinhalten.

Fast nie bleibt eine Freude ungestört, das erfuhr auch Ivo.

Eines Tages kehrte er aus der Schule heim, da sah er einen großen Hund auf der Hausschwelle stehen. Sorgsam ging er an ihm vorbei nach dem Stalle. Dort erblickte er einen Mann mit einem blauen Ueberhemde, ein roth und gelb gewürfeltes Halstuch hing lose geknüpft an seinem Halse, und in der Hand hielt er den von Messingdraht umwundenen Griff eines Schlehdornstockes.

Ivo sah wohl, daß das ein Metzger war. Der Vater stand bei ihm und sagte:

»Um acht Gulden geb' ich's, es ist aber schad, wenn es gemetzget wird, es hat so mächtige Stotzen 3

»Sieben Gulden geb' ich!«

Der Vater schüttelte den Kopf.

»Nun meinetwegen noch ein Kopfstück 4

Ivo hatte dieß kaum vernommen, da wurde ihm Alles klar. Er stellte sein Schulzeug schnell an die Wand, sprang in den Stall, fiel dem Kälbchen um den Hals, und es mit seinen Armen fest umklammernd, rief er: »Nein, guts Muckele, sie dürfen dir nicht in deinen lieben Hals 'nein stechen,« er weinte [235] laut und konnte kaum noch die Worte hervorbringen: »Vater, Vater! Ihr habt mir's ja versprochen.«

Das Kälbchen schrie laut, gleich als ahnte es, was vorging, und die Kuh wendete den Kopf und brummte, ohne das Maul zu öffnen.

Valentin nahm in Verlegenheit seine Mütze ab, schaute hinein und setzte sie wieder auf. Mit einem lächelnden Blicke auf Ivo sagte er endlich: »Nun, es soll so bleiben, ich mag's dem Kinde nicht zuleide thun. Ivo, du kannst es aufziehen, aber du mußt ihm auch Futter schaffen.« Der Metzger ging fort, sein Hund bellte ihm voraus, gleich als wollte er den innern Zorn seines Herrn laut werden lassen. Er fuhr dann unter die Hühner und Gänse Valentins und jagte sie auseinander, gerade wie ein Bedienter an den Untergebenen von seines Herrn Feinden seinen Muthwillen ausläßt.

Ivo war nun glücklich mit dem Kälbchen, er hatte es vom Tode gerettet; aber es schnitt ihm doch tief durch die junge Seele, daß sein Vater ihm sein Ver sprechen hatte brechen wollen. Er vergaß dieß indes bald wieder, und mit großer Freude führte er in seinen Freistunden das Muckele hinaus an einen Rain und ließ es weiden.

Eines Nachmittags stand Ivo neben seinem Muckele an dem Wiesenrain in der Hohlgasse, er hielt das Seil und ließ das Kälbchen fressen. Mit heller [236] Stimme sang er ein Lied, das ihn der Nazi gelehrt. Die Töne klangen wie von Sehnsucht und Heimweh durchzittert. Er sang:


Dort oben, dort oben

An der himmlischen Thür,

Und da steht eine arme Seele,

Schaut traurig herfür.


Arme Seele mein, arme Seele mein,

Komm zu mir herein;

Und da werden deine Kleider

Ja alle so rein.


So rein und so weiß,

So weiß als wie der Schnee,

Und so wollen wir mit einander

In das Himmelreich eingehn.


In das Himmelreich, in das Himmelreich,

In das himmlische Paradies,

Wo Gott Vater, wo Gott Sohne,

Wo Gott heiliger Geist ist.


Kaum hatte das Lied geendet, da sah er die Emmerenz von der Leimengrube herkommen. Sie trieb mit einem dürren Tannenzweige junge Entchen vor sich her, bei Ivo hielt sie an und ließ die Entchen sich im Graben tummeln.

»Ich komm' von der Leimengrub,« erzählte sie, »ich hab' viel Prast gehabt, bis ich meine sechs [237] Wusele 5, guck da, vier graue und zwei weiße, aus dem Wasser 'rausgelockt hab'. Jetzt sind sie acht Tag' alt. Denk einmal, mein' Mutter hat die Eier einer Henn' untergelegt, und jetzt will sie die Henn' nicht annehmen, sie läßt sie laufen und kümmert sich gar nicht um sie.«

»Das sind jetzt Waisenkinder, und da mußt du ihr' Mutter sein,« sagte Ivo.

»Ach, und wie barmherzig können die einen ansehen, weißt du, nur so von der Seite.« Emmerenz ahmte die Thierchen nach; den Kopf auf die Seite legend und von unten aufschauend, blickte sie Ivo gar lieblich an, der wiederum sagte:.

»Guck, die Thierle können doch kein' Augenblick ruhig sein, das pfludert und pfladert in einem fort; ich thät' den Schwindel kriegen, wenn ich so wär'.«

»Ich komm' nicht draus,« sagte Emmerenz mit sinnendem Blicke, »woher denn die Geitle wissen, daß sie in's Wasser können; wenn sie noch ein' Geit ausgebrütet hätt', die thät's ihnen weisen, aber die Henn' hat sie ja laufen lassen, und wie sie nur haben fortkratteln können, patschen sie wick wack, von einem Fuß auf den andern, 'naus in die Leimengrub.«

[238] Hier standen die Gedanken zweier jungen Seelen vor der geheimen Thüre der Natur. Eine Weile herrschte Stille, dann aber sagte Ivo:

»Die Geitle halten alle zusammen und gehen nicht voneinander; mein' Mutter hat gesagt, so müssen's auch die Menschen machen, Geschwister gehören zusammen, und wenn die Gluck ruft, kommen alle Bibbele 6 gesprungen.«

»Ja, die garstigen Bibbele, die großen Dinger schämen sich nicht und fressen meinen Geitle alles weg, wenn ich ihnen was bring'. Wenn's nur auch einmal wieder rechtschaffen regnen thät, daß meine Geitle auch wachsen thäten. Nachts, da thu ich sie Allemal in einen Tratten 7, man darf sie nicht recht anrühren, so weich sind sie, und da huschen sie in ihrem Bettle zusammen, wie ich zu meiner Ahne 8; und mein' Ahne hat gesagt, wenn sie einmal groß sind, da rupft sie sie und macht mir ein Kissen daraus.«

So plauderte Emmerenz. Ivo fing aber plötzlich an zu singen:


Da droben auf'm Bergle,

Do steht e weißer Schimmel,

Und die brave Büeble

Kommet alle in Himmel.


[239] Emmerenz sang dagegen:

Und die brave Büeble

Kommet et allein drein,

Und die brave Mädle

Müsset au dabei sein.


Ivo sang wieder:

Da droben auf'm Bergle,

Do steht e schwarzer Mann,

Er hot mi wolle fresse,

Hot's Maul aufgethan.


Bald begann nun eins, bald das andere der Kinder, und sie sangen:

Schätzle, schau schau!

Jetzt kommt der Wauwau,

Hot e Ränzle auf'm Buckel

Und e Pfeifle im Maul.


* * *

Hörst et, wie's Vögele singt,
Hörst et, wie's pfeift?
In dem Wald, aus dem Wald:
Schätzle, wo bleibst?
* * *

Fahr mer et über mein Aeckerle,
Fahr mer et über mein Wies',
Oder i prügel di wägerle 9,
Oder i prügel di g'wiß.
* * *

[240]
O Appele von Kappele,
Was machen deine Gäns'?
Sie pfluderet, sie pfladeret
Mit ihre kurze Schwänz'.

So sangen die Kinder noch mancherlei, eins schien das andere an Liederreichtum überbieten zu wollen. Endlich sagte Ivo: »Treib du jetzt deine Geitle heim, i gang au bald.« Ein gewisses Schamgefühl hielt ihn ab, mit Emmerenz zugleich durch das Dorf heimzukehren; er war sich bloß der Scheu vor seinen neckenden Kameraden bewußt.

Nachdem Emmerenz eine Weile fort war, machte sich Ivo mit seinem Muckele auf den Heimweg.

Ivo, der, mit einer besonders feinen Empfindung begabt, auf Alles sein Gefühl übertrug, sah mit Schmerz, daß die Allgäuerin, seitdem ihr Junges abgewöhnt war, sich gar nicht mehr um dasselbe bekümmerte. Er hatte noch nicht gewußt, daß die Thiere nur so lange mit liebender Sorgfalt an ihren Jungen hängen, als diese in unmittelbarer Abhängigkeit und in natürlichem Zusammenhange mit ihnen stehen. Nur so lange die jungen Vögel noch nicht recht fliegen und ihre Nahrung holen können, nur so lange ein Junges an der Mutter saugt, dauert das elterliche Verhältnis. Aus dem natürlichen Zusammenhange herausgerissen, oder ihm entwachsen, kennen die Eltern, und besonders die Hausthiere, [241] die Jungen nicht mehr. Der Mensch allein, der zu seinem Kinde nicht bloß in leiblichem, sondern auch in geistigem Zusammenhange steht, nur der Mensch allein erhält ewige Liebe für seine Sprößlinge.

Fußnoten

1 Heimweh.

2 Schwarzgestriemt.

3 Füße.

4 15 Kreuzer.

5 Eigentlich nennt man bloß junge Gänse so, junge Entchen aber heißen Geitle, Emmerenz gebrauchte aber abwechselnd beide Ausdrücke.

6 Hühner.

7 Korb.

8 Großmutter.

9 Wahrlich.

5. Feldleben

5.
Feldleben.

Nicht nur zu Hause bei Mensch und Vieh, sondern auch draußen bei der stillwachsenden Saat und unter den rauschenden Bäumen hatte Ivo ein reich angeregtes Leben; die ganze Welt mit ihren Herrlichkeiten und stillen Freuden zog in die offenen Paradiesespforten dieser jungen Seele ein.

Wenn wir durch das ganze Leben so fortfahren könnten, an Wachstum und Fülle zuzunehmen wie in der Kindheit, ein himmlisch gesegnetes Dasein wäre unser Loos; aber das All dringt plötzlich in uns ein, und wir haben unser ganzes Leben lang nur damit zu thun, es zu zerlegen, zu enträtseln und zu erklären.

Während der großen Vacanz, zur Zeit der Ernte und der Heberet 1, war Ivo fast immer mit Nazi im Felde. Da draußen lebte er erst recht und doppelt auf, und wenn er den Blick aufwärts richtete, so war das Blau seiner Augen wie ein Tropfen aus [242] der Himmelsbläue droben, die sich so still und klar über die Erde und die emsigen Menschen ausbreitete, und es war, als ob dieses leibhaftige Stückchen in einen Menschen versenkten Himmels wieder aufstrebe zu seinem unendlichen Urquell.

So etwas wenigstens dachte einst Nazi, als er den aufschauenden Ivo am Kinn faßte und ihn inbrünstig auf die Augen küßte. Gleich darauf aber schämte er sich dieser Zärtlichkeit und neckte und schlug im Scherze den Ivo.

Wenn die Kühe angespannt wurden, war Ivo immer zur Hand, er legte der Allgäuerin, die nun auch zum Felddienste angehalten wurde, das Polster zwischen die Hörner; es freute ihn, daß das hölzerne Joch doch nicht gerade so hart auf dem Kopf der Thiere liege. Dann stand er im Felde bei den Thieren und wehrte ihnen mit einem Baumzweige die Bremsen ab. Zu dieser Sorgfalt für die wehrlos Angefochten hielt ihn Nazi mit weisen Ermahnungen an.

Ivo und Emmerenz stellten sich auch oft, schon lange ehe die Kühe oder der Falb angespannt wurde, auf den Wagen und tanzten auf dem Brette; dann fuhren sie selig hinaus in's Feld; tummelten sich auf der Wiese, sammelten das Heu auf Schochen 2 und stießen einander muthwillig hinein.

[243] So oft der Nazi in's Feld fuhr, stand Ivo bei ihm auf dem Wagen, oder er saß auch allein oben, die Hände in den Schooß gelegt; und wie sein Leib erzitterte von dem Rütteln des Wagens, so hüpfte ihm das Herz im Leibe. Er sah träumerisch hinaus in die Gefilde. Wer mag ermessen, welches lautlose Naturleben die Brust eines solchen Kindes bewegt?

Auch fromme Wohlthätigkeit übte Ivo schon frühe.

Emmerenz mußte als Kind armer Eltern die abgefallenen Aehren auf dem Felde zusammenlesen. Ivo ließ sich nun von seiner Mutter ein Säckchen nähen, hing es an einem Bändel um den Hals und sammelte für Emmerenz die Aehren. Die Mutter warnte ihn nur, während sie ihm das Säckchen umhing, er solle acht geben, daß der Vater ihn nicht sehe, denn er würde zanken, da es sich für ein Kind vermögender Eltern nicht schicke, Aehren zu lesen. Ivo sah verwundert nach seiner Mutter, eine tiefe Betrübniß blickte aus seinem Antlitze, aber sie haftete nicht lange.

Mit himmlischer Freude, wie er sie fast noch nie empfunden, ging er barfuß über die scharfen Stoppeln und sammelte für Emmerenz einen ganzen Sack voll Gerste. Er war dann dabei, als Emmerenz mit einem Teile davon die jungen Entchen fütterte, er ahmte die Thierchen nach, wie sie so hastig hin und her springend die Körner aufschnabelten.

[244] Einst ging Ivo mit Nazi in's Feld. Der Falb, ein wohlbeleibtes Pferd mit tief eingeschnittenem Kreuze und weißer Mähne, die bis auf die Brust hinabreichte, war an die Egge gespannt. An des Schloßbauern Haus trieb der Wirbelwind eine Staubsäule in die Höhe.

»Meine Mutter hat gesagt,« erzählte Ivo, »daß in so einem Wirbelwind böse Geister einander würgen, und wenn man dazwischen kommt, erwürgen sie einen.«

»Wir kriegen heute noch bös Wetter,« erwiderte Nazi, »bleib du daheim.«

»Nein, laß mich mit,« erwiderte Ivo, die rauhe Hand Nazi's fassend.

Nazi hatte recht prophezeit. Sie waren kaum eine Stunde im Felde, als sie von einem furchtbaren Hagelwetter überfallen wurden. Schnell wurde das Pferd von der Egge gespannt, Nazi schwang sich mit Ivo hinauf, und im Galopp ging es der Heimath zu. Es war so dunkel geworden, als ob die Nacht hereinbräche. Ivo schmiegte sich furchtsam an Nazi: »Gelt,« sagte er, »das Wetter haben die bösen Geister vom Wirbelwind gebracht?«

»Es gibt keine böse Geister, es gibt nur böse Menschen,« erwiderte Nazi.

Sonderbar! Ivo fing vor Furcht an, laut zu lachen, so daß es dem Nazi angst und bange wurde. [245] Schrecken und Freude sind so nahe verwandt, daß Ivo in dem Zittern seiner Seele sozusagen ein kitzelndes Wohlgefühl empfand.

Leichenblaß und zähneklappernd kam Ivo nach Haus, seine Mutter brachte ihn schnell in's Bette, besonders auch um ihn vor dem Vater zu verbergen, der es schon lange nicht leiden wollte, daß das zarte, zum Pfarrer bestimmte Kind mit in's Feld ging.

Ivo war kaum einige Minuten im Bette, da kam der Nazi mit einem Apothekerglas, gab ihm einige Tropfen daraus zu trinken, worauf er in einen sanften Schlaf verfiel und schon nach einer Stunde so gesund war wie zuvor. – –

Die unvergleichlichste Freude genoß einst Ivo, als er einen ganzen Tag lang, ohne zwischendrein nach Hause zu kommen, mit in's Feld durfte. Morgens in aller Frühe, schon vor der Frühmesse, ging er mit Nazi und dem Falben, der an den Pflug gespannt war, hinaus in's Feld, nach dem größten und entferntesten Acker Valentins, der an der Isenburger Gemarkung im Würmlesthäle liegt.

Es war ein schöner heller Augustmorgen, es hatte in der Nacht gewittert, ein frischer Lebensathem wehte von den Bäumen und Feldern. Die Kleeblumen, das einzig Blühende im Felde, schauten wie mit glitzernden Augen auf zur Sonne, die man [246] noch nicht sehen konnte, obgleich es längst heller Tag war; sie war jenseits hinter dem Hohenzollern aufgegangen.

Der Pflug griff wacker ein, ein erquickender Brodem stieg aus der braunen, regengesättigten Erde auf. Der Falb schien sich fast gar nicht anzustrengen, und Nazi lenkte den Pflug so leicht wie ein Fährmann das Ruder eines mit dem Strome schwimmenden Kahnes. Weit ringsum war Alles so hell, und bald da, bald dort sah man Menschen und Vieh fröhlich arbeiten.

Als es in Horb zur Frühmesse läutete, hielt Ivo an. Das Pferd stand still, der Pflug ruhte in der Furche, Ivo und Nazi falteten die Hände; es war fast, als ob der Falb auch mit bete, denn er schwenkte den Kopf mehrmals auf und nieder. Darauf zogen sie noch die Furche bis ans Ende, setzten sich an den Rain und verzehrten ein Stück Brod.

»Wenn wir nun heut einen Schatz finden thäten,« sagte Ivo, »weißt du, wie selber Bauer, von dem der Emmerenz ihr Mutter erzählt hat, dem ein ganzer Hafen voll goldener Karlin beim Pflügen unterm Fuß gelegen ist; da thät ich der Emmerenz ein neu Kleid kaufen und ihrem Vater die Schuld von seinem Häusle bezahlen, und was thätst du?«

»Nichts,« sagte Nazi, »ich brauch' kein Geld.«

[247] Nun ging es wieder tapfer zur Arbeit, die heute so leicht war, daß Nazi zu singen begann, aber nichts vom Pflügen und nichts vom Säen und überhaupt nichts von der Feldarbeit. Er sang:


Wir sind der Geschwister drei,

Die Lise, die Käthi, die Mei,

Die jüngste, die ließ den Knaben herein.


Sie stellt' ihn wohl hinter die Thür,

Bis Vater und Mutter im Bette war –

Da zog sie ihn wieder herfür.


Sie führt' ihn wohl oben in's Haus,

Sie führt' ihn wohl in ein Zimmer hinein

Und warf ihn zum Fenster hinaus.


Er fiel wohl auf einen Stein,

Er brach sich das Herz im Leibe entzwei,

Dazu auch ein Achselbein.


Er raffte sich wiederum heim;

Ach, Mutter! ich bin es gefallen

Auf einen harten Stein.


Mein Sohne, und das geschieht dir recht,

Wärst du es bei Tage nach Hause,

Wie ein anderer Bauernknecht.


Er legt sich wohl oben auf's Bett,

Und als das Glöcklein zwölfe schlägt,

Da hat ihn der Tod gestreckt.


[248] Jetzt schlug Nazi ein Schnippchen, setzte den Hut fester und sang, wohl in Erinnerung an die Vergangenheit:


Ei, liedricher Knecht!

Und zum Saufen bist recht,

Und zum Tanzen bist g'macht,

Und kein Geld hast im Sack.


Wenn i au kei Geld han,

Was geht's andere Leut an?

D'Frau Wirthin schenkt ein,

Wenn i austrunken han.


Und wenn i's net zahl,

So schreibt se's an d'Thür,

Daß e jeder kann sehen,

Daß i liederich bin.


Jo, liederich bin i,

Kein Mensch und der mag mi,

Han kein Haus und kein Feld

Und kein Theil an der Welt.


Plötzlich hielt: Nazi inne und schrie dem Pferde zu: »Hio!« Man konnte nicht wissen, ob er vergessen, daß Ivo bei ihm war, oder ob er seiner nicht achtete. So viel aber ist gewiß, daß derartige Lieder auf ein Dorfkind nicht, wie man glauben sollte, einen verderblichen Einfluß ausüben.

[249] In frühester Jugend hörte Ivo besonders in Liedern allerlei Dinge bei ihren unverhüllten Benennungen, aber die Feinheit seines Gemüths ward dadurch keineswegs befleckt, vielmehr machte gerade das Offene und Unverhüllte derselben sie spurlos abgleiten. In Nazi schienen heute allerlei Erinnerungen aufzusteigen, und nach einer längeren Pause sang er halb laut:


Ich leb schon vierzig Jahre,

Hab auch schon graue Haare,

Und wenn ich halt kein Weib bekomm,

Ist Feuer auf dem Dach;

Und wenn ich halt kein Weib bekomm,

Da spring ich in den Bach.


Gleich darauf sang er wieder:

Ach Schatz, wo fehlt es dir?

Daß du nicht red'st mit mir?

Hast du einen anderweiten,

Der dir thut die Zeit vertreiben,

Der dir ja lieber ist?


Und wenn er dir ja lieber ist,

So reis' ich weg von dir,

Reis' ich auf fremde Straßen,

Thu mein' Schatz einem Andern lassen

Und schreib ihm einen Brief;


[250]

Laß dich grüßen,

Du mußt wissen,

Daß ich ein Reiter bin.

Thu ich reisen fremde Straßen,

Thu mein'n Schatz ein'm andern lassen,

O wie hart ist das,


O wie leicht ist das,

Wenn man kein'n Schatz nicht hat,

Kann man schlafen ohne Sorgen

Von dem Abend bis zum Morgen,

O wie leicht ist das.


Es hätt' auch wohl schöne Städt',

Die ich gewandret hätt',

In dem spanischen Niederland,

Und wo ich auch wandern thät,

Ich niemals mein Schätzichen fand.


Wer hat das Liedlein gemacht und erdacht?

Es hat's gemacht, es hat's erdacht

Ein schöner junger Knab',

Seiner Herzlieben zu guter Nacht.


Wie Sehnsuchtsblicke, die in endloser Ferne schweifen, so zogen die Töne dahin, weit über das Feld, und sie verklangen, und wer weiß, wem sie gegolten.

Sollte der alte Knecht noch eine so tiefe Liebe in der Seele nähren?

[251] Es läutete eilf Uhr, und nun wurde wiederum angehalten und gebetet; das Pferd wurde vom Pfluge gespannt und ihm ein Bündel Klee vorgeworfen. Ivo und Nazi setzten sich auf den Rain neben dem Kleeacker und harrten auf Gretle, die das Essen bringen sollte; es ließ auch nicht lange auf sich warten. Aus einer Schüssel aßen nun die beiden, und es schmeckte ihnen wohl, denn sie hatten tüchtig gearbeitet; sie aßen so rein aus, daß das Gretle sagte:

»Es gibt morgen gut Wetter, ihr machet sauber G'schirr.«

»Ja,« sagte Nazi, die Schüssel umkehrend, »da versauft kein' Wanz' mehr drin.«

Nach dem Essen legten sich die beiden ein wenig nieder, denn:


Es ist kein'm Thierle zu vergessen,

Es ruht ein Stündle nach dem Essen.


Ivo lag an dem Raine ausgestreckt, und auf das tausendstimmige Zirpen im Kleeacker hinhorchend, sagte er, indem er die Augen schloß:

»Es ist just, wie wenn der ganz' Kleeacker leben und die Blumen singen thäten ... und droben die Lerch' ... und die Grasmück« – er beendete seine Rede nicht, denn er war eingeschlafen. Nazi betrachtete ihn lange mit Wohlgefallen, dann holte er [252] einige Stäbe herbei, steckte sie behutsam in den Boden und breitete das Grastuch, in welches der Klee eingebunden war, darüber aus, so daß der Knabe im Schatten schlief; leise stand er dann auf, spannte das Pferd wieder an und fuhr lautlos in seiner Arbeit fort.

Man wußte nicht, ob er die Lieder von seinem Munde zurückdrängte, oder ob ein tiefer Ernst ihn so stille machte. Der Falb war sehr folgsam, er zog von selbst die Furchen ganz schnurgerade, und es bedurfte nur eines leisen Rucks am Zügel und keines lauten Worts, um ihn stets in gleichmäßiger Richtung zu erhalten.

Die Sonne war schon im Hinabsteigen, als Ivo erwachte. Er riß das über ihm aufgebaute Zelt schnell ein und sah sich verwundert um, er wußte eine Zeitlang nicht, wo er war; als er den Nazi erblickte, sprang er mit Freudenjubel auf ihn zu. Er half nun die Arbeit vollenden, und es that ihm fast wehe, daß der Nazi auch ohne ihn hatte pflügen können, denn er that sich was darauf zu gut, bei der Arbeit helfen zu müssen.

Es war Abend geworden, als man den Pflug abspannte, um mit dem ledigen Pferde heimzukehren. Nazi hob den Ivo auf das Pferd und folgte hinterdrein den Berg hinan; plötzlich erinnerte er sich, daß er sein Messer beim Pfluge hatte liegen lassen, er [253] kehrte um, und nun stand er unten und schaute hinauf nach der scheidenden Sonne, die zwischen den zwei von schwarzen Tannen bekränzten Bergen unterging. Wie ein aus lauter Licht und fließendem Gold erbauter Chor einer Kirche sah Himmel und Erde aus, es war, als ob die ganze Ewigkeit ihre Heiligthümer aufgeschlossen hätte; lange Glutstreifen flatterten ringsum vom brennendsten Flammenpurpur bis zum weichsten, kaum gehauchten Roth, die kleinen Wölkchen glichen lichten Engelsköpfen, und mitten drin stand eine große Wolke in feierlicher Stille, gleich einem großen Altar; das Fußgestell war blau, und drüber brannte eine Flammendecke; es war, als müßte man sich plötzlich da hinaufschwingen und verzehren, verglühen, und es war wiederum, als müßte jetzt plötzlich diese Wolke sich zertheilen und heraustreten der Herr in seiner Glorie und verkünden das tausendjährige Reich des Heils und des Friedens.

Droben am Bergesrande ritt Ivo auf dem Pferde, und es war, als ob das Thier, das, an die Erde gebannt heute ihre Furchen aufwühlte, jetzt plötzlich hinweggehoben von der Scholle in der Luft schwebe und mit dem Kinde hinausgezogen werde in den Himmel; man sah die Füße nur sich sanft in der Luft heben, Ivo streckte die Arme aus, als winke ihm ein Engel. Zwei Tauben flogen hoch in [254] den Lüften der Heimath zu, sie flogen hoch, sie flogen weit – was ist hier weit, und was ist hoch? – ihre Flügel regten sich nicht, sie schwebten dahin, wie von einer unendlichen Macht gezogen, und verschwanden in den Gluthen.

Wer verkündet all die Himmelspracht, wo das Herz, durchglüht vom heiligen Geiste des Alls, sich ausdehnt bis dahin, wo keine Schranke mehr, wo man aufgegangen, in's Unendliche, doch beseligt, befriedigt, in sich, in Gott, die klopfende Brust hält.

So stand Nazi da, alle Erdenpein und alle Begierde war von ihm genommen. In die Seele dieses armen, einfältigen Knechtes fiel ein Strahl aus der unerschöpflichen Glorie Gottes, und er stand höher als alle die Großen auf den Thronen des Geistes und der Macht – die Majestät Gottes hatte sich auf ihn herniedergesenkt.

Unvergeßlich blieb dieser Tag für Nazi und Ivo.

Fußnoten

1 Des Pflügens.

2 Haufen, nur beim Heu gebräuchlich.

6. Die lateinische Schule

6.
Die lateinische Schule.

Eine Lebensveränderung trennte Ivo bald von seinem Jugendfreunde.

Die Zeit war gekommen, in der Ivo seinen ersten Schritt aus dem elterlichen Hause und zu [255] seinem Berufe thun mußte. Auch äußerlich ging zu diesem Zwecke eine Aenderung mit ihm vor; statt der kurzen Jacke hatte man ihm einen langen, blauen Rock machen lassen, und da man wohl voraussehen konnte, daß er ihn verwachsen würde, war er nach allen Richtungen überflüssig weit.

Als nun Ivo so standesmäßig gekleidet mit seiner Mutter nach Horb ging, schlotterte der sonst so behende Knabe in den großen Stiefeln mühselig einher; er hob stets seine Hände empor, um auch seinen abstehenden Rock mitzunehmen.

Valentin nahm sich wenig mehr um die Bestimmung seines Sohnes an. Er hatte den Pfarrersgedanken genugsam ausgekostet, es war ihm jetzt fast gleich, ob sein Sohn Pfarrer oder Bauer würde; überhaupt war ihm, wo es drauf und dran kam, etwas Außergewöhnliches zu thun, jede Mühe zu viel.

Die Mutter Christine aber war eine fromme und entschlossene Frau, sie ließ einen einmal erfaßten Gedanken nicht mehr so leicht wieder los.

Der Kaplan wohnte neben der Stadtkirche. Mutter und Sohn gingen nun zuerst in die Kirche, knieten vor dem Altare nieder und beteten inbrünstig drei Vaterunser. Mit ähnlichen Gefühlen, wie einst Hanna ihren Sohn Samuel dem Hohenpriester im Tempel zu Jerusalem brachte, war die Seele der [256] Mutter Christine erfüllt. Sie hatte zwar das Alte Testament nie gelesen und kannte die Geschichte von Hanna und Samuel nicht, aber in ihrem Geiste lebten jene alten Empfindungen rein und neu wieder auf. Mit einem von Wehmuth und Liebe strahlenden Blicke schaute sie auf zur heiligen Mutter Gottes, die so hochbegnadigt war, den unter dem Herzen zu tragen, der da ist das Heil der Welt, und sie bat sie, ihren Sohn zu beschützen und anzunehmen als Diener der heiligen Kirche. Die Hände fest auf ihren Busen drückend, betrachtete Christine ihren Sohn, als sie mit ihm die Kirche verließ.

In der Kaplanei stellte sie ihr Körbchen in die Küche und gab der Köchin Eier und Butter; darauf wurde sie gemeldet, und mit kleinen Schritten, nach jedem Tritte sich verbeugend, ging sie in die geöffnete Stube des Kaplans. Dieser war ein gutmüthiger Mann, der, seine fleischigen Hände stets in- und auseinander wickelnd, mit salbungsvollen Mienen und Gebärden die Ankömmlinge traktierte. Die Mutter horchte so aufmerksam zu wie bei einer Predigt, und als nun Ivo ermahnt wurde, recht fleißig zu sein, weinte er laut auf, er wußte nicht, warum, aber sein Herz war so voll, er konnte nicht anders; der gute Mann tröstete und streichelte ihn, und still beruhigt verließen die beiden das Haus.

Nun ging es zu einer alten Witfrau, die neben [257] dem Staffelbäck wohnte; im Vorbeigehen hatte Ivo eine Fastenbrezel erhalten, und am Ofen sitzend, den Leckerbissen verzehrend, hörte Ivo die Unterhandlung mit der Frau Hanklerin. Benannte Frau war eine Butter- und Eierhändlerin, die in alter Geschäftsverbindung mit der Frau Christine stand. Es wurde nun ausgemacht, daß sich Ivo künftig hier im Hause über Mittag aufhalten, daß ihm die Frau Hanklerin etwas kochen und dafür ein Gewisses an Eiern, Butter und Mehl erhalten solle.

Zu Hause angekommen, warf Ivo schnell den weiten Rock ab, schlenkerte die Stiefel von den Füßen und eilte in den Stall zum Nazi; dieser fuhr sich mit der Hand über die Augen, als er hörte, daß Ivo nun Student sei.

Andern Tages war es unserm jungen Freunde schwer zu Muthe, als er zum erstenmal in die lateinische Schule sollte. Er wurde früh aufgeweckt, mußte sich schön anziehen, und damit ihm der Abschied nicht zu schwer sei, begleitete ihn die Mutter bis vor das Dorf auf die Hochbux. Dort gab sie ihm noch ein Stückchen in Papier gewickeltes gebraten Fleisch und sagte ihm, das solle er heute mittag verzehren; dann gab sie ihm noch zwei Kreuzer, für alle Gefahren, damit er sich etwas kaufen könne.

Die Leser kennen längst den Weg nach Horb, da sie ihn schon oft gegangen; aber neben dem kaum[258] halbstündigen Schlangenweg, der sich am steilen Berge hinanzieht, gibt es noch einen näheren Fußsteig von der Hochbux aus links durch den Wald; diesen schlug Ivo ein, und in wenigen Minuten sprang er – denn man kann hier nicht gehen, sondern bloß springen – bis hinab zur Horber Ziegelhütte. Sein Herz pochte schnell, und seine Thränen flossen reichlich, denn er empfand es wohl, daß er ein neues Leben beginne.

An der Ziegelhütte machte er Halt, trocknete seine Thränen und schaute nach dem Braten; er roch daran und genoß einen angenehmen Duft. Er wickelte das Papier auseinander, das Fleisch lachte ihn an, es war zum Küssen, er spielte Versucherles, und kurz – nach einer Weile hatte er nichts mehr als das leere Papier. Gestärkt und ganz wohlgemuth ging er nach der lateinischen Schule.

Hier musterten die Knaben den neuen Ankömmling ganz unverhohlen; sie machten sich besonders über seine weiten Kleider lustig.

»Wie heißt du?« fragte einer.

»Ivo Bock.«


»Das ist der Ivo Bock

Mit dem Familienrock,«


sagte ein Knabe mit einem schön gestickten Hemdkragen. In Ivo's Antlitz verrieth sich jenes Zucken,[259] das dem Weinen vorausgeht. Als nun aber mehrere auf ihn zukamen und ihn zerren wollten, schlug er mit wütender Kraft mit beiden Fäusten um sich. Der Reimschmied aber mit dem gestickten Kragen kam auf ihn zu und sagte: »sei zufrieden, es darf dir niemand was thun, ich helf' dir.«

»Ist das dein Ernst, oder willst du mich noch mehr foppen?« fragte Ivo mit bewegter Stimme, indem er noch immer seine Fäuste ballte.

»Mein voller Ernst, da hast du meine Hand drauf.«

»Meinetwegen,« sagte Ivo, und seine Faust löste sich zu friedlichem Händedruck auf.

Es ist wohl möglich, daß das Stadtkind unsern Ivo anfangs noch weiter zu necken oder ihn mit hoher Gönnerschaft zu schützen gedachte; die sichere Haltung Ivo's mochte aber Allem diesem eine andere Wendung gehen.

Die Ankunft des Kaplans brachte plötzlich Stille unter die Versammelten. Der Unterricht war der gewöhnliche, wenn man mensa zu deklinieren beginnt. Als die Schule zu Ende war, begleitete der Knabe mit dem gestickten Kragen nebst seinem jüngeren Bruder unsern Ivo bis zur Frau Hanklerin; es waren des Oberamtmanns Söhne, deren Gesellschaft er hatte. Wir können nun schon beruhigter seinem Schicksale in der Stadt entgegensehen.

[260] Bei der Frau Hanklerin waren alle Thüren verschlossen. Ivo setzte sich auf die Hausschwelle, ihrer harrend. Trübe Gedanken stiegen in seiner Seele auf, sie waren zunächst nur alltäglichen Ursprungs, ihn hungerte. Er gedachte, wie sie jetzt zu Hause sich alle um den Tisch setzen und er allein hier hungernd und verlassen draußen in der Welt stehe, kein Mensch sich um ihn kümmere; da liefen die Leute alle so rasch vorbei, und keiner schaute nach ihm um, alle gingen zu dampfenden Schüsseln, die ihrer harrten, nur er saß da, als ob er vom Himmel gefallen wäre und keine Heimath hätte.

»Jedem Stückle Vieh,« sagte er, »steckt man zur Zeit sein Futter auf, nur um mich bekümmert sich niemand; zwar hab' ich zwei Kreuzer im Sack, aber ich darf das Geld doch nicht jetzt schon angreifen.«

Immer schrecklicher ward es ihm, so da draußen in der fremden Welt zu sein, ein unnennbares Heimweh preßte seine Brust; rasch richtete er sich auf, und in großen Sätzen sprang er auf und davon, der Heimath zu. Als er um die Ecke bog, begegnete ihm die Frau Hanklerin. Sie entschuldigte sich viel tausendmal, sie habe ihn vergessen und sei aufgehalten worden. »Komm mit,« war der tröstliche Schluß ihrer Rede, »ich koch' dir ein Rübelessüpple und schmelz' dir's recht gut, deiner Mutter zulieb; dein' Mutter ist eine brave Frau, und wenn du einmal [261] Hajrle bist und ich gestorben bin, mußt du auch eine Mess' für mich lesen, gelt, das thust du?«

Ivo war ganz glückselig, daß jemand von seiner Mutter sprach; es war ihm, als wäre er tausend Stunden weit und schon zehn Jahre von Haus weg: das Latein, der Braten, der Familienrock, die Händel, der neue Kamerad, die Flucht – er hatte heute schon so viel erlebt, mehr als sonst in einem halben Jahre. Er ließ sich nun das Essen gut schmecken, aber es war ihm doch nicht wohl bei der fremden Frau; ein stilles Gefühl dämmerte in ihm, daß er dem Boden seines Daseins, dem elterlichen Hause, entrückt war. Ein junger Waldbaum, der schützenden Genossenschaft, dem still ruhenden festen Erdreiche entzogen, auf rasselnden Wagen dahingerollt, um auf ferner Anhöhe einsam einzuwurzeln – wenn er reden könnte, er müßte herzdurchbohrende Jammertöne ausstoßen. Ivo fühlte ein schweres Drücken auf seiner Herzgrube.

Der Nachmittagsunterricht ging leichter, da kam Deutsch vor, da konnte Ivo auch ein Wort mitsprechen. Auf dem Heimwege gesellte er sich zu seinen zwei Ortskindern, zu des Johannesle's Constantin und zu des Hansjörgs Peter; Constantin sagte, der jüngste der Studenten müsse den älteren immer die Bücher tragen, und Ivo ließ sich die schwere Bürde ohne Widerrede aufladen.

[262] Oben an der Steige aber sahen sie die Mutter Christine, die ihrem Sohne entgegengegangen war; die Bücher wurden ihm abgenommen. Ivo sprang jubelnd seiner Mutter entgegen, aber mitten drin hielt er ein, er schämte sich vor den großen Burschen, seiner Mutter um den Hals zu fallen, und duldete selbst ihre Liebkosungen nur ungern.

Die Mützen auf die Seite gerückt, mit ihren Büchern unterm Arme stolzierend, gingen die beiden größeren Studenten durch das Dorf.

Ivo hatte nun seiner Mutter und zu Hause dem Nazi gar viel zu erzählen, als ob er über dem Meere gewesen wäre. Er kam sich auch als was Rechtes vor, da man für ihn besonders gekocht hatte und ihm besonders auftrug. Selbst das Gretle, das ihm fast nie ein gutes Wort gab, war jetzt freundlicher gegen ihn; er kam ja aus der Fremde.

So wanderte nun Ivo von Tag zu Tag in die lateinische Schule.

Um dieselbe Zeit war auch mit dem Muckele eine große Veränderung vorgegangen, es stand nicht mehr so fröhlich im Stalle, denn es war zum Zugthiere gezähmt worden. Ivo glaubte, das Thier leide durch seine Entfernung vom Hause, und er war sehr betrübt.

In der lateinischen Schule aber ging Alles vortrefflich.

[263] Wie Ivo schnell in den zu weit angemessenen Rock hineinwuchs, so erfüllte er auch bald alle seine neuen Verhältnisse und fühlte sich behaglich darin.

Die innige Beziehung zu Nazi litt sehr, denn sie konnten nicht mehr so Alles mit einander theilen; die genauen Berichte hörten auch nach und nach auf, es gab immer seltener etwas Wichtiges zu erzählen, und Ivo setzte sich, wenn er nach Hause kam, meist still hinter seine Bücher. Dagegen trat die Frau Hanklerin in ein freundschaftliches Verhältnis. Sie sagte immer: »Man könne sich mit Ivo ausschwatzen wie mit einem Alten.« Sie erzählte ihm viel von ihrem verstorbenen Mann, und Ivo half ihr sorgen und raten, wenn der vierteljährige Hauszins zu bezahlen war.

Mit des Oberamtmanns Kindern stand Ivo in beneideter Freundschaft.

Und Emmerenz? Sie war jetzt neun Jahre alt, ging in die Schule und diente in den Freistunden als Kindsmagd bei dem Schullehrer.

In einem Lebensalter, in welchem sonst die Kinder nur mit der Puppe spielen, hatte Emmerenz eine lebendige anspruchsvolle Puppe zu versorgen; aber sie that es meist mit kindlicher Lust und Spielerei. Nur wenn Valentin nicht zu Hause war, durfte sie mit ihrem Kind bei ihm »ause laufen,« d.h. Besuchmachen, sonst war sie »unwerth.« 1 Der [264] Zimmermann konnte das Kindergeschrei nicht leiden. Er ward überhaupt immer krittlicher und unzufriedener. Ivo sah nun zwar die Emmerenz hin und wieder, aber die beiden Kinder hatten eine gewisse Scheu voreinander, besonders Ivo bedachte ernstlich, daß es sich für ihn, als künftigen Geistlichen, nicht schicke, so vertraut mit einem Mädchen zu sein. Er ging oft mit seinen Büchern an Emmerenz vorbei, ohne sie zu grüßen.

Auch sonst sah sich Ivo vielfach von seinen alten Lieblingssachen hinweggedrängt. Wenn er zu Hause war und nach alter Gewohnheit in den Stall ging, um dem Nazi zu helfen, den Stier, die Allgäuerin und den Falb zu füttern, da jagte ihn oft sein Vater hinaus mit den Worten: »Fort, du hast nichts im Stall zu schaffen, gang du zu deinen Büchern und lern was Rechts, du mußt Hajrle werden. Meinst du, man gibt das Heidengeld umsonst aus? Marschir' dich.«

Mit schwerem Herzen sah Ivo, wie die anderen Knaben die Pferde zur Schwemme ritten, oder stolz auf dem Sattelgaul an einem garbenvollen Wagen saßen. Mancher schwere Seufzer entstieg seiner Brust, während er die Heldenthaten des Miltiades über'setzte; ihm wäre es draußen im Schießmauernfeld beim »Zakkern« viel wohler gewesen, als hier auf dem Schlachtfelde bei Marathon. Er sprang oft vom Stuhle auf und [265] schlug um sich, gleich als erfüllte er damit sein innerstes Streben.

Auch das entfremdete Ivo vom elterlichen Hause, daß er hier mitten unter den Seinigen seinen Geist mit Dingen erfüllte, um die sich sonst niemand bekümmerte; er konnte mit keinem davon sprechen, auch mit dem Nazi nicht. So war er mitten in seinem Hause ein fremder Mensch, mit ganz andern Gedanken als die übrigen.

Der Nazi aber dachte darüber nach, wie er dem oft so betrübten Knaben eine rechte Freude machen könne. Ivo hatte ihm oft mit Entzücken erzählt, welch einen schönen Taubenschlag des Oberamtmanns Buben hätten, und nun zimmerte Nazi in seinen Freistunden den verfallenen Taubenschlag zurecht, kaufte für sein eigen Geld fünf Paar Tauben und Wicken zum Futter. Ivo fiel dem Knechte um den Hals, als er ihn eines Morgens, ohne ein Wort zu reden, auf die »Bühne 2« führte und ihm alles Vorbereitete schenkte.

Man mußte nun Ivo sehen, wie er des Sonntagmorgens hemdärmelig unter dem Nußbaume stand, die Arme auf der Brust übereinander geschlagen, mit seliger Spannung hinaufschauend nach den lieben Thierchen auf dem Dache, die ihre Morgengespräche hielten, ihre Verbeugungen machten und [266] endlich lustig aufflatterten hinaus in's Feld. Von den Besitztümern, die er fassen konnte, die mit ihm auf der Erde wandelten, war er nun an solche gekommen, die er nur noch mit liebenden Blicken begleiten durfte; nur durch den unsichtbaren Gedanken besaß er sie, fassen und liebkosen durfte er sie nicht, sie flatterten dahin frei in die Luft, und nur mit den Banden des seligsten Vertrauens hielt er sie fest.

Kann man dieß nicht als ein Sinnbild der Lebenswendung ansehen, die das Schicksal Ivo's genommen?

Da stand er dann in dem sonnenhellen Morgen unter dem Nußbaume, den Blick liebend nach oben gewandt. Er pfiff den Thierchen auf dem Dache, sie kamen zu ihm hernieder, tänzelten vor seinen Füßen und pickten das Futter auf, das er ihnen hinwarf, aber er durfte sich nicht rühren, um seine Freude auszudrücken, still mußte er sie in seiner Seele hegen, wenn er nicht alle plötzlich aufscheuchen wollte, und so summte er au den Baum gelehnt oft das Lied, das ihn Nazi gelehrt:


Alles, was auf Erden schwebet,

Gleichet keiner Taube nicht.

Tauben das sind schöne Thier,

Tauben die gefallen mir,

Tauben die gefallen mir.


[267]

Morgens fruh um halber achte

Steig ich vor mein Bett heraus,

Schau was meine Tauben machen,

Ob sie schlafen oder wachen,

Ob sie noch bei Leben sein.


Morgens fruh um halber neune,

Fliegen sie nach Nahrung aus,

Da wird mir's ganz angst und wehe,

Weil ich keine Tauben sehe,

Keine in dem Schlag mehr seh.


Abends spat dann kommen sie wieder,

Fremde haben sie mitgebracht;

Sperr ich sie fein sauber ein,

Daß sie möchten sicher sein

Vor dem Marder in der Nacht.


Wenn Ivo dann in die Kirche kam, war seine Seele so voll Liebe und kindlichen Zutrauens, daß er fast immer: »guten Morgen, Gott!« sagte. Mit einem heimischen Wohlgefühle ging er dann in die Sakristei, kleidete sich als Ministrant an und verrichtete beim Hochamte seine Obliegenheiten.

Eine tiefinnige Gottesfurcht, getragen von einer glutvollen Liebe zur Mutter Gottes und besonders zu dem lieben herzigen Christkindchen, wohnte in der Seele Ivo's. Mit besonderer Freude dachte er daran, daß auch der Heiland eines Zimmermanns Sohn gewesen und sich auf den Balken seines Vaters sonnte.

[268] Von allen heiligen Tagen war Ivo der Palmsonntag der liebste; er machte fast noch mehr Eindruck auf ihn als der Karfreitag. Schon Wochen vorher stellte man Weiden, Pappeln und andere Zweige in's Wasser, damit sie grünen; mit den in Büschel gebundenen frühgrünen Reisern umstanden dann die Kinder den Altar zum Andenken an den palmenbegrüßten Einzug Christi in Jerusalem. Die Sträuße wurden mit Weihwasser besprengt und dann im Stalle aufgehängt, damit den Thieren kein Schaden geschehen konnte. Zu Hause war den ganzen Tag alles so ernst und feierlich, man hörte kein lautes Wort, selbst vom Vater nicht; ein jedes behandelte das andere freundlich und liebreich, so daß Ivo ganz glückselig war.

Schon frühe machte sich indes auch in religiösen Dingen ein gewisser Geist des Nachdenkens bei ihm geltend. Der Kaplan erklärte einst, daß der heilige Petrus deshalb den Schlüssel trage, weil er den Seligen die Himmelsthüre öffne.

»Ei, wie denn?« fragte Ivo, »wo sitzt denn der?«

»Am Himmelsthor.«

»Ei, da kommt ja der gar nicht in den Himmel, wenn der da sitzen muß, um den andern aufzumachen?«

Der Kaplan sah Ivo betroffen an und schwieg eine Weile, dann aber sagte er mit vergnüglichem Lächeln: »der findet eben seine himmlische Seligkeit [269] darin, Anderen die Thore des ewigen Heils aufzumachen. Das ist die höchste Tugend, sich an der Glückseligkeit Anderer zu freuen und für sie zu arbeiten; das ist der hohe Beruf des heiligen Vaters zu Rom, der den Schlüssel Petri auf Erden hat, sowie aller derer, die von ihm und seinen Bischöfen geweiht sind.«

Ivo war das schon recht, doch begriff er es nicht ganz, und es that ihm bei alledem leid, daß der gute Petrus so immer an der Thüre sitzen muß.

Eine schwere Sorge lud der Kaplan dem Ivo auf, als er einst den Kindern einschärfte, man müsse sich jeden Tag fragen: was hast du heute gelernt oder Gutes gethan?

Ivo nahm das buchstäblich genau und war oft sehr übel daran, wenn er nichts Rechtes auffinden konnte. Er wälzte sich dann verzweiflungsvoll in seinem Bette umher.

Es geht mit dem Wachstum des Geistes, wie mit jedem natürlichen Wachstume: ein Thier, eine Pflanze wächst, ohne daß man es eigentlich im wahren Sinn des Wortes sieht. Man sieht stets nur das Gewachsene, nie das Wachsen.

Wir werden sehen, daß Ivo an Geist zunahm, obgleich er sich keine genaue Rechenschaft davon geben konnte.

Dagegen hatte der Kaplan eine weise und nachahmungswerthe [270] Einrichtung in seiner Schule. Er setzte die Knaben nicht nach ihrer Fähigkeit und Geschicklichkeit, sondern nach ihrem Fleiße und ihrer Pünktlichkeit; erst nach diesen sollten jene den Ausschlag geben, »denn,« sagte er, »Fleiß und Ordnung kann sich jeder angewöhnen; das Angeeignete ist die höhere Tugend, Fähigkeit und Geschick aber sind nur überkommene Naturgaben.« So zwang er die Befähigten zur Emsigkeit und verlieh den Minderbegabten Muth und Zuversicht.

Ivo, der mit entschiedener Begabung eine große Gewissenhaftigkeit vereinigte, war bald einer der ersten, und der Oberamtmann sah es gern, daß seine Knaben ihn in's Haus zogen.

Wir kennen den Oberamtmann Rellings noch von dem Befehlerles her. Ivo hatte zu Hause auch oft von seiner Härte erzählen gehört; wie erstaunte er nun, daß er einen freundlichen, gütigen Mann in ihm fand, der mit seinen Kindern spielte und ihnen allerlei Freude bereitete.

So ist es eben. Man wird Hunderte von Menschen treffen, die in Bezug auf das Allgemeine die freisinnigsten Ansichten verfolgen, daß alle Menschen gleich seien u.s.w.; zu Hause aber quälen sie ihr Gesinde, ja sogar Frau und Kinder, wie echte eigenwillige Tyrannen; dagegen wird man andere, besonders Beamte finden, die jeden Menschen, der kein [271] Beamter ist, wie einen Sklaven und Landläufer ansehen und danach behandeln; in ihren vier Wänden sind sie aber die besten Hausväter.

So wohl sich nun Ivo in der Stadt fühlte, so empfand er doch jeden Sonntagabend, wenn es zu Nacht läutete, einen stillen Schmerz; diese Töne verkündeten ihm: morgen ist's Montag, und da geht's wieder fort aus dem elterlichen Hause, von der Mutter, vom Nazi und den Tauben. Nach und nach lernte er auch auf seinem täglichen Gange die darin liegenden Freuden ziehen. Er ging stets allein, denn er wich gern dem Constantin aus, der ihn auf alle Weise neckte.

Im Sommer ging er stets singend seinen Weg; im Herbste hatte er immer die besondere Freude, daß seine Mutter und Schwester einige Tage in des Staffelnbäcks Mühle mahlten; er ging dann mittags nicht zur Frau Hanklerin, sondern aß mit den Seinigen in der dröhnenden Mühlstube zu Mittag. Der Winter bot ihm die meisten Freuden. Nazi, der allerlei Handwerk verstand, hatte mit einem alten eisernen Reifen den Bergschlitten beschlagen. Auf der Hochbux setzte sich dann Ivo auf sein leichtes Fahrzeug, und wie ein Pfeil fuhr er die Straße hinab bis vor die Neckarbrücke. Zähneklappernd sagte er oft im Fahren seinen Spruch oder seine Regel aus der Syntax vor sich hin. Freilich mußte dann Ivo auch [272] des Abends seinen Schlitten wieder an einem Seile den Berg hinaufziehen, aber er that das gern, und meist fand sich auch ein Wagen, an den er sein kleines Fuhrwerk anhängen durfte; nur äußerst selten widerstand ein zäher Fuhrmann seinem freundlichen Bitten.

Ivo versah auch Botendienste für das halbe Dorf: für den einen trug er Garn in die Farbe, für den andern einen Brief auf die Post, für einen dritten fragte er nach, ob kein Brief für ihn da sei. Beim Nachhausegehen hatte er oft einige Stränge Seide, Brustthee, Blutegel in einem Glase, auch Hoffmannstropfen und allerlei, was ihm die Leute aufgetragen, in seinem Schulranzen. Daher war er im ganzen Dorfe sehr beliebt, während Peter und Constantin solche Botendienste stolz abwiesen.

Großes Aufsehen erregte es im ganzen Dorfe, als des Sonntagsnachmittags im Herbste die beiden Söhne des Oberamtmanns mit ihren rothen Mützen den Ivo besuchten.

Die Mutter Christine sah zum Fenster hinaus und hörte, wie die Knaben den blinden Koanradle nach Ivo's Haus fragten; und obgleich Alles im Zimmer wohlaufgeräumt war, geriet sie doch in große Angst. In ihrer Hast legte sie den Schemel auf das Bett und stellte ein Paar Stiefel, die im Winkel standen, gerade vorn unter den Tisch. Sie [273] hörte den Besuch die Treppe heraufpoltern und machte gar verlegen, aber doch mit sichtbarer Freude den »jungen Herren« die Thüre auf und hieß sie willkommen; dann rief sie der Emmerenz zum Fenster hinaus, sie solle den Ivo aufsuchen und auch den Vater, sie sollten schnell heimkommen, es sei Besuch da.

Abermals wischte sie mit ihrer weißen Sonntagsschürze beide Stühle ab und nöthigte die Knaben zum Sitzen. Sie entschuldigte sich, daß Alles so unordentlich aussehe; »so ist es halt bei Bauersleuten,« schloß sie und heftete beschämt den Blick auf den Boden, der doch so rein gewaschen war, daß die Rippen aus den Brettern heraussahen.

Der blinde Koanradle machte eben die Thüre auf, um zu sehen, was es gäbe, und dafür, daß er den Knaben das Haus gezeigt, an der Aufwartung, etwa an einem guten »Schäle« Kaffee Theil zu nehmen; die Mutter Christine schob ihn aber, ohne viele Umstände zu machen, wieder zur Thüre hinaus und sagte: »komm ein andermal.«

Gute Frau! Du warst sonst so groß in deiner religiösen Kraft, und vor diesen Setzlingen der Herren der Erde bist du so klein und demüthig. Freilich bist du in der Furcht des Herrn und fast noch mehr in der Furcht der »Herren« auferzogen und alt geworden.

[274] Der älteste der Oberamtmanns-Söhne hatte sich unterdessen mit vieler Zuversicht in der Stube umgesehen; auf die Stubenthür deutend, fragte er nun: »Warum ist denn das Hufeisen da angenagelt?«

Ernst die Hände zusammenlegend und den Kopf niederbeugend, sagte die Mutter: »Das wisset ihr nicht? Das ist von deswegen: Wenn man mittags zwischen elf und zwölf ein Hufeisen findet, es unbeschrieen einsteckt und an die Thür nagelt, kann kein böser Geist, kein Teufel und kein' Hex herein.« –

Die Knaben schauten verwundert drein.

Ivo kam und bald nach ihm der Vater, er zog die Mütze ab und hieß die »jungen Herren« willkommen; dann sagte er, sich die Hände reibend: »Wie? Weib, hast denn gar nichts im Haus? hol' auch 'was zum Aufwarten.«

Die Mutter hatte nur darauf geharrt, bis sie abkommen konnte; sie ging nun, das Schönste und Beste zusammen zu suchen. Die Emmerenz war so gescheit gewesen und hatte sich in der Küche eingestellt, da man vielleicht noch ihrer bedürfe, denn das Gretle war mit seinem Schatz spazieren; auch hatte wohl Emmerenz noch den geheimen Grund, die vornehmen Kameraden des Ivo noch einmal zu sehen, denn auch ihr that es wohl, daß er so hoch in Ehren stand.

Noch viele Nachbarfrauen hatten sich, von dem [275] Besuche angelockt, in der Küche eingefunden, die Mutter verließ sie mit freundlichen Entschuldigungen und trug eine große Schüssel voll rothbackiger Aepfel, »Breitlinge« genannt, in die Stube. Die Emmerenz trug auf einem blanken Zinnteller zwei Gläschen voll Kirschenwasser.

Die Knaben mußten essen und sogar von dem Branntwein trinken, dann stopfte ihnen die Mutter noch alle Taschen voll Obst. Zuletzt gab sie dem Kleinen noch besonders einen schönen Apfel zum »Gruß an die Frau Mutter, und sie solle ihn auf den Kommod stellen.«

Die Knaben gingen endlich fort. Valentin nickte freundlich, als sie ihn baten, daß der Ivo mit dürfe; die Mutter rückte ihm noch den Hemdkragen zurecht und putzte ihm noch alle Fiserchen von seinem blauen Rocke weg. Ivo hörte zu seiner Freude, daß er bald einen neuen bekäme.

Mit den Frauen, die hinter der halb vorgezogenen Küchenthür gewartet hatten, ging nun Christine auf die Straße und sah vergnügt den dreien nach, die Valentin noch bis zum Adler begleitete. Die Schultheißin sah zum Fenster heraus, und Christine rief ihr hinauf: »Das sind des Oberamtmanns Buben. Sie holen meinen Ivo 'naus zu ihrem Vater in das Schäpfle 3, [276] er sieht's gern, daß sie Kameradschaft mit ihm haben, er ist gar gescheit und beliebt.«

Es darf auch nicht verschwiegen werden, daß sogar Ivo mit einem gewissen Stolze Hand in Hand mit den Knaben durch das Dorf ging. Er freute sich, daß alle Leute zu den Fenstern heraussahen, und er sagte allen mit großer Selbstzufriedenheit: »Guten Tag.«

Wer wird ihm das verdenken in einem Lande, wo des Kindes Vorstellung schon von der Allmacht der Beamten fabelt, wo ihr Dasein und ihre Wirksamkeit in ein majestätisches Dunkel gehüllt ist, wo groß und klein jeden Landereiter und Schreiber demüthig grüßt, weil man weiß, wie man in ihre Hand gegeben ist, wenn die Thüre des geheimen Gerichtes hinter einem in die Klinke fallt?

Der Schäpfleswirth grüßte Ivo ebenfalls sehr freundlich und rieb dabei nach seiner Gewohnheit die Hände, als ob es ihn friere. Ivo durfte nun in das »Herrenstüble« an den durch einen Bretterverschlag abgesonderten Tisch, wo der Kameralverwalter und der Oberamtmann saßen.

Zwei Kaufleute aus Horb standen etwas zaghaft unter dem Eingange in die Herrenkammer. Endlich sagte der eine: »Nun, Herr Stadtrat, was wollen wir denn trinken?«

»Was Sie wollen, Herr Stadtrat,« erwiderte der Angeredete.

[277] Jetzt war's heraus, die beiden Männer waren gestern zu dieser Würde gewählt worden; sie gehörten nun auch an den Herrentisch und nahmen mit tiefen Bücklingen Platz. Der Oberamtmann sah seinen Kollegen an und lächelte höhnisch.

Ivo war seelenvergnügt in dieser Gesellschaft, aber er sollte bald eine Züchtigung für seine Eitelkeit erfahren. Die Kinder erzählten, was sie von Ivo's Mutter über die Wirksamkeit des Hufeisens gehört hatten. Der Oberamtmann, der sich gern in religiösen Dingen als freidenkend zeigte, weil das nicht gegen ein ausdrückliches Verbot im Gesetze war, sondern sogar zur Bildung gehörte, sagte: »Was dummes Zeug! Das ist ein hirnloser Aberglaube. Laßt euch von einem einfältigen Bauernweib nichts aufbinden; ich hab's euch schon oft gesagt, es gibt keinen Teufel und keine Heiligen, oder Heilige, die will ich noch hingehen lassen.«

Ivo zitterte auf seinem Stuhle. Es schnitt ihm tief durch die Seele, wie man hier von seiner Mutter sprach, und noch dazu so gottlos. Er wünschte sich, daß nie solche Kameraden zu ihm gekommen wären. Gegen den Oberamtmann aber faßte er einen gründlichen Haß, er sah ihn grimmig an. Dieser schien nichts davon zu verspüren, er war sehr herablassend und freundlich gegen die zwei neuen [278] Stadträthe, welche, ganz entzückt von so viel Güte, den Mund nicht zubringen konnten.

Unserm Ivo ward es aber erst wieder leicht, als alle die »Herrenleute« weggingen; und so bös war er, daß er sich damit freute, dem Oberamtmann keine gute Nacht gewünscht zu haben.

Fußnoten

1 Unwillkommen.

2 Speicher.

3 Name eines Wirthshauses. Schapf nennt man ein Gefäß, mit dem man Wasser schäpft.

7. Das Kloster

7.
Das Kloster.

Jahre gingen vorüber, man merkte es kaum. Constantin und Peter hatten im Herbste ihre Prüfung bestanden und waren nun bestimmt, in das Kloster zu Rottweil einzutreten; ein Ereigniß aber, von dem man noch lange redete, hielt den Peter im Dorfe fest.

Das zweite Gras war im Schloßgarten abgemäht, die Zeitlose, bei uns Dirnenblume genannt, weil sie so schamlos ohne alle Blätterverhüllung erscheint, stand einsam unter dem bereiften Grase; die Kühe weideten jetzt hier frei, und die Kinder tummelten sich überall und machten auf vereinzelte, an den Bäumen hängen gebliebene Aepfel und Birnen Jagd, gegen die sie mit Stöcken und Steinen auszogen.

Peter saß auf dem Wadelbirnenbaum an der Schloßmauer, nicht weit von dem Eckthurme; eine[279] goldgelbe Birne war das Ziel seines hohen Strebens, der muthwillige Constantin aber wollte ihm die Beute wegschnappen und warf mit einem Steine danach. Da schrie Peter: »mein Aug, mein Aug!« und stürzte samt dem Aste, auf dem er gesessen, vom Baume; das Blut quoll ihm aus dem Auge, Constantin stand neben ihm, weinte und schrie aus vollem Halse um Hülfe.

Das Mauritzele, das die Kühe hütete, kam herbei. Es sah den blutenden Knaben, nahm ihn schnell auf die Schulter und trug ihn nach Haus; Constantin ging hintendrein, alle andern Kinder gesellten sich dazu. Der Zug vergrößerte sich stets, bis man vor Hansjörgs Haus kam; dieser richtete eben einen Wagen her, und als er sein Kind so blutend fand und ohnmächtig sah, schlug er die Hände über dem Kopfe zusammen. Peter schlug das eine Auge auf, das andere aber blutete immer stärker.

»Wer hat dir das gethan?« fragte Hansjörg mit geballter Faust, bald sein jammerndes Kind, bald den zitternden Constantin betrachtend.

»Ich bin vom Baum gefallen,« sagte Peter, auch das gesunde Auge zudrückend, »ach Gott, ach Gott, mein Aug' lauft aus.«

Kaum hatte Constantin das gehört, sprang er schnell fort nach Horb zu dem jungen Erath, der jetzt das Amt seines verstorbenen Vaters bekleidete. [280] Mit namenloser Angst lief Constantin vor dem Hause des Wundarztes hin und her, der über Feld gegangen war; er hielt sich immer mit der Hand ein Auge zu, um sich das Unglück Peters recht zu vergegenwärtigen. Weinend und stöhnend biß er sich die Lippen blutig, er wollte als ein Missethäter in die weite Welt entfliehen, und doch wollte er ausharren, um zu retten, was zu retten war; schnell entlehnte er ein gesatteltes Pferd, und endlich kam der Ersehnte, er ritt rasch davon, aber Constantin lief noch schneller ohne auszuschnaufen den Berg hinan. Der Wundarzt erklärte das Auge für unrettbar verloren. Constantin schloß seine beiden Augen; es war ihm, als ob plötzlich Nacht und Blindheit über ihn hereinbreche; Hansjörg aber sah mit thränenschweren Blicken vor sich hin und hielt krampfhaft den Stumpffinger an seiner rechten Hand. Er sah es als eine schwere Strafe Gottes an, der dafür, weil er einst muthwillig sich selber verletzt, jetzt seinem Kinde das Auge nahm. Mild und liebreich behandelte er den unschuldigen Peter, der für ihn so Hartes erdulden mußte. Die Mutter aber, das uns wohlbekannte Kätherle, war nicht so demuthvoll, sie sagte ganz offen, daß das gewiß der vermaledeite Constantin gethan habe; sie jagte ihn aus dem Hause und schwur, daß sie ihm das Genick breche, wenn er noch einmal über die Schwelle käme.

[281] Peter beharrte bei seiner Aussage, und Constantin verlebte die qualvollsten Tage; er rannte immer im Feld umher, wie von einem bösen Geiste getrieben, und wo er einen Stein sah, da erzitterte sein Herz. »Kain! Kain!« rief er oft und wünschte, daß er auch in die Wüste entfliehen könnte, aber er kehrte immer wieder nach Hause zurück.

Nach drei Tagen endlich wagte er es, seinen Kameraden zu besuchen. Er duckte sich und war bereit, die härtesten Schläge auszuhalten; aber der Zorn der Mutter hatte sich gelegt, es geschah ihm nichts.

Ivo saß am Bette des Kranken, dessen Hand haltend. Constantin schob den Ivo beiseite und faßte die Hand Peters, ohne ein Wort zu reden, sein Athem zitterte, endlich sagte er:

»Geh du fort, Ivo, ich bleib' da, wir haben mit einander zu reden.«

»Nein, laß ihn da, der Ivo darf Alles wissen,« sagte der Halbgeblendete.

»Peter,« sagte Constantin, »in der untersten Höll' kann man nicht mehr ausstehen, als ich ausgestanden hab'. Ich hab' unsern Herrgott oft darum gebeten, er soll mir mein Aug' nehmen und das deinige erhalten; ich hab' mir, wo ich allein gewesen bin, immer ein Aug' zugehalten, ich will nicht mehr haben als du; gelt, lieber, guter, herziger Peter, du verzeihst mir?«

[282] Constantin weinte bitterlich, und der Kranke beschwor ihn, doch ja stille zu sein, sonst würden es seine Eltern merken; auch Ivo tröstete den Unglücklichen; schnell aber erhob sich in diesem seine alte Natur, und er sagte:

»Ich wollt', es thät mir einer ein Aug' ausstechen, dann bräucht' ich auch kein Pfarrer zu werden, hinter die Bücher hocken und ein Katzengesicht machen, wenn die andern Leute fröhlich sind; sei froh, daß du nur ein Aug' hast, du brauchst nicht Pfarrer zu wer den. Aber wart nur, der letzt' hat noch nicht gepfiffen.«

Ivo faltete die Hände und sah den wilden Knaben kummervoll an.

In der That konnte nun auch Peter nicht mehr Geistlicher werden, denn geschrieben steht 3. B.M.C. 22, V. 20: »Wenn du dem Herrn ein Ganzopfer darbringst, so soll es vollständig sein, es darf keinen Fehler haben.«

Ein Geistlicher darf keinen Leibesfehler haben.

Noch in der letzten Stunde, als schon der Wagen vor dem Hause stand und Constantin von Peter Abschied nahm, sagte er: »Ich wollt', daß der Wagen umstürzen und ich einen Fuß brechen thät'. B'hüt dich Gott, Peter, und gräm dich nicht zu arg über dein verlorenes Aug'.«

Auf Ivo hatten die Worte Constantins, die sein [283] innerstes Widerstreben gegen den geistlichen Stand bekundeten, einen tiefen Eindruck gemacht. Oft, wenn er so einsam seines Weges nach der Schule ging, sagte er leise vor sich hin: »sei froh, daß du nur ein Aug' hast, du brauchst nicht Pfarrer zu werden,« und er hielt wechselsweise ein Auge zu, um sich zu versichern, daß er nicht in dem Fall sei; den Constantin konnte er gar nicht begreifen, und doch betete er eine Zeitlang für ihn in der Kirche.

Indes war auch die Zeit herangenaht, da Ivo nach erstandener Prüfung in das Kloster zu Ehingen abreisen sollte.

Im elterlichen Hause wurde die Aussteuer herbeigeschafft, als ob er verheirathet würde. Eine Weile freute sich Ivo mit den neuen Kleidern, aber bald überwog das Gefühl des Abschiedes, und eine zitternde Bangigkeit breitete sich über sein ganzes Wesen aus; doch war er froh, daß seine Mutter mit Nazi und dem Falben ihn noch begleiten wollten. Nachdem er von dem Kaplan, von den Kameraden in Horb und von der Frau Hanklerin Abschied genommen, begann er schon drei Tage vor der Abreise seinen Rundgang durch das Dorf. Alles wünschte ihm von Herzen Glück, denn jedes wollte ihm wohl und pries die Eltern eines so schönen und trefflichen Knaben glücklich. Hier und dort erhielt er auch ein Geschenk, ein Sacktuch, ein Paar Hosenträger, [284] einen Beutel und sogar etwas Geld; letzteres scheute sich zwar Ivo anzunehmen, denn als Kind reicher Eltern schien es ihm fast beleidigend, aber er dachte wieder: die Geistlichen müssen Geschenke annehmen, und freute sich kindisch mit den neuen Sechskreuzerstücken. Der Rundgang durch das Dorf war schneller beendigt, als Ivo gedacht hatte. Er ließ sich nun vor den Häusern, in denen er bereits Abschied genommen, nicht mehr sehen; denn es liegt eine unangenehme Empfindung darin, Leuten, denen man bereits feierlich und auf lange Lebewohl gesagt, wieder so bald danach unter die Augen zu treten, es ist, als ob ein tiefes Gefühl dadurch verwischt würde, und als ob man eine übernommene Schuld noch nicht getilgt habe. Ivo blieb daher fast wie ein Gefangener zu Hause, verweilte bei seinen Tauben, nahm von ihnen und all den stillen Plätzchen feierlichen Abschied.

Am Abend vor der Abreise ging er in das Haus der Emmerenz, um Ade zu sagen. Emmerenz brachte ihm etwas in ein Papier gewickelt und sagte: »Da, nimm's, es ist eins von meinen Geitle.« Obgleich Ivo keinen Widerspruch machte, sagte sie doch: »Nein, du mußt's nehmen. Weißt du noch, wie ich's von der Hohlgasse 'reingetrieben hab'? Da sind sie klein und wunzig gewesen, und du hast ja auch Futter für's gesammelt; nein, nimm's nur, das könnet ihr morgen auf dem Weg verzehren.«

[285] In der einen Hand hielt Ivo die gebratene Ente, die andere reichte er Emmerenz und ihren Eltern zum Abschiede. Mit schwerem Herzen ging er dann nach Hause. Hier war Alles in großer Geschäftigkeit, man wollte heute nacht um ein Uhr fort, damit man noch »zeitlich« nach Ehingen käme. Auf der Ofenbank saß ein Waisenknabe aus Ahldorf, der ebenfalls in das Kloster eintreten sollte; neben ihm lag in einem blauen Kissenüberzuge sein Bündel. Ivo vergaß seinen eigenen Schmerz über dem Mitleid mit dem Waisenknaben, den niemand begleitete, der, allein und verlassen, auf gute Leute bauen mußte. Da er keinen andern Trost bei der Hand hatte, hielt er ihm die Ente unter die Nase und sagte: »Guck, das essen wir morgen mit einander. Gelt, du ißt doch auch gerne ein gut's Schlegele oder ein Stückle von der Brust?« Er sah hierbei ganz fröhlich aus, und um dem Fremden die volle Gewißheit seines Antheils zu geben, sagte er: »Da hast's, kannst's in deinen Bündel thun.« Die Mutter wehrte dieß ab, weil sonst die Kleider beschmutzt würden.

Man ging früh in's Bette. Der Waisenknabe, Bartholomä genannt, schlief in Nazi's Bett, da dieser aufbleiben mußte, um den Gaul zu füttern und dafür zu sorgen, daß man nicht verschlafe.

Als Ivo schon zu Bette lag, kam die Mutter [286] nochmals, leisen Schrittes. Sie hielt die Hand vor das Licht an der Oellampe, die sie trug, um den etwa Schlafenden nicht zu stören; Ivo aber wachte noch, und die Mutter sagte, indem sie behutsam die Decke unter seinem Kinn festlegte, und dann mit der Hand über seinen Kopf fuhr: »Bet auch recht, dann schlafst du gut. Gut Nacht.«

Ivo weinte bitterlich, als seine Mutter fort war. Wie eine Lichtgestalt war sie verschwunden, und er lag wieder in dichter Finsternis. Es war ihm, als wäre er schon fern in ödem, fremdem Haus; dann dachte er wieder, daß morgen seine Mutter nicht mehr zu ihm käme, und er schluchzte in die Kissen hinein. Er dachte an Emmerenz und an alle Leute im Dorfe, er hatte sie alle so lieb, er konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie es denn machen würden, wenn er nicht zu Hause wäre, ob denn noch Alles gerade so fortginge wie gestern; er meinte, alle Leute müßten ihn so entbehren, wie er sich nach ihnen sehnte; in das Leben aller müßte sein Weggehen so tief eingreifen, wie in das seinige; er weinte um sich und um die andern, und seine Thränen flossen unaufhaltsam. Endlich raffte er sich auf, faltete die Hände und betete laut, mit einer Inbrunst, als ob er Gott und alle Heiligen leibhaftig an sein Herz drücke; dann schlief er sanft ein.

Blinzelnd schlug Ivo um sich, als Nazi mit dem[287] Lichte kam, er wollte nichts vom Aufstehen wissen, Nazi aber sagte mit betrübter Miene: »Ich kann dir nicht helfen, steh auf, du mußt jetzt lernen aufstehen, wie's die Leut' befehlen.«

Noch in der Stube taumelte Ivo wie schlaftrunken umher. Erst der erweckende Kaffee brachte ihn zur vollen Besinnung.

Alles im Hause war auf den Beinen, Ivo nahm von seinen Geschwistern weinend Abschied. Der Bartel saß bei Nazi auf dem vordern, mit dem Hafersack gepolsterten Brette, die Mutter war schon auf den Wagen gestiegen, Joseph, der älteste Bruder, hielt den Falben am Zügel. Da hob Valentin seinen Sohn in die Höhe und küßte ihn, es war das erstemal in seinem Leben, daß er ihm dieses Liebeszeichen gab, Ivo umschlang ihn laut wehklagend, Valentin war sichtbar gerührt, aber er war noch Mann genug und hob Ivo auf das Wägelchen, reichte ihm die Hand und sagte mit stockender Stimme: »B'hüt di Gott, Ivo, sei brav.«

Die Mutter hüllte Ivo zu sich in den Mantel ihres Mannes, der Falb zog an, und fort ging es durch das Dorf, das still und dunkel war; nur hier und dort brannte ein traurig Licht bei einem Kranken und schwebten trübe Schatten der Wartenden an den Fenstern vorüber. Kein Lebewohl sagten die trauten Menschen, die hinter all den stillen Mauern [288] wohnten; nur der Nachtwächter hielt an der Leimengrube mitten in seinem Rufe inne und sagte: »Glück auf den Weg.«

Fast eine Stunde lang fuhren die vier so fort, man hörte nichts als den Hufschlag des Pferdes und das Rasseln des Wagens. Ivo lag an dem Herzen seiner Mutter und hielt sie fest umschlungen.

Jetzt wickelte er sich plötzlich aus der warmen Verhüllung und sagte: »Bartel, hast du auch einen Mantel?«

»Ja, der Nazi hat mir die Roßdeck' geben.«

Ivo legte sich wieder still an das warme Herz seiner Mutter, und von Trauer und Müdigkeit überwältigt, schlief er ein.

Seliges Loos der Kindheit, deren Wehe noch die stille Nacht des Schlummers in Vergessenheit einwiegt!

Der Weg ging fast immer durch den Wald, zuerst bis Mühringen, dann durch das liebliche Eyachthälchen und den Badeort Imnau. Ivo sah von alle dem nichts. Erst als man die Haigerlocher Steige hinanfuhr, erwachte er und schreckte zusammen, als er da unten die Stadt von den senkrecht steilen Bergen umdrängt sah; es kam ihm Alles wie ein Wunder vor.

Es tagte, und die Kälte wurde eine Weile empfindlicher; denn es ist, wie wenn beim Aufgang der Sonne die kalte Nacht sich von der Erde erhöbe [289] und mit verstärkter letzter Kraft die irdischen Geschöpfe anhauche. In Hechingen im Rößle kehrte man ein. Ein junges Mädchen stand unter der Thüre des Wirthshauses.

Ivo mochte an Emmerenz denken, denn er sagte: »Mutter, essen wir jetzt das Geitle?«

»Nein, in Gamertingen machen wir Mittag, und da lassen wir uns auch ein Süpple dazu kochen.«

Der sonnenhelle Tag im schönen Killerthale, die wechselnden Gegenstände, das fremde Leben der rauhen Alb heiterten Ivo auf, und als er eine große Rinderherde auf der Weide sah, sagte er zu Nazi: »Versorg' nur auch meinen Stromel gut!«

»Da ist nicht mehr viel zu versorgen, dein Vater hat ihn an den Buchmaier verkauft, der wird ihn dieser Tage holen und in's Joch eingewöhnen.«

Ivo kannte den Fortgang im Schicksale der Thiere zu gut, um hierüber eine Betrübniß zu empfinden; er sagte daher nur: »Beim Buchmaier hat er's gut, der ist rechtschaffen gegen Mensch und Vieh, der wird ihm nicht zu viel zumuthen. Er spannt ja auch die Ochsen nicht in's Doppeljoch, da hat jeder sein besonderes, das plagt sie nicht so arg, da können sie sich doch regen.«

Die Sonne neigte sich schon zum Untergehen, als man in das Donauthal kam. Nazi schien besonders aufgeräumt. Er erzählte mit zurückgewendetem Kopfe [290] allerlei drollige Streiche von dem nahe gelegenen Munderkingen, dem man das Gleiche nacherzählt, was man sonst den Schildbürgern aufbürdet; Ivo lachte aus voller Seele und sagte einmal: »Ich wollt', wir könnten ein ganz Jahr lang so mit einander in der Welt herumfahren.«

Das hatte aber jetzt ein Ende, denn man war vor Ehingen angelangt.

Ivo fuhr zusammen und faßte die Hand seiner Mutter fest.

Man stellte in der Traube, nicht weit von dem Kloster, ein.

Kaum hatten sich unsere Reisenden an einen Tisch gesetzt, als es zur Vesper läutete; die Mutter stand auf, winkte den beiden Knaben und ging mit ihnen zur Kirche.

Es liegt eine tiefe Macht in der allverbreiteten Sichtbarkeit der katholischen Kirche: wohin du wanderst und wo du dich niederlässest, überall stehen hohe Tempel offen für deinen Glauben, deine Hoffnung, deinen Gott, überall kniet die Gemeinde, andächtig nach denselben Heiligtümern ausschauend, dieselben Worte im Munde, dieselben Zeichen führend, überall bist du unter Brüdern und Kindern des einen heiligen, sichtbaren Vaters zu Rom.

Der katholische Glaube in seiner strengen ungetheilten Einheit und Allverbreitung zeigt dir überall[291] Säulen und Hallen, getragen vom Namen deines Herrn, und im Hause deines Gottes findest du überall dein Heimathhaus und den gleichen Eingang zu deiner ewigen Urständ.

So lag die Mutter Christine mit den beiden Knaben im andächtigen Gebete vor dem Altar. Sie wußten nicht mehr, daß ihre Heimath weit weg sei, die Hand des Herrn hatte den von fern her Kommenden eine selige Heimath auferbaut.

Fest und innig, gottvertrauend, nahm die Mutter ihren Sohn an die eine, den Waisenknaben an die andere Hand und ging mit ihnen zum Kloster.

Hier war überall ein buntes Hin- und Herrennen, Trachten aus allen katholischen Gegenden des Landes waren hier zu schauen.

Nachdem der Famulus am Eingange des Klosters die Zeugnisse eingesehen und wieder zurückgegeben, wurden die drei zum Direktor geführt. Dieser war ein alter, grämlich aussehender Mann, er sagte auf alle Reden der Mutter Christine nur: »Gut, gut, schon recht.« Er hatte heute schon gar viel anhören müssen, daß man es ihm nicht verübeln konnte, wenn er wortkarg war.

Ivo zupfte seine Mutter am Rocke, und sie bat nun, daß der »Herr Hochwürden« erlauben möchten, daß ihr Sohn noch heute nacht mit ihr im Wirthshause schlafe.

[292] Nach einer Weile sagte der Mann: »Meinetwegen, aber morgen früh vor der Kirche muß er da sein.«

Bartel nahm einen sehr wortreichen Abschied von der Frau Christine. Der arme Knabe war es gewöhnt, oft guten Leuten zu danken, und er konnte es so meistermäßig wie eine Litanei. Er folgte willig dem Famulus in sein Zimmer.

Ivo sprang und hüpfte fröhlich, da er nun noch bei seiner Mutter bleiben durfte, und er plauderte mit ihr noch lange in die Nacht hinein.

Ein klarer Sonntag im eigentlichen Sinne des Wortes leuchtete des andern Morgens. Schon eine Stunde vor der Kirche ging Ivo an der Hand seiner Mutter nach dem Kloster, der Nazi ging hinterdrein mit dem Gepäcke und dem Bündel für Bartholomä.

Die Mutter half Ivo nun seine Sachen in den bereit stehenden Schrank einräumen und zählte ihm Alles vor; oft blickte sie aber traurig umher, da sie sah, daß zwölf Knaben hier in einer Stube hausen mußten.

Es läutete auf der Klosterkirche. Mutter und Sohn trennten sich, denn dieser mußte sich zu seinen Kameraden gesellen.

Nach der Kirche ging die Mutter zur Frau Speisemeisterin, das war noch eine Frau, mit der konnte [293] man doch eher reden. Sie bat sie, ihrem Ivo doch mitunter etwas zwischen der Zeit zu geben, der Bub vergesse sonst daran, sie wolle ja gern Alles doppelt vergelten.

Ivo durfte noch eine Weile vor dem Essen zu seiner Mutter in's Wirthshaus. Auch der Frau Traubenwirthin legte die sorgsame Mutter ihren Sohn ans Herz, sie solle ihm immer geben, was er wolle, Alles pünktlich aufschreiben, und es werde richtig bezahlt werden. Die geschäftige Wirthin versprach Alles, obgleich sie wohl wußte, daß sie nichts für ihn thun konnte.

Bei Tische aß Ivo mit gutem Appetit, er wußte ja, daß seine Mutter bei ihm war; nach dem Essen aber ging er betrübt zur Traube zurück, denn jetzt kam der schwerste Abschied. Er ging in den Stall zu Nazi, der eben den Falb aufschirrte.

»Gelt, Nazi,« sagte er, »du bleibst mir auch ein guter Freund?«

»Kannst darauf schwören, wie aufs Evangelium,« erwiderte dieser, dem Pferde das Kummet über den Kopf schiebend; er kehrte sich nicht um, denn er wollte seine Rührung verbergen.

»Und du grüßest mir auch alle Leut', die nach mir fragen?«

»Ja, ja, g'wiß, gräm dich nur nicht so, daß du jetzt nimmer daheim bist; das ist noch ein fröhlich [294] Abschiednehmen, wenn man so zurückdenken kann, daß daheim Leut' sind, die einen von Herzen gern haben und denen man nichts Leids gethan hat.« – Die Stimme Nazi's stockte, die Kehle war ihm wie vertrocknet, und es drückte ihn im Halse; Ivo merkte von alle dem nichts, denn er fragte:

»Und die Tauben, gelt, die gibst nicht weg, bis ich wieder komm'?«

»Kein Federle kommt weg. Geh jetzt aber 'nein zu deiner Mutter, wir müssen fort, sonst ist morgen der Tag auch hin. Sei nur fröhlich und laß dich's nicht zu arg keien 1, das Ehingen ist ja auch nicht aus der Welt. Huuf Falb.« Er führte das Pferd an das Wägelchen, und Ivo ging zu seiner Mutter.

Als er sie so jämmerlich weinen sah, unterdrückte er seinen Schmerz und sagte:

»Müsset nicht so jammern, das Ehingen ist ja nicht aus der Welt, und bis Ostern komm' ich wieder, da wollen wir aber lustig sein, hui!«

Schmerzlich preßte die Mutter ihre Lippen zwischen die Zähne, dann beugte sie sich zu Ivo nieder, umfaßte ihn und küßte ihn und »bleib fromm und gut,« das waren die letzten Worte, die sie hervorschluchzte; dann stieg sie auf den Wagen, der Falb zog an, das Thier schaute sich nochmals um, als wollte es auch von Ivo Abschied nehmen, der Nazi [295] winkte noch einmal mit dem Kopfe, und fort rasselten sie.

Ivo stand da, die Hände in einander gelegt, gesenkten Hauptes. Als er den thränenschweren Blick emporrichtete und nichts von seinen Lieben mehr sah, da trieb es ihn mit zauberischer Gewalt, er rannte dem Wägelchen nach vor die Stadt, und da sah er es von ferne auf der weißen Straße dahineilen. Er blieb stehen und kehrte dann in die Stadt zurück: da waren alle Menschen so froh und zu Hause, nur er war fremd und traurig. Draußen aber auf dem Wägelchen nahm die Mutter ihr »Nuster 2« in die Hand und betete: »Liebe heilige Mutter Gottes! Du weißt, was Mutterliebe ist, du hast es in Schmerzen und Freuden empfunden. Beschütze mein Kind, es ist mein Herzblättchen. Und wenn ich eine Sünde damit thue, daß ich ihn so lieb hab', laß die Schuld mich entgelten und nicht ihn!«

Als Ivo in das Kloster zurückkam, mußte er sogleich wieder in die Mittagskirche; aber er konnte diesmal keine Andacht finden, er war zu abgemattet, sein Herz zitterte zu sehr. Er war zum erstenmale in der Kirche, ohne zu wissen, daß er darinnen sei; gedankenlos sang, gedankenlos hörte er.

Schon in diesem einzigen Umstande liegt ein Ergebniß der nunmehr eintretenden Lebensweise; die [296] eigene Willensbestimmung trat zurück, Befehl und Gesetz herrschte.

So ward nun das Leben unseres Ivo ein gesetzmäßiges strenges Einerlei, und wenn wir den Verlaufeines Tages kennen, kennen wir die andern alle.

Die Knaben schliefen in großen Sälen unter Aufsicht eines Repetenten.

Morgens halb sechs Uhr wurde geläutet; der Famulus kam, zündete die an der Decke hängende Laterne an, und nun mußte Alles in die Kirche zum Gebet; dann ging es zum gemeinsamen Frühstück, worauf die Privatarbeit begann, bis um acht Uhr, da der Unterricht seinen Anfang nahm; von diesem ging es zum gemeinsamen Tische, nach welchem man eine Stunde »Recreation« hatte, d.h. unter Aufsicht spazieren ging. Nach dem hierauf mehrstündig fortgesetzten Unterrichte durften die Knaben eine Weile im Hofe spielen, aber auch hier fehlte das offene Auge des Aufsehers nicht. Wie schon der beschränkte Raum die Unfreiheit anzeigte, so war diese auch inmitten des »freien« Spiels; nirgends eine selbstgeschaffene, ungebundene Freude, und vor Allem nie ein still in sich gehegtes Alleinsein.

Zu Hause war Ivo wie das Kleinod der Familie gehalten worden: wenn er in der Stube bei seinen Büchern saß, sorgte die Mutter behutsam, daß sich [297] kein Lärm und kein Geräusch in seiner Nähe finde, fast niemand durfte die Stube betreten, und es war, als ob drinnen ein Heiliger geheimnisvolle Wunder vollführe; hier aber, wenn es nach dem Nachtessen nochmals zur Privatarbeit ging, regte sich bald da, bald dort einer und pisperte, wenn auch nur leise; Ivo konnte sich nicht enthalten, darauf hinzuhorchen, und er arbeitete lässig.

Wer es weiß, welch unergründliche Macht oft die Seele durchdringt, die einsam mit sich in ihren eigenen Gedanken sich spiegelt, oder fremde Gedanken in sich aufnimmt; wer jenen lautlosen Geistesverkehr kennt, der sich still ausbreitet, wie die Blume sich geräuschlos entfaltet, der wird den Schmerz Ivo's mit empfinden, daß er nun gar nicht mehr allein war. Er gehörte nicht mehr sich selber, er gehörte unaufhörlich einer Genossenschaft an.

Um neun Uhr läutete es wieder zum allgemeinen Gebet, worauf Alles sich zur Ruhe begeben mußte.

Erst jetzt wurde Ivo sich selber wiedergegeben, und er flüchtete sich in Gedanken zu den Seinigen, bis der Schlaf alles zudeckte.

So kam sich Ivo in den ersten Tagen wie verkauft vor, denn nirgends war mehr freier Wille, alles Verordnung und Gebot; eine grausame Erfahrung stand vor seiner Seele: die Unerbittlichkeit des Gesetzes.

[298] Es ist eine folgerechte Anordnung jeglichen äußerlich fest bestimmten Kirchentums, daß es schon frühe seinen Zöglingen die Fruchtbarkeit des freien Willens ausschneidet und all ihr Thun und Denken in die unbeugsamen Gesetze einjocht.

Die höchste Aufgabe der Bildung ist aber die Erziehung zur Pflicht, zur Erfüllung des Gesetzes, das wir in der Erkenntniß finden.

Voll Trübsal ging Ivo umher, und es bedurfte nur eines harten Wortes, um die Tränen aus seinen Augen hervorzulocken. Das merkten sich einige lose Kameraden, und sie neckten ihn auf allerlei Weise. Es waren mitunter rohe, häßliche Gesellen, die, aus einem niedrigen Hauswesen gekommen, sich bei der guten Kost und der Fürsorge für Alles behaglich fühlten. Sie merkten, daß Ivo ekel sei, und sprachen bei Tische allerlei ekelerregende Dinge, so daß Ivo oft ohne einen Bissen zu essen aufstand.

Die Vorsorge der Mutter bei der Speisemeisterin kam ihm jetzt sehr zu statten.

Das Vielregieren erzeugt überall ein Umgehen des Gesetzes, das die Wächter ohne strenge Ahndung geschehen lassen müssen, und so hatten mehrere Knaben außer dem, was sich wie durch eine geheime Ueberlieferung forterbte, bald allerlei Schliche und Winkelzüge zu größerer Freiheit ersonnen; Ivo aber nahm keinen Teil daran, ebensowenig wie an den geheimen [299] Possen, die man mitunter den Lehrern und Aufsehern spielte – er war still und allein.

Der erste Brief an seine Eltern mag uns seine Lage zeigen; er lautet:


»Liebe Eltern und Geschwister!


Ich wollte nicht eher schreiben, als bis ich mich hier eingewöhnt hatte. Ach! ich habe in diesen drei Wochen so viel erlebt, daß ich wähnte, ich würde sterben. Wahrlich! wenn ich mich nicht geschämt hätte, wäre ich wahrhaftig wieder heimgelaufen. Ich dachte oft daran: es ging mir, wie unserer Allgäuerin, die fraß auch nichts, bis sie sich an das andere Vieh gewöhnt hatte. Wir haben hier gutes Essen, jeden Tag außer Freitag Fleisch, und am Sonntag auch Wein. Die Frau Speisemeisterin that mir viel Gutes; zu der Tranbenwirthin darf ich nicht hingehen, da der Besuch von Wirthshäusern uns unerlaubt ist. Ach! wir sind überhaupt sehr streng gehalten – – Wir dürfen nicht einmal allein spazieren gehen, mittags eine halbe Stunde. O! wenn ich nur auch als Flügel hätte, daß ich zu Euch hinfliegen könnte. Am liebsten ist mir's, wenn wir auf den Weg spazieren gehen, wo wir herein gefahren sind, da denke ich an die grüne Zukunft – – wo ich auch diesen Weg in die Vacanz gehe. Es ist hier auch 3 sehr kalt. Schicke mir doch ein wollenes [300] Unterwams, liebe Mutter, vorn auf der Brust grün ausgeschlagen. Es friert mich hier viel mehr, als da ich nach Horb ging; da konnte ich machen, was ich wollte, hier bin ich gar nicht mein eigen. Ach! mir ist der Kopf oft so schwer vom Weinen, daß ich wähne, ich würde krank werden. Liebe Mutter, betrübe Dich aber nicht zu sehr, es wird schon besser gehen, und ich befinde mich auch sonst recht wohl; ich muß aber doch mein Herz vor Dir ausschütten. Ich will gewiß recht fleißig sein, da wird mit Gottes Hülfe Alles gut gehen; ich vertraue auf ihn, auf unsern Heiland, auf die heilige Mutter Gottes und auf alle Heiligen, es hielten es ja auch schon andere vor mir aus. Seid also recht vergnügt, habt einander recht lieb! Denn wenn man fort ist, da fühlt man's, wie lieb man sich haben soll, während man bei einander ist; ich wäre jetzt gewiß nie streitig oder unzufrieden, und das liebe Gretle würde mich nicht mehr zanken. Lebet wohl, grüßet mir alle gute Freunde, ich bin Euer lieber Sohn

Ivo Bock.


Postscriptum. Liebe Mutter! Es kam auch ein neuer Repetent an, nämlich des Schneider Christle's Gregor, er hat aber nicht seine Schwester, sondern eine fremde Person bei sich. Macht, daß der Schneider Christle an ihn schreibe, er solle sich um mich annehmen.


[301] Lieber Nazi, ich grüße Dich von Herzen, ich denke auch recht oft an Dich. Man sieht hier fast lauter blaues Allgäuer Vieh, und wenn ich einen Bauer auf dem Feld arbeiten sehe, möchte ich immer gerade hin springen und ihm helfen. Der Speisemeister hat auch Tauben, aber er thut sie alle ab auf den Winter! – Der Bartel wohnt nicht mit mir auf einer Stube, er ist sehr zufrieden, er hat es nie besser gehabt; er hat auch keine so liebe, gute Mutter und auch keinen so Vater, wie ich. Wenn ich nur einen rechtschaffenen Kameraden hier hätte –

Man darf hier auch Besuche Abends in Familien machen, es gehen viele dahin, aber ich kenne niemand hier. Ach Gott! wenn ich in Nordstetten wäre – –

Verzeihet mein schlechtes Schreiben. Ach Gott! wenn ich bei Euch wäre! Es liegt mir noch vieles auf dem Herzen, ich will aber jetzt schließen, es läutet zum Schlafengehen. Denket auch recht oft an mich!«

Dieser Brief machte einen gewaltigen Eindruck im elterlichen Hause, die Mutter steckte ihn in ihre Tasche und las ihn so oft, bis er in Stücke zerfiel; immer aber, wenn sie an Worte kam, wie: »ich dachte, ich that, ich konnte,« schaute sie ein wenig vom Blatte auf, ihr Kind war ihr hierin so fremd, dann aber besann sie sich wieder, daß der Brief eben [302] von einem »G'studierten« sei, und daß der Pfarrer in der Predigt ja auch so spreche. Ein besonderes Kreuz waren dann noch die vielen Gedankenstriche, die konnten so gar vieles enthalten.

Der Nazi erbot sich alsbald, eine ganze Nacht hindurch nach Ehingen zu laufen, und dem Ivo die gewünschten Sachen und Nachricht zu bringen.

Das Walpurgle, die schöne Näherin, wurde nun in's Haus genommen, die Mutter gab ihr das Beste zu essen und zu trinken; es war ihr, als ob das dem Wämschen zu gut käme, und dann sagte sie oft: »spar nur nichts, es ist für meinen Ivo.«

Weihnachten war nicht fern, und so wurde für Ivo Hutzelbrod gebacken, das mit Kirschwasser geknetet und mit Hutzeln 4 und Nüssen angefüllt war; dieses, nebst vielem Obst, einigem Geld und andern Sachen wurde in einen Sack gepackt, und spät am Abend ging Nazi damit durch das Dorf hinaus.

Ivo wollte seinen Augen kaum trauen, als er auf dem Mittagsspaziergange den Nazi mit einem Zwerchsacke daher kommen sah; als aber Nazi winkte, sprang er ihm entgegen und fiel ihm um den Hals. Viele Knaben kam herbei und standen verwundert umher.

»Bock,« fragte einer, »ist das dein Bruder?«

Ivo nickte, er wollte nicht sagen, daß der Nazi nur Knecht sei.

[303] »Da muß dein Vater ein steinalter Bock sein,« sagte ein anderer Knabe. Alle lachten. Der Clemens Bauer aber, ein Knabe aus dem Hohenlohischen, sagte: »Pfui, schämt euch, ihr Neidhammel; ihr solltet euch mit freuen, daß er so eine Freud' hat.« Er lief nun schnell zu dem Repetenten, der als Aufseher mitging, und Ivo erhielt durch ihn die Erlaubnis, allein mit Nazi heimzukehren.

Ein seliges Entzücken leuchtete aus dem Antlitze unseres Ivo, das war ein rechtschaffener Bub; der Gedanke dämmerte durch seine Seele, daß er durch seinen Nazi auch zu einem Freunde kommen werde.

An der Hand des alten Freundes ging er nun zurück, seines Redens und seiner Freude war kein Ende. Als nun gar noch die Sachen ausgepackt wurden, jauchzte er hoch auf. Er legte sogleich etwas zurück für den guten Clemens, aber auch einem jeden seiner Stubenkameraden theilte er bei ihrer Rückkehr etwas mit.

Nazi hatte auch einen Brief an des Schneider Christle's Gregor mitgebracht, Ivo trug ihn sogleich hin, und Gregor bat ihn, öfter zu kommen und ihm alle seine Anliegen mitzutheilen.

Abends durfte Ivo zu Nazi in's Wirthshaus, sie konnten gar nicht fertig werden mit Reden und Fragen. Als es zum Gebet läutete, ging Nazi noch mit bis an das Kloster.

[304] Wie von einer freundlichen Hand getragen, fast schwebend ging Ivo die Klostertreppe hinauf, er fühlte sich jetzt weit mehr hier zu Hause, da sein ganzes Nordstetten zu ihm hergekommen war, indem es ihm seinen liebsten Gesandten geschickt hatte; auch hatte er jetzt einen Gönner und einen Freund, Alles das durch den lieben, guten Nazi.

Von nun an war das Leben unsers Ivo durch Fleiß, Heiterkeit und Freundschaft gehoben. Seine Mutter ließ, wie man sagt, keinen Vogel vorbeifliegen, ohne ihm etwas an ihren Sohn mitzugeben. Und wie es diesem in seinem Schranke fast nie an etwas Besonderem fehlte, so hatte er auch stets in seinem Herzensschreine irgend eine heimliche Freude. Alles um ihn her gewann ein schöneres Leben, wozu vornehmlich auch die Ermunterung des Clemens beitrug. Dennoch schlossen sich die beiden nicht so rasch aneinander an, wie man hätte vermuthen sollen; es bedurfte hierzu eines außerordentlichen Ereignisses. Die andern Knaben aber, als sie sahen, daß Ivo bei dem Repetenten Haible, so hieß Gregor, viel galt, ließen ihn fortan ungekränkt und bewarben sich sogar um seine Gunst.

Eine besondere Freude gewann auch Ivo durch Erlernung der Musik.

Man richtete ein möglichst vollständiges Orchester für die Kirchenfeierlichkeiten ein, Ivo wählte das[305] Waldhorn und gelangte bald zu einer ziemlichen Fertigkeit.

Der Direktor wollte einst den Knaben, die ein bloßes Kasernenleben führten, wieder etwas Familienhäuslichkeit zu kosten geben. Er lud daher in der Religionsstunde die zwölf Ersten, zu denen auch Ivo gehörte, auf einen Abend zu sich ein. Diese Eröffnung wurde als Befehl angesehen, und nach der Reihenfolge ihrer Plätze in der Klasse traten die Knaben, ein jeder sich vielmal verbeugend, Abends ein.

Der Direktor lebte mit seiner alten Schwester zusammen. Es wurde nun Thee bereitet, und die Scholaren griffen schüchtern zu.

Dem guten alten Manne selber war das Familienleben schon längst abhanden gekommen. Statt daher die Knaben nach ihrer Heimath und dergleichen zu fragen, sprach er mit ihnen von den Büchern und dem Studium. Nur einmal, als er einen lustigen Spaß aus seiner Jugend erzählte, wie nämlich zwei Blätter in seiner Bibel zusammengeklebt waren und er sich nicht zu helfen wußte, lief ein halblautes Kichern durch die Reihe der Knaben. Der Direktor aber knüpfte sogleich die Lehre daran, daß, wenn man etwas in der Bibel nicht recht verstehe, einem noch irgendwo ein Blatt zugeklebt sei.

Als es neun Uhr läutete, sagte er: »So, jetzt zum Nachtgebet.« Alles stand auf und betete, dann [306] sagte er: »Gute Nacht,« und die Knaben trollten sich fort. Sie hatten wenig Familienleben bei dem Direktor gehabt.

So verging für Ivo der Winter. Oft war er auch sehr betrübt, wenn er die Knaben aus der Stadt Schlitten fahren oder Schneeballen werfen sah. Als aber draußen der Schnee schmolz und die ersten Triebe sich in der Natur regten, da zitterte sein Herz mit den Pulsen, die draußen die Erde belebten; es drängte auch ihn hinaus in die freie, sonnige Heimath.

Fußnoten

1 Keien, so viel als verdrießen.

2 Von Pater noster, so viel als Rosenkranz.

3 Hier war »frigor ad« durchstrichen.

4 Gedörrte Birnen und Apfelschnitten.

8. Die Vacanz

8.
Die Vacanz.

Schon mehrere Wochen vor der Ostervacanz hatte kein Knabe mehr seine Gedanken recht bei dem Lernen; Alles hüpfte und sprang, wenn es ans Nachhausegehen dachte.

Ivo und Clemens gingen auf Spaziergängen oft Hand in Hand und erzählten einander viel von der Heimath.

Clemens war der Sohn eines Schreibers. Er hatte keine heimische Kindheit gehabt, da sein Vater schon zum drittenmal in eine fremde Stadt versetzt worden war.

Am Abend vor der Vacanz war großes Packen [307] auf allen Stuben, wie vor einem Manöver; am Morgen aber mußten noch alle Knaben in die Kirche, und so laut sie auch sangen, so war ihr Denken und ihre Sehnsucht doch mehr nach ihrer irdischen Heimath gerichtet, als nach ihrer himmlischen.

Ivo nahm herzlichen Abschied von Clemens, und nach der Fuhrmannsregel hielt er zuerst kurzen Schritt, obgleich es ihn zur höchsten Eile drängte. Bartel begleitete ihn, er ging zu einer Base. Er war ein lästiger Gefährte, denn wo unser Herrgott einen Arm herausstreckte, wollte er einkehren. Ivo willfahrte ihm erst in Untermarchthal, wo sich ihr Weg schied. Glücklicherweise traf hier Ivo jüdische Pferdehändler aus Nordstetten. Sie hatten eine große Freude mit ihm, die er von ganzem Herzen erwiderte, sie waren eben zur Abreise bereit, und Ivo konnte mehrere Stunden mit ihnen fahren. Er fragte nun nach Allem, was im Dorfe vorgegangen war, und er hörte von Geburt, Heirath und Tod. Ivo dachte, daß diese drei die Parzen des Lebens seien, und citierte still vor sich hin den Schulvers: Clotho colum retinet, Lachesis net, et Atropos occat 1.

Als es bergan ging, zogen die reisenden Handelsleute ihre Gebetriemen aus einem Beutelchen und legten sie um Stirn und Arm: aus kleinen Büchern [308] sprachen sie sodann ihr langes Morgengebet. Ivo verglich die Athemwolken, die ihrem schnell bewegten Munde entströmten, mit dem Rauchopfer in der Bibel, denn er achtete jedes Glaubensbekenntnis, und besonders das jüdische als das uralt ehrwürdige. Er blickte auch in das offene Gebetbuch seines Nebenmannes und freute sich, daß er auch Ebräisch lesen konnte. Der Betende nickte ihm still, aber freundlich zu.

Ivo bewunderte die Fertigkeit, mit der diese Leute das Ebräische so schnell weglasen, schneller als der Direktor selber.

Als Ivo herzlich dankend vom Wägelchen abstieg, um seinen Weg zu Fuße weiter zu gehen, mußte er seinen Landsleuten versprechen, heute nicht mehr ganz nach Hause zu gehen, damit er nicht krank werde. Still seine Schritte fördernd, lobte Ivo innerlich sein liebes Nordstetten, in dem alle Menschen so gut waren, Christ und Jud, Alles gleich.

So sehr auch die Gedanken Ivo's immer zu Hause waren, so merkte er doch auf Alles und machte sogar manche allgemeine Betrachtung. Mehrmals, als er von ferne die Turmspitze eines Dorfes erblickte, dachte er: »Es ist doch schön, daß man von jedem Dorfe die Kirche zuerst sieht; da weiß man gleich, da sind Christenmenschen bei einander, und ihr schönstes und bestes Haus gehört Gott.«

[309] Ein andermal bemerkte er: »Wie prächtig ist's, daß die Obstbäume so rings um jedes Dorf stehen; sie sind die besten Freunde von den Menschen. Zuerst kommt der Mensch, dann das Vieh, dann die Obstbäume; die brauchen den Menschen auch noch, er muß sie äugeln, pfropfen und raupen. Es ist doch wunderbar! Da rings herum ist alles Gras und klein Gewächs, und da auf einmal geht ein großer Stamm weit in die Luft hinein, und da hangt Alles voll Bluest 2.


O wunderschön ist Gottes Erde

Und werth, darauf vergnügt zu sein,

Drum will ich, bis ich Asche werde,

Mich dieser schönen Erde freu'n.«


Ivo stand still, die heilige Offenbarung von der Größe und Allmacht Gottes hatte sich vor ihm aufgethan.

Wenn nun auch die Seele unsers Ivo so in sich begnügt war, so schloß er sich doch manchem Reisenden an, der mit ihm des Weges ging; die Leute gewannen alle schnell Zutrauen zu ihm, sein freundliches Gemüth lag auf seinem Antlitze, und er war ganz glückselig, daß überall lauter gute, freundliche Menschen waren.

Es war Nacht, als unser Reisender in Hechingen anlangte und so nur noch fünf Stunden von Hause entfernt war. Er fühlte sich zwar nicht sehr müde, ja, er hätte noch die ganze Nacht durchlaufen können,[310] aber er dachte an sein Versprechen; sodann wollte er auch bei hellem Tage nach Hause kommen. »Dunkel war's, als ich wegging,« sagte er, als er in der Herberge hinter dem Tische saß, »hell ist's, wenn ich wiederkomme.« Er war sogar so eitel, daß er wünschte, sein elterliches Haus läge am andern Ende des Dorfes, damit er mit seinem grünen Studentenränzchen durch das ganze Dorf gehen und Aufsehen erregen könnte.

Die Sonne leuchtete längst in vollem Glanze, als Ivo erwachte. Das war ein fröhlicheres Erwachen, als bei der Klosterlaterne. Es war ein schöner Tag, ein echter Jubeltag für die Vögel in der Luft und die Blüten auf den Bäumen.

Ivo wünschte sich nur auch Flügel zu haben, und er ließ wenigstens seine Kappe in die Luft fliegen. Rasch schritt er des Weges dahin, plötzlich aber hielt er inne, setzte sich an einen Rain, und die Worte aus 2. Buch Moses C. 3, V. 5 sprechend: »Ziehe deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehest, ist heiliger Boden,« entkleidete er seine Füße. Hurtig, wie ein unbeschlagenes Füllen, sprang er dahin, es ging ja erst recht der Heimath zu; bald aber merkte er, daß er im Kloster das Barfußgehen verlernt hatte. Die Lippen vor Schmerz zusammenpressend und seine Füße wieder bekleidend, dachte er an den schönen Vers 12 im [311] Psalm 91: »Der Herr wird seine Engel vor dir hersenden, damit dein Fuß an keinen Stein stoße.«

In Haigerloch kaufte Ivo zwei rösche 3 Fastenbrezeln, die eine für seine Mutter, die andere für – Emmerenz. »Sie hat dir ja auch das Geitle geschenkt,« entschuldigte er sich bei seinem geistlichen Gewissen. Er machte gern den Umweg und ging der Landstraße nach, denn er fürchtete, in seiner Herzensfreude zu verirren, er wollte ganz sicher sein: auch hatte er so eine größere Strecke durch das Dorf zu gehen, als wenn er von Mühringen kam.

Je näher es nun der Heimath zuging, um so lichter wurde es für Ivo, um so mehr hob er im stillen Jubel die Arme empor. Manchmal aber fürchtete er auch, es wäre gar nicht möglich, daß er heim käme, die Freude wäre zu groß, er müsse vor irgend einem Unglück oder dem Uebermaße des Entzückens auf dem Wege erliegen; dann setzte er sich oft nieder, um neue Kraft zu sammeln.

Die Leute hatten unrecht, daß sie von Haigerloch aus nur zwei Stunden rechneten, »den Weg hat der Fuchs gemessen, und hat den Schwanz dazu gegeben; das sind ja mehr als acht Stunden,« dachte Ivo.

O Heimath! du heiliger, trauter Ort! Da klopfen die Pulse, da zittert das Herz; da ist der Boden, da sind die Wurzeln des Daseins, zauberischer Athem [312] haucht ringsum, durch die Gassen hin zieht die entschwundene Kindheit, und Augen, längst geschlossen, schauen freundlich zu dir nieder. Sei gesegnet, sei gesegnet, du stille Heimath!

Nicht weit vom Buchhofe sah Ivo seinen Stromel an einem Pfluge ackern. Er sprang schnell hinzu, fragte den Knecht, ob der Stromel gut sei, und freute sich seines Lobes; das Thier aber schien ihn nicht mehr zu kennen, es beugte seinen Kopf unter dem Joch erdenwärts. Gern hätte ihm Ivo etwas gegeben, und er war nahe daran, ihm eine Brezel vor das Maul zu halten, aber er schämte sich und ging fürbaß.

An der Ziegelhütte begegnete ihm des Hansjörgs Peter, der Einäugige, der reichte ihm traurig die Hand und sagte: »Der Constantin ist schon gestern kommen.«

Von allen Leuten bewillkommt, ging Ivo weiter. Alles heimelte ihn an, was da lebte und was in stiller Ruhe stand, jeder Zaun, jede Holzbeige schaute ihn traulich an und erzählte ihm vergangene Geschichten; als er seinem elterlichen Hauses ansichtig wurde, zitterte es vor ihm, denn die Freudenthränen standen ihm im Auge.

Die Emmerenz saß mit des Schullehrers Kind unter dem Nußbaume. Als sie den Kommenden erblickte, ging sie ihm nicht entgegen, sondern sprang in das Haus und rief laut: »Der Ivo kommt, der Ivo kommt!«

[313] Die Mutter stand am Waschzuber, sie eilte schnell die Treppe hinab, trocknete ihre Hände an der Schürze und umarmte ihren lieben Sohn. Auch der Vater, das Gretle, die Brüder, alle kamen fröhlich herbei, und die Mutter hielt ihren Arm um den Nacken ihres Sohnes und trug ihn fast in's Haus.

Nun kam auch die Emmerenz herbei und sagte: »Ich hab's gewußt, daß du heut kommst, der Constantin ist ja schon gestern kommen; geltet, Bas, ich hab' ihn doch zuerst gesehen?« setzte sie vergnügt, zu der Mutter gewandt, hinzu.

Nun kam auch endlich der Nazi, und nach herzlichem »Grüß Gott« zog er Ivo die Schuhe aus und brachte ihm ein Paar Pantoffeln.

Unserm Fremden kam die elterliche Stube so nieder vor, er war an die hohen Klosterzimmer gewöhnt, sich gewaltig reckend, wollte er mit seinen Armen nach der Decke hinaufgreifen, das war doch noch zu viel, obgleich er erstaunlich gewachsen war.

Die Mutter bereitete nun schnell für Ivo eine Suppe und einen Pfarrersbraten; so nennt man nämlich einen Pfannkuchen, weil dieß die gewöhnliche Kost ist, die man den Gästen in den Pfarrhäusern schnell vorsetzt.

Ivo gab seiner Mutter die Brezel und ging dann zu Nazi in den Stall. Die Thiere erkannten ihn wieder, besonders die Allgäuerin drehte ihm die Stirne [314] zu und ließ sich gar gern von ihm zwischen den Hörnern krauen.

»Hast mir denn gar nichts krohmt 4?« fragte Nazi lächelnd. Ivo langte in die Tasche und gab ihm still die noch übrige Brezel. Er ward hierdurch auch von dem Zweifel befreit, ob er nicht unrecht thäte, wenn er der Emmerenz etwas mitbringe; als er aber wieder in die Küche zurückkam, hörte er, wie die Emmerenz sagte:

»Nu, Bas, was krieg' i denn für e Bäckebrod 5

»Nimm die Brezel, die er mitgebracht hat, du wirst nichts dagegen haben, Ivo, ich nehm's für genossen an, aber ich kann's nimmer gut beißen.«

Gern willigte Ivo ein, die Emmerenz hatte nun doch was von ihm; es verdroß ihn aber sehr, daß sie als bald dem schreienden Kinde die Hälfte davon abgeben mußte. Ueberhaupt nahm er viel Aergernis an dem Kinde, das schon so groß war und das Emmerenz noch immer herumschleppen mußte, so daß es oft aussah, als müßte sie das Uebergewicht erhalten und umstürzen. Er sagte daher mit bedeutungsvollem Ernst:

»Du thust eine Sünd', Emmerenz, an dir und an dem Kleinen, wenn du's auf den Arm nimmst; [315] das Kind hat starke Füß', es kann laufen und muß es lernen, und du schleppst dich krumm.«

Emmerenz setzte sogleich das Kind nieder und nahm es, trotz des Schreiens, nicht mehr auf den Arm; der Ivo war ja jetzt ein junger Pfarrer, und er hatte ja gesagt, es sei eine Sünd'.

Diese Zurechtweisung im Dienstverhältniß war fast die einzige Theilnahme, die Ivo während der ganzen Vacanz an Emmerenz bezeigte; er glaubte, sie vor seinem Gewissen wohl verantworten zu können, mehr aber nicht. Das Mädchen sah ihn oft fragend an, wenn er sich so gar nicht um sie kümmerte. Nur einmal in einer guten Stunde fragte er noch:

»Wo hast denn dein' Katz'?«

»Denk nur, der Pfannenflicker, der Hundskaspar, der hat sie gestohlen, hat ihr die schöne schwarze Haut abgezogen und das gut Miezchen gefressen.«

Nachmittags genoß Ivo die volle Ehre des Willkommens bei einem großen Teile im Dorfe. Er hielt sich bei allen Leuten gern auf, es that ihm wohl, daß er nun ein so weit gereister Mensch war, daß alle auf ihn zukamen, ihm die Hand gaben und sein gutes Aussehen bewunderten. Aber nicht bloß Eitelkeit verklärte sein Antlitz, noch ein höheres Gefühl strahlte darauf: er empfand den höchsten Genuß darin, daß die Leute alle so eine recht innige Freude [316] mit ihm hatten. Das innerste Streben seines Herzens fand eine wohlige Befriedigung.

Wie »heimelich« war es dann Ivo Abends wieder, als er zu Hause im Bette lag, als seine Mutter zu ihm kam und ihn sorgfältig zudeckte.

Weiße Weihnachten, grüne Ostern; das war dieses Jahr eingetroffen. Andern Tages war Ostersonntag, Alles schien doppelt hell und grün. Ivo stand wieder wie vordem unter dem Nußbaume, an dem die bräunlich zarten Blätter noch scheu in sich zusammengehüllt waren; er betrachtete wieder mit alter Lust seine Tauben, aber er sang nicht mehr, das schickte sich nicht für ihn.

Nach der Mittagskirche machte sich Ivo auf den Weg, um nach Horb zu gehen. Draußen im Scheubuß, an des Paules Garten, saßen mehrere Frauen auf dem Brückenmäuerchen bei der Trauerweide, deren Aeste in allerlei Bogen verwachsen sind. Sie standen alle ehrerbietig auf, als Ivo freundlich grüßte, eine aber trat auf ihn zu, und nachdem sie ihre Hand mehrmals an der Schürze abgerieben hatte, reichte sie ihm dieselbe; wir kennen sie noch wohl, obgleich sie sehr gealtert hat: es ist die Mutter Marei.

»Grüß Gott, Ivo,« sagte sie, »du bist recht gewachsen; ich ihrze dich nicht, bis du einmal im Seminar zu Rottenburg bist.«

»Ihr dürfet allfort du sagen, Bas.«

[317] »Nein, nein, das geht nicht.«

Die andern Frauen kamen auch herbei und betrachteten den jungen Hajrle, aber keine redete ein Wort, so scheu waren sie vor ihm.

»Wie geht's dem Mathes und dem Aloys in Amerika?« fragte Ivo.

»Guck, das ist brav, daß du an sie denkst. Mein Aloys hat mir erst wieder geschrieben. Du weißt, er ist schon lang geheirath't mit der Mechtild', du kennst sie wohl, da des Mathesen vom Berg; sie haben auch schon zwei Kinder, ich möcht' sie nur ein gotzig's 6 mal sehen. Man ist doch wie halb gestorben, wenn man so verdammt weit voneinander ist. Ich muß meinem Mathes und meinem Aloys seine Kinder sehen, und die Söhnerin 7, die Amerikanerin, die kenn' ich ja noch gar nicht. Meine Buben schreiben mir allfort, ich soll kommen und kommen; ja wenn's nur nicht so grausam weit wär' nach dem Amerika; sie wollen mich in Havre de grace abholen, und wenn's Gottes Wille ist, geh' ich nach Pfingsten mit Auswanderern von Rexingen fort. Wenn mich unser Herrgott zu sich nehmen will, weiß er mich schon zu finden, wo ich bin. Gelt, hab' ich recht?«

Ivo nickte bejahend, und Marei, ein sorgfältig eingewickeltes Papier aus der Tasche holend, sagte:[318] »Guck, das ist der neu' Brief, du thätst einen Gotteslohn, komm mit 'rein, lies mir ihn noch einmal vor; ich kann nicht Geschriebenes lesen. Unser Schullehrer, dem ist's überleid, und der Judenschullehrer hat mir ihn auch schon dreimal vorgelesen: es ist aber ein Wort darin, das können sie all' beide nicht 'rausbuchstabieren; du bist g'studiert, du kannst's gewiß.«

Ivo ging mit Marei in ihr Hans, die andern Frauen folgten erst schüchtern, dann aber herzhaft nach und setzten sich still horchend.

Ivo las, und es wird wohl manchem alten Freunde des Tolpatsch lieb sein, mit zuzuhören:


»Nordstetten in Amerika am Ohioflusse,

den 18. Oktober 18–


Liebe Mutter. Da Ihr nicht wisset, wie mir's geht, so will ich's Euch schreiben. Ich hab's Euch von Anfang als gar nicht geschrieben, wie hart mir's gegangen ist; das ist jetzund mit Gottes Hulf vorbei. Ich hab' als gedenkt, was braucht sich dein Mütterle auch noch zu grämen, sie kann dir doch nicht helfen? und da hab ich Alles in mich 'nein verschluckt und hab' gepfiffen und dabei recht geschafft.«

Hier hielt Ivo einen Augenblick inne, er schien sich das zur Lehre zu nehmen; dann fuhr er fort:

Nun, jetzt ist Alles im Stand, es ist kein' [319] Kleinigkeit, wenn man sich so ein Haus bauen und alle Aecker zum erstenmale umzackern muß und neane 8 kein Hulf und kein Rath von keinem Menschen: jetzt sieht's aber bei mir aus, schöner als beim Buchmaier. Es hat Armschmalz gekostet, wir sind aber doch gesund, und das ist das Best'. Viele von unseren Landsleuten sind hier und haben's ärger als drüben und müssen an der Straß' schanzen. Es gibt hier gar viele Verführer, wenn man ans Land kommt, die einem, weiß nicht was, vorschwätzen, bis man keinen rothen Heller mehr im Sack hat, und darnach: hast mich gesehen, fort sind sie. Es gibt recht scheinheilige Menschen, hüben und drüben; die Ueberfahrt putzt nur den Magen aus, aber die Seel' nicht. Wir haben aber von dem Dampsschiffmann in Mainz ein' gute Anweisung gehabt an eine Gesellschaft von braven Männern, von lauter Deutschen, die einem umsonst Weg und Steg zeigen und Alles aufs best' raten; von uns ist keiner verunglückt. Saget doch das allen denen, wo noch 'rüber wollen, sie sollen keinem trauen, als dem Mann und der Anweisung. Von Anfang, wie ich als ein bißle von meinem Führer weggangen bin, allein in Neuyork 'rum, bis der Mathes kommen ist, da ist mir's oft grad gewesen, wie wenn ich unter lauter Vieh wär. Verzeih mir's Gott, das waren [320] ja auch Menschen, sie haben aber so mit einander gewelscht, wie der Franzosensimpel, der Sepple von der Froschgaß, der schwätzt auch Holderdipolderle. Es ist aber englisch gewesen, was sie mit einander schwätzen; ich kann jetzt auch ein bißle, es ist oft gerad wie deutsch, man muß nur ein Maul dazu machen, wie wenn man an einem unzeitigen Apfel die Zähn' verschlagen hätt'. Es sind noch viel mit uns gewesen, aber der ein' ist da-, der ander' dorthin. Das ist nichts, wir Deutschen sollten auch so zusammenhalten. Ich hab sonst immer als nur die Württemberger für meine Landsleut' gehalten, aber hier heißt man uns alle Deutsche, und wenn jetzt einer aus dem Sachsenland kommt, da ist es mir grad, wie wenn er vom Unterland wär. Geltet, ich schreib' da Sachen, die Ihr nicht möget? aber mir gehen die Gedanken so oft im Kopf 'rum, daß sie, eh ich mich verguck', 'rausplotzen.

»Nun muß ich Euch was anders sagen. Habt Ihr nicht schon aufgemerkt, daß ich da oben Nordstetten hingeschrieben hab? Ja, so ist's, und so bleibt's. Ich hab' einen Stock nicht weit von meinem Haus hingesteckt, mit einer Tafel, und darauf hab' ich mit großen Buchstaben hingeschrieben: Nordstetten. Es wird schon kommen, daß noch mehr Leut' sich hier anbauen, und da bleibt der Nam'; dann bauen wir ein' Kirch, grad wie die daheim, ich hab' schon das [321] Bergle dazu da, grad 'rüber von meiner Scheuer, wir heißen's schon jetzt das Kirchbergle. Da lassen wir hernach einen Pfarrer von drüben kommen, und meine Aecker, die haben alle Namen von daheim. Ich und mein' Mechtild, wir schwätzen oft Abends davon, wie das einmal aussehen wird. Wenn wir's auch nicht mehr verleben, nachher verleben's unsere Kinder und Kindeskinder, und ich hin nachher halt doch die Ursach davon. Wenn nur einer von denen Nordstetter G'studenten dann 'rüber käm' als Pfarrer, er hätt's hier gut, aber im Feld schaffen müßt' er auch. Wir wählen uns hier selber den Pfarrer, wir nehmen den, der uns am besten gefällt, wir lassen uns keinen vom Konsistore aufbinden. Da spielen die Pfarrer auch nicht die Herren gegen uns, hier ist Alles gleich, sie sind halt grad wie wir auch, nur daß sie eben g'studiert haben und geweiht sind; wir haben drei Stund' von hier einen, der ist von Rangendingen gebürtig. An meinem Haus haben sich auch gleich Schwalben angebaut, ich hab' vergangenen Herbst einer ein Zettele angehängt und hab' darauf geschrieben: ›Grüß Gott an alle drüben,‹ und meinen Namen darunter. Ich dummer Kerl hab' gemeint, sie käm' nach Nordstetten, und da ist sie wieder kommen, da ist auf einem Zettel gestanden Χαιρε, ich hab' noch niemand fragen können, was das heißt, es ist [322] grad wie wenn's Kaibe 9 hieß, das wär' doch schändlich.« –

»Weißt du vielleicht, Ivo, wie's heißt?« fragte Marei.

»Jawohl: Chaire, es ist griechisch und bedeutet: sei gegrüßt.«

Die Frauen schlugen die Hände zusammen vor Erstaunen über die große Gelehrsamkeit Ivo's.

»Wo hat denn die Schwalb' überwintert?« fragte Marei wieder.

»Wahrscheinlich bei den Feuerländern,« erwiderte Ivo und las nach einer Pause weiter:

»Ich hab' daheim gar nicht gewußt, daß die Lerchen so schön singen. Denket nur einmal, hier zu Land gibt's gar keine und auch keine Nachtigallen; aber viel andere schöne Vögel, auch hat's schöne Fichten und Eichbäum' und noch andere prächtige Bäum', die geben ein Staatsholz.

Liebe Mutter! Ich hab' das schon vor acht Tag geschrieben, und wie ich's so überlug, sag' ich: ei, du schreibst Larifari! Aber mir ist's alleweil, als wie wenn ich bei Euch sitzen thät vor des Schmied Jakoben Haus am Brunnen; und da gehen die Leut vorbei und sagen: ›hent ihr gute Roth?‹ und da ist mir das Herz so voll, und ich weiß nicht, was ich zuerst sagen soll. Wir sind gottlob alle recht [323] gesund, das Essen und Trinken schmeckt uns wohl und schlägt gut an. Wir haben alle unsere Kleider weiter machen müssen. Es ist gut, daß die Mechthild das Nähen gelernt hat.

Wenn ich als einen guten Bissen ess', denk' ich: wenn nur auch dein Mütterle da wär, da thät ich das Best' neben 'nauslegen und thät sagen: da, Mütterle, da müsset Ihr 'reinlangen, da liegt ein herzig's Bröckele, und es thät Euch gewiß weidlich bei mir schmecken.

Unser Basche, der geratet prächtig, es hat ihm noch kein Brösele gefehlt. Ach Gott! wenn das kleine Mareile noch leben thät, das wär bis nächste Michaeli ein Jahr alt, das ist ein gar lieb Engele gewesen; es war doch erst drei Wochen alt, aber wenn man's gerufen hat, da hat's einen so gescheit angesehen und hat einem nach den Augen gegriffen. Auf Allerseelen lassen wir ihm ein eisern Kreuz setzen. Ach, du lieber Heiland! Das Kind ist jetzt im Himmel, und der Himmel ist doch erst das recht' Amerika.

Ich muß Euch noch mehr von meinem Hauswesen schreiben, ich darf nicht so viel an das Kind denken, es geht mir so zu Herzen: ich sag', wie der Pfarrer gesagt hat: der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt.

[324] Wenn uns nur Gott jetzt Alles gesund bei einander erhält. Unser Herrgott hat mich auch noch immer mit dem Vieh glücklich erhalten, es ist uns noch keines gefallen, alles kerngesund, und das ist mir eine besondere Freud', daß das Vieh hier alleweil genug zu fressen hat. Ich werd's mein Lebtag nicht vergessen, was die Futterklemme ein Kreuz und ein Elend gewesen ist; grad selben Sommer, eh' ich zum Militär gekommen bin, wo's fast kein Hälmle Futter gegeben hat. Wisset Ihr noch, wie's einem da ums Herz gewesen ist, wenn man morgens aufgestanden ist und hat dem Vieh nur viertelssatt zu fressen geben können und hat zusehen können, wie ihm das Fleisch abgefallen ist? Ich hätt' oft vor Waitag 10 verlaufen mögen. So ein Thierle ist anbunden und kann nicht schwätzen und deuten und muß sich Alles gefallen lassen. Hier geht das Vieh fast das ganze Jahr auf die Weid und hat alleweil vollauf, und es ist noch nicht vorkommen, daß ich hab' eines stechen müssen, weil es zu viel gefressen hat. Drüben, weil sie das ganze Jahr im Stall stehen, fressen sie, bis ihnen der Bauch aufspringt, wenn sie einmal an einen Kleeacker kommen; und wie's beim Vieh geht, so geht's auch bei den Menschen: die müssen drüben auch im Stall stehen, vom Schultheiß und dene Amtleut' anbunden, bis sie ellenlange [325] Klauen kriegen, daß sie nimmer laufen können, und wenn sie einmal ausreißen oder man's 'nausläßt, werden sie toll und voll. Das hat einer in der Volksversammlung ganz schön so ausgelegt. Mutter! das ist was Schön's, so ein' Volksversammlung, das ist grad, wie wenn man in der Kirche wär; aber nein, es ist doch nicht so, denn da red't ein jeder, wer nur kann und mag, da gilt Alles gleich. Gucket, ich will's Euch verzählen, wie das ist, aber ich kann's doch nicht recht. Ich muß Euch nur noch sagen, daß unser Mathes ein Hauptsprecher ist, dem geht's vom Maul weg wie dem besten Pfarrer; sie haben ihn auch schon in die Abtheilung gewählt, er gilt viel, und der Nam' Mathias Schorer, das ist ein Wort, vor dem Alle Respekt haben. Ich hab' aber auch schon einmal vor alle Leut gesprochen. Ich weiß gar nicht, von Anfang hat mir ein bißle das Herz puppert, nachher ist mir's aber grad gewesen, wie wenn ich zu Euch reden thät, so frank von der Leber weg. Sie haben sich da drum gestritten, es ist ein Deutscher, ein Württemberger, oder wie man's hier heißt, ein Schwab ankommen, er ist Offizier gewesen, und der König hat ihn begnadigt, er hat ein' Verschwörung angestiftet gehabt unterm Militär und hat nachher alle seine Kameraden verrathen, hier hat er sich für einen Freiheitsmann ausgegeben, da ist aber ein Brief von drüben 'rüber [326] kommen, daß er dem Teufel vom Karren gefallen und für den Galgen zu schlecht sei. Da haben sie lang gestritten, ob er bei uns hier Offizier werden kann, da hab' ich endlich gesagt: Zu der Haue kann man einen Stiel finden. Er soll einen Brief beibringen von seinen Kameraden, daß er den Braven an ihnen gemacht hat; ich kann's nicht glauben, daß ein Württemberger so schlecht ist, daß er zuerst den König und nachher noch einmal seine Kameraden verrat't. Und das ist auch beschlossen worden, wie ich's gesagt hab'. Wie ich aber den Mann mit seinem Gesicht wieder angesehen hab', da hab' ich denkt: das Letzt' hätt'st können bleiben lassen, der sieht ja aus, wie wenn er die Gais gestohlen hätt'.

Ich bin auch Offizier bei der Nazenalmiliz, so was man bei uns Leutnant heißt; weil ich beim Militär gewesen bin und die Sach' gut versteh', haben sie mich dazu gewählt. Wir wählen uns hier selber die Offizier', hier ist Alles frei. Der Schultheiß von Nordstetten ist doch nur Feldwebel gewesen. Wenn ich heim kommen thät, nein, ich thät mich doch nicht als Offizier anziehen; ich bin ein freier Bürger, und das ist mehr als Offizier und General, ich tausch' mit keinem König. Mutter, es ist ein prächtig Land, das Amerika; schaffen muß man, und das recht tüchtig, aber darnach weiß man auch warum, die Zehnten und Steuern nehmen nicht den Rahm [327] oben 'runter. Ich leb' hier auf meinem Hof, da hat mir kein Kaiser und kein König was zu befehlen, und vom Presser weiß man hier gar nichts. Du lieber Gott! wenn ich dran denk', wie der mit einem langen Zettel in der Hand, mitsamt dem Schütz durchs Dorf gegangen ist, und die Leut' in den Häusern haben geheult und geschrieen und die Thüren zugeschlagen, und da hat der Presser einen zinnernen Teller, einen Kupferhafen, eine Pfann' und eine Schabeslamp von einem armen Juden zum Schultheiß tragen. Es ist ein Kreuz, daß das Elend bei uns so ist; ich mein', das könnt' und müßt' anders sein. Ich möcht' aber doch keinen dazu aufstiften, 'rüber zu kommen. Es ist kein' Kleinigkeit, so weit weg von daheim zu sein, wenn man's auch noch so gut hat. Allbot überkommt mich ein Jammer, daß ich mich vor mir selber schäm', da möcht' ich grad Alles aufpacken und fort nach Deutschland. Einmal muß ich's noch sehen, so lang mir ein Aug' offen steht. Ich kann's nicht sagen, wie mir's ist, aber ich verzwazel 11 oft schier und möcht oft grad heulen wie ein Schloßhund. Ich weiß wohl, das schickt sich nicht für einen Mann, aber ich kann nicht anders, und vor Euch brauch' ich mich ja nicht zu schämen. Ich glaub' als, es ist eigentlich nur der Jammer nach euch. Schon mehr als tausendmal hab ich so vor mich hin gesagt: [328] wenn nur auch mein Mütterle da wär, mein gut, gut Mütterle! wenn sie nur einmal dort auf der Bank gesessen hätt'; da thätet Ihr Euch freuen mit denen großen Milchhäfen und o du lieber Heiland! mit meinem Basche und mit dem, wo jetzt auf dem Weg ist. Wenn ich Euch was leids than hab', verzeihet mir's, es hat Euch g'wiß kein Mensch auf der Welt lieber als ich.

Ich hab' ein bisle ausschnaufen müssen und schreib' jetzt weiter. Es ist doch ein' schöne Sach, daß wir ordentlich schreiben und lesen gelernt haben, ich dank's Euch tausendmal, daß Ihr uns recht dazu angehalten. Ihr müsset aber nicht denken, daß ich traurig bin. Freilich bin ich nimmer allweil so lustig wie vor Zeiten, ich bin halt auch älter und hab' viel erfahren; aber manchmal bin ich doch so froh und hab' Alles so gern auf der ganzen Welt, daß ich pfeifen, singen und tanzen kann. Manchmal thut mir's als noch ein bißle weh, wenn ich an etwas denk', aber ich mach Brr! und schüttl' mich wie ein Gaul, und fort muß es. Ich und mein' Mechtild wir leben wie zwei Kinder, und unser Basche, der hat Knochen, so fest und stark wie ein jung's Kalb, und Fleisch wie ein Nußkern.

Am Sonntag, wenn wir zur Kirch' fahren, da nehmen wir uns Salz mit heim, und was man sonst noch braucht, und mein' Mechtild hat gesagt, wir holen [329] uns auch himmlisch Salz, aus der Mess' und der Predigt, und damit salzen wir unser Seel. Die Mechtild macht oft gar schöne Rätsel und G'späß. Wir haben uns auch ein Ritterbuch kauft, von dem Rinaldo Rinaldini, das ist ein' gar grauselige Räubergeschicht', und die haben wir schon mehr als zehnmal gelesen, und wie ich vorlängst verschlafen bin, ist die Mechtild kommen und hat das Lied gesungen und hat mich geweckt. Weil ich grad von Lieder red', hätt' ich eine Bitt', Ihr müsset mich aber nicht auslachen.

Gucket, wenn man so in der weiten Welt draußen ist und allein für sich singen soll, da merkt man erst, wie man von so viel Lieder bloß den Anfang kennt, und das andere hat man eben bloß so denen Anderen im Tralatel nachg'sungen, und da möcht' man sich schier den Kopf 'runterreißen, weil einem das Ding nicht einfallen will, aber man kriegt's halt nicht 'raus. Es geht einem mit vielen Dingen so, man meint, man könn's, bis es einmal heißt: jetzt Alterle, jetzt mach's allein.

Nun hätt' ich die Bitt', aber dürfet mich nicht auslachen: lasset euch alle Nordstetter Lieder vom alten Schullehrer aufschreiben, ich will's ihm gern gut bezahlen. Geltet, Ihr vergesset's aber nicht und schicket mir's oder bringet's mit, wenn Ihr kommet.

Ich muß euch auch noch was erzählen. Denket [330] nur einmal, Mutter! Ich sitz' am Dienstag vor drei Wochen an meinem Wagen und mach' die Deichsel zurecht – man kann hier nicht all' Ritt zum Wagner springen, da muß man Alles selber machen – wie ich nun so da sitz', da hör' ich auf einmal: ›Bist fleißig, Aloys?‹ Ich guck' auf, wer steht da? des langen Herzles Kobbel 12. der bei der Gard' gewesen ist. Wir sind sonst nicht die besten Freund' gewesen, aber ich hab' nicht daran denkt und bin ihm um den Hals gefallen und hab' ihn schier verdruckt. Ich glaub', wenn der Jörgli käm', ich thät ihm auch die Hand geben; er käm' ja von Nordstetten.

Ich hab' Alles im Haus zusammengerufen und hab' einem welschen Hahn den Kragen abgeschnitten. Der Kobbel hat mit mir gessen, wie ein anderer Mensch auch. Die Gesetz' von denen Essensspeisen, die sind für die alt Welt und nicht mehr für die neu.

Der Kobbel ist acht Tag' bei mir blieben und hat mir helfen schaffen im Feld, er kann's so gut wie ein Christ; das hat mir rechtschaffen gefallen, daß er einsieht: für einen Soldaten, der Ehr' im Leib hat, schickt sich's nicht mehr, mit dem Zwerchsack 'rumzulaufen; er will sich hier herum Aecker kaufen, ich bin ihm dazu behilflich, ich muß auch meine lieben Juden von Nordstetten hier haben, sonst ist [331] es gar kein recht's Nordstetten. Darnach wird er auch zur Nazenalmiliz gehen. Er kann mit der Zeit auch Offizier werden. Hier fragt man keinen nach seinem Glauben; wenn der Mensch nur brav und gesund ist. Abends sind wir alls zusammengesessen, ich, mein' Mechtild, mein Schwäher und mein' Schwieger und ihre Buben und Mädle und der Kobbel, und da haben wir Lieder von daheim gesungen, es ist mir grad g'wesen, wie damals, wo das Marannele mit seiner neuen Kunkel kommen ist. Ihr müsset aber nicht meinen, daß ich oft an das Marannele denk'. Ich hab' mein' Mechtild rechtschaffen gern und sie mich auch. Ich wünsch', daß alle Leut' einander so gern hätten und so gut hausen thäten.

Nun von wegen eurem Kommen. Ich mag nicht zu arg bitten, der Mathes wird Euch Alles da drüber schreiben: aber wenn's möglich wär' – nein, ich will ja nicht bitten. Der Kobbel sagt mir, daß unser Xaver zu des Zimmermann Valentins Gretle geht; das wird sich auch nicht vor der Ueberfahrt fürchten und wird mit ihm gehen. Es ist jetzt eins, Nordstetten hüben oder Nordstetten drüben.

Schreibet auch bald Antwort. Schicket den Brief nur wieder an den Mathes, der kommt öfter nach der Stadt.

Nun wünsch' ich von Herzen wohl zu leben. Denket auch als einmal an mich. Mein' Mechtild [332] und mein Basche und meine Schwiegereltern grüßen Euch von Herzen. Mein' Schwieger hat meinen Basche gelernt, wenn man ihn fragt: wo ist denn deine andere Ahne? hernach sagt er: drüben auf dem Schwarzwald. Ich verbleibe Euer getreuer Sohn

Aloys Schorer.


Das ist die Hand von meinem Basche, ich hab' sie abzeichnet, liebe Mutter, grad wie er sie aufs Papier gelegt hat, weil noch Platz da gewesen ist.«


[333] Ivo sollte nun auch noch den Brief vom Mathes lesen, aber er versprach dieß auf ein andermal, und von der dankenden Mutter, die ihre Thränen trocknete, bis an die Thüre geleitet, machte er sich auf seinen Weg.

Draußen vor dem Dorfe sah er seine Schwester Gretle mit dem Xaver nach der Wiese gehen. Er wußte jetzt, warum seine Schwester immer so streitsüchtig und mißmuthig war: der Vater wollte ihre Bekanntschaft mit dem »Amerikaner«, wie er Xaver betitelte, nicht dulden.

Mit einem Hops hoch in die Luft springend, schüttelte Ivo die ganze Last der Standeswürde von sich ab. Er sprang und sang wie ehedem, immer über die Steinhaufen am Rande der Straße hinweg hüpfend.

Der Brief des Aloys hatte einen gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Er sah hier ein durch tüchtige Arbeit und Selbständigkeit beglücktes, ein rechtschaffenes Leben in der eigentlichen Bedeutung des Wortes; zum erstenmal wurde es ihm recht klar, wie bei dem Studieren die Körperkraft so brach liegt und darum so oft eine prickelnde Unruhe in allen Gliedern sitzt, wie die Müdigkeit da kein so angenehmes Gefühl bietet, als nach körperlicher Anstrengung. Er dachte daran, daß er Pfarrer und zugleich Bauer in Amerika sein wolle, und er dachte weiter, wie [334] er seine Schwester besuche, von Hof zu Hof wandere, die Kinder lehre und in allen Häusern ein gottseliges Aufschauen nach oben erwecke.

So kam er unter mancherlei Gedanken nach Horb. Die Stadt erschien ihm bei weitem nicht mehr so schön als früher, die Häuser nicht mehr so groß; er hatte jetzt schönere gesehen.

Der Kaplan war hocherfreut über seinen Zögling, und die Frau Hanklerin, die krank im Bette lag, sagte: »Das macht mich wieder ganz gesund, daß du wieder da bist.« Die Oberamtmannssöhne waren nicht mehr in der Stadt, denn wir erinnern uns, daß ihr Vater von der Aextegeschichte her versetzt worden ist.

Es war schon Nacht geworden, als Ivo von Horb heimkehrte. Im Dorfe traf er den Constantin, der, den einäugigen Peter an der Hand führend, mit den halbgewachsenen Burschen singend durch die Straße zog: er lehrte sie neue Lieder und erzählte unter großem Gelächter allerlei Schliche und Schabernack, die er seinen Lehrern im Kloster angethan hatte. Ivo ging eine Weile still mit, vor seinem Hause aber sagte er: »gute Nacht« und ging hinein.

Während der ganzen Vacanz war Ivo viel allein. Er spazierte entweder einsam durch das Feld, oder übte sich zu Hause auf dem Waldhorn, das er sich von des Bäcken Konrad entlehnt hatte. Die Mutter [335] Christine aber drängte ihn immer, er solle auch aus dem Haus gehen und nicht so immer daheim hinhocken. Bisweilen ging er nun auch mit dem neuen Schullehrer über Feld. An Constantin schloß er sich nur dann an, wenn er ihm nicht ausweichen konnte.

Ein großer Schmerz durchwühlte das junge Herz unsers Ivo, er sah die nur halbverdeckte Zwietracht zwischen seinen Eltern; früher hatte er nichts davon bemerkt, er war stets inmitten aller dieser Verhältnisse aufgewachsen, er kannte ihre Mängel nicht, im Kloster hatte er sich sodann das Leben zu Hause als ein paradiesisches, im ewigen Frieden hinfließendes vor die Seele gezaubert, alles Herbe und Schroffe, wenn je etwas davon in seiner Seele gehaftet hatte, war vergessen. So, mit neuem Bewußtsein, mit einem gewissen Bilde der Vollkommenheit in sein elterliches Haus zurückgekehrt, erschien ihm vieles darin verzerrt und zerrissen, vielleicht ärger, als es war. Er kam aus einem Hause, wo sich Alles nach steten äußerlich festgestellten Gesetzen bewegt: da ging Alles ohne Ueberlegung und Widerrede nach der Regel wie ein Uhrwerk, und wenn ihn auch der Klosterzwang sehr drückte, so verstand er es doch nicht, wie in einem freien Familienverbande, wo jedes nach eigener Bestimmung für das Ganze handelt, manches Disputieren und manche laute Zurechtsetzung [336] stattfinden muß. War ihm daher das ganze laute Treiben des Hauses, ja sogar das stark betonte Sprechen fremd und sah er die Leute verwundert an, so schüttelte er über die Art und Weise seines Vaters oft den Kopf. Wenn die Mutter zu den Planen Valentins von neuen Häuserbauten »auf den Verkauf« schwieg, schrie er: »Da haben wir's wieder, du gibst halt nie etwas auf das, was ich sag'; ob ein Hund bellt, oder ob ich schwätz', das ist dir all' eins.« Widersprach sie ihm, dann sagte er schmerzlich: »Das ist der alt' Tanz, was ich halt vorhab', ist bei dir nicht recht.« Behandelte ihn dann die Mutter sanft, wie einen Gemüthskranken, und er merkte das, so fluchte er. War sie dagegen standhaft und fest und ließ sich nichts von ihm gefallen, so sagte er: »Das ist Gott bekannt, du lebst eben nicht für mich, du lebst für deine Kinder; gelt, es wär' dir recht, wenn ich sterben thät?« und dann setzte er sich hin, aß nicht und trank nicht und redete kein Wort, oder er ging in's Wirthshaus; er ließ sich aber dort nichts zu essen geben; denn er wußte, daß das seine Frau kränke, weil die Leute darüber reden würden, er ging dann lieber hungrig zu Bette.

Mit unbeschreiblichem Schmerze blickte Christine bei derlei Vorkommnissen auf ihren Ivo. Sie sah alle die Qualen, die ihre Marterzüge auf seinem Antlitze ausbreiteten, und sie gab sich noch mehr Mühe, [337] Alles zu verhehlen und zu vertuschen; die anderen Kinder waren solche Vorfälle mehr gewohnt, es ging ihnen nicht mehr nahe.

Christine sah wohl ein, daß sie sich mit ihrem jüngsten Sohn besprechen müsse; sie setzte sich daher eines Abends vor sein Bett und sagte: »Guck, dein Vater ist der rechtschaffenste Mann, den man finden kann, aber er hat eine unglückliche Natur, er ist mit sich selber unzufrieden, weil er halt manches verunschickt 13 und nicht Alles nach seinem Kopf geht; und da möcht' er dann grad, daß andere allfort mit ihm zufrieden sein sollten. Wenn er sieht, daß das nicht ist, und das kann ja nicht sein, da regt sich sein guter Geist noch mehr in ihm, und ich bin's doch meinen Kindern schuldig, ich darf's nicht zugeben, daß Alles hinter sich geht. Ich für mein Teil wollt' gern mein Leben lang trocken Brod essen, aber für meine Kinder darf ich's nicht zugeben, daß wir in fünf Jahren an den Bettelstab kommen und sie unter fremden Leuten herumgestoßen werden. Guck, er hat keinen Menschen auf der Welt lieber als mich, er gäb' gleich den letzten Tropfen Blut für mich hin, ich für ihn auch; aber er will eine Hypothek aufs Haus und die Güter aufnehmen und will mit dem Schreiner Koch Häuser auf den Verkauf bauen, und ich soll mit unterschreiben, und das thu' ich nicht, da bringen mich keine zehn Gäul' [338] dazu, das ist meinen Kindern ihr Sach', ich muß als Mutter an ihnen handeln. Wir sind schon die reichen Leute nimmer, und die Armen dürfen ja auch nicht drunter leiden, daß es nimmer so bei uns ist, die müssen ihr Schenkasche haben, und wenn ich mir's am Maul absparen muß. Ja, lieber Ivo, laß dir das von deiner Mutter gesagt sein: wie dir's auch geht, vergiß nur nie der Armen; das Korn auf der Bühne wächst noch, wenn man davon hergibt, und unser Herrgott gesegnet das Brod in der Schublade, daß es besser sättigt. Gelt, guter Ivo, du hast deinen Vater auch recht gern? Er ist der best' Mensch von der Welt. Gelt, du hältst ihn in Ehren? Du bist sein Stolz, wenn er dir's auch nicht sagt, er kann das nicht. Wenn er vom Adler heimkommt, wo dich alle Leut' so überaus loben, weil des Schneider Christle's Gregor so gut von dir schreibt, da kann man ihn um einen Finger wickeln. Nimm dir's nur recht vor, daß du dich gar nicht irr machen lassen willst, und sei nicht betrübt. Was man sich recht vornimmt, das kann man auch, glaub mir's.«

Ivo nickte bejahend und küßte die Hand seiner Mutter, aber eine tiefe Schwermuth belastete seine Seele: das Paradieß seines elterlichen Hauses war vor ihm eingesunken, nur seine Mutter schwebte noch wie ein Lichtengel darüber, und einmal sagte er sich ganz leise: »sie heißt nicht umsonst Christine, [339] sie ist grad wie der Heiland, sie nimmt mit Lächeln das schwerste Kreuz auf sich, will gar nichts für sich und Alles für Andere.«

So kam es, daß Ivo dem Ende der Vacanz mit weniger Schmerz entgegensah, als er bei der Heimkunft gedacht hatte.

Fußnoten

1 Klotho hält den Rocken, Lachesis spinnt, und Atropos schneidet ab.

2 Blüthen.

3 Rösch, so viel als hartgebacken.

4 Ein Mitbring von der Reise heißt »Krohm«, Kram.

5 Botenlohn für Verkündigung einer guten Botschaft.

6 Einziges, von Gott, dem Einzigen.

7 Schwiegertochter.

8 Nirgend.

9 Kaib, so viel als Lump, Schuft.

10 Wehe.

11 Verzwazeln, so viel als verzweifeln, spöttisch gebraucht.

12 Jakob.

13 Vernachlässigt, falsch macht.

9. Die Freunde

9.
Die Freunde.

In der ersten Zeit, als Ivo in's Kloster zurückgekehrt war, überfiel ihn wieder das alte Heimweh. Er machte sich Vorwürfe, daß er die Vacanz nicht recht genossen habe, daß er sich von Dingen verstimmen lassen, die nicht einmal so arg waren, wie sie schienen; aber er hatte sich vorgenommen, es dem Aloys nachzuthun und seine Mutter mit kläglichen Briefen nicht noch mehr zu betrüben.

Dadurch, daß Ivo früher in Gedanken immer zu Haus war, hatte er sich gar nicht in seine neuen Verhältnisse und in das Zusammensein mit den Kameraden eingelebt, das sollte jetzt anders werden.

»Man kann Alles, wenn man nur recht will, hat meine Mutter gesagt; das soll mein Wahlspruch sein.«

Ivo und Clemens hatten sich herzlich bewillkommt, die andern Kameraden waren dabei, ein jeder hatte[340] viel zu erzählen. Mittags auf dem Spaziergange blieben Ivo und Clemens wie auf eine geheime Verabredung zurück, und hinter einer blühenden Schlehdornhecke, wo es niemand sah, fielen sie, ohne ein Wort zu reden, sich um den Hals und küßten und herzten sich inniglich. Die Lerchen jubelten hoch in den Lüften, und die Schlehblüten regten sich von einem sanften Winde. Freudeverklärten Antlitzes, ein jeder seinen Arm um den Nacken des andern geschlungen, so kehrten sie wieder auf die Straße zu den vorausgegangenen Kameraden zurück. Ivo sagte nur, aus einer langen innerlichen Rede heraus, laut die Worte: »still und heilig!« und schaute dabei in das hellleuchtende Auge seines Clemens, sie reichten sich schweigend die Rechte und hielten sie fest, dann schlug Clemens den Ivo und sprang von ihm fort zu den andern. Ivo verstand wohl, daß sie ihren geheimen Liebesbund ja recht sicher vor den andern verbergen sollten. Sie gingen dann mit den andern, aber bald faßten sie sich wieder und schlugen sich neckend, nun suchte der eine dem andern zu entrinnen, dieser ihn wieder einzuholen, so waren sie abermals eine Weile allein, und in scheinbarem Ringen drückten sie einander innig an's Herz und »lieber Ivo«, »lieber Clemens« hieß es immer.

So erfinderisch war schon diese junge, plötzlich wie eine Knospe aufgebrochene Freundschaft.

[341] In den Herzen der beiden Knaben war von nun an ein neues, wonneseliges Leben. Ivo hatte noch nie einen »Herzbruder« aus seinem Alter gehabt, Clemens hatte sich bei den vielen Wanderungen seiner Familie nur an seine ältere Schwester angeschlossen.

Jetzt, wenn Ivo erwachte, schaute er freudig um sich und sagte: »Guten Morgen, Clemens,« obgleich dieser in einem andern Zimmer lag. Er war in der Fremde nicht mehr fremd, das Kloster war kein Ort des Zwanges und des unerbittlichen Gesetzes mehr, er that Alles willig, denn sein Clemens war ja bei ihm. Nun brauchte er sich nicht mehr vorzunehmen, fröhliche Briefe nach Hause zu schreiben, sein ganzes Leben war nur noch ein hochgestimmter Freudenklang, und die Mutter Christine schüttelte oft den Kopf, wenn sie seine hohen Redensarten las. Clemens, der zu Hause eine große Menge Ritterbücher und Märchen gelesen hatte, eröffnete unserm Freunde einen ganzen Zaubergarten voll Wunder; er machte sich und Ivo zu zwei verwünschten Prinzen, den Direktor zu dem Riesen Goggolo, und eine Zeitlang redeten sich die beiden Freunde immer in den gegebenen Rollen an.

Die Welt der Wunder und der Märchen, die das Rätsel des Daseins durch neue, selbstgeschaffene Abenteuerlichkeiten zu überbieten und so gewissermaßen [342] die alltägliche Welt zu erklären strebt, der ganze selbstvergessene Taumel einer kindlich spielenden Phantasie, war Ivo bisher fern geblieben; das, was ihm Nazi erzählt hatte, lehnte sich noch zu sehr an das rohe Feld- und Waldleben, wußte nichts von unterirdischen Schlössern aus lauter Gold und Edelsteinen; die Wundergeschichten der Religion hatte Ivo mit kindlich gläubigem Gemüthe hingenommen, sie waren schlicht und ernst – nun aber eröffnete ihm sein Freund die goldenen Thore der Phantasie, und sie lustwandelten behaglich in den Zaubergärten und in den Palästen unter dem Meere.

Die Schlehdornhecke ward von unsern Freunden als der heilige Freundschaftsbaum betrachtet, nie gingen sie vorüber, ohne einander anzusehen und dann nach der Hecke zu schauen. Ivo, den wir schon als bibelfest kennen, sagte einmal: »Uns ist es grad gegangen wie dem Moses, dem ist Jehovah im Dornbusch erschienen, der hat gebrannt: und ist doch nicht verbrannt. Jehovah, weißt du auch noch, was Jehovah heißt – Ich bin, der ich sein werde, das ist das Futurum von Hava. Gelt! auch im Futurum werden wir Freunde sein, wie wir sind?«

»Ich will dir einmal was erzählen,« erwiderte Clemens. »Es ist einmal eine Prinzessin auf einer Insel gewesen, die hat aber nicht, wie die alt' Bas in der Bibel, Lea geheißen, sondern Schleha, [343] die hat auch keine rothen Augen gehabt wie jene, sondern ganz schöne dunkel dunkelblaue; die hat aber gar keinen Dorn leiden können, das kleinst' Dörnle war ihr ein Dorn im Auge, und wenn sie eins gesehen hat, da hat sie gleich gottsjämmerlich geschrieen: ›O weh, das sticht mich, ich spür's schon in meinen schönen dunkel dunkelblauen Augen‹; und da hat man auf der ganzen Insel alles, was Dornen gehabt hat, plutt abschneiden und bis aufs kleinste Würzele 'naus ausgraben müssen, und wie die Prinzessin gestorben ist, da hat man sie begraben, und zur Straf', weil sie hat keine Dornen leiden können, sind aus ihren zwei Augen 'raus zwei Dornhecken gewachsen, die tragen aber auch ganz schöne dunkel dunkelblaue Augen, wie die Prinzessin gehabt hat, und man heißt's auch Schleha.«

So beendigte Clemens mit triumphierendem Lächeln seine Erzählung.

Ivo betrachtete ihn mit heiterer Miene. Ach, es war gar zu schön, was Clemens erzählte. Wie eine glänzende Perlschnur reihten sich seine lieben Worte aneinander; Alles, was doch der Clemens that und sagte, war so schön, wie sonst gar nichts auf der weiten Welt.

Auf Veranlassung Ivo's hatten sich's die Freunde gelobt, recht große Männer zu werden, und sie eiferten sich nun gegenseitig zu dem ausdauerndsten[344] Fleiße an. Alles wurde ihnen leicht, da ein jedes dem andern zu lieb handelte. Ivo ward sogar von dieser Zeit an über ein Jahr lang Primus, mit Clemens aber ging oft seine Phantasie durch. Alles, was er sah, regte ihn an, er vergaß dann das nächste; von den Lehrern gefragt, erwachte er oft wie aus einem Traume und gab zerstreute Antworten.

Der geheime Bund konnte indes den andern Mitschülern nicht lange verborgen bleiben; denn wie Liebende sich oft lange für unbemerkt halten, während sie sich die offenkundigsten Zeichen der Zuneigung gehen, so erging es auch unsern Freunden. Die hohe Stellung Ivo's machte, daß die hieraus entstehenden Spöttereien und Neckereien nicht lange dauerten, ja es drängten sich alsbald noch mehrere in den Freundschaftsbund; aber die Pforten waren streng geschlossen, besonders Clemens wachte sorgsam, und die Fremden zogen sich bald zurück. Nur als Bartel sich mit großer Unterthänigkeit zu den beiden gesellte und offen um ihre Freundschaft bat, da nahm ihn Ivo auf. Er durfte sich nun auf den Spaziergängen zu ihnen halten, auch in Hof und Garten bei ihnen sein. Der Bartel war, wenn er vollauf gegessen hatte, ein gar eifriger und wißbegieriger Knabe, er that gern Alles, um nur auch recht geschickt zu werden und auch obenan zu sitzen; [345] so lieb er daher Ivo und Clemens hatte, so war ihre hohe Stellung doch auch mit ein Grund seiner Annäherung; in das innerste Heiligtum ihrer Freundschaft, das hatte sich Clemens vorausbedungen, wurde jedoch Bartel nicht zugelassen.

Von ihren phantastischen Spielereien gelangten unsere Freunde auf ein anderes Gebiet, das sich mehr der Wirklichkeit näherte; in dem hohen Schwunge ihres Strebens suchten sie sich nämlich erhabene Vorbilder, Ideale.

Man hatte einst einen größern Spaziergang Blaubeuren zu unternommen; dort, auf einem hohen Berge, auf einem Felsenvorsprung, wo man das liebliche Thal der Blau überschaut und fernher das Ulmer Münster und die Donau erblickt, dort, hatte Clemens angeordnet, sollten sie sich ihren Fund offenbaren.

Auf dem Vorsprunge des Berges saßen nun die drei Knaben und schauten hinaus in die endlose Ferne.

»Wer ist dein Ideal, Ivo?« fragte Clemens

»Sixtus. Meine gute Mutter, die sagt immer: man kann Alles erreichen, wenn man rechtschaffen will, das hat Sixtus auch gezeigt.«

»Du willst also auch Papst werden?«

»Wenn's geht, warum nicht? Ich will jetzt einmal.«

[346] »Und ich,« sagte Clemens, »ich habe mir einen viel Unheiligern gewählt, mein Ideal ist Alexander der Große.« Er erklärte nicht, inwiefern er ihm nacheifern wolle, denn Bartel fragte in weinerlichem Tone:

»Wen soll ich mir denn zum Ideal nehmen?«

»Frag' den Direktor,« erwiderte Clemens ernsthaft, Ivo Schweigen zuwinkend.

Bartel merkte sich die Rede des Clemens, und als man heimgekehrt war, ging er zum Direktor, klopfte an, und auf das »Herein« trat er in die Stube und sagte zitternd und stockend:

»Herr Direktor, verzeihen Euer Hochwürden, ich hab' Sie bitten wollen, ich möcht' mir gern ein Ideal wählen, ich weiß nicht, wen soll ich mir denn nehmen?«

Der Direktor stand eine Weile still, dann sagte er, den Finger nach oben erhebend: »Gott.«

»Ich dank' vielmal, Herr Direktor,« sagte Bartel, sich verbeugend und die Stube verlassend. Er sprang schnell zu seinen Freunden und rief frohlockend: »ich hab' eins, ich hab' jetzt auch ein Ideal.«

»Wen denn?«

»Gott,« sagte Bartel, ebenfalls den Finger nach oben erhebend.

»Wer hat dir denn das verrathen?« fragte Clemens neckisch und zupfte dabei den Ivo.

[347] »Der Direktor.«

Ivo kehrte sich aber nicht an die stille Ermahnung seines Freundes, sondern setzte dem Bartel auseinander, wie man sich nur figürlich Gott zum Ideal nehmen könne, da man ja nie allmächtig oder allwissend werde; freilich bleibe Gott das höchste Endziel, aber dazwischen seien die Heiligen da, die stünden uns näher, bei denen könnten wir leichter mit unserm Gebet ankommen, und wenn's geht, könnten wir auch werden wie sie.

»Heiliger Ivo, ich will nichts von dir,« sagte Clemens und ging zornig davon; ihn ärgerte, daß Ivo jeden Spaß verdarb, und er redete den ganzen Abend und den andern Morgen kein Wort mit ihm.

Auch sonst war der Bartel vielfach Veranlassung zu Zerwürfnissen zwischen den Freunden. Clemens hatte sich in den Kopf gesetzt, die ganze volle Freundschaft seines Ivo sei ihm durch den Eindringling geschmälert. Er nahm nun allerlei Gelegenheiten wahr, um seiner Eifersucht Nahrung zu geben. Einst sprach er deshalb mit Ivo acht Tage lang kein Wort, nur seine Blicke verfolgten ihn überall, wie mit einer wahnsinnigen Leidenschaft; am letzten Abende warf er Ivo ein Zettelchen auf sein Buch, worauf die Worte standen: »Heute nacht, Schlag zwölf Uhr, kommst du auf den Kirchthurm, oder wir sind auf ewig geschieden.«

[348] Von den grausamsten Qualen gemartert, wälzte sich Ivo auf dem Lager, er fürchtete, die Frist zu verschlafen, und zählte jede langsame Viertelstunde. Als der erste Schlag von Zwölf ertönte, huschte er aus seinem Zimmer; aus dem andern, worin Clemens war, kam dieser ebenfalls. Schweigend gingen sie mit einander den Turm hinan, der letzte Ton hatte ausgeklungen, da begann Clemens:

»Gib mir deine Hand darauf, daß du von dem Bartel ganz lassen willst, wo nicht, so stürz' ich mich da grad hinab.«

Ivo stand schaudernd und faßte die Hand seines Freundes.

»Kein Wort! Ja oder Nein!« knirschte Clemens.

»Nun ja, ja! Der arme Kerl dauert mich, aber du bist ganz verwildert in den acht Tagen.«

Clemens umarmte und küßte Ivo, dann stieg er schweigend die Treppe hinab und verschwand in seinem Zimmer.

Andern Tages war Clemens wie zuvor, heiter und innig. Ivo durfte beim Tageslicht nie von jenem nächtlichen Begebniß sprechen, der Bartel tröstete sich auch bald über seine Verabschiedung.

Während der unruhige Geist des Clemens in allerlei Seltsamkeiten abenteuerte, fühlte Ivo eine andere Unruhe. Das Wachstum seinem Körpers war fast noch rascher vorgeschritten als das seines [349] Geistes, er war lang und breitschulterig; aber wenn er so an dem Pulte vor den Büchern saß, da raste Alles Blut wild in ihm, und er stand oft auf, sich gewaltsam bäumend und reckend. Er hätte gern irgend eine gewaltige Last frei in die Höhe gehoben, aber es bot sich ihm nichts als eine schwere Periode irgend eines klassischen Autors. An dem Turnen, das nur sehr mangelhaft betrieben wurde, hatte Ivo keine rechte Freude; er wollte etwas thun, eine wirkliche Arbeit vollbringen. Wenn er dann mit seinem Freunde draußen spazieren ging, klagte er oft, daß er nicht pflügen und nicht schneiden dürfe. Er war von Kindheit auf an Körperthätigkeit gewöhnt, später hatte der Gang nach der lateinischen Schule die Bewegung in der Arbeit ersetzt; nun aber war es ihm wie einem Riesen, dem man statt der Keule eine Nähnadel in die Hand gegeben.

Einst sagte er zu Clemens: »Guck, das ist mir so arg, daß ich mit der Bibel nicht recht einig bin; da ist die höchste Straf' für die Erbsünd': ›daß der Mensch im Schweiß seines Angesichts sein Brod essen soll‹. Daß man recht schaffen muß, das ist ja grad das größte Vergnügen.«

»O du!« erwiderte Clemens, »was geht dich das Alte Testament an? das ist für die Juden, und für die paßt's, denen ist Schaffen das ärgste Kreuz.«

Es ist wunderbar, wie Clemens diesen bekannten[350] Kniff der Theologen, wenn sie sich mit dem Alten Testament nicht mehr helfen können, aus sich selber fand. Clemens blieb aber nicht bei derlei Erörterungen, er vertraute vielmehr auch seinerseits seinem Freunde, wie es ihn dränge, mit Gefahren zu kämpfen, fremde Länder und Gebiete zu durchstreifen. Die beiden Freunde redeten sogar viel von einer Flucht aus dem Kloster. Sie malten sich's gar schön aus, wie sie auf einer unbewohnten Insel ankämen, wo sie mit den wilden Thieren kämpften und den Boden zum erstenmal umpflügten. Es blieh indes bei dieser Gedankenflucht; die Gesetze des Klosters und die Familienbande hielten sie in der Heimath fest.

Die Innigkeit der beiden Freunde nahm fast mit jedem Tage zu, und so verschieden auch ihre Charaktere waren, sie fanden sich doch einig in der Liebe.

Ivo ließ es ohne Trübsal geschehen, daß er seinen ersten Platz verlor und sogar so weit hinunterrückte, daß der Bartel über ihn kam; diese äußerliche Hintansetzung freute ihn fast, sie bekundete seine Unlust an dem Studium. Das Bewußtsein, daß er mehr war, als es schien, that ihm wohl, es gab ihm eine gewisse Selbständigkeit, eine gewisse Abgeschlossenheit der Außenwelt gegenüber. Mit den untersten Dienern des Klosters, mit den Holzhackern, schloß Ivo einen geheimen Bund. Mit einem [351] Eifer, als gälte es, die ganze Erdkugel zu zerspalten, führte er im geheimen die Axt, bis endlich ein Professor diese Ausschweifungen gewahr wurde und Ivo dafür im Karzer büßen mußte.

So war Ivo von dem ersten und fleißigsten der Schüler zu einem der letzten und widerspenstigsten herabgesunken.

Wenn die Vacanz kam, trennten sich die beiden Freunde mit fieberhafter Wehmuth; sie trösteten sich mit dem Wiedersehen und wünschten doch, nie mehr in das Kloster zurückzukehren. Auf dem Wege erschien dann Ivo die Welt nicht mehr so schön, die Leute nicht mehr so gut; denn die Welt in ihm hatte eine andere Gestalt angenommen.

Zu Hause zog sich Ivo nicht mehr so streng von Constantin zurück, das Leben in seinem elterlichen Hause erschien ihm nicht mehr so gedrückt; er sah, daß fast kein Mensch auf Erden, für sich allein betrachtet, ganz glücklich ist, daß also eine Gemeinschaft des Lebens, in der Ehe, in der Familie, auch manches Unvollkommene und Unglückliche haben muß.

Die Welt der Ideale war ihm eingesunken. Nur manchmal erhob er sich noch in innigem Gebete über alle Mißlichkeiten und Herbheiten des Daseins, aber auch selbst in die himmlischen Heiligtümer verfolgte ihn bisweilen der Gedanke der Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit. Er war sehr unglücklich. [352] Die Leute hielten sein verstörtes Aussehen für eine Folge des Studiums. Es schnitt ihm tief durch die Seele, wenn ihn seine Mutter bat, sich nicht so übermäßig beim Studieren anzustrengen; er konnte der guten Frau nicht klar machen, was ihn bedrückte; war es ja ihm selber nicht klar.

So, in der Fülle der Lebenskraft stehend, fühlte er sich doch lebensmatt und kampfesmüde; er hatte das Rätsel des Daseins noch nicht überwunden und glaubte, daß nur der Tod es löse.

In der vorletzten Vacanz, vor dem Abgange nach Tübingen, erfuhr Ivo einen herben Verlust; er traf seinen Nazi nicht mehr im Hause. Das Gretle hatte sich mit Xaver verheirathet, der Widerspruch des Vaters war endlich besiegt worden, und sie war mit nach Amerika gezogen; jetzt fehlte es an weiblicher Hülfe im Hause, die Söhne Valentins konnten das Feldgeschäft schon allein besorgen, und so wurde der Nazi verabschiedet; er war fortgegangen, ohne zu sagen, wohin. Der Taubenschlag war leer, und die Thiere im Stalle schienen mit Ivo um den fernen Freund zu trauern.

Freilich war Emmerenz dafür als Magd in's Haus gekommen. Sie war ein starkes, munteres Mädchen geworden, etwas kurz und untersetzt, so was man »mockig« nennt, man konnte sie wohl zu den Hübscheren im Dorfe zählen; aber Ivo widmete [353] ihr längst keine Aufmerksamkeit mehr, die Liebe zu seinem Clemens hatte sein ganzes Herz erfüllt. Es waren Vacanzen vorübergegangen, in denen er Emmerenz nicht einmal angesprochen. Jetzt betrachtete er sie bisweilen verstohlen, schnell aber wendete er dann, wenn er dessen inne wurde, den Blick. Nur einmal, als er sie im Stalle so freundlich walten sah, sagte er: »Das ist brav, Emmerenz, daß du das Vieh gut versorgst; gib nur auf den Falb und die Allgäuerin recht Acht.«

»Ich weiß wohl,« erwiderte die Angeredete, »das sind deine alten Lieblinge; guck, das gefällt mir jetzt, daß du sie so gern hast,« und gleichsam um einen alten Klang aus seiner Kindheit in ihm zu wecken, sang sie, während sie der Allgäuerin Futter aufsteckte:


Da droben auf'm Bergle,

Da steht e weißer Schimmel,

Und die brave Büebele

Kommet alle in Himmel.


Und die brave Büeble

Kommet et allein drein,

Und die brave Mädle

Müsset au dabei sein.


Ivo ging still davon, hinaus in das Veigelesthäle, wo er einst einen ganzen Tag mit dem Nazi [354] »gezackert« hatte; er meinte fast, er müsse hier eine Kunde von ihm finden. Er beneidete seine Brüder, die hier arbeiteten, die am elterlichen Tische mit den Ihrigen Freud' und Leid theilten, die niemand als ihren natürlichen Obern zu gehorsamen hatten.

Mit erneuter Innigkeit schloß sich Ivo nach der Rückkehr in's Kloster an seinen Clemens an; er mußte ihm jetzt auch den verlorenen Nazi ersetzen.

Der letzte Sommer, der nun in Ehingen zu verleben war, bracht auch mannigfache Abwechselung. Clemens war aus einer großentheils prothestantischen Stadt; er kannte daher mehrere von den Klösterlingen in Blaubeuren, die etwas mehr Freiheit hatten; sie kamen nun bisweilen nach Ehingen, gingen zum Direktor; einer sagte, daß er ein Landsmann von Clemens, der andere, daß er desgleichen von Ivo sei, und so andere von andern. Die Landsleute erhielten nun einen Mittag frei, und im nahen Dorfe, unter fröhlichen Liedern, das volle Glas in der Hand, trank Ivo manchen Schmollis mit den prothestantischen Klösterlingen. Sie waren beiderseits nicht frei, wenn auch die Blaubeurer einzelne Freiheiten mehr hatten.

Die Studentenzeit stand wie ein lichtglänzender, von Süßigkeiten behangener Weihnachtsbaum vor der Seele aller dieser Jünglinge, und sie rüttelten gewaltsam an den Pforten vor der künftigen Bescheerung;[355] sie genossen im voraus die Freude des Burschenlebens, die ihnen doch nicht vollauf werden sollte.

So kam endlich der Herbst. Am Abend vor dem Abschiede gingen Ivo und Clemens nach der Freundschaftshecke, ein jeder brach sich einen Zweig und steckte ihn auf die Mütze, dann reichten sie sich die Hände und schwuren sich nochmals ewige Freundschaft. Ivo versprach noch, seinen Clemens während der Vacanz in Crailsheim zu besuchen.

Das Verlassen eines Ortes, so wenig glücklich man auch in demselben gelebt hat, erregt doch stets eine Wehmuth; das Vergangene wird zu einer abgeworfenen Hülle, man kehrt nie mehr als derselbe zu ihr zurück: diese Häuser, diese Gärten und Straßen sind die Geburtsstätten eines ganzen Schicksals. Hier hatten sich die Freunde gefunden, hier hatte sich ihr Geist zu ungeahnter Höhe entfaltet, und mit tiefem Schmerze trennten sich die Freunde von dem Kloster und der Stadt. Sie gelobten, einst, in altersgrauen Tagen, wieder mit einander dahin zu wallfahrten, um die stillen Spielplätze ihrer jugendlichen Gedanken als Männer aufzusuchen.

10. Neues Zusammentreffen

10.
Neues Zusammentreffen.

Nachdem Ivo nur wenige Tage zu Hause geblieben war, machte er sich auf den Weg zu seinem [356] Freunde, dessen Wohnort am andern Ende Württembergs, nach Franken hin, lag. Als er nun zum erstenmale auf der jenseitigen Anhöhe stand, gedachte er jenes Abends vor der Primiz Gregor's, da er geglaubt hatte, hier könne man in den Himmel hineinsteigen. Jetzt wußte er, daß es keine irdische Stelle gibt, von wannen sich der Eingang in den Himmel öffnet; ja, dieser selbst stand ihm nicht mehr vor dem Auge, und er fragte nach dem Wo? Er suchte das Himmelreich auf Erden und wußte es nicht zu fassen.

Mit stillen Betrachtungen durchwanderte er die Städte und Dörfer, mit fragendem Blicke betrachtete er das Treiben der Menschen; das Rätsel des Daseins verwirrte sich stets mehr vor seinen Augen. Der traubenreiche Herbst jubelte durch das Unterland, Lieder schallten, Pistolen knallten von den Geländen, aber Ivo fragte: sammelt ihr den Wein, der sich in Blut verwandelt?

Es war am dritten Abend, Ivo wanderte der guten Stadt Schwäbisch Hall zu, die Sonne ging feierlich unter, es war wie an jenem Abende, da er mit Nazi im Veigelesthäle gewesen. Er stand still und gedachte mit Wehmuth des armen Freundes, den er auf immer verloren; da sah er einen Schäfer, der, mit dem Rücken gegen die Straße gewendet, auf seinen Stab gelehnt, hineinschaute in die Abendgluthen; er sang das Lied:


[357]

Da droben, da droben

An der himmlischen Thür,

Und da steht eine arme Seele,

Schaut traurig herfür.


Ivo durchzuckte es wie eine Ahnung, er sprang schnell feldein, er wollte den Schäfer fragen, wie weit er noch nach Hall habe; da bellte der Hund, der Schäfer rief, sich umwendend: »Still, Bleß!« und mit dem Rufe: »Bist Du's?« lag Ivo seinem Nazi am Halse.

Nun war des Fragens kein Ende. Die Nacht war hereingebrochen, und Ivo sagte:

»Ach Gott, ich muß jetzt schon fort; ich muß sehen, daß ich eine Herberge krieg'.«

»Warum?« erwiderte Nazi, auf die rothe Schäferhütte deutend, »gefällt dir der Gasthof zum rothen Haus nicht? Bleib du nur bei mir, ich duck' mich in ein' Eck', du sollst gut schlafen; oder ich mach' mir nichts daraus und bleib' ganz auf, heut nacht um zwei Uhr kommt ein Hauptstern.«

Ivo willigte gern ein, mit Nazi in der Hütte zu schlafen.

»Hast Hunger?« fragte Nazi. »Da unterm Dach ist mein Keller.« Er holte Brod und Milch herbei, machte ein kleines Feuer und wärmte für Ivo die Milch; dann hob er die hölzerne Gabel weg, auf der der Hintertheil der Hütte während des Tages [358] aufgerichtet war, und sagte: »Sodele 1, da kennen wir gut schlafen, das Gesicht muß gegen Sonnenaufgang liegen.«

Wie das so oft geschieht, daß, wenn man so viel zu sagen hat, man gerade das Unbedeutendste zuerst vorbringt, so fragte auch Ivo: »Was bedeuten denn die wunderlichen Figuren von Messingnägeln auf dem Riemen da?«

»Das sind die drei Haupthimmelszeichen, die schützen das Vieh gegen böse Geister; weiter kann ich dir nichts sagen.«

Wieder wie in den Tagen seiner Kindheit saß Ivo neben Nazi auf dem Feldraine und verzehrte ein einfaches Mahl; aber es war Nacht, sie waren in fremder Gegend, und vieles hatten sie seitdem erlebt.

»Was macht denn die Emmerenz?« fragte Nazi.

»Die ist jetzt Magd bei uns.«

»Wenn du nicht Pfarrer würdest, bigott 2, die hättest du heirathen müssen.«

»Das hätt' ich auch,« sagte Ivo mit fester Stimme; die Nacht verdeckte die Röte, die in seinem Antlitze aufstieg.

Nun fragte Ivo nach den Lebensschicksalen Nazi's, und dieser begann:

»Du bist jetzt in dem Alter, daß ich dir alles [359] erzählen kann, wer weiß, ob wir uns je wieder sehen, und du sollst Alles von mir wissen, du bist mein Herzbruder. Ich bin nicht aus deiner Gegend gebürtig, ich bin von der andern Seite vom Schwarzwald, gegen den Rhein zu. Wenn man von Freiburg aus durchs Himmelreich und das Höllenthal geht und die Höllsteig oben ist, da sieht man rechts ein Thal, wo die Treisam fließt und viel viel Hammerwerke, Sägmühlen und Mahlmühlen sind, und wenn man auf der andern Seite den Berg 'naufgeht, man heißt's das Windeck, da sieht man ein groß ›Buurehus‹, das ist des Beßtebuuren, und das war mein Vater. Du kannst dir denken, was das für ein Gut ist: es hält seine sechzig, auch siebzig Stückle Vieh, und man braucht kein Hämpfele 3 Heu kaufen. Dort ist es nicht wie da hier 'rum und bei euch, da wohnt ein jeder Buur für sich, mitten auf seinem Grund und Boden. Das Haus ist ganz von Holz, nur die Grundmauern sind von Stein, die Fenster sind alle hart nebeneinander gegen die Morgenseite hin, ums ganze Haus herum geht eine Altane, und das Dach geht weit vor und ist von Stroh, das vor Alter grau geworden ist, da ist's wärmer wie im schönsten Schloß. Ach Gott, wenn du einmal kannst, mußt du einmal hingehen, wo dein Nazi aufgewachsen ist; thu's mir zulieb. Unsere Aecker, die gehen weit [360] auf den Feldberg 'nauf und 'nab bis zur Treisam, und zweihundert Morgen Waldung, man kann ganz leicht für zehntausend Gulden Holz schlagen. Es ist ein' Pracht. Wo man hinguckt, ist Alles eigen und Alles in gutem Stand.

Wir waren drei Kinder, wie das gewöhnlich ist, ich war der Aelteste, und nach mir noch ein Bruder und eine Schwester, und das muß ich dir noch sagen, daß beim Absterben vom Vater, oder wenn er sein Sach abgibt, der Hof nicht getheilt wird; der älteste Sohn kriegt Alles, und der Vater macht den Anschlag, was er seinen Geschwistern an Geld 'rausbezahlen muß. Wenn aber eins von den Kindern klagt, nachher theilt die Regierung den Hof. Das ist aber nur ein paarmal vorkommen und ist nie gut ausgangen. Nun hat vierhundert Schritt von uns, auf einem ganz kleinen Schnipfele Feld, eine Witfrau ihr einzecht stehend Häusle gehabt, und darin hat sie gelebt mit ihrer einzechten Tochter. Sie waren im dritten Glied Nachkommen von einem jüngeren Kind und waren blutarm, aber lieb und gut wie die Engel, so sind sie mir wenigstens vorkommen. Die Mutter, weißt du, das war eine von den langen Weibern, die immer so freundlich thun können; das Lisle, nein, in dem war keine falsche Ader, das muß ich noch heut sagen. Die Mutter und Tochter haben sich davon ernährt, daß sie Strohhüt' genäht haben, [361] denn drüben über'm Berg, im Glotterthal und weiter hinein, da tragen die Weibsleut' runde, hellgelbe Strohhüt', grad so wie in der Stadt die Herren, und die Mannen tragen schwarze Strohhüt'. Ein Hut vom Windecker Lisle hat immer drei Groschen 4 mehr gegolten; und wenn eine noch so Wüste 5 einen Hut von ihm aufgehabt hat, war sie schön. Das Lisle hat Händ' gehabt so zart und so weiß wie eine Heilige; es hätt' aber doch auch recht im Feld schaffen können. Wenn es so am Fenster gesessen ist und hat genäht, bin ich oft draußen hingestanden und hab' ihm zuguckt; wenn es sich einmal in den Finger gestochen hat, ist mir's durch Mark und Bein gangen. Mein Vater hat's bald gemerkt, wie's mit mir und dem Lisle steht, und er hat's nicht leiden wollen, aber ich hätt' eher vom Leben gelassen, als von ihm; und da hat mich mein Vater vom Hof weg auf die Sägmühle gethan, die gehört eigentlich nicht zu unserm Erblehen, die hat mein Vater nur so angekauft, und da hab' ich die ganze Woch' keinen Menschen gesehen, als das Kind, das mir das Essen gebracht, und die Leut', die die Stämme her- und die Bretter fortgeführt haben. Nachts bin ich aber als auf und davon, um nume 6 [362] noch ein Wörtle mit dem Lisle zu reden. Da ist plötzlich mein Vater gestorben und hat das Gut meinem Bruder vermacht, und für mich zehntausend Gulden und auch so viel für meine Schwester; das ist ein Bettel, das ist das Holz von einem Jahr. Meine Schwester hat sich nach der Neustadt an einen Uhrmacher verheirathet; ich war ganz rabiat und hab' gesagt, ich geh' nicht aus dem Haus, ich lass' es auf einen Proceß ankommen. Da geh' ich einmal Abends 'nüber zum Lisle, und wie ich zum Fenster 'neinguck', wer meinst, daß darin sitzt und das Lisle küßt und herzt? Mein Bruder, und die alt' Hex' steht dabei und lacht, daß ihr Gesicht doppelt so lang gewesen ist. Ich 'nein in's Haus, das Messer ziehen, meinem Bruder in den Leib stechen – das war all eins.«

Hier seufzte Nazi tief, schwieg eine geraume Zeit, dann fuhr er fort: »Mein Bruder ist auf dem Boden gelegen und hat sich nicht geregt, das Lisle ist seiner Mutter um den Hals gefallen und hat geschrieen: ›Mutter, an dem Tod seid Ihr schuld. Geh' fort, Nazi, ich kann dich nicht mehr sehen.‹

Ich bin davon, wie wenn mich der Teufel am Bändel hätt' und hinten nachschleifen thät, und einmal über's andere bin ich wieder stehen blieben und hab' mich an einen Baum aufhängen wollen. [363] Da trifft mich der Schmiedjörg, und ich geh' mit ihm und versteck' mich bei ihm bis den andern Tag. Tausendmal hab' ich gebetet, daß Gott mein Leben von mir nehmen und mir die schwere Schuld des Brudermords nicht aufladen soll. Ich hab' die Hand aufs Herz gelegt und hab' heilig geschworen, von da an ein bußfertiges Leben zu führen, und unser Herrgott hat mich erhört. Am andern Morgen, ganz früh, kommt der Schmiedjörg zu mir in die Scheuer, wo ich im Heu gelegen hab', und hat gesagt: ›Dein Bruder lebt, und er kann davon kommen.‹

Da bin ich fort über Berg und Thal, hab' meinem Bruder alles gelassen und hab' mich zum Buchmaier als Schäfer verdingt; ich hab' nimmer unter Menschen sein mögen, ich war froh, so allein auf dem Feld. Mein Hellauf, der war mein einziger Freund; du erinnerst dich wohl, ich hab' dir ja oft von ihm erzählt – ich bin schändlich drum gekommen.«

Hier hielt Nazi wiederum ein, sein neuer Hund schmiegte sich an ihn und sah traurig zu ihm auf, gleich als gräme es ihn, den alten Verlust nicht ersetzen zu können.

»Wie ich so allein auf dem Feld gewesen bin,« fuhr Nazi fort, »hab' ich mir viel Kräuter gemerkt, hab' sie gesammelt und Tränke daraus gemacht. Einmal [364] im Winter kriegt ein Nebenknecht von mir das Fieber, daß es ihn schier zum Bett herausgeworfen hat; ich helf' ihm schnell, und von der Zeit an sind alle Leut' aus der Umgegend zu mir kommen, wenn einem etwas gefehlt hat, und ich hab' ihnen so ein Tränkle geben müssen. Weißt du noch, wie du einmal so krank vom Feld heimkommen bist? da hab' ich dir auch geholfen, das war seitdem das erstemal, daß ich jemand was gegeben. Damals hat das der Doktor erfahren und hat mich bei Amt angezeigt. Es ist mir bei hoher Straf' das Quacksalbern verboten worden. Ich hab' nun keinem Bitten und keinem Betteln mehr nachgegeben.

Da ist ein' Geschicht' passiert, du kannst dich nicht erinnern, du warst noch zu klein: der Dick', draußen in den Hinterhäusern, hat zwei Söhn' gehabt, der eine war ein Mensch wie ein Graf, er war bei der Gard' in Stuttgart und war auf Urlaub; sein bester Freund war sein kleiner Bruder, so ein halbgewachsener, wilder Bub, der hat Jochem geheißen. Der Gardist ist zu dem schönen Walpurgle, zu der Näherin, gegangen, du kennst sie wohl, die mit dem feinen Gesicht, die allfort so in Pantöffele 'rumlauft; die hat aber auch noch einen andern Liebhaber gehabt von Betra. Des Dicken Buben, die beiden Brüder, die haben dem einmal aufgepaßt, um ihn tüchtig durchzukarbatschen, der Betramer wehrt [365] sich aber tapfer; da zieht der kleine Jochem das Messer und sticht nach ihm und sticht seinem Bruder gerad in den Leib.

Ich lieg' in meinem Schäferhäuschen und hör' auf einmal schreien und rufen und heulen, ich steh' auf, und da sind viel Männer und auch der Jochem, und sie erzählen mir Alles und bitten mich, ich soll dem Erstochenen 'was geben; da ist mir selbe Nacht von daheim in den Sinn kommen, das Walpurgle und das Lisle sind auch einander gleich gewesen, kurzum, ich hab' meine Schaf' dem Schackerle übergeben und bin mit. Wie der Gardist fast ganz todt dagelegen ist und ich hab' ihn angesehen, hat mir's als einen Herzschütterer nach dem andern geben. Ich hab' geweint wie ein Kind, und die Leut' haben mein Mitleid gelobt; sie haben nicht gewußt, wie mir's ist, und ich hab's ihnen nicht sagen können. Ich hab' dem Gardist ein Tränkle eingegossen, daß er den Brand nicht kriegen soll, und da sind hernach die Doktor gekommen, und er ist doch gestorben. Kurz und gut, sie haben mich in's Gefängniß gesperrt und ein Jahr in's Zuchthaus. Der Jochem ist auch in's Zuchthaus gekommen; der war schlecht, er hat lang Alles geleugnet und die Schuld auf den Betramer geschoben, bis sich's bewiesen hat, daß er's gethan hat. Bruderherz!« sagte Nazi, die Hand Ivo's fassend, »was ich im Zuchthaus ausgestanden [366] hab', das ist nicht zu vermelden; in der Höll' kann man bei keinem schlechteren Gesindel sein, ich hab' aber Alles gern ertragen und hab's als Sündenschuld für mein vergangen Leben angesehen.

Einmal hab' ich auch dem Pfarrer gebeichtet und hab' ihm Alles erzählt. Er hat gesagt: ich hätt' neues Unrecht gethan, ich hätt' mein Vermögen der Kirch' vermachen müssen; seitdem ließ' ich mich eher verreißen, eh' ich an einen Beichtstuhl geh'! Wie ich 'nauskommen bin, war mein erstes, daß ich den Hellauf wieder aufgesucht hab', der Dick' hat ihn zu sich genommen; aber sie haben gesagt, der Hund sei, wie ich fort gewesen bin, toll geworden, und da haben sie ihn auf den Kopf geschlagen. Des Dicken hätten mich gern bei sich behalten, aber ihr Haus war ganz verruiniert: die Mutter ist ein Jahr lang nicht ans Tageslicht gegangen, nur nachts nimmt sie ein Laternle und geht auf das Grab von ihrem Hannesle und betet dort. Du wirst dich noch wohl erinnern, sie geht ihr Lebtag schwarz gekleidet. Wie ich nun so das Dorf hinausgeh', allein und nicht einmal mein Hund mehr bei mir, da verkommt 7 mir dein' Mutter; sie hat wohl gewußt, daß ich nicht schlecht bin, wenn ich auch ein Sträfling war, und da bin ich halt zu deinem Vater in den Dienst kommen. Ich hab' nimmer mögen Schäfer sein, ich [367] hab' wieder unter Menschen leben müssen. Wie mir's nachher gegangen ist, weißt du. Ich hab' jetzt wieder einen guten Dienst da auf dem Deurershof; aber es ist mir doch als, als müßt' ich zu meinem Bruder und wär' mein' Demuth erst die recht', wenn ich bei ihm dien'.«

Nazi hielt inne und drückte sich mit der Hand die Augen zu; da sagte Ivo: »Du hättest eigentlich sollen in ein Kloster gehen und Mönch werden, das paßt für dich.«

»Pfaff?« sagte Nazi mit ungewöhnlich scharfem Tone, »da ließ' ich mir lieber die Händ' abhacken; vom Frommsein leben, das ist nichts nutz. Nimm mir's nicht übel, verzeih mein einfältig Geschwätz, ich bin ein dummer Kerl; du wirst Pfarrer, und du thust recht daran, du hast ein rein Gemüth, aber komm,« sagte er dann, nach den Sternen aufschauend, »es ist schon bald elf Uhr, wir wollen schlafen.«

Mit tief bewegter Seele schlüpfte Ivo mit Nazi in den Karren.

»Sag mir einmal, du bist doch g'studiert,« begann Nazi, »wie kommt's, daß die Lieb' das meiste Unglück über die Menschen bringt? wär's nicht besser, sie wär' gar nicht da?«

Ivo war verlegen, er hatte darüber noch nicht nachgedacht; mit schläfriger Stimme antwortete er indes: »Das kommt vom Sündenfall, von der [368] Erbsünde ... ich will aber darüber nachdenken. Gute Nacht.«

Die müde Seele und der ermattete Körper Ivo's wurden von den weichen Armen des Schlafes empfangen. Als er andern Morgens erwachte, war ihm Alles wie ein Traum, er fand den Nazi nicht mehr an seiner Seite, und als er den Kopf zum Häuschen herausstreckte, stand der Schäfer schon pfeifend bei seinen Thieren.

Nach einem einfachen Morgenimbiß trennten sich die beiden Freunde, und noch als Ivo fort war, rief ihm Nazi abermals nach: »Wenn du einmal nach Freiburg gehst, komm zum Beßtebuur, da bin ich.« – –

Mit Clemens verlebte Ivo fröhliche Tage, nur einmal schüttelte er den Kopf über seinen Jugendgenossen; er erzählte ihm nämlich sein Zusammentreffen mit Nazi und dessen Geschichte, da sagte Clemens: »Donner und Doria! das ist ein prächtiges Abenteuer, du bist ein Glückskind, ich beneide dich fast darum; die Geschichte von dem Knecht ist ganz schön schauerlich, nur fehlt noch ein Geist oder ein Gespenst darin.«

Ivo verstand den Clemens nicht, er begriff es nicht, wie man die herben Schicksale des Menschen als Phantasiegebilde eines müßigen Weltgeistes betrachten könne.

Fußnoten

1 Verkleinerungsform von »so«.

2 Bei Gott.

3 Hampfel – handvoll.

4 Man zählt im obern Schwarzwald noch nach Groschen.

5 Wüst, häßlich.

6 Nume, so viel als nur, im obern Schwarzwald, gegen den Rheinabhang hin gebräuchlich.

7 Begegnet.

11. Das Konvikt

11.
Das Convict.

Allein, ohne Geleite von Familienangehörigen, zog Ivo nach seinem neuen Bestimmungsort; er war den Familienbeziehungen entwachsen, und selbständig ging er nun seinen Weg. Freundlich und hell lachte ihn die gute Stadt Tübingen an. Er träumte von den Wonnen, die sich ihm hier aufthun sollten, obschon er wohl wußte, daß noch immer Klosterzwang, wenngleich ein etwas milderer, seiner harrte.

Das Leben der freien Wissenschaft war nun unserm Ivo erschlossen. Er besuchte mehrere philosophische Vorlesungen außerhalb des Klosters; im tiefsten Grunde seiner Seele aber hatte Alles eine theologische oder eigentlich eine katholische Beziehung. Die schläfrigen Vorträge alter Lehrer – die dürre Begriffsformeln aufpflanzten, an denen nirgends frisches Leben grünte – waren nicht geeignet, Ivo auf die Höhe der freien Wissenschaft zu heben, von wo aus die Theologie in ihrer abgeschiedenen und begrenzten Stellung sich erweist.

Fest schloß sich Ivo an seinen Clemens an, mit dem er nun doch eine Stunde im Freien ohne Aufsicht sich ergehen durfte. Auch andere Bekannte [370] traf er hier; vorerst die Söhne des Oberamtmanns. Sie thaten jetzt sehr vornehm, ihr Vater war zum Regierungsrat befördert und hatte den Verdienstorden erhalten, er schrieb sich jetzt »von Rellings«; obgleich nun die Söhne dadurch noch nicht geadelt waren, hielten sie sich doch an den Adel und besonders an den anwesenden Sohn eines mediatisierten Fürsten.

Ivo begegnete ihnen eines Tages, als sie mit ihrer vornehmen Gesellschaft ausritten, er sprang auf sie zu und reichte ihnen die Hand; sie hatten aber Peitsche und Zügel zu halten, und er erhielt nur einen Finger. Mit herablassendem Zunicken sagte der Aelteste:

»Ah, jetzt auch hier? das ist schön,« und ihren Pferden die Sporen gebend, ritten sie davon.

Ivo gedachte jenes Tages, da er einst stolzierend mit ihnen durch das Dorf gegangen war, er sah diese Behandlung als gerechte Strafe für seinen damaligen Hochmuth an. Die Rellingse hatten jetzt Höhere gefunden, und sie thaten in deren Begleitung ebenso herablassend gegen ihn, wie er einst in ihrem Geleite den grüßenden Bauern gedankt hatte.

So erlebte Ivo das seltene Unglück, daß Standesunterschiede der Eltern auch in das Zwischenreich des Studentenlebens hineinragten; denn dieses ist gerade noch der einzige Punkt, auf welchem [371] die gewöhnlichen Lebenstrennungen nicht vorhanden sind, wo die jungen Geister sich auf dem ungespaltenen Boden der Gleichheit bewegen.

Ein anderer Bekannter, den Ivo im Kloster traf, schloß sich mit besonderer Vorliebe an ihn an; dieß war Constantin. Er wußte alle Schliche und Auswege, wie man die Stunden schwänzen und dafür im Wirthshaus sitzen, wie man sich Abends frei machen und einem flotten Burschenkommers beiwohnen konnte; er gab sich viele Mühe, den »crassen Fuchs«, seinen Landsmann Ivo, ebenfalls zu einem »forschen Studio« herzurichten. So wenig ihm dieß indes bei Ivo gelang, um so gelehriger war Clemens; sein abenteuerlicher Sinn fand in dem Studentenleben eine entsprechende Nahrung. Nachts, an zusammengeknüpften Tüchern aus dem Konvikte entfliehen, in den Kneipen singen und jubilieren, dann durch die Straßen randalieren und wieder mit doppelter Gefahr in das Kloster zurückkehren, das war eine Freude nach seinem Herzen. Die Lust des brausenden Jugendmuthes reizte Clemens fast noch mehr, als die Freude, das Gesetz verhöhnen zu können.

Obgleich nun Ivo wiederholt seinen Clemens ermahnte, mehr an die Zukunft zu denken, ließ er sich doch selber einst dazu verleiten, in dunkler Nacht dem Klostergefängniß zu entrinnen. Sie waren nach Constantins Ausdrucke »kreuzfidel«, setzten in der [372] Kneipe bunte Mützen auf, und Ivo war der Lustigste von allen; aber gerade diesmal wurden sie bei der Heim kehr ertappt, und Ivo mußte mehrere Tage im Karzer sein Vergehen abbüßen.

Constantin war hocherfreut, daß sein Landsmann nun die Studentenweihe erhalten habe, er sagte oft: »Ich werde kein Pfarrer, die Scher' wird nicht geschliffen, die mir die Haare abschneidet; ich muß nur vorher 'was abwarten.« – Dann sagte er ein andermal: »Wenn ein recht Leben unter euch wär', thäten wir uns alle verbinden, daß wir samt und sonders aus dem Kloster austreten, nachher soll einmal unser Herrgott allein die Welt regieren; er soll sehen, wie er fertig wird.«

»Was möchtest du denn werden?« fragte Ivo, dem diese gottlosen Reden das Blut in die Wangen trieben.

»Ein Nordstetter Bauer, und weiter nichts.«

»Aufrichtig gestanden, das möcht' ich auch, aber das ist einmal meine Bestimmung nicht.«

»Ich will mich noch bestimmen, gib nur acht,« sagte Constantin.

Viele Convictoren bekamen auch von ihren Eltern Besuch, es waren meist Bauern, in ihre übliche Landestracht oft ärmlich gekleidet. Es that Ivo sehr wehe, daß die »Herren Studenten« sich ihrer Eltern schämten und ungern mit ihnen ausgingen; [373] als ihn daher einst seine Mutter besuchte, ging er stets Hand in Hand mit ihr durch die Stadt und verließ sie den ganzen Tag nicht.

Es war im Februar, da kam Constantin zu Ivo auf die Stube, die den altherkömmlichen Beinamen »Zion« hatte; er zog einen Strauß von gemachten Blumen mit rothen Bändern daran aus der Tasche und sagte: »Guck, das hat mir das Hannele von der Hauffei geschickt, ich bin Rekrut, ich bin dieß Jahr beim Zug und hab' mich frei gespielt; juchhe! jetzt komm' ich aus dem Kloster.«

»Wie so?«

»O du Böcklein weiß wie Schnee, ging einstens auf die Weide! Ich will dir sagen, wie das geht, aber auf dein Cerevis, daß du's bei dir behältst. Wenn ich freiwillig aus dem Kloster treten thät', müßt' ich den Genuß, den ich darin gehabt, 'rausbezahlen und müßt' Soldat werden; vom letztern bin ich jetzt frei, und wenn ich mach', daß sie mich aus der Wallachei da 'nausmaßregeln, nachher brauch' ich nichts zu bezahlen; dem Direktor, dem spendier' ich noch ein besonderes Trinkgeld.«

Constantin steckte den rothbebänderten Strauß auf seine Mütze und ging damit keck über den Klosterhof; er kam den ganzen Tag nicht mehr zurück und zog mit den andern Studenten, die ebenfalls dieses Jahr im Zuge waren, Arm in Arm [374] über den Markt, und durch die ganze Stadt sang und trank und randalierte er. Erst spät Abends kehrte er heim und wurde sogleich auf den sogenannten »Herrentritt« zum Direktor beschieden.

Der Direktor war allein, Constantin blieb an der Thüre, sich mit beiden Händen rückwärts an derselben festhaltend; da trat der Direktor mit grimmiger Rede auf ihn zu, Constantin lachte, stolperte vorwärts und trat dem Direktor so hart auf die Füße, daß er laut aufschrie und noch härtere Reden vorbrachte; aber Constantin rückte abermals vor und machte den Herrentritt zur buchstäblichen Wahrheit. Der arme Direktor nahm den einzigen Stuhl, der im Zimmer war, und hielt ihn vor sich, aber Constantin drang stets schärfer auf ihn, jagte ihn von einer Seite zur andern und schrie wie die englischen Reiter, wenn sie ein Pferd im Kreise treiben: »Ha! hupp!« und schnalzte mit der Zunge. Endlich gelang es dem grausam Verfolgten, die Klingel zu erreichen; der Famulus kam, und Constantin wurde in das finsterste Karzer gesperrt.

Vier Wochen lang mußte er hier seinen schnöden Muthwillen abbüßen, und als ihn Ivo einmal besuchte, gab er ihm recht, daß es sündhaft war, den Unmuth gegen das Gesetz an dem unschuldigen Vollstrecker desselben auszulassen. Ivo setzte hinzu:

[375] »Es ist doppelt sündlich. Die Alten sind freilich die Kerkermeister, die uns bewachen, aber sie müssen ja auch grad wie wir im Gefängniß wohnen und haben's nicht viel besser; der Schlüssel, der ihnen selber aufschließen könnt', ist gar nicht einmal hier.«

»Ja,« lachte Constantin, »weißt, wie es als im Abzählen beim Spielen geheißen hat?


Das Engelland ist zugeschlossen,

Und der Schlüssel abgebrochen ...


Da hab' ich halt eine Riegelwand eingestoßen.«

Constantin wurde mit Schimpf aus dem Kloster entlassen.

Als Ivo in der OsterVacanz nach Hause kam, reichte ihm Constantin seine Hand, an der drei Finger verbunden waren; er hatte sich nämlich bei einer Rauferei zwischen den Nordstettern und Baisingern, von der Schloßbauernfeindschaft her, gewaltig ausgezeichnet, wobei ihm eine Flasche aus der Hand in Splitter zerschlagen wurde. Ueherhaupt gehörte bereits der Studentle – so hieß fortan Constantin – zu den meisterlosesten 1 Burschen im Dorfe. Er hatte sich bäuerisch gekleidet und gefiel sich darin, recht toll zu sein und jedes höhere Bildungselement, das noch an ihm haftete, abzustreifen. Mit [376] seinen beiden Kameraden, des Hansjörgs Peter und des Metzgerles Florian, dem Sohne eines verkommenen Schlächters, führte er allerlei lose Streiche aus; die drei hielten fest zusammen und ließen keinen andern in ihre Kameradschaft. Höchst eigentümlich war das Verhältniß Constantins zu Peter: liebender wacht ein Mutterauge nicht über das Wohl ihres kranken Kindes, nachgiebiger ist ein sanftes Weib nicht gegen ihren verstörten Gatten, als Constantin gegen Peter war; ja, er unterdrückte sogar die Neigung zu des Jörgs Magdalene, weil er merkte, daß Peter sich um ihre Liebe bewarb, er verhalf ihm hierzu, so viel er konnte. Wenn Constantin ganz wild war, so daß kein Mensch mit ihm auskommen konnte und er Alles kurz und klein schlagen wollte, durfte Peter nur sagen: »thu's mir zulieb, Constantin, und gib Frieden,« und er war zahm und folgsam wie ein Lamm.

Ivo hatte viele Mühe, sich von Constantin loszumachen, aber es gelang ihm doch. Er war still und ernst, selbst bei den lustigsten Reden und Späßen Constantins verzog er keine Miene, und dieser ließ den »Betbruder« endlich gewähren.

Als Ivo wieder in das Kloster zurückgekehrt war, traf er seinen Freund Clemens in einer großen Umwandlung.

Clemens war als junger, lebenskecker Student [377] in nähere Beziehung zu der Tochter seines Amtmanns gekommen, sein ganzes Wesen loderte nun in Einer Flamme für sie. Er wollte aus dem Kloster austreten und die Rechte studiren, er verhöhnte das geistliche Amt mit den bittersten Reden, er verhöhnte sich selber und sein Geschick, das ihn arm und hilflos an einen verhaßten Beruf gekettet; mit dem ganzen Ungestüm seines Geistes rüttelte er stets an den Fesseln, die ihn einzwängten. Er sah überall nichts als Sklaverei; bleichen Antlitzes und oft zähneknirschend ging er einher. Ivo bot die ganze Macht seiner Liebe auf, um seinen Freund zu retten; aber bald erkannte er, daß hier eine höhere Macht walte, und er trauerte mit seinem armen Freunde, obgleich er seinen wilden Ungestüm nicht recht fassen konnte.

Clemens saß in den Hörsälen, und während die Anderen mit eifriger Hast die flüchtigen Worte des Lehrers nachschrieben, malte er nur bisweilen den Namen Cornelie und verkritzelte ihn dann wieder zur Unkenntlichkeit.

Der Funke der Unzufriedenheit, der in Ivo geruht hatte, drohte zur Flamme zu werden, aber noch hielten ihn die festen Mauern des Gehorsams, die gewohnte Unterordnung unter das Schicksal, in stiller Gluth.

Eine Verschiedenheit im Wesen der beiden Freunde zeigte sich auch darin, daß Clemens in seinem [378] Mißmuthe stets durch Zerstreuungen, lärmende Gesellschaften und dergleichen Selbstvergessenheit suchte, während Ivo in seinen Verstimmungen sich immer mehr in sich versenkte, gehalten und leise seinen Schmerz aufzuklären und in Selbsterkenntniß zu lösen trachtete.

Dieß gelang ihm aber nur schwer, und eine tiefe Verstimmung bedrückte seine Seele; auch er liebte das Leben weniger als sonst, es war ihm eine Bürde, er sagte oft, daß er gerne sterben oder ewig schlafen möchte.

»Das beste auf der Welt,« sagte er einmal Nachts zu seinem neben ihm liegenden Clemens, »ist doch ein Bett. Ein Vogel im Käfig, der ist übel d'ran, wenn er auch schläft, er ruht dabei doch nicht recht aus; er sitzt auf dem Stängele und muß sich noch immer mit seinen Krallen festhalten; das ist noch immer eine Thätigkeit, das ist keine vollkommene Ruhe. So auch der Mensch, wenn er sitzt, ruht nicht recht aus, er muß sich dabei noch immer halten; erst wenn man sich niederlegt, alle Glieder sich auflösen läßt und gar keine Muskel mehr anspannt, erst das ist die wahre Ruhe. Darum ist es dem Vogel im Nest und dem Menschen im Bett so wohl. Plato hat den Menschen einen federlosen Zweifüßler geheißen. Was schadet's? er steckt sich in fremde Federn. Der Nazi hat mir einmal gesagt: wenn man einen [379] Raubvogel zahm machen will, hängt man ihn in eine Mühle, damit er nicht schlafen kann, und da wird er so geschlacht wie eine Taube; das ist gerade wie von dem Tyrannen, wo wir einmal in Ehingen gelesen haben, der seine Gefangenen alle Stund' hat wecken lassen. Wenn's ans Plagen geht, da sind die Menschen gar erfinderisch; mit dem Erfreuen sind sie nicht so bei der Hand. Das größte Wunder sind mir immer noch die Säulenheiligen, die allfort gestanden haben. Das ist die größte Selbstüberwindung. Denk nur einmal, wenn man so sein Leben lang immer dastehen müßt', daß einem die Füße ganz pelzig werden. Ahdele 2! ich dank' unserm Herrgott für das Bett; ein gut's Rühle geht über ein gut's Brühle, sagt man bei uns daheim.«

So philosophierte Ivo, Clemens aber gab ihm keine Antwort und seufzte nur einmal leise »Cornelie«. Ivo schlief ruhig ein.

Der Weltgeist, der Geist der Natur, wenn er allnächtlich auf die Klöster herabsah, verhüllte klagend sein Antlitz.

Clemens hielt sich gewaltsam wach, und als es elf Uhr geschlagen, schlich er leise in den Klosterhof. Es war eine linde Sommernacht, es hatte gewittert, zerrissene Wolken ließen das Licht des Vollmondes bald hell erglänzen, bald überdeckten sie es mit ihrem[380] Schatten, Clemens kniete nieder, und die Hände ringend rief er zitternd: »Teufel! Beelzebub! du Herrscher der Hölle, erscheine mir, gib mir von deinen Schätzen, und meine Seele sei dein, erscheine, erscheine!«

Clemens horchte mit angehaltenem Athem, alles war still, nichts regte sich, nur von ferne vernahm man das Bellen eines Hundes. In sich zusammengekauert, lag Clemens lange so, und als noch immer nichts erschien, kehrte er fröstelnd in sein Bett zurück.

Andern Tages saß Clemens blaß und abgehärmt an seinem Pulte, das Buch war vor ihm aufgeschlagen, aber er las nicht. Wie Schlangenwindungen krochen die schwarzen Zeichen vor seinem Auge in einander; da brachte ihm der Briefträger einen Brief. Er hatte ihn kaum überlesen, als er ohnmächtig vom Stuhl herabsank, seiner krampfhaft geballten Hand entfiel ein lithographiertes Billet, darauf stand: »Cornelie Müller und Hermann Adam, Verlobte.« Alles eilte schnell herbei, Clemens wurde zu Bette gebracht. Ivo harrte zitternd und weinend, bis der Athem seines Freundes wieder zurückkehrte; nun aber verfiel Clemens in ein heftiges Fieber, seine Zähne klapperten, und er zuckte stets zusammen, daß man ihn halten mußte. Drei Tage lang lag der Unglückliche im Delirium, er sprach bisweilen von dem Teufel und bellte wie ein Hund; nur einmal sagte [381] er, sanft die Augen zulegend: »Gute Nacht, Cornelie.« Ivo durchlas den an Clemens gerichteten Brief, er hatte dieses Recht stets gehabt, und nun fand er einigermaßen den Zusammenhang. Der Brief enthielt die Nachricht, daß ein reicher Oheim von Clemens' Mutter gestorben sei und sie zur Gesamterbin eingesetzt habe; die freudigsten Hoffnungen für die Zukunft waren hieran geknüpft. Ivo wich nicht von dem Bette seines Freundes, und wenn er fort mußte, löste ihn meist Bartel ab.

Das Krankenlager des Clemens war ein tief schmerzliches. Meist düsterte er so hin mit offenen Augen, aber, wie es schien, ohne etwas zu sehen. Ivo mußte die Hand auf seine brennend heiße Stirne legen, und dann sagte er manchmal, die Augen schließend: »Ah!« Es war wie wenn bei der Berührung der geweihten Freundeshand böse Martergeister aus der engen Behausung des Gehirnes auszögen. Hin und wieder brauste auch Clemens in gewaltigem Ingrimm auf und verfluchte die ganze Welt und ihre Lieblosigkeit; wenn ihn dann Ivo zu begütigen suchte, kehrte sich der Zorn des Gereizten gerade gegen ihn, mit krampfhaft zitternden Händen um sich schlagend, rief er: »O du herzloser Wicht, gelt, mich kannst du quälen?«

Mit frommer Duldung, Thränen in den Augen, nahm Ivo diese rauhe Behandlung hin; ja, er empfand[382] bisweilen sogar eine gewisse innere Freude und Genugtuung darin, für seinen Freund auch dieses über sich nehmen zu dürfen.

Als Clemens am vierten Tage erwachte, war es ihm, als ob sich vor ihm in der Unendlichkeit, aber doch wieder ganz nahe, so daß er es greifen konnte, in der blauen Luft eine Nische aufthäte, die von lauter Licht erfüllt war; um ihn und aus ihm rief es: »Clemens!« Er hatte sich wieder gefunden. Noch oft erzählte er, daß es ihm in diesem Augenblicke war, als ob Gott in seiner Strahlenglorie ihn erhellte und ihn zurückführte zu ihm und zu sich selber. Als er nun endlich wieder zu ruhiger Besinnung gelangt war, sagte er, die Hände hoch erhebend: »Mich hungert nach Gottes Tisch.« Er verlangte nach dem Beichtiger und sagte diesem Alles: daß er den Teufel beschworen, daß dieser ihm geholfen und ihn zu Grunde gerichtet habe. Er bat zerknirscht um eine schwere Buße und Absolution. Der Beichtiger auferlegte ihm eine leichte Buße und bedeutete ihn eindringlich, daß ihm das Vergangene dazu dienen müsse, alle weltlichen Gelüste von sich abzulösen, wie Gott ihn wunderbar gerettet, und wie er fortan nur ihm angehören müsse.

Wer in das Antlitz des Clemens hätte schauen können, als er mit gläubig geschlossenen Augen dalag, und der Beichtiger, den Segen über ihn aussprechend,[383] als Sinnbild der Versöhnung das Zeichen des Kreuzes auf dem Angesichte des Kranken vollführte, wer die Spannung der Muskeln und das Pulsieren der Wangen hätte beobachten können, der hätte es Clemens nachfühlen mögen, welch eine heilige Wandlung mit ihm vorging; es war ihm wirklich und wahrhaft, als ob die Hand Gottes ihn berührte, leicht und lind all die Schwere aus ihm hervorleitete und neuer Lebenshauch ihn durchströmte.

Der wiedererstandene Clemens war ein ganz anderer. Er schlich leise umher, sich oft umschauend, als fürchte er etwas, dann stand er wieder plötzlich stille. Ivo vermochte es nicht, ihn aufzurichten, denn selbst ihm hatte Clemens den ganzen Verlauf seiner Sündhaftigkeit nicht zu bekennen gewagt. –

Wiederum nach der Vacanz war Clemens ganz verwandelt. Er sah wohl blühend aus wie zuvor, aber aus seinem Auge leuchteten geheimnisvolle Flammen.

Einst zog er im Burgholz, in dem nahen Walde, seinen Freund an die Brust und sagte: »Ivo, danke Gott mit mir, er hat mir die Gnade wiedergegeben. Unsere Schuld ist's, wenn der Herr nicht Wunder an uns thut, weil wir uns nicht reinigen zu Gefäßen seines unerforschlichen Willens. Ich habe gelobt, Missionär zu werden und den Wilden das [384] Heil der Welt zu verkünden. Ich habe sie wiedergesehen, die meine Seele dem Herrn gestohlen hatte, aber mitten in ihrem Anblicke verschwand die Welt vor meinen Augen, der Allbarmherzige legte seine Hand auf mich und rettete mich. Er zog mich hinauf auf den Berg. Dort saß ich, bis die Sonne verglühte und die Nacht hereinbrach. Alles umher war still und todt. Da hör' ich plötzlich jenseits im Walde die Stimme eines Singenden; das waren nicht irdische Töne:


›Wol nach dem heißen Afrika.‹


Ich kniete nieder, und der Herr vernahm mein Gelöbniß. Das Herz war mir aus dem Leibe genommen, ich hielt es in der Hand. Ich küßte den Fels unter mir und den Baum neben mir, und ich habe den Geist Gottes aus ihnen in mich eingesogen; ich hörte die Bäume schauern und die Felsen in verhaltenem Harme klagen, sie weinen und trauern und harren des Tages, da das Kreuz geworden ist der Lebensbaum, aufgerichtet zwischen Himmel und Erde, da der HERR HERR wieder erscheint und die Welt erlöst ist, da werden die Felsen freudig hüpfen und die Ströme freudig jauchzen.«

Clemens kniete nieder und fuhr dann fort: »Herr! Herr! begnade mich! lege deine Worte auf meine Zunge, würdige mich der seraphischen Liebe, gieße[385] deine Gnade aus über meinen Herzbruder, zerbrich ihn, daß er mitfühle die Schwerther, die durch deine Brust gegangen und die das Herz der Welt zerschneiden. Ich danke dir, o Herr! daß du mich mit der heiligen Armuth vermählt; ja, ich will mich ganz weihen der glückseligen Thorheit und will mich schmähen und martern lassen, bis die Hütte meines Leibes wieder abgebrochen wird, bis ich die Verwesung dieses Lebens vollendet habe. Herr! Du hast mich reich gemacht, damit ich werde der Armen einer. Selig sind die Armen, selig sind die Kranken!«

Clemens küßte die Füße seines Freundes, lag dann noch eine Weile, das Haupt auf den Boden gedrückt, dann stand er auf, und die beiden gingen still heimwärts.

In der Seele Ivo's bebte namenlose Furcht; wohl fühlte er die Macht des Opfermuthes, die über Clemens gekommen war, aber er sah auch ihre schrecklichen Verirrungen – er fühlte ein Schwerth durch sein Herz fahren.

Willig folgte er seinem Freunde in die Nachtgebiete menschlichen Lebens und Wissens; es war ihm, als müsse er ihn stets begleiten, um zur Hülfe bereit zu sein.

Das Leben der Heiligen war es, was sie vor Allem durchforschten. Ivo sagte einmal: »Ich freue mich der Erkenntnis, daß die Offenbarung fort und [386] fort durch die Menschheit geht; Heilige erstehen, denen sich der Herr geoffenbart und ihnen die Wunderkraft verliehen, und wer sich recht heiligt, dem kann es durch die Gnade werden. Jetzt hat wiederum jede Stadt und jedes Land seinen wahren Heiligen, wie einst die Griechen die falschen Götter. Gott ist überall leibhaftig nahe.«

Clemens küßte, ohne zu antworten, die Stirn Ivo's. Nach einer Weile aber sprach er mit feuriger Zunge von den Helden, die mit leerer Hand die Welt erobert und bewältigt.

Das Leben des heiligen Franz von Assisi nahmen sie mit besonderer Innigkeit in sich auf, seine Bekehrung vom brausenden Weltleben und die Art, wie er zuerst einen Aussätzigen durch seinen Kuß geheilt, zog Clemens besonders an. Ivo aber erquickte sich an der kindlichen Einheit des Heiligen mit der Natur und seiner Wundermacht über sie: wie er einst den Vögeln gepredigt, daß sie das Lob Gottes singen sollen, wie sie stille horchten, bis er das Zeichen des Kreuzes über sie gemacht und sie gesegnet, und sie dann ein schmetternd Lied erschallen ließen; wie er mit einer Nachtigall einen Wett- und Wechselgesang zum Lobe Gottes bis zum Abend fortsang, wie er dann ermüdet war, so daß der Vogel auf seine Hand geflogen kam, damit er ihn segne. Bei der Erzählung von dem Lamme, das der Heilige von der [387] Schlachtbank gerettet und das jedesmal im Chore beim Gesange niederkniete, dachte Ivo mit Freude an sein Muckele.

Als sie lasen, daß der Heilige so hoch begnadigt war, die Wundenmale Christi, die durchstochenen Hände und Füße und die Lanzenwunde im Herzen an seinem eigenen Leibe auf wunderbare Weise zu empfangen, fing Clemens laut zu weinen an.

Er wiederholte seinen Vorsatz, Franziskanermönch zu werden, und forderte auch Ivo zu gleichem auf, damit sie nach der Ordensregel zu zwei durch alle Welt wandeln, Qualen aufsuchen, arm und hilflos nur von Almosen leben.

Mit unersättlicher Gier versenkte sich dann auch Clemens in die Tiefen der Mystik und riß seinen Freund mit sich fort.

Fußnoten

1 Meisterlos, so viel als unbändig, den Niemand bemeistern kann.

2 Verkleinerungsform von Ah.

12. Der Studentle

12.
Der Studentle.

In der Vacanz wurde Ivo wiederum mächtig in das Leben hineingezogen. Da konnte man das Treiben und Wirken der Außenwelt nicht so leicht von sich weisen und sich in eine Welt willkürlicher Gedanken versenken. Solche Ueberhebungen sind meist nur möglich, so lange man außerhalb der Familie, also außerhalb des wirklichen Lebens steht; so wie er [388] ins Dorf zurückgekehrt war, schlangen sich wiederum die Familienbande um ihn, und die vielfach in einander verwebten Lebensgeschicke der Dorfbewohner drangen auf ihn ein. Er kannte ja das innere Gebaren in all diesen Häusern, hinter all diesen Mauern; er fand sich wie nach einem Erwachen wieder.

Eines Abends traf Ivo den Constantin vor seinem Hause, er kaute an einem Strohhalm und sah verdrießlich drein.

»Wo fehlt's« fragte Ivo.

»Was? du kannst mir doch nicht helfen.«

»Nun, so sag's doch.«

»Du hast keinen Sinn für die Welt, du kannst dir nicht denken, was das ist: jetzt ist bald Pfingsten, und da ist der Hammeltanz und – ich hab' keinen Schatz; ich könnte einen haben, aber ich hab' mich zu patzig benommen, und doch mag ich halt keinen andern, und es thät mich gottsträflich verzürnen, wenn sie mit einem andern ging'. Das gibt einen Hammeltanz, daß Gott erbarm'.«

»Wer ist denn die Stolze?«

»Du kennst's wohl, die Emmerenz.«

Ivo erschrak unwillkürlich, er fragte aber doch schnell:

»Hast du schon lange Bekanntschaft mit ihr?«

»Sie will ja nichts von mir, das ist eben die Sach', die thut so heilig und zimperlich wie die keusche Diana.«

[389] »Meinst du's denn auch ehrlich mit ihr und willst du sie heirathen?«

»Was? ehrlich? G'wiß, was denn anders? aber vom Heirathen ist jetzt noch keine Red', kennst du noch das alte Burschenlied:


Lieben, lieben will ich dich,

Ich will dich lieben,

Aber heirathen nicht.«


»Da muß ich der Emmerenz recht geben.«

»Was? sans touche, das kapierst du nicht recht; so ein Mädle muß content sein, wenn es einen Schatz kriegt, wie ich bin. Des Schulzen Bäbele thät mit allen zehn Fingern nach mir langen, wenn ich nur bst! machen thät; aber die könnt' jetzt auch nicht mehr die keusche Kirche vorstellen, wie bei des Georgs Primiz; ich mag sie nicht.«

Während Ivo und Constantin so mit einander sprachen, kamen auch der Peter und der Florian hinzu.

»Ah!« sagte der letztere, »läßt sich der Herr Student auch einmal sehen? Ich hab' gemeint, unsereins wär' ihm zu gering, daß er ihm nur ein Wörtle gunnen thät.«

»Ja,« ergänzte Peter, »alle Buben im Ort sagen: so wär' noch keiner gewesen wie du, Ivo; du thust ja, als ob du von Stuttgart wärst und nicht von Nordstetten.«

[390] »Um Gotteswillen,« sagte der von allen Seiten angegriffene Ivo; »es ist mir nie eingefallen, stolz zu sein; kommet, wir gehen mit einander in's Wirthshaus.«

»Das ist recht,« sagte Florian, »wir feiern heut' Abend meinen Abschied, morgen geh' ich in die Fremd'.«

Die Leute im Dorfe wunderten sich, als sie den Ivo mit dem Kleeblatt dahingehen sahen; das war ein seltener vierblätteriger Klee.

»Haben wir auch einmal die Ehr?« sagte die Adlerwirthin, als Ivo mit den andern in die Wirthsstube trat. »Ich will gleich ein Licht in's Verschlägle stellen. Mit was kann man aufwarten? Soll ich ein Schöpple guten Ueberrheiner bringen?«

»Wir bleiben für jetzt noch bei Württemberg,« sagte Constantin, »und der Ivo trinkt mit uns, er ist ein Nordstetter Bub, grad wie wir auch.«

»Wie du nicht, das wär' schad',« entgegnete die Wirthin.

»Ich will dir einmal 'was aufzuraten geben, du Schneppepperle: worin sind die Weiber und die Gäns' einander ganz gleich?« sagte Constantin.

»Daß so Ganstreiber wie du sie regieren wollen,« erwiderte die Wirthin.

»Bärbele, sei froh: wenn man am Dummsein schwer tragen thät, du könntest schon lange nimmer[391] laufen. Ich will dir's sagen, worin sie gleich sind: an den Gans' und an den Weibern ist Alles gut bis auf den Schnabel. Jetzt gang und hol ein Maß Sechser.«

»Du bist kein' Batzen werth,« sagte Bärbele lächelnd, indem es fortging, um das Befohlene zu bringen.

Wir haben es wohl wieder erkannt, es ist das Bärbele, dessen wir uns noch vom Jäger von Mühringen her erinnern. Der Kaspar hatte den Adler gekauft, und Bärbele war eine tüchtige Wirthin; es konnte jedermann gut unterhalten und blieb, wie wohl bekannt, niemand eine Antwort schuldig, so daß sogar die Horber »Herren« nicht mehr bloß in das Schäpfle gingen, sondern auch den Adler mit ihrem Besuche beehrten.

Nachdem eingeschenkt und angestoßen war, begann Florian das Lied: »Es geht ein Pudelmann 1 um unsern Tisch herum, 'rum 'rum.« Dann wurde »Sasa geschmauset« gesungen, und die Worte »edite, bibite« waren in »hebet sie, leget sie« übertragen; diese Einbringung fremder Kultur war das Werk Constantins. Die Bursche thaten sich nicht wenig zu gut auf ihre neuen Lieder. Ivo sang mit lächelnder Miene mit, denn er wollte nicht herrisch erscheinen.

[392] Die drei Kameraden waren trefflich eingeübt. Peter sang die erste Stimme, und obgleich er einen klangvollen Tenor hatte, überbot er ihn doch durch übermäßiges Schreien, denn die singenden Bauern und die predigenden Pfarrer halten meist die in's Unnatürliche getriebene Stimme für schöner und weihevoller. Constantin bewegte sich beim Singen auf und nieder, er ballte die beiden Fäuste und schlug damit in kurzen Sätzen in die Luft; Florian aber lag ruhig mit beiden Armen auf den Tisch gestemmt und drückte wie zu innerer Andacht die Augen zu.

Die Maß war bald getrunken, da rief der Studentle: »Bärbele, noch einmal so, auf Einem Fuß lauft man nicht,« und dann sang er:


Wein her! Wein her!

Oder i fall' um und um.

Umfallen thur i net,

Lutherisch wur i net,

Wein her! Wein her!

Oder i fall' um.


Gleich darauf aber sang er wieder:

Und die ni gar et mag,

Die sieh ni alle Tag,

Und die ni gerne hätt',

Die ist so weit aweg;

[393]

Kein' Schöne krieg i net,

Kein' Wüste mag i net,

Und ledig bleib' i net:

Was fang i an?


»Ist's wahr, Constantin?« fragte Bärbele, »kannst du so gut polnisch betteln gehen? Hat dich die Emmerenz mit einem Helf dir Gott 2 um ein Haus weitergeschickt?«

»Ich parir' drei Maas vom Besten, sie geht mit mir zum Hammeltanz und mit keinem Andern.«

Florian sang:


»Wegen ein'm Schätzle trauern,

Das wär mir e Schand,

Und i kehr mi glei um,

Geb er Andre die Hand.«


Peter erwiderte:

Wenn i schaun kein Schatz haun,

I leb ohne Sorge;

Es wurd alle Tag Obed

Und wieder morge.


Constantin sang:

Wenn's schneit, so schneit's weiß,

Und wenn's g'friert, so g'friert's Eis;

Und was die Leut' keit,

Des thur i mit Fleiß.


[394] Florian dagegen:

Heut ist es grad acht Tag',

Hot mir mein Schatz aufg'sagt;

Es hat so bitter g'weint

Und i haun g'lacht.


Und:

Drei Wochen vor Ostern,

Do goht der Schnee weg,

Do heiret mein Schätzle,

No haun i en Dreck.


»Nicht so, man muß den Stiel umkehren; so muß es heißen,« sagte Constantin und sang:

Drei Wochen vor Ostern,

Da geht a weg Schnee,

Da heiret mein' Wüste,

Do haun i e schön'.


Ein schallendes Gelächter und allseitiger Lobpreis aus allen Ecken der Stube lohnte das neue Gesätz.
Der Peter sang:

Schätzle, du närrt's,

Du liegst mir im Herz

Und du kommst mir et draus,

Bis das Leben ist aus.


[395] Und:

Wenn i nu wüßt',

Wo mei Schätzele wär',

Und da wär' mein Herz

Nit halb a so schwer.


Florian sang wieder:

Und wenn man will recht fröhlich sein

Und leben ohne Kummer,

Muß mer heiren wie die Vögelein:

Nur auf ein einzigen Sommer.


Constantin sang:

Zu dir bin i gange,

Zu dir hat's mi g'freut.

Zu dir gang i nimmeh,

Der Weg ist mir z'weit.


Es wär mir et z'weit,

Und er wär' mir schon recht,

Und du kannst dir's wohl denken,

Du bist mir viel z'schlecht.


Ivo saß mit unruhigem Sinnen hinter dem Tische. Er dachte darüber nach, wie oft er um diese Stunde bei der einsamen Lampe die Geheimnisse der Weltschöpfung und Erlösung zu enträtseln trachtete, wie da all das Treiben der Menschen, all die Wünsche des Einzellebens fernab von ihm lagen, [396] und nun stellte er all diesem das Leben seiner Altersgenossen entgegen. Der Mittelpunkt ihres Denkens und Treibens war die Liebe, in derbem Spott wie in zarten Sehnsuchtshauchen klang das einzige Gefühl doch überall durch – das ganze Dasein fiel ihm wiederum wie von scharfem Stahl zerschnitten in zwei Hälften auseinander, in Geistlich und Weltlich. Bärbele hatte ihn genau beobachtet, es hatte das mißbehagliche Zucken in seinem Antlitze wohl entdeckt, es ging daher auf die Singenden zu und sagte:

»Ei wie? schämet ihr euch nicht? könnet ihr denn nicht auch ein ordentlich Lied singen?«

Constantin erwiderte:


Ei, g'fällt's Euch halt et?

So gefällt es halt mir;

Ei könnet Ihr's besser,

So singet jetzt Ihr.


»Ja, wir wollen, wenn du mitsingst,« sagte Florian.
»Meinetwegen.«
»Nun, was denn?« fragte Peter.
»Ehrlich und fromm.«
»Ist mein Reichtum – nein, das mag ich nicht,« sagte Constantin.
»Nun, das: Morgens früh beim kühlen Tauen.«
[397] »Ja.«
Bärbele begann herzhaft, und die Anderen sangen mit:

Morgens früh beim kühlen Thauen,

Wenn das Gras am längsten ist,

Werd' ich mein schön Schätzlein schauen,

Eh' und bevor es Niemand sieht.


Fuchs und Hasen soll man schießen,

Eh' sie laufen in den Wald;

Junge Mädchen soll man lieben,

Eh' und bevor sie werden alt.


Bis daß der Mühlstein trägt die Reben,

Und herausfließt rother Wein;

So lang der Tod mir schenkt das Leben,

So lang sollst du mein eigen sein.


Ivo dankte dem Bärbele herzlich für das schöne Lied, Constantin aber setzte sogleich drauf:

Aus ist's mit mir,

Und mein Haus hat kein' Thür,

Und mein' Thür hat kein Schloß,

Und vom Schatz bin i los.


Aus ist's mit mir

In dem ganzen Revier,

Und wann die Donau austrocknet,

So heirathen wir.


[398]

Und sie trocknet net aus

Und ist alleweil naß,

Jetzt muß ich gehn schauen

Um ein' anderen Schatz.


»Wollen wir jetzt das: Es ging ein Knab' spazieren?« fragte Bärbele.
»Laß du ihn nur daheim,« entgegnete Constantin.
»O du! wärst du daheim blieben, hätt' man dich nicht heimgeschickt wie das Hundle von Bretten.«
»Fang eins an,« sagte Florian, und sie sangen nun

Froh will ich sein!

Wann's nur dir wohl geht,

Wann schon mein jung frisch Leben

In Trauerheit steht.


Alle Wässerlein auf Erden,

Die haben ihren Lauf,

Kein Mensch ist schier auf Erden,

Der mir mein Herz macht auf.


Die Sonne und der Mond,

Das ganze Firmament,

Soll alles für mich trauern

Bis an mein selig End'.


Ivo saß unruhig auf seinem Stuhle, in diesem Liede war sein Schicksal ausgesprochen.

[399] »Bleib nur da,« sagte Constantin, der die Unruhe Ivo's bemerkte.

»Bärbele, bei dir geht's nicht wie bei dem Wirth zu Emmaus, du gibst zuerst den guten und dann den schlechten, du hast da lutherisch und katholisch untereinander gebracht, der Wein ist eine gemischte Ehe.«

»Wenn die Mäus' satt sind, nachher schmeckt das Mehl bitter,« erwiderte die Wirthin.

»Wisset ihr was?« rief Constantin, »jetzt trinken wir warmen Wein.«

»Du hast g'nug für heut,« sagte Bärbele.

»Was wir nicht trinken, schütten wir in die Schuh'. Heut' wollen wir einmal einen Kommers halten, du bist doch auch dabei, und du, und du?«

Alles nickte bejahend, und Florian sang:


Bruder, trink einmal,

Wir seind ja noch jung,

Im Alter ist es immer

Für Sorgen Zeit genung.

Denn der gute Wein

Ist für gute Leute,

Bruder, laß uns heute

Froh und fröhlich sein.


Als der warme Wein kam, sang Constantin, mit den Füßen stampfend und mit den Fäusten auf den Tisch schlagend:


[400]

I und mein altes Weib

Können schön tanzen.

Sie nimmt den Bettelsack,

I nehm' den Ranzen.

Schenk mir einmal bayrisch ein,

Bayrisch wollen wir lustig sein:

Bayrisch, bayrisch, bayrisch wollen wir sein.


Sie ging wohl in die Stadt,

I bleib' da draußen;

Was sie erbettelt hat,

Thur ich versaufen.

Schenk mir einmal bayrisch ein u.s.w.


Es war schon spät, ein Knabe hatte Ivo den Hausschlüssel gebracht, der Schütz war gekommen, um »abzubieten«, aber Constantin beschwichtigte ihn durch ein Glas Wein; gleiches gelang auch bei dem bald eintretenden Nachtwächter. Constantin begann die Professoren nachzuahmen und von seinen Studentenstreichen zu erzählen. Sich entschuldigend stand Ivo auf, um nach Hause zu gehen, die andern wollten ihn halten, Constantin aber machte ihm Platz, besonders weil er sich scheute, im Beisein Ivo's fremde Heldenthaten sich selber anzueignen; er sagte daher nur noch:

»Trink aus, du könntest sonst über den Stumpen fallen.«

[401] Ivo leerte noch das Glas glühenden Weines und sagte gute Nacht.

»Nimm die Stubenthür zu dir in's Bett,« rief ihm noch Constantin nach; Ivo hörte es nicht mehr.

Eine linde Vollmondsnacht legte sich über die Erde, es war, als ob das sanfte Licht überall hin Stille und Ruhe ausbreitete. Ivo hielt oft an und legte die Hand auf die hochklopfende Brust, er zog die Mütze ab, um sein Haupt um und um von den sanften Lüften anfächeln zu lassen. Als er sich zu Hause entkleiden wollte, fühlte er doppelt, wie all sein Blut in ihm wogte, wie die schnellen Takte seiner Pulse sich jagten; er verließ daher nochmals das Haus, um draußen in dem Frieden der Nacht Ruhe zu finden. Auf der Landstraße und durch die Felder schritt er hin, er war so froh und selig, er fragte nicht warum, er hätte ewig so fortwandeln mögen, so mit freudig hüpfender Brust: der Geist des Lebens war wiederum in ihm auferstanden und trug ihn schwebend auf der schönen, friedlichen Erde. Als er endlich wieder heimgekehrt war, sah er die Thüre an der Ehren 3-Kammer halb offen. Ohne daß er es wußte oder wollte, ging er hinein und stand wie festgezaubert: da lag Emmerenz. Der Mond beschien ihr Antlitz, ihr Haupt lag unter ihrem rechten Arme und die linke Hand ruhte an [402] dem Gelände. Die Brust Ivo's hob sich, sein ganzes Wesen erzitterte, er wußte nicht, wie ihm geschah, aber er beugte sich über Emmerenz und küßte sie so leise und zart wie der Mondstrahl auf ihre Wangen; Emmerenz schien es doch zu fühlen, denn, sich auf die andere Seite legend, sagte sie nur halblaut: »Ein' Katz, Katz, Katz.« Ivo stand noch eine Weile still, mit emporgestrebten Armen lauschend, ob sie nicht erwacht sei; als sie aber ungestört fortschlief, ward Ivo von der Heiligkeit dieser Ruhe bewältigt, er schlug sich zähneknirschend mit geballter Faust vor die Stirne und verließ das Gemach. In seinem Zimmer warf er sich dann auf den Boden, und seine Seele im tiefsten Grunde marternd rief er: »Herr Gott! vergib, laß mich sterben, denn ich habe gesündigt. Ich bin ein Verworfener, Nichtswürdiger. Herr Gott! strecke deine Hand aus und zermalme mich.« – –

Von Kälte geschüttelt, erwachte Ivo, es war Tag, er legte sich zu Bett. Die Mutter brachte ihm den Kaffee vor das Bett, sie fand ihn sehr übel aussehend, sie wollte es nicht zugeben, daß er aufstehe; Ivo aber ließ sich nicht davon abhalten, denn er wollte und mußte zur Kirche gehen.

Als Ivo vor dem Stalle vorüberging, hörte er die Emmerenz drin singen:


[403]

I haun koan Haus

Und haun koan Hof,

I haun koan Feld

Und haun koan Geld,

Und so e Mädle,

Wie ni bin,

Hot koan Freud' auf der Welt.


»Warum so traurig?« konnte sich Ivo nicht enthalten zu fragen, »hast du schlecht geschlafen?«

»Vom schlecht Schlafen weiß ich nichts, ich bin müd, wenn ich in's Bett komm', und da fallen mir die Augen zu; das Lied ist mir halt grad so eingefallen.«

»Brauchst nichts zu verhehlen, gelt, du hättest eben doch gern den Constantin zum Schatz?«

»Den? lieber den Franzosensimpel oder den blinden Koanradle; ich hab' kein Gelust, das halb Dutzend bei ihm voll zu machen. Ich brauch' kein' Schatz, ich bleib' ledig.«

»So sprechen alle Mädchen.«

»Du wirst schon sehen, daß mir's ernst ist.«

»Wenn du einen braven Mann kriegen kannst, mußt du nicht zu heikel sein.«

»Was könnt' ich kriegen? so einen alten Wittwer, der schon ein paar Weiber unter die Erd' geliefert hat. Nein, wenn ich einmal nimmer bei euch bleiben kann, bin ich kurz resolviert; ich hab' dem Gretle [404] versprochen, ich komm' zu ihm nach Amerika. Es macht mir aber rechtschaffen Freud', daß du dich auch noch um mich kümmerst; so ist's ja nicht, daß, wenn man Geistlich wird, man gar nicht nach seinen alten Freunden umgucken darf?«

»Ich wünsche von Herzen, daß ich dir zu deinem Glücke verhelfen könnte.«

Emmerenz sah ihn freudestrahlend an, dann sagte sie: »Das hab' ich mir immer denkt, du bist allfort gut gewesen, ich hab's nie glaubt, daß du stolz seist. Frag nur dein' Mutter, wir reden oft von dir. Spürst als nichts in deinem rechten Ohr?«

Die beiden plauderten noch eine Weile so mit einander. Emmerenz erzählte, daß sie der Mutter die Briefe vorlese und daß sie sie fast ganz auswendig wisse. Ivo hielt es für seine Pflicht, sie darauf aufmerksam zu machen, daß er auch ihrer nicht vergessen habe und daß sie nur stets recht brav sein solle; er sagte dieß Alles mit großer Selbstbeherrschung, denn das treuherzige Wesen des Mädchens hatte einen gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht.

Es läutete, und an einigen mit ihren Gebetbüchern heimkehrenden alten Frauen merkte Ivo, daß er die Frühmesse versäumt hatte.

»Wo schaffst du denn heute im Feld?« fragte er noch.

»Draußen im Weiherle.«

[405] Mit einem »B'hüt di Gott« ging Ivo auch hinaus in's Feld, aber gerade nach der entgegengesetzten Seite; es zog ihn oft dahin, wo er wußte, daß Emmerenz war, dann ging er aber um so schneller, um der Versuchung seines Herzens Trotz zu bieten. Endlich kehrte er nach Haus und nahm ein Buch vor, um zu studieren; aber er konnte seine Gedanken nicht zusammenbringen. Er nahm Papier und begann einen Brief an seinen Clemens, er wollte ihm sein ganzes Inneres aufdecken, bald aber zerriß er den angefangenen Brief wieder und tröstete sich damit, daß er seinen Freund ja bald wieder sehe.

Gegen alle frühere Gewohnheit war nun Ivo selten zu Hause. Er brachte oft halbe Tage in des Jakoben Schmiede zu. Die Schmieden sind Aufenthaltsplätze für allerlei Nichtsthuer, für alte Leute und Faulenzer; da kommen fremde Fuhrleute, da kommen Einheimische, die die Pferde beschlagen lassen oder schadhaftes Feldgeräthe bringen; wie der Blasbalg immer neu das Feuer anschürt, so strömt auch stets neue Unterhaltung herzu. Ivo dachte viel darüber nach, wie es geworden wäre, wenn der Wunsch seiner Kindheit in Erfüllung gegangen und er das Schmiedehandwerk erlernt hätte. Er nahm sich vor, einst, wenn er Pfarrer sei, diese Orte oft zu besuchen und hier gelegentlich[406] manches gute Wort anzubringen. Und wenn er daran dachte, daß er vielleicht nie zum geistlichen Amte gelange, sagte er sich innerlich: »Immerhin, aber nur nicht so werden wie der Studentle.«

Fußnoten

1 Burschcomment.

2 Abweisung eines Bettlers.

3 Ehren – Hausflur.

13. Der Zwiespalt

13.
Der Zwiespalt.

Als Ivo wieder in das Kloster zurückgekehrt war, ließ er mehrere Tage vorübergehen, ehe er die Bewegung seines Innern seinem bleich gewordenen Freunde Clemens mittheilte; er schauderte mit Recht vor dieser Eröffnung.

Als sie wiederum im Burgholz waren, faßte Clemens die Hand Ivo's und sagte: »Ich habe es im Traume gesehen, wie Satan sein Netz über dich ausspannte.«

Ivo gestand seine Liebe zu Emmerenz.

»Wehe!« rief Clemens, »wehe! auch über dich ist der Versucher gekommen! Aergert dich dein Auge, so reiß es aus, du mußt die Höllenflamme in dir zertreten und sterbe auch dein Leben mit.«

Ivo mußte nun alsbald zur Beichte gehen. Auch von ihm erfuhr man nie, welche Buße ihm auferlegt wurde, nur willigte er gern in den Vorschlag des Clemens, daß sie fortan auf der Erde schliefen und sich auch sonst auf allerlei Weise kasteiten.

[407] Clemens schlief fast immer auf der Erde, sitzend mit ausgebreiteten Armen, in der Form des Kreuzes.

Mit aller Macht seines Willens wendete Ivo seine Seele von den Weltgedanken ab, und es gelang ihm wiederum, sich ganz in die Gottesgelahrtheit zu versenken. Bald aber verfolgte ihn auch in diese heiligen Gebiete ein fremder Dämon. Er wagte es nicht, dieß Clemens mitzutheilen; denn dieser hätte von neuem kläglich Zeter gerufen.

So war der Zerfall der beiden Freunde schon vorbereitet, der endlich ganz unerwartet zum Durchbruche kam.

Clemens sprach einst von der Gottheit Christi, der den martervollen Kreuzestod über sich genommen, und wie ihn das erst als Gott und Heiland der Welt offenbare.

»Ich sehe an dem Kreuzestod nichts so Uebermenschliches,« sagte Ivo ganz ruhig. »Es ist heilig, aber nicht übermenschlich, als Unschuldiger für ein erhabenes Streben zu sterben. Nicht der gekreuzigte Christus, sondern der lebende und lehrende, der so allliebend war, wie noch keiner vor ihm, der ist mein Heiland; er wäre mir derselbe, wenn er die Treue seiner göttlichen Sendung auch nicht mit dem Martertode besiegelt, wenn die verblendeten Juden ihn anerkannt und ihn leben gelassen hätten. Nicht der gekreuzigte, sondern der lebendige Christus, sein [408] göttliches Leben und seine göttliche Lehre ist mein Heiland, mein Erlöser.«

Clemens stand da und zitterte am ganzen Körper, seine Lippen quollen auf, sein Auge rollte wild, und mit gewaltiger Faust schlug er Ivo in's Gesicht, daß diesem die Funken aus den Augen sprühten und die Wange brannte.

Ivo stand ruhig da, Clemens aber fiel vor ihm nieder, faßte seine Hand und schrie:

»Wirf dich mit mir in den Staub, Elender! Wahrlich, die schwerste Züchtigung, die für deine Gottlosigkeit dir werden konnte, hat der Herr durch meine Hand an dir vollführt; ich wollte es nicht, aber der Herr hat meinen Arm gegen dich geschleudert. Du bist mein Herzbruder, und durch mich mußtest du gezüchtigt werden, daß du es fühlest, wie zweischneidige Schwerther durch dein Gebein fahren. – Wirst du mich von dir stoßen, so ist das die härteste Strafe, die der Herr über dich verhängte; er will dir deinen besten Freund nehmen. Thue, wie dir dein Geist befiehlt, verstoße mich, dann bist du zwiefach elend. In tiefe Nacht muß dich der Herr tauchen, damit du zum Licht kommst, mit Wermuth muß er dich tränken, mit Galle dich sättigen, bis der Lügengeist aus dir ausfahre und der Sündenschlamm von dir abfällt. Herr! laß dir dieß Opfer wohlgefallen, ich opfere dir ein Stück meines Herzens, [409] meinen Freund. Du bist mein Freund, o Herr! Vergib mir, daß meine Seele noch an ihm hing, der da ist ein Fraß der Würmer. Begnadige mich, o Herr! reiche mir den vollen Becher des Schmerzes, führ mich den Dornenweg, zu dir, zu dir!«

Wehmüthig stand Ivo da und blickte auf seinen Freund, dessen überquellende Heftigkeit er wohl kannte; er wollte ihn aufrichten, Clemens aber wehrte es ab, und Ivo erkannte bald den vollen Gedankenlauf dieser Verzückung. Mit unbeschreiblichem Schmerze sah er dann hier in seinem lebendigen Freunde dessen Leiche vor sich, und wiederum war es ihm, als stünde sein eigener Geist vor dem eigenen entseelten Körper und sähe ihn zum letztenmal zusammenzucken; ihm schwindelte. Er versuchte es nochmals, Clemens aufzuheben, dieser aber richtete sich straff auf und fragte Ivo gebieterisch:

»Willst du Buße thun? Willst du mit den Thränen der Reue den Rost deiner Seele abwaschen?«

»Nein.«

»So fahre zur Hölle!« rief Clemens, Ivo abermals packend; dieser aber wehrte kräftig ab, und der Wilde sagte bittend: »Schlage mich, tritt mich, ich will Alles gern über mich nehmen, aber retten muß ich dich, das will der Herr.«

Ivo kehrte sich ab und verließ lautlos seinen Freund.

Still und gedankenvoll ging Ivo lange Tage [410] umher: die volltönendste Saite seiner Seele war in schrillem Mißklange zerrissen, er hatte eine schöne Liebe begraben, seine Trauer war tief und namenlos. – Jetzt auch, da er ein Extrem der Glaubensschwärmerei vor sich gesehen hatte, regten sich viele halbschlummernde Zweifel und Bedenken lebhafter, er war »zwiefach elend«, wie Clemens verheißen, aber er konnte sich nicht retten.

Der Horber Kaplan war als Professor nach Tübingen gekommen, er hatte noch immer eine gewisse Vorliebe für Ivo; dieser schloß sich ihm inniger an und eröffnete ihm die Marter seiner Seele.

Sonderbar! gerade über die Jungfrau Maria wagte Ivo die meisten Bedenken. Er fragte zuerst, ob sie »eine Heilige, auch allgegenwärtig sei«, da man doch überall zu ihr bete. Der Professor sah ihn etwas betroffen an, dann sagte er: »Der Begriff der Gegenwart ist ein bloß menschlicher, den körperlichen Dingen entnommen, eigentlich nur für sie geltend; indem wir das Wörtchen ›all‹ zu ›gegenwärtig‹ hinzusetzen, wollen wir nun die Gesamtheit des Daseins zusammenfassen, wir glauben nun dadurch einen neuen Begriff zu gewinnen, in der That aber haben wir keinen. Wie wir überhaupt nichts Ueberirdisches als solches in Begriffe fassen können, ist also das Dasein eines Geistes durch den Begriff der Gegenwart gar nicht meßbar. Wir fassen [411] überhaupt alles Ueberirdische nicht durch den Begriff, sondern durch den Glauben.«

Ivo befriedigte sich vollkommen mit dieser Antwort; schüchtern wagte er noch die Frage, wie man von der Jungfrau Maria sprechen könne, da doch in der Bibel Brüder Christi erwähnt würden.

Der Professor erwiderte: »Das griechische Wort ἀδελφός 1 ist nicht wörtlich zu nehmen, das ist ein orientalischer Ausdruck, aus dem Hebräischen genommen, und heißt so viel als Verwandter, Freund.«

»So wäre also der Ausdruck ὑιὸς ϑεοῦ 2 auch nicht wörtlich zu nehmen, und wäre auch bloß orientalischer Ausdruck?«

»Keineswegs, hierfür sprechen ausdrücklich die messianischen Stellen des Alten Testaments, die Evangelien und die Satzungen der Kirche, und dann,« setzte er hinzu, indem er die Mienen Ivo's scharf beobachtete, »ist die ganze Menschwerdung Gottes nur dazu, um dem menschlichen Begriff einen Halt zu geben, da, wie ich vorhin gesagt, wir das Ueberirdische nicht begreifen können. Das Wesen derselben ist und bleibt eben ein Mysterium, das wir nur glauben können, und der Glaube wird in dir wohnen, wofern du dich nur recht befleißest, deine Seele rein und kindlich zu erhalten.«

[412] »Ja, das ist nicht so leicht,« sagte Ivo zaghaft.

»Ich will dir einen bewährten Rath geben,« sagte der Professor, die Hand auf die Schulter Ivo's legend: »so oft ein Gedanke in dir aufsteigt, der dich vom Glauben entfernt, such ihn augenblicklich zu bannen durch Gebet und Studium, laß ihn nie länger in dir walten. Es geht uns mit unserm Gotte, wie mit einem Freunde; haben wir uns länger innerlich von ihm entfernt, so finden wir leicht den rechten Weg zu seinem Herzen nicht mehr.«

Diese Lehre und dieses Gleichniß trafen Ivo gewaltig, aber es war zu spät.

Man sollte vermuthen, solcherlei Forschungen hätten Ivo über die Kirche hinaus bis an die äußersten Grenzen des Denkens treiben müssen, aber er war und blieb ein gläubiges Gemüth; er war vom Vorhandensein der Wunder lebendig überzeugt, und nur eine Seele, die noch auf dem Zauberboden der Wunder steht, weilt noch auf dem Gebiete des wahrhaften Kirchenglaubens: der Glaube ist die Hingabe an ein Unerklärbares oder Unerklärtes, an ein Wunder.

Das Widerstreben Ivo's gegen das geistliche Studium hatte noch ganz andere Grundlagen, die ihm jetzt immer deutlicher wurden; die alte Lust nach einem thätigen Leben regte sich in ihm.

Eine frühere Gedankenreihe, die schon im Kloster[413] zu Ehingen begonnen, aber wieder abgebrochen ward, setzte sich in Ivo fort. »Nicht die schweißvolle Arbeit der Hände,« sagte er zu sich, »ist die Strafe für die erste Sünde, sondern, weil die Menschen vom Baume der Erkenntniß einmal gegessen, müssen sie nun ewig danach streben, ohne sich ganz daran ersättigen zu können; im Schweiße ihres Angesichts suchen sie das Brod ihres Geistes, die flatternden dürren Papiere sind die Blätter am Baume der Erkenntnis, zwischen welchen die Frucht versteckt sein soll. Glückselig, wem der heilige Christbaum mit seinen von höherer Hand angezündeten Lichtern der volle Baum der Erkenntniß geworden. Arbeit! Arbeit! Nur das Thier lebt und arbeitet nicht, es gehet aus, um seine Nahrung zu suchen, und bereitet sie nicht; der Mensch aber greift ein in die ewig schaffende Kraft der Erde, frei mitwirkend in der Thätigkeit des Alls erringt er den Segen der That, kommt Ruhe und Friede über ihn. Ihr verblendeten Römer! Euer Wahlspruch war: Leben heißt Krieg führen, und ihr ginget hin, eure Brüder zu unterjochen, um im stolzen Triumphe in die Roma einzuziehen. Nein! Leben heißt arbeiten. Wohl ist das auch ein Kampf mit den stillen Mächten der Natur, aber ein Kampf des freien Lebens, der Liebe, der die Welt neugestaltet: des Steines Härte weicht des Meißels Kraft und füget sich zum schönen Gebäude; und vor Allem sei du mir gepriesen, Ackerbau! In [414] der Erde Furchenwunden streuest du siebenfältig Leben. Da hebt sich das Herz, da wächst der Geist. Und wie wir die Erde bebauen, sie uns unterthan machen, so lernen wir auch unsere Erdennatur, die wir mit uns herumtragen, beherrschen und lenken; und wie wir des Segens und des Sonnenscheins von oben harren, der unser Werk aufgehen und reifen macht, so ist es dein Wille, o Herr! die Gnade über uns auszugießen, damit die Saat unseres Geistes gedeihe und unsern Leib heilige. Gib mir, o Herr! einen kleinen Fleck Erde, und ich will ihn siebenfältig umarbeiten, auf daß die verborgenen Säfte aufschießen in Halme, die sich vor dem Hauch deines Mundes anbetend neigen. Ich will meine schwieligen Hände lobpreisend zu dir erheben, bis du mich hinaufziehst in das Reich deiner Glorie.«

»Ich möcht' wohl Pfarrer sein,« sagte er ein andermal vor sich hin, »aber nur des Sonntags: so die ganz' Woch' mit nichts als mit unserm Herrgott und von dem leben, was man von ihm weiß, in der Kirche so daheim sein wie in seiner Stub', da hat man gar keine Kirche und keinen Sonntag mehr. Ach, lieber Himmel! wie schön war mir's, wenn ich des Morgens in die Kirche gekommen hin und hab' ›guten Morgen, Gott‹ gesagt; die Sonne hat ganz anders geschienen, die Häuser haben anders ausgesehen, und die Welt war ganz anders wie an [415] einem Werktag.« Ivo mochte an Emmerenz gedacht haben, denn er sagte weiter: »Das lutherische Pfarrleben gefällt mir auch nicht. Vom Predigen eine Frau und einen Haufen Kinder ernähren, nein! nein!« Dann kamen wieder leise die theologischen Bedenken, und er sagte einmal: »Die Theologie verdirbt die Religion. Was braucht's da viel? Liebe Gott und liebe deinen Nächsten. Punktum.«

So erzitterte und erbebte das ganze Wesen Ivo's. Der Gedanke an Emmerenz jagte ihm oft Fiebergluthen in das Antlitz, und dann überrieselte ihn wieder Eiseskälte, wenn er an sein Schicksal dachte.

Ivo dachte nun viel darüber nach, wie er den Eltern seinen unabänderlichen Entschluß, aus dem Kloster zu treten, mittheilen wolle; es war schwer, ihnen klar zu machen, daß er keinen rechten Beruf zum Geistlichen und auch den vollen Glauben nicht in sich fühle. Da kam plötzlich ein Bote aus Nordstetten mit einem Briefe vom Schultheiß an den Direktor, der den Wunsch enthielt, Ivo einige Tage nach Hause zu entlassen, da seine Mutter eine schwere chirurgische Operation nur in seinem Beisein bestehen wolle.

Von Angst gejagt, eilte Ivo mit dem Boten nach Hause. Er erfuhr, daß seine Mutter schon vor längerer Zeit beim Fallen von der Treppe einen Arm gebrochen, daß sie aber nicht darauf geachtet, [416] und nun, als es schlimmer geworden sei, der Arm noch einmal gebrochen und wieder eingerichtet werden müsse, sonst müsse sie sterben; nur ihrer Kinder wegen, für die sie sich erhalten müsse, wolle sie sich der schmerzlichen Operation unterziehen.

Es durchschnitt Ivo die Seele, daß der Bote immer von seiner Mutter sprach, wie wenn sie schon gestorben wäre, oder sicherlich »nicht mehr davonkäme«. »Sie war die rechtschaffenste Frau, so weit man kocht,« war der stete Schluß seiner Reden.

Das Wiedersehen von Mutter und Sohn war herzergreifend, und die Mutter sagte. »So, jetzt kann ich Alles besser aushalten, wenn du da bist.«

Andern Tages kam der Chirurgus, er wollte, daß man der Frau die Augen verbinde, sie aber sagte: »Nein, rücket das Bett in die Mitte des Zimmers, so daß ich den Heiland sehen kann, und ihr werdet's erfahren, ich werd' nicht zucken und keinen Laut geben.« – Nach vielem Einreden und Widerstreben wurde ihr willfahrt. In der einen Hand, an ihrem kranken Arme, hielt sie den Rosenkranz, mit der andern hielt sie die Hand ihres Sohnes fest, ihr Auge war starr nach dem Kruzifix gerichtet, und sie sagte: »Lieber Heiland! Du hast die höchsten Schmerzen mit göttlichem Lächeln ertragen, lieber Heiland, gib mir Kraft, halte mich fest, wenn ich zittern will, und wenn die Schwerther mir durch die Seele [417] fahren, will ich dein gedenken, o heilige Mutter Gottes! und stille dulden. Bete mit mir, lieber Ivo.«

Ohne einen Laut von sich zu geben, ließ sie die Operation vollziehen, und als der Knochen unter gewaltigem Drucke knackte, als Alles ringsum weinte und stöhnte, als der Vater halb ohnmächtig in die Kammer geführt und hinter der verschlossenen Thüre sein halb unterdrücktes Schluchzen laut wurde, da war die Mutter Christine still und regungslos, nur ihre Lippen bewegten sich, ihr Auge war fest auf den Heiland gerichtet, und ein heiliger Glanz leuchtete daraus hervor.

Als nun Alles vollbracht war, und selbst der Chirurgus nicht umhin konnte, die Heldenkraft der Kranken zu preisen, da sank Christine in die Kissen zurück, ihr Auge schloß sich, aber eine lichte Glorie schwebte auf ihrem Antlitze. Alle Anwesenden standen in stummer Bewunderung. Der Vater war wieder eingetreten. Er beugte sich über seine Frau; als er ihren Athem fühlte, blickte er mit einem schweren Seufzer und dem Rufe: »Gelobt sei Gott!« nach oben. Ivo kniete an dem Bette nieder, er blickte zu seiner Mutter auf und betete die Verklärte an. Alles faltete still die Hände, niemand wagte einen Laut, und es war, wie wenn der lebendige Geist Gottes durch alle Herzen zöge.

[418] Als die Mutter Christine erwachte und »Valentin!« rief, eilte dieser auf sie zu, faßte ihre Hand, drückte sie an sein Herz und weinte.

»Gelt,« sagte er endlich, »du verzeihst mir? du sollst g'wiß kein unschön Wörtle mehr von mir kriegen. Ich bin dich nicht werth, das seh' ich erst jetzt doppelt ein; und wenn unser Herrgott dich mir genommen hätt', ich wär' toll geworden.«

»Sei nur ruhig, Valentin, ich hab' dir nichts zu verzeihen; ich weiß wohl, du bist gut, wenn du auch manchmal nicht so bist, wie du bist. Gräm' dich nur jetzt nicht, Valentin, es geht wieder Alles gut. Unser Herrgott hat uns nur versuchen wollen.« – –

Die Mutter Christine genas wunderbar schnell. Valentin hielt getreulich Wort. Er wachte um seine Frau wie um ein höheres Leben, der leiseste Wink ihres Auges war ihm ein fröhliches Gebot; man mußte ihn zwingen, sich nur etwas Nachtruhe zu gönnen.

Emmerenz und Ivo wechselten ab, um bei der Mutter zu wachen, und diese sagte manchmal: »Ihr seid liebe, brave Kinder, unser Herrgott wird's euch g'wiß gut gehen lassen.«

Oft auch, wenn die Mutter schlief und das Eine kam, um das Andere abzulösen, redeten sie noch lange mit einander. Ivo offenbarte der Emmerenz [419] den tiefsten Wunsch seiner Seele nach einer anstrengenden Arbeit, und sie sagte: »Ja, ich kann mir's denken, ich könnt' nicht leben, wenn ich nicht recht tüchtig zu schaffen hätt'; ich will mich nichts berühmen, aber im Schaffen nehm' ich's mit einer jeden im Dorf auf.«

»Und wenn du erst ein eigen Hauswesen hättest, gelt, da thätest du erst rechtschaffen arbeiten?«

»Ja,« sagte Emmerenz und streifte ihre kurzen Hemdärmel noch besser hinauf und straffte ihre kräftigen Arme, gleich als müsse sie jetzt augenblicklich zugreifen. »Ja, wenn das wär'! aber es ist mir auch so kein' Arbeit zu viel.«

»Nun,« sagte Ivo, »denkst du denn auch als etwas bei der Arbeit?«

»Ja, g'wiß.«

»Was denn?«

»Was einem eben so in den Sinn kommt, ich hab' mich noch nie darum besonnen.«

»Nun sag mir's zum Beispiel.«

»Ja, da weiß ich nichts.«

Das sonst so zuversichtliche Mädchen wußte sich vor Verlegenheit gar nicht zu helfen.

»Schämst du dich, mir's zu sagen?«

»Kein Brösele, aber ich weiß halt nichts.«

»Nun, was hast du heut morgen beim Dinkelschneiden 3 [420] gedacht? was für Gedanken sind dir durch den Kopf gegangen?«

»Ja, da muß ich mich besinnen, du darfst mich aber nicht auslachen.«

»Nein.«

»Zuerst hab' ich, glaub' ich, an gar nichts gedenkt. Du könntest mich drauf rädern, es fällt mir nichts ein. Ja doch, ich hab' dacht, wie lang wir da zu schneiden haben. Hernach bin ich auf ein Wachtelnest gestoßen, da sind ganz junge Vögele drin gewesen; jetzt hab' ich's auf die Seite than, daß es die Buben nicht kriegen. Jetzt hätt' ich gar zu gern die Alten gesehen, wie die sich wundern, wenn auf einmal ihr Haus an einem andern Fleck steht. Jetzt ist mir das Lied vom Nazi eingefallen, du kannst's ja auch so schön singen, das von der armen Seel'. Jetzt hab' ich so dacht: wo mag auch der Nazi sein? Jetzt, ja, jetzt hab' ich dacht: es ist gut, daß bald Mittag ist, denn ich hab' einen wetterlichen Hunger gehabt. So, das ist Alles. Gelt, das ist nicht viel?« Scheu zupfte das Mädchen an seinen Kleidern und wollte den Blick gar nicht erheben. Ivo fragte nun wieder:

»Denkst du denn nicht auch als daran, wie wunderbar es ist, daß Gott das Samenkorn, das der Mensch säet, siebenfältig aufschießen läßt, daß die Saat unter dem Schnee schläft, bis die Frühlingssonne [421] sie weckt – wie viel Millionen Menschen sich schon von dem Safte der Erde genährt und ihn doch nie erschöpfen?«

»Jawohl, das hab' ich auch schon denkt, aber von ihm selber wär' ich nicht drauf kommen; der Pfarrer hat das auch oft in der Predigt und in der Christenlehr' gesagt. Guck, wenn man selbst so viel mit dem Sach' zu schaffen hat, da kommt man auf keine solche Gedanken, da denkt man halt: ist's bald zeitig, und gibt's viel aus? Die Pfarrer, die nicht im Felde schaffen, die keinen Dung 'nausführen und nicht dreschen, die kommen eher auf solche Gedanken.«

»Du mußt sie auch öfter aufsuchen, dann findest du sie von selber, thu das, Emmerenz.«

»Jawohl, das will ich, du hast recht, es ist immer gut, wenn man einen ermahnt. Wenn du mich wieder fragst, wirst sehen, kann ich dir mehr sagen; ich bin nicht so dumm.«

»Und recht lieb,« sagte Ivo. Er wollte ihre Hand fassen, hielt aber schnell wieder an sich; dessen aber konnte er sich nicht erwehren, daß er das kernhafte Wesen des Mädchens immer mehr liebte. – –

Mit tief erschütterter Seele kehrte Ivo wieder in das Kloster zurück. Er bewunderte die Heldenkraft seiner Mutter und gelobte sich, ihr nachzustreben; aber noch anderes bewegte seine Brust: das Paradies [422] seines elterlichen Hauses war aus Schmerz und Qual vor seinen Augen wiedererstanden. Er erkannte, welch eine unversiegbare Seligkeit es ist, wenn zwei liebende Herzen fest aneinander halten und im ewigen Wechsel des Lebens sich traut aneinander schmiegen. Der mächtig zurückgehaltene ewige Schmerz trat hervor. Er dachte an Emmerenz – und im dunkeln Tannenwalde saß er und weinte. Drunten im Thale schrillten die grellen Töne einer Sägemühle; Ivo wünschte, daß dies die Bretter zu seinem Sarge sein möchten, die man dort bereite. – –

In der nächsten Vacanz war Ivo wiederum fast immer zu Hause; hier war jetzt ein seliges Leben, Valentin war wie ausgewechselt, kein lautes Wort wurde vernommen, ein jedes behandelte das andere liebreich und zart, es war wie ein steter Palmsonntag aus der Kinderzeit. Aber all diese Ruhe erregte auch in Ivo eine Unruhe, all diese Freude erweckte ihm auch Schmerz und Unfrieden; er erkannte deutlich seine einsam verkümmerte Zukunft, ihm war kein so seliges Leben beschieden.

Zwei gewichtige Ereignisse erhöhten noch das Leben dieser Vacanz; der Johannesle hatte für seinen Constantin ein Haus bauen lassen, Valentin hatte es mit seinen Söhnen aufgerichtet, und Joseph, der in diesen Tagen Meister wurde, hielt den Bauspruch.

[423] Das ganze Dorf war vor dem Hause versammelt, Meister und Gesellen standen hoch oben und steckten die junge Tanne, mit Bändern aller Art geschmückt, auf die Spitze des Giebels. Alles war gespannt auf den ersten Spruch Joseph's. Nach einem einfachen Gruße sagte er:


Allhier bin ich aufgestiegen und geschritten,

Hätt' ich ein Pferd gehabt, so wär' ich heraufgeritten;

Weil ich aber hab' kein Pferd,

So ist es nicht viel sagenswerth.

Das höchste Haupt, der Kaiser gut,

Den Gott erhalt' in seiner Hut,

Ja, alle Fürsten, Grafen und Herren

Das ehrbar' Zimmerhandwerk nicht können entbehren.

Ein Zimmergeselle bin ich genannt,

Ich reise [wie] Fürsten und Herren durchs Land,

Dasselbe mit Fleiß zu besehen,

Daß ich einmal möchte bestehen.

Wann ich hätte aller Jungfrauen Gunst

Und aller Meister ihre Kunst

Und aller Künstler ihren Witz,

So wollt' ich ein Haus bauen auf eine Nadelspitz';

Weil ich aber dasselbe nicht thun kann,

So muß ich bauen nach einem guten Plan.

Wer da will bauen auf Gassen und Straßen,

Der muß einen jeden können reden lassen.

Ich lieb', was fein ist,

Wann's gleich nicht mein ist;

[424]

Wann mir's gleich nicht werden kann,

Hab' ich doch Lust und Freud' daran.

Drauf trinket ein Gläselein Wein,

Kamerad, schenk mir drauf eins ein.

Bauherr! ich bring's Euch aus Lieb' und Freud',

Nicht aus Haß oder großem Neid,

Sondern aus Lieb' und Freundlichkeit.

Auf unsers Kaisers feine Tapferkeit!

Auf seines Feindes Verderblichkeit,

Auf hiesiger Herren Gesundheit

Und aller guten Freunde insgemein,

Die hier unten versammelt sein.

Jetzt trink' ich über euch allen,

Gebt acht! das Glück wird hinunterfallen,

Hinunter ist gar gefährlich

Und euch herauf beschwerlich.

Ich will mich jetzt eins bedenken

Und das Glas hinunterschwenken.


Joseph trank, das Glas fiel hinab, und ein hundertstimmiges Hoch erschallte. Dann sprach er wieder:

Durch Gottes Hülfe und seine Macht

Haben wir diesen Bau zu Stande bracht,

Drum thun wir dem lieben Gott danken,

Daß er keinen hat lassen wanken;

Daß keiner ist in Unglück kommen,

Und daß keiner kein' Schaden genommen;

Auch thun wir den lieben Gott noch bitten:

Er wolle uns ferner in Gnaden behüten;

[425]

Nun befehl' ich diesen Bau in Gottes Hand,

Dazu auch das ganze Vaterland.

Auch wünsch' ich daneben unserm Bauherrn im neuen Haus

Gut Nahrung von denen, die gehen ein und aus;

Und so wünsch' ich allen insgesamt

Glück, Segen und Heil zu allem Stand.

Ich hätt' mich bald hoch vermessen

Und der viel ehr- und tugendsamen Jungfrauen vergessen,

Die uns diesen Kranz haben formiert

Und mit schöner Lieberei geziert;

Ich dank' für alle diese Liebereien gut,

Die werden uns hübsch stehen aufm Hut.


Mit dem Rosmarinstrauße auf dem Hut und dem unverschnittenen Felle angethan, kam Joseph herab und wurde von allen beglückwünscht und gepriesen, selig aber faßte seine Braut, des Hansjörgs Mareile, seine beiden Hände, sah ihm freudeverklärt in das Antlitz und blickte dann siegesfroh nach den Umstehenden.

Ivo stand daneben, und Joseph sagte: »Gelt, Ivo, ich kann auch predigen, wenn's sein muß? Das ist mein' Primiz.«

Ivo seufzte tief, da er an die Primiz erinnert wurde.

Als alles sich entfernte, ein Teil heimwärts, ein anderer zum Schmause ging, ließ sich Ivo durch kein Zureden Constantins zu letzterm bewegen; er [426] stand noch eine Weile allein vor dem luftigen Gebälke und dachte darüber nach, wie glücklich der Constantin bald sein werde, der nun schon ein Haus sein eigen nannte. »So ein Pfarrhaus,« sagte er dann vor sich hin, »ist wie ein Schilderhaus, das gehört niemand, keiner hinterläßt eine echte Spur seines Daseins, da zieht eine andere einsame Wache auf, bis wieder eine kommt und ablöst; doch ich will nicht selbstisch sein, wird mir auch das Glück des Familienlebens nicht, ich will für andere arbeiten und an den Spruch denken:


Ich lieb', was fein ist,

Wann's gleich nicht mein ist;

Wann mir's gleich nicht werden kann,

Hab' ich doch Lust und Freud' daran.


Acht Tage später war nun auch die Hochzeit Joseph's. Da ging es lustig her, die Mutter Christine saß obenan neben ihrem Sohne Ivo, dieser war und blieb der Stolz der Familie. Ivo tanzte dann einmal mit seiner Schwägerin, hierauf aber auch mit Emmerenz; sie war ganz selig und sagte: ›So, Jetzt haben wir doch auch einmal mit einander getanzt; wer weiß, ob wir noch im Leben dazu kommen.‹«

Nun brachte der zweitälteste Bruder Ivo's ihm seinen Schatz und sagte: »Tanzet mit einander.«

[427] Ivo willfahrte gern. Als er geendet, kam die Mutter Christine auf ihn zu und sagte: »Du tanzst ja prächtig, wo hast's denn gelernt?«

»Das kann ich noch von meiner Jugend her; wisset Ihr, die Spinnerin hat mich's als zwischen Licht gelehrt.«

»Wollen wir's auch einmal probieren?«

»Ja, Mutter.«

Alles hielt aus, während Ivo mit seiner Mutter tanzte.

Jetzt erhob sich Valentin, schnalzte mit den Fingern und rief:

»Spielleut'! einen Vortanz für mich, es gibt eine Bouteill'. Komm, Alte.« Er nahm seine Frau am Arm, hüpfte und sprang, dann tanzte er den alten Nationaltanz: er schnalzte mit der Zunge, schlug sich auf Brust und Schenkel, wiegte sich bald auf den Zehen, bald auf den Fersen und führte allerlei Figuren auf; bald faßte er seine Tänzerin, bald ließ er sie wieder los und trippelte mit geneigtem Kopfe und ausgestreckten Armen ganz verliebt um sie herum. Christine sah mit züchtiger Andacht, aber doch freudevoll zur Erde, drehte sich oft und oft, fast ohne sich von der Stelle zu bewegen. Sie hielt ein Ende ihrer Schürze anmuthig in der Hand und schlüpfte bald unter dem rechten, bald unter dem linken Arme ihres Mannes durch, bald drehten und wendeten sich Beide[428] unter den erhobenen Armen hinweg. Mit einem Hops, von dem der ganze Boden zitterte, beschloß Valentin den Tanz.

So war diese Vacanz voll Freude im Hause und außer demselben.

Fußnoten

1 Bruder.

2 Gottessohn.

3 Dinkel, Roggen.

14. Der Zerfall

14.
Der Zerfall.

Von allen diesen Freuden weg mußte Ivo aber- und abermals in das Kloster. Er traf Clemens nicht mehr. Dieser hatte die Erlaubniß erhalten, ein Jahr früher auszutreten, um sich in ein königlich bayrisches Kloster zu begeben.

Einen neuen Schmerz erfuhr Ivo in dem Schicksal Bartels, den wir mit ihm seit einiger Zeit aus den Augen verloren haben. Der gutmüthige Jüngling hatte sich seit lange im voraus einem geheimen Laster ergeben, das seine ganze Körperkraft unterwühlte; er kaute immer an den Nägeln und dann rieb er sich wieder die Hände, als ob es ihn friere, sein Gang war schwankend und unstät, die Farbe seines Gesichts war weißlichgrün, eingefallene Wangen, eine rothe Nase und der stets weit aufgerissene Mund machten den lang aufgeschossenen, lendenschwachen Jüngling zu einer Schreckgestalt. Er war dem Blödsinn nahe und wurde nun im Lazarett untergebracht. [429] Man wollte noch den Versuch zu seiner Herstellung machen und ihn andernfalls aus dem Kloster entlassen. Ivo schauderte, als er ihn besuchte, denn die einzelnen kräftigen Erhebungen Bartels waren nur dazu, um sein eigenes Thun mit den heftigsten Gewissensbissen anzuklagen.

Immer mächtiger drängte Alles auf Ivo herein, die Luft um ihn her schien ihm verpestet. Er schrieb endlich einen Brief an seine Eltern, worin er ihnen seinen unabänderlichen Entschluß eröffnete, aus dem Kloster auszutreten, denn er könne nicht Geistlicher werden; weiter ließ er sich auf keine Erörterung der Gründe ein, denn er wußte wohl, daß diese doch nichts verschlagen würden, auch hätte man ihn gottlos gescholten, wenn er sie darlegte, und das hätte doppelten Schmerz gebracht. Mit fester Hand schrieb er den Brief, mit zitternder aber warf er ihn im Abenddunkel in die Brieflade. Als er das Papier den Schieber hinabgleiten hörte, war es ihm, als ob sein vergangenes Leben damit in's Grab hinabsinke, und jedes Leben, sei es auch noch so schmerzlich und verloren, krümmt sich im Tode; entschlossen richtete er sich dann wieder auf, der Zukunft entgegen schauend.

Einige Tage später erhielt Ivo Besuch von seinen Eltern. Sie nahmen ihn mit in das Wirthshaus zum Lamm. Dort ließ sich Valentin ein Zimmer [430] anweisen, und als sie alle darin waren, verriegelte er die Thüre.

»Was geht mit dir vor?« fragte er Ivo streng.

»Ich kann nicht Geistlich werden, lieber Vater; sehet mich nicht so grimmig an, Ihr seid doch auch einmal jung gewesen.«

»So? da steckt der Putzen? Du vermaledeiter Bub', warum hast du denn das nicht vor acht Jahren gesagt?«

»Ich hab's damals nicht so verstanden und hätt' auch die Kurasche nicht gehabt.«

»Wart, ich will dich kuraschen. Mit dir mach' ich kurzen Handel, du wirst Pfarrer und damit basta!«

»Eh spring' ich in's Wasser.«

»Ist nicht nöthig, du kommst nicht lebendig aus der Stub', wenn du mir nicht in die Hand hinein versprichst, Geistlich zu werden.«

»Das thu' ich nicht.«

»Was? das thust du nicht?« schrie Valentin, Ivo an der Gurgel packend.

»Vater!« schrie Ivo, »um Gottes willen, Vater! lasset mich los, machet nicht, daß ich mich wehren muß, ich bin kein Kind mehr.«

Christine hing sich an ihren Mann: »Valentin!« klagte sie, »ich schrei' Feuerjo zum Fenster 'naus, wenn du nicht gleich losläßt.« Valentin ließ ab, [431] und Christine fuhr fort: »Ist das die Sanftmuth, die du mir versprochen hast? Ivo, verzeih ihm, er ist nicht so bös, er ist ja dein Vater, Gott hat ihm die Macht über dich gegeben. Valentin, wenn du noch ein laut Wörtle redst, hast du mich gesehen, ich lauf' auf und davon. Ivo, thu's mir zulieb und gib ihm die Hand.«

Ivo stand da und preßte die Lippen zusammen und weinte große Tropfen. »Vater,« schluchzte er, »ich hab' mich ja nicht selber zum Geistlichen bestimmt, und Ihr seid auch unschuldig, Ihr habt nicht wissen können, daß ich nicht dazu taug'; wir wollen einander keine Vorwürf' machen.«

Er ging auf Valentin zu und wollte seine Hand fassen, dieser aber sagte: »Schon recht. Was will denn der hoffärtig Herr werden?«

»Lasset mich noch ein halb Jahr die Thierarzneischul' besuchen, und dann will ich mich als Thierarzt und Bauer schon irgendwo niederlassen.«

»Hast's gut vor, und ich soll dem Kloster 'rausbezahlen? für jed' Jahr zweihundert Gulden? Da kann man mir mein Haus ausschellen. Das wird schön klingen, und da wird's heißen: ja, der Ivo wird ein Katzendoktor, da kann man das Häusle schon dafür springen lassen – und von was willst du denn studieren? Willst du auf den alten Kaiser 'nein leben, oder meinst gar, ich geb' dir Geld? Du kannst einen Proceß mit [432] mir anfangen, kannst dein Mütterliches verlangen; ich will dir aber hernach schon eine Rechnung machen, was du mich kostest.«

»Ich werde es beim Ministerium dahin bringen, daß man die Vergütung an das Kloster auf mein einstiges Vermögen überträgt.« –

»Wir haben mit einander ausgeredet, brauchst mir nichts mehr zu sagen,« unterbrach ihn Valentin. »Wenn du nicht folgst, denk nur nicht, daß du noch einen Vater auf der Welt hast. Du bist mein Stolz gewesen, jetzt darf ich keinem Menschen mehr unter die Augen treten; ich muß froh sein, wenn die Leut' so gut sind und nicht von dir reden.« Dem harten Manne quollen Thränen aus den Augen; das Gesicht in beide Hände drückend, fuhr er fort: »Wenn mich nur ein siedig Donnerwetter in Boden 'nein verschlagen hätt', eh ich den Tag erlebt,« – er legte den Kopf auf das Fenstergesims, stampfte gewaltig gegen die Wand und kehrte sich nicht mehr um.

Da sieht man's wieder, wie's die Menschen machen: seinen Haß und seinen Zorn ganz offen an seinem Sohne auszulassen, trug Valentin keine Scheu; seine Liebe und Zufriedenheit aber zu offenbaren, schämte er sich stets und verschloß sie in sich. Machen's nicht die meisten gebildeten und ungebildeten Menschen so?

[433] Die Mutter Christine hatte bis jetzt immer nur mit beiden erhobenen Händen Stille und Beruhigung herabbeschworen, nun sagte sie mit festerer Stimme, als man ihrem Antlitze nach hätte vermuthen sollen: »Ivo, lieber Ivo, du bist doch allfort brav und gottesfürchtig gewesen, es ist ja kein bös Aederle in dir. Ich will nichts davon sagen, daß ich mir denkt hab', wie mir das eine Staffel im Himmel ist, wenn du Geistlich wirst, davon ist jetzt kein' Red', es ist mir um deinetwegen; um Jesu Christi Blut willen geh in dich, sei gut, bet rechtschaffen, und unser Herrgott wird dir helfen und dein Herz von Allem, was nicht 'nein gehört, reinigen. Ach! du hast ja immer einen frommen Sinn gehabt. Guck, ich kann nicht viel reden, es stoßt mir schier das Herz ab; sei wieder so fromm und gut, wie du gewesen bist, sei wieder der lieb' Ivo,« – sie fiel an seinen Hals und weinte. Ivo umarmte sie und sagte:

»Mutter lieb, Mutter lieb, ich kann nicht Geistlich werden; glaubet Ihr denn, ich hätt' Euch den Kummer gemacht, wenn ich anders könnt'? Ich kann nicht.«

»Sag nicht: ich kann nicht. Das ist nicht fromm; will du nur recht, nimm dich recht fest zusammen und schüttel' all das böse Gelüst von dir, es muß gehen. Der Allbarmherzige wird dir helfen, und du [434] bist wieder unser Glanz und unser' Freud', und bist ein fromm Kind vor Gott und den Menschen.«

»Ich bin nicht schlecht, liebe Mutter, aber ich kann nicht Geistlich werden. Zerreißet mir das Herz nicht so. Ach! ich möcht' Euch ja so gern folgen, aber ich kann nicht.«

»Laß ihn zum Teufel gehen, den Halunk'!« sagte der Vater, Christinen von ihrem Sohne wegreißend, »kannst du denn dein' Mutter so bitten und betteln sehen?«

»Zerreißet mich!« rief Ivo, »aber Geistlich kann ich nicht werden.«

»'naus, fort, 'naus, oder ich vergreif' mich an deinem Leben!« rief Valentin, der Schaum stand ihm vor dem Munde, er riegelte die Thüre auf und schob Ivo hinaus.

»Es ist vorbei,« sagte Ivo tief aufathmend und schwankte die Treppe hinab. Von droben vernahm man ein Poltern, die Thüre wurde aufgerissen, und die Mutter kam herab; Hand in Hand ging sie mit ihrem Sohne bis vor das Kloster, sie redete kein Wort; nur als sie jetzt Abschied nahm, sagte sie:

»Gib mir dein' Hand drauf, daß du's noch überlegen willst, und daß du dir kein Leid an deinem Leben anthust.«

Ivo versprach's und ging still in seine Klause, [435] der Boden wankte unter ihm, aber in dem tiefsten Kern seiner Seele stand der Gedanke fest und aufrecht, sich durch keinerlei kindliche Bewegungen zu einem Lebensberufe hindrängen zu lassen. »Ich habe Pflichten gegen mich selber und muß selber für mich einstehen,« sagte er zu sich. »In den Tod könnte ich gehen, um meiner Mutter zu willfahren, aber ein Leben, zu dem der innerste Beruf allein berechtigt, kann und darf ich ohne diesen nicht über mich nehmen.«

In der Nacht aber erwachte Ivo plötzlich, es war ihm, als ob er durch einen Schrei seiner Mutter aufgeweckt worden wäre; er richtete sich in seinem Bette auf, und jetzt gedachte er, welch einen hohen, heiligen Beruf er zu verlassen gedenke, die ganze Herrlichkeit des geistlichen Amtes stand vor seiner Seele: ein liebender, tröstender, hilfreicher Freund der Armen und Bedrängten, ein Vater der Waisen und Verlassenen, ein Spender des Lichts und des Heils in allen Seelen. Er sah über all die theologischen Satzungen weg, ja, er gedachte, mitzukämpfen den heiligen Kampf der Befreiung von Aberwitz und Menschensatzung und den kommenden Geschlechtern das reine Licht des Himmels zu sichern; er kämpfte alle Erdenlust und alle Selbstsucht in sich nieder, er wollte leben für andere und für die andere Welt – kein Tag sollte vorübergehen, [436] an dem er nicht eine Seele erquickt, ein Herz erfreut.

»Wo ein armes Erdenkind in schwerem Harme weint, da will ich sein Wehe in mein Herz aufnehmen und es darin auskämpfen lassen. Ich will die Thränen der Trauernden trocknen, und du, o Herr! trockne die Thränen von meinem Antlitze, wenn mein Geist erlahmt und ich nächtlich weine über mein armes, verlassenes Leben!«

So sprach Ivo vor sich hin, und ihm war so leicht und frei; es war ihm, als ob er, aller irdischen Schwere entbunden, sich jetzt hinaufschwingen müsse zum Urquell der Seligkeit. Und dann fühlte er sich wieder so siegesmuthig, so kraftdurchströmt, als müsse er sich plötzlich in das heißeste Gewühl der Schlachten stürzen; entzückt dachte er an den Jubel, den seine Rückkehr zu seinem Berufe im elterlichen Hause erwecke – aus seligem Entzücken wurde er wieder hinübergetragen in das Reich des Traumes.

Andern morgens schrieb Ivo einen Brief nach Hause, worin er mit tiefem Ernste und siegesfroher Zerknirschung die Rückkehr zu seinem Berufe verkündete und die Hoheit seines Wirkens pries. Was er aus Nachgiebigkeit gegen seine Eltern nicht thun konnte, das hatte er jetzt aus freier Selbstbestimmung vollführt. Als er wiederum an dem Briefschalter [437] stand und das Schreiben durch den Schieber hinabglitt, da deuchte ihm dies wie der scharfe Schnitt eines Richtschwerthes, er hatte sich selbst das Urtheil geschrieben und vollzogen; kopfschüttelnd ging er nach dem Kloster zurück, die Kraft seines Wesens war gebrochen und klaffte im Zwiespalt auseinander. Mit allem Aufgebot seiner Willenskraft gab er sich nun wiederum dem Studium hin, es gelang ihm, für einige Zeit Friede und Beruhigung darin zu finden.

Zu Hause erregte der Brief das höchste Entzücken. Kaum aber war die erste Freude der Botschaft vorüber, da lächelte die Mutter oft schmerzlich vor sich hin; sie ging gedankenvoll im Hause umher und redete wenig. Oft ließ sie sich Abends, wenn ihr die Augen übergingen, den Brief von Emmerenz vorlesen, und wenn sie an die Stelle kam: »Ich will mein Leben Gott opfern, der mir es gegeben, ich will Euch, meine liebe Mutter, die höchste Freude Eures Lebens gewähren,« da seufzte Christine schwer.

Einst, am Samstagabend, saßen Christine und Emmerenz bei einander und schälten Kartoffeln auf morgen; Emmerenz hatte den Brief wieder vorgelesen, und sie sagte nun:

»Bas, es ist mir immer, als ob Ihr Euch nicht grundmäßig freuen könntet, daß der Ivo Geistlich wird; saget's nur frei von der Leber weg, ich merk's wohl, vor mir brauchet Ihr ja kein Hehling haben.«

[438] »Du hast Recht, guck, ich will dir's nur sagen, vor ihm (sie meinte hiermit ihren Mann) dürft' ich davon nicht schnaufen, da wär' gleich Feuer und Flamm' auf dem Dach. Guck, mir ist es halt immer, wie wenn ich eine schwere Sünd' begangen hätt'; guck, ich hab' ihm sein Herz so schwer gemacht, und er ist gar ein gut Kind, es ist kein bös Blutströpfle in ihm, und da wird er mir zulieb Geistlich, und sein Herz hängt doch an der Welt, und das ist eine schwere Sünd'.«

»Das ist ja ganz erschrecklich, da hätt' ich kein' ruhige Stund', da müßt' mir geholfen sein.«

»Ja, aber wie? Guck, ich möcht' ihm das gern zu wissen thun, und hinter ihm (sie meinte hiermit wieder ihren Mann) mag ich mich doch dem Schullehrer nicht anvertrauen, und ich kann doch selber nicht mehr schreiben.«

»Da ist leicht geholfen, da schreib' halt ich, ich kann's ganz gut, und Ihr saget mir Alles vor.«

»Ja, das ist ja wahr, daran hab' ich gar nicht dacht. Du bist ein lieb' Kind, komm, wir wollen gleich.«

Nun war aber großer Jammer, denn nirgends war eine geschnittene Feder zu finden; so geringfügig dieß auch erscheinen mag, so war es doch ein großer Mangel. Emmerenz wollte zum Schullehrer gehen und sich eine schneiden lassen, sie wollte [439] der fragenden Frau Schulmeisterin schon was vorlügen, aber Christine duldete es nicht. »Wir dürfen nicht mit einer Sünd' anfangen,« sagte sie. Die gleiche Antwort gab sie auch, als Emmerenz sagte, sie wisse, wo der Schullehrer seine Federn liegen habe, sie wolle eine stehlen und dafür ein Dutzend ungeschnittene Eckfedern hinlegen. Endlich rief Emmerenz, sich erhebend: »Ich kriege eine. Meiner Schwester ihr Bub', der Karle, geht ja in die Schul', der muß mir eine geben.« Sie sprang fort und kehrte jubelnd, eine Feder in der Hand, zurück.

Nun setzte sie sich an den Tisch, zog mit einer Kluf 1 den Docht an der Lampe besser heraus, legte Alles zurecht und sagte:

»So, jetzt machet mir die Diktate.«

Die Mutter saß hinter dem Tisch in der Ecke unter dem Kruzifix und versuchte es, noch eine Kartoffel zu schälen, sie sagte:

»Schreib: ›Lieber Ivo‹. Hast das?«

»Ja.«

»›Ich denk' alleweil an Dich; es vergeht kein' Stund' im Tag, und nachts, wenn ich im Bett: lieg' und wach', sind meine Gedanken bei Dir, herzlieber Ivo.‹«

»Nicht so schnell, sonst komm' ich nicht nach,« jammerte Emmerenz; sie hob ihr hocherrötend Antlitz, [440] blickte in das Licht und kaute eine Weile an der Feder; gerade so hätte sie ja auch für sich selber an den Ivo geschrieben; ihr Angesicht fast ganz auf das Papier legend, schrieb sie dann und sagte endlich: »herzlieber Ivo – weiter.«

»Nein, lies mir zuerst vor, was du geschrieben hast.«

Emmerenz las.

»So ist's recht, jetzt schreib weiter: ›Es ist mir nicht recht wohl dabei, daß Du Dich wieder so schnell andere resolviert hast.‹ – Halt, das schreib noch nicht ... so darf man nicht anfangen.«

Emmerenz stützte das Kinn auf die Hand und blickte harrend drein; die Mutter aber sagte:

»Du hast jetzt schon gehört, wie mir's ums Herz ist, schreib du jetzt Alles, so macht's der Schullehrer auch.«

»Ich will Euch was sagen,« begann Emmerenz, sich erhebend, »so ein Brief kann in unrechte Händ' kommen, er kann verloren gehen, und wir können's ja doch nicht so recht aufsetzen; das best' wird sein, ich geh' zum Ivo und sag' ihm Alles. Morgen ist Sonntag, da versäum' ich nichts, Kurzfutter hab' ich geschnitten, ich will dem Vieh noch schnell über Nacht geben, und den einzigen Tag kann's mein' Schwester schon versorgen; die Grundbirnen sind geschält, ich richt's hin, daß Ihr bloß das Fleisch ans Feuer zu stellen braucht. Dem Thal nach sind es ja nur [441] sieben Stund' bis Tübingen, und ich will laufen wie ein Feuerreiter; so ein Sonntag ist lang und morgen Abend bin ich wieder zeitlich da.«

»So ganz allein willst fort? und in der Nacht?«

»Allein? unser Herrgott ist überall, und der hält seine Hand über ein armes Mädchen.« Fast unwillig setzte Emmerenz hinzu: »in der Nacht muß ich ja fort, sonst käm' ich ja morgen nicht wieder heim und Er thät balgen.« 2

»Ich kann nicht nein sagen, es ist mir, als müßt' das so sein; geh in Gottes Namen. Da, nimm mein Nuster mit, da ist ein Stückle Zedernholz vom Berg Libanon drin, das stammt von meiner Urahne, das wird dich beschützen.« Sie nahm den Rosenkranz, der an der Pfoste der Stubenthüre über dem Weihkesselchen hing, reichte ihn Emmerenz und fuhr fort:

»Ueberlauf' dich nicht; wenn du müd bist, komm erst übermorgen, es ist noch Zeit. Ich hab' auch noch einen Sechsbätzner, den will ich dir geben, und da nimm das Brod mit, Brod aus der Schublade bringt Segen. Aber was sag' ich denn den Leuten, wenn sie nach dir fragen? Ich darf doch nicht lügen?«

»Ihr saget halt, ich hätt' was Nothwendiges zu schaffen; die Leut' brauchen ja nicht Alles zu wissen.[442] Ich will nur machen, daß ich fort bin, eh Er heimkommt.«

Mit wunderbarer Behendigkeit sprang Emmerenz treppauf und treppab und besorgte Alles, wie sie gesagt, dann ging sie in ihre Kammer, um sich sonntagsmäßig anzukleiden. Die Mutter half ihr, und als das Mädchen sein schönstes Koller aus der Kiste hervorzog, fiel Etwas, das in ein Papier gewickelt war, klingend auf den Boden.

»Was ist das?« fragte die Mutter.

»Das ist ein Stückle Glas, das hat mir der Ivo einmal geschenkt, wie wir noch ganz kleine Kinder gewesen sind,« sagte das Mädchen, mit Hast das Kleinod wieder verbergend.

Als Emmerenz endlich angekleidet war, sagte die Mutter, ihr Schürzenband auf- und wieder zuknüpfend: »Ich weiß nicht, du solltest eben doch da bleiben.«

»Da bleiben? Mich halten keine zehn Gäul' mehr. Bosget nur nicht, Ihr habt mir's einmal versprochen, daß ich gehen soll; das wär' das erstemal, daß Ihr Euer Wort nicht halten thätet.«

Nachdem Emmerenz nochmals in die Stube gegangen und sich aus dem Weihkesselchen an der Thüre im Zeichen des Kreuzes besprengt hatte, machte sie sich auf den Weg.

Noch unter der Hausthüre suchte Christine die [443] Emmerenz zurückzuhalten, diese aber schritt schnell mit einem »B'hüt Euch Gott!« davon. Christine sah ihr mit frommen Segenswünschen nach, wie sie durch den Garten in das Feld ging.

Emmerenz wählte diesen Weg, damit niemand im Dorfe ihr begegnete. Als sie nun durch das Schießmauernfeld so dahinschritt, war der Mond von einer großen Wolke bedeckt: sie betrat den dunklen Bergwald, um nach dem Neckar hinabzugehen, ihr schauderte ein wenig, ringsum war Alles so still und so »finster wie in einer Kuh«. Sie schaute sich um, es war ihr, als schritte etwas hinter ihr drein, aber es war nur ihr eigener Schritt, den sie vernommen; muthig hüpfte sie, ohne zu straucheln, über die Wurzeln weg, die sich über den schmalen Waldweg schlängeln. Emmerenz war gut geschult, sie glaubte nicht mehr an Geister und Gespenster, aber an den Mocklepeter glaubte sie steif und fest, hatten ihn ja schon so viele Leute hockeln müssen. Sie hob oft ihre Schultern, um sich zu vergewissern, daß der Geist nicht auf ihr sitze. Auch an das Nickesle glaubte sie, das sich oft den Leuten wie eine wilde Katze oder wie ein Holzblock vor die Füße rollt, so daß, wenn man sich daraufsetzen will, man in feuchten Schlamm versinkt. Sie hielt den Rosenkranz fest um ihre Hand gewunden.

An der Lichtung des Waldes, wo die schöne Buche[444] steht, an deren glattem Stamm ein Muttergottesbild befestigt ist, dort kniete Emmerenz nieder, faßte den Rosenkranz zwischen ihre gefalteten Hände und betete inbrünstig. Der Mond trat, wie man sagt, mit vollen Backen aus den Wolken hervor und überglänzte wie mit Wohlgefallen die Betende, die sich dann gestärkt erhob und ihres Weges fortschritt.

Längs des Neckars zog sich nun die Straße hin, zu beiden Seiten standen die schwarzen Tannenwälder bis zum Bergesgipfel hinan, das Thal war meist so eng, daß es nur für schmale Wiesen, für den Fluß und die Straße Raum bot. Alles lag in stiller Ruhe, nur bisweilen zirpte ein Vogel wie aus dem Schlafe, als wollte er sagen: »Ahdele, da ist's recht gut im Nest.« Die Hunde schlugen an, wenn Emmerenz an den einsamen Gehöften vorüber schritt; immer wiederkehrende Mühlen klapperten und pochten emsig, aber das Herz des Mädchens pochte noch viel schneller.

Emmerenz war noch nie weiter als zwei Stunden von ihrem Geburtsorte fortgekommen, viele Gedanken bewegten nun ihre Seele. Zuerst lobte sie ihre liebe Heimath, »da ist's doch anders, das liegt auf dem Berg und hat Felder mit Boden wie Speck«. Emmerenz wünschte nur, daß der Neckar über den Berg fließen möchte, damit der Wassermangel nicht so groß sei.

[445] Die Sterne glitzerten hell, Emmerenz blickte hinauf und sagte: »Es ist doch goldig, wie viel Millionen Stern' da oben sind, das ist grad, wie wenn an einer rußigen Pfann' so viel tausend Lichtle funkeln, aber viel, vielmal schöner und heiliger, und da droben sitzt unser Herrgott und hält Wacht. Man verschlaft doch das ganze Jahr recht viel Schönes, und wenn man nicht recht um sich guckt, merkt man's auch nicht, wenn man die Augen offen hat. Er hat recht gehabt, ich merk' jetzt viel besser auf Alles auf, und es macht mir auch viel Freud'.« Da fiel eine Sternschnuppe, Emmerenz hob die Hände empor und rief: »Ivo!« Sie stand still und blickte schamhaft zur Erde, sie hatte den tiefsten Wunsch ihres Herzens offenbart, denn es ist wohlbekannt: was man beim Fallen einer Sternschnuppe wünscht, geht in Erfüllung.

Rasch ihres Weges fortgehend, dachte Emmerenz wieder: »Ach Gott! Wenn ich nur so eine Mühl' hätt', da wollt' ich schaffen wie ein Gaul. Ach, lieber Heiland! es muß doch prächtig sein, wann man so ein Gütle anguckt und sagen kann: das ist mein. Ich möcht' nur wissen, wen er heirathen thät', wenn er kein Geistlich wird? Unser Herrgott ist mein Zeug', ich lauf grad so gern für ihn, wenn er auch eine andere nähm'; grad so gern? nein, das doch nicht, aber doch rechtschaffen gern. Er hat recht, [446] daß er kein Geistlich wird: so niemand auf der Welt haben und niemandes sein, das ist doch ein schwer Kreuz. Wenn unser Herrgott gewollt hätt', daß man kein Weib nehmen sollt', hätt' er lauter Mannsleut' gemacht und ließ er die Menschen auf den Bäumen wachsen. Ei, das sind doch recht gottlose Gedanken« – schloß Emmerenz ihr Selbstgespräch und lief schneller, als wollte sie ihren eigenen Gedanken entfliehen. Sie richtete mit Gewalt ihr Sinnen auf die Außenwelt und, auf das Rauschen des Flusses horchend, gleich ihm unaufhaltsam fortschreitend, dachte sie: »Es ist doch gar ein wunderiges Ding, so ein Wässerle, das lauft und lauft immerfort. Gelt, du möchtest nur so für passlethan dein's Wegs fort und nichts schaffen? Aber Mulle blas Gerste, das geht nicht, guck, du mußt halt auch die Floß tragen und da mußt du die Mühlen treiben: schaffen muß Alles auf der Welt, und das ist auch recht. Das ist ja auch sein (sie meinte Ivo) Kreuz, er möcht' auch schaffen und nicht bloß predigen und Meß verrichten und in denen Büchern lesen, da hat man ja noch nichts geschafft. Ich will ihm schon Alles sagen, aber von mir darf er nichts merken.«

Es tagte, und nun erst wurde es Emmerenz recht leicht. Sie strich sich ihre Kleider glatt, ging hinab an den Fluß, wusch sich die Augen hell und glättete [447] ihr Haar; träumerisch stand sie eine Weile da und schaute nach ihrem Bilde, das der Fluß widerspiegelte, ihre Augen waren starr auf die Wellen gerichtet, aber sie sah nichts, sie hatte, was man so sagt, »den Glotzer«; da ist es, als ob ein Gedanke den leiblichen Blick von der nächsten Umgebung entführt, um ihn auf einen Gegenstand zu lenken, der vor der Seele schwebt, damit man ihn lebendiger erschaue. Weiterschreitend schaute sich Emmerenz oft verwundert in der Gegend um, es war ihr ganz eigen zu Muthe, so allein beim ersten Sonnenstrahl auf fremdem Boden zu stehen, wo niemand sie kennt, niemand etwas von ihr weiß; trotzdem sie den Gang wohl spürte, war es ihr doch, wie wenn sie urplötzlich dahergezaubert wäre.

Es war ein schöner, heller Augustmorgen, die Lerchen jubelten froh in den Lüften, im Walde zwitscherten die Amseln; alles das machte keinen Eindruck auf Emmerenz, sie war das gewohnt, und im Weitergehen sang sie:


Die hohen hohen Berge,

Das tiefe tiefe Thal!

Jetzt seh' ich mein schön Schätzle

Zum allerletztenmal.


In Rottenburg machte sie eine Weile Rast, dann ging sie wieder neu gestärkt weiter. Erst als sie [448] Tübingen sah, fiel es ihr schwer aufs Herz, wie sie es anfangen sollte, den Ivo im Kloster zu sehen. Sie erinnerte sich indes, daß des Christians Lisbeth beim Prokurator dient; die Magd eines Prokurators, dachte sie, wird schon leicht Rath wissen, lauft ja Alles zu ihrem Herrn, wenn es nicht mehr weiß, wo aus noch ein. Nach vielem Umherfragen fand Emmerenz die Lisbeth, diese wußte aber keinen Rath und trug den schwierigen Fall dem Knechte vor. Der Knecht, schnell überrechnend, daß ein Mädchen, das einen katholischen Geistlichen heimlich sprechen wolle, nicht heikel sein möge, sagte: »Komm Sie mit, ich will's Ihr zeigen.« Er versuchte es, seinen Arm um den Hals der Emmerenz zu schlingen, Emmerenz schlug ihm aber auf die Brust, daß es laut dröhnte. Etwas von »holzigen Schwarzwäldern« brummend, ging der Knecht von dannen.

»Weißt du was?« sagte nun Lisbeth, die gescheite Advokatenmagd, »bleib ein' Stund da, bis es zusammenläutet und man in die Kirch' geht, in der Kirch' setzst du dich links vorn hin, und da siehst du den Ivo oben auf dem Empor, dann gibst ihm ein Zeichen, daß er nach der Kirch zu dir 'rauskommen soll.«

»In der Kirch'?« sagte Emmerenz, laut die Hände zusammenschlagend, »Jesus Maria Joseph! Du bist aber recht verdorben in der Stadt. Lieber thät' ich unverrichteter Sach wieder heimgehen.«

[449] »Nu, so hilf dir anders, du Scheinheilige.«

»Das will ich auch,« sagte Emmerenz fortgehend. Sie begab sich nun geradeswegs in das Kloster, ließ sich beim Direktor melden und sagte aufrichtig, sie habe was mit dem Ivo zu sprechen.

»Bist du seine Schwester?« fragte der Direktor.

»Nein, ich bin nur die Magd im Haus.«

Der Direktor sah Emmerenz starr in das Gesicht, sie blickte ihn treuherzig an, keine Miene zuckte; der Direktor befahl dem Famulus, sie zu Ivo zu führen.

In einer Fenstervertiefung auf der langen gewölbten Hausflur wartete Emmerenz, bis Ivo herauskam; er schreckte ersichtlich zusammen, als er sie erblickte.

»Grüß Gott, Emmerenz, was machst du hier – es ist doch Alles wohl daheim?« fragte Ivo, nichts Gutes ahnend.

»Alles wohlauf, ich bin von der Mutter geschickt, viel tausend herzliche Grüß', und ich soll sagen, der Ivo braucht nicht Geistlich zu werden, wenn er's nicht von Herzen gern thut. Die Mutter kann nicht ruhen und rasten, sie meint, sie häb' ihm das Gemüth zu schwer gemacht, und er thät's ihr zulieb, und das bräucht' er nicht, und er wär' doch ihr lieber Sohn, wenn er auch nicht Geistlich wird und ... ja, das ist Alles.«

[450] »Sei nur nicht so erschrocken, sprich herzhaft mit mir, gib mir deine Hand,« sagte Ivo, als eben einer seiner neugierigen Kameraden vorbeigehuscht war, »ich bin dir ja nicht so fremd, wir sind ja alte gute Freund', gelt?«

Nun erzählte Emmerenz mit wunderbarer Geläufigkeit, wie sie den Brief habe schreiben wollen und wie sie die Nacht durch zu ihm hergewandert sei; sie blickte manchmal zur Erde und drehte den Kopf, als suche sie etwas. Die Augen Ivo's ruhten mit tiefer Innigkeit auf ihr, und wenn ihre Blicke sich begegneten, erglühten die Wangen beider, aber ein jedes scheute sich vor dem andern, sie sagten sich nichts von dem, was ihre Seele bewegte. Als Emmerenz ihre Erzählung geendet, sagte Ivo: »Ich dank' dir von Grund des Herzens, es kann wohl einmal die Zeit kommen, wo ich dir deine Gutthat vergelten kann.«

»Das ist ja nicht der Red' werth. Wenn's zu deinem Besten wär', und du thätst sagen: lauf jetzt für mich nach Stuttgart zum König, ich thät mich nicht lang besinnen und ging' eben grad, es ist mir jetzt so ... so wie ...«

»Nun, wie denn?« fragte Ivo das stockende Mädchen.

»Wie ... wie wenn mir jetzt grad halt Alles gut ausgehen müßt'.«

[451] Ohne ein Wort zu reden, standen die beiden eine Weile einander gegenüber, im Innersten aber wechselten sie die traulichsten Reden; endlich sagte Ivo, sich mit einem schweren Seufzer erhebend:

»Sag meiner Mutter, ich müss' mir das Alles noch überlegen, sie soll ruhig sein, schlecht werde ich nicht; sorg recht für sie und laß sie mit ihrem kranken Arm nicht zu viel schaffen. Nächst meiner Mutter bist du ... und der Nazi mir die liebsten Menschen auf der Welt.« Sowohl Ivo als Emmerenz blickten zur Erde bei diesen Worten, jener aber fuhr fort: »Hast nichts von Nazi gehört?«

»Nein.«

Ohne daß es die beiden merkten, war die ihnen zugemessene Zeit vorübergegangen, es läutete. »Du gehst doch auch in die Kirch'?« fragte Ivo.

»Ja, aber hernach muß ich tapfer machen, daß ich wieder heim komm'.«

»Wenn ich's machen kann, seh' ich dich noch einmal nach der Kirch', drunten in der Neckarhalde, wo man nach Hirschau geht, wenn's aber nicht sein kann, so sag' ich dir Ade. B'hüt dich Gott, lauf nicht zu arg und ... und ... bleib rechtschaffen.«

Sie trennten sich. Trotzdem Emmerenz vor einer Stunde so scharf über die Lisbeth losgezogen hatte, setzte sie sich in der Kirche doch links und freute sich, daß ihr der Ivo so mit den Augen zuwinkte.

[452] Fast eine Stunde wartete Emmerenz nach der Kirche in der Neckarhalde, aber niemand kam. Sie ging nun ihres Weges, indem sie noch oft zurückschaute; endlich gelobte sie sich, dieß nicht mehr zu thun. »Es ist besser so,« sagte sie, »ich mein' zwar immer, ich hätt' ihm die Sach' nicht recht gesagt, aber es ist doch besser so.« Sie schaute sich nicht mehr um, setzte sich aber, ihr Brod verzehrend, auf eine Anhöhe, von wo sie den ganzen Weg bis zur Stadt über'sehen konnte. Die Brosamen von ihrem Kleide abschüttelnd, stand sie endlich rasch auf und verfolgte ihren Weg.

Wir können sie nicht begleiten und können nur soviel berichten, daß sie wohlbehalten und munter nach Hause gelangte. Wir bleiben beim Ivo, der in schweren Gedanken umherwandelte. Er hatte sich wieder in seinem angewiesenen Berufe zurechtgefunden, nun aber hatten die Ermahnungen der Mutter den festen Grund seines Willens wieder ganz aufgelockert und ihn an sich selber unsicher gemacht. Die Erscheinung des Mädchens, dem sich sein Herz zuwendete, hatte einen schweren Kampf in ihm erregt. Er hätte wohl noch nach der Kirche in die Neckarhalde kommen können, aber er fürchtete sich vor sich selber, vor andern und blieb weg.

Der reine, frische Willensbeschluß, den Ivo früher gegen seine Eltern durchführt hatte, war durch [453] seine nachmalige freie Umkehr jetzt anbrüchig und morsch; er hatte kein rechtes Vertrauen zu seiner eigensten Kraft mehr. – Es ist immer schwer, wenn man sich etwas fest vorgesetzt und wieder davon abgelassen, abermals dazu zurückzukehren; es fehlt dann das frische Mark, die rechte Erquickung, es ist wie das Nachgras, das wird wohl feiner und zarter, gibt aber keine feste Nahrung mehr.

Fußnoten

1 Kluf – Stecknadel.

2 Balgen, so viel als scharf zanken.

15. Erlösung

15.
Erlösung.

Ein schauervolles Ereigniß ließ Ivo aus Schmerz und Qual wieder neu erstehen.

Bartel war an seinem Namenstage, am Tage des heiligen Bartholomäus, den Wächtern im Lazarette entronnen, von Gewissensbissen gefoltert, stürzte er sich zum Fenster hinaus und zerschmetterte sich das Hirn. Um zum Frommen des Klosters diese That zu verhehlen, sowie auch aus Rücksicht auf die Geisteskrankheit Bartels, ließ man ihm ein ehrliches Begräbniß angedeihen. Die Klösterlinge zogen nun alle mit Floren behangen unter der klagenden Trauermusik hinter der Leiche drein. Ivo blies das Horn, seine Töne flatterten wie jach zerrissene Bänder in den Lüften. Auf dem Kirchhof trat Ivo vor und hielt seinem verlorenen Kameraden eine herzergreifende [454] Denkrede. Anfangs stockte er ein wenig, alle seine Pulse zitterten; zum erstenmal hatte ihm der wirkliche Tod eine Leiche vor die Füße gerollt und ihm zugerufen: »lerne das Leben begreifen und den Tod!« Wie er einst Clemens vor seinen Füßen als todt erblickt hatte, so lag jetzt in Wahrheit die entseelte Hülle eines Jugendgenossen vor ihm, mit dem er so lange gelebt. Er pries zuerst das Leben, das freie, selige Athmen, und wollte den Tod weit weg bannen aus der Mitte der Menschen, dann aber ward seine Rede feuriger, wie ein lebendiger Springquell strömten die Worte dahin, mit schmerzloser Innigkeit pries er das Loos des Entschlummerten, der, ein verlorenes Waisenkind, endlich heimgekehrt sei zu seinem Vater im Himmel. Die Weihe kam über Ivo, noch bevor ihn die Hand eines Priesters berührt. Er schwang sich hinauf zum Thron des Allvaters, kniete nieder und bat um Gnade für seinen Freund; in kurzen abgestoßenen Sätzen bat er dann um Gnade für sich, um sein eigenes seliges Ende, um das aller Menschen und sprach endlich das Amen.

Mit jubelndem Marsche zogen die Klösterlinge wiederum heim; sie, das stehende Heer des Himmels, sollten gleich dem stehenden Heer der Erde auch nie lange dem Schmerze sich hingeben, sondern alsbald wieder lebensmuthig die Schritte fördern, obgleich die Todesbetrachtung zu ihren vornehmsten Exerzitien[455] gehörte. Auch Ivo fühlte wieder neue Lebenslust in sich auferstehen; die beiden, die ihm am nächsten gestanden, hatte das Geschick von ihm gerissen, den einen durch geistigen, den andern durch leiblichen Selbstmord – er fühlte sich allein und stark.

Als nun die anderen Kameraden, die das Leben, ihr Geschick und den Tod leichter nahmen, allesammt in ein Wirthshaus gingen, um nach altem Brauch dem Verstorbenen hundert und einen Schoppen Bieres, jeden Schoppen in einem Zug, in's Grab zu trinken, da ging Ivo einsam, sein Waldhorn unter dem Arm, hinaus über die Brücke, immer weiter. Die Sonne begann zu sinken, noch zitterten ihre letzten hellen Strahlen auf der Erde, aber schon stand der Mond hoch oben am wolkenlosen Himmel, als wollte er den Erdenkindern sagen: zaget nicht, ich wache über euch und leuchte euren nächtlich stillen Bahnen, bis eine neue Sonne glänzend heraufsteigt. Ivo sagte sich innerlich: »So zagen und jammern die Menschen, wenn eine neue Lehre untergeht oder eine Lebensleuchte versinkt; nicht immer ist alsbald ein neues Licht in ihnen aufgestiegen, und doch naht es ihnen unvermerkt, sie aber fürchten die ewige Nacht, weil sie es noch nicht erblicken, weil sie nicht vertrauen dem ewigen Licht.« Es wurde Nacht, Ivo stand still, aber mit dem Rufe: »Fort, fort, nie mehr zurück!« ging er stets rascher. Er schlug nun einen [456] andern Weg ein, er wollte seine Heimath vermeiden. Wohl dachte er des Schmerzes seiner Mutter, aber er wollte ihr von Straßburg aus schreiben, dorthin wendete er sich. Er gedachte sich einstweilen mit der Musik zu ernähren, oder als Bauernknecht zu dienen, bis er so viel Geld habe, um nach Amerika auszuwandern. Es war ihm, als ob er nie hinter den Büchern gesessen, er wußte nichts mehr von all den theologischen Satzungen und Systemen, er kam sich wie neugeboren vor, und nichts als die Erinnerungen seiner frühesten Jugend spielten vor seiner Seele. So lief er die ganze Nacht durch, ohne zu rasten, und als er sich beim ersten Morgenstrahl in einem fremden Thale fand, da stand er stille und betete inbrünstig zu Gott um Hülfe. Er kniete nicht nieder, aber seine Seele lag anbetend vor dem Herrn. Im Weitergehen summte er ein Lied vor sich hin, das er in seiner Kindheit oft gehört:


Nun ade, herzlieber Vater,

Nun ade, jetzt lebet wohl!

Wollt ihr mich noch einmal sehen,

Steigt hinauf auf Bergeshöhen,

Schaut hinab in's tiefe Thal,

Seht ihr mich zum letztenmal.


Nun ade, herzliebe Mutter,

Nun ade, jetzt lebet wohl!

[457]

Habt ihr mich in Schmerz geboren

Für die Kirche 1 auferzogen,

Seht Ihr mich zum letztenmal,

Nun ade, jetzt lebet wohl.


Auf einem Steine sitzend, überlegte dann Ivo sein Schicksal. Er war doch unbesonnen fortgegangen, er hatte nichts Klingendes bei sich, als die Klänge seines Waldhorns; er gedachte, wie er nun gute Leute ansprechen müsse, um fortzukommen. Auch bei dem reinsten Herzen ist es doch immer etwas tief Einschneidendes, betteln zu müssen; Ivo errötete im voraus bei dem Gedanken. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß er als wohlhabender Leute Kind an die Fülle zu Hause dachte, und aus seiner tiefsten Seele löste sich der abgerissene Klang eines alten Liedes; mit schmerzlichem Lächeln sang er:


Han kein Haus und han kein Geld

Und kein Theil an der Welt.


Da sah er eine Schar Ochsen des Weges daherkommen, voraus ging ein Paar Stromel. Ivo gesellte sich zu den Ochsentreibern und fragte, wohin sie wollten; er erfuhr, daß sie die fetten Thiere einem Metzger in Straßburg brächten, auch erfuhr er, daß [458] sie gerade auf dem Wege nach Freiburg seien. Ivo war um viele Stunden umgegangen, war aber doch noch auf dem rechten Wege. Er bat nun die Männer, sie begleiten zu dürfen, er wolle ihnen helfen, und sie sollten die Zehrung für ihn bezahlen; die Männer sahen den sonderbaren Menschen in den schwarzen Kleidern mit dem Horn unterm Arm von oben herunter an, sie munkelten etwas mit einander.

»In der Fremdenlegion, mit dem nach Algier gehen, ist's nichts,« sagte der Eine.

»Es ist besser,« sagte der Andere, »man sitzt seine paar Jahr' Straf' daheim ab, es kostet den Kopf nicht.« Er lächelte so zuversichtlich, daß Ivo wohl merkte, er habe diese Erfahrung selbst gemacht. Ivo erkannte nun, daß er für einen Verbrecher gehalten wurde, er wagte indes nicht, diese Meinung zu entfernen, er wollte das Mitleid der Leute für sich wach erhalten; sie sagten ihm aber, sie könnten ihm nichts versprechen, in Neustadt träfen sie ihren Herrn, er solle mit dem reden.

Still ging nun Ivo hinter den Thieren drein, der Zuchthauserfahrene trat ihm gnädig sein Zepter ab, und Ivo regierte mild und sicher mit demselben die Unterthanen.

»Woher ist das Paar Stromel?« fragte Ivo.

»Nicht wahr?« sagte der Algierfeind, »denen sieht man's an, daß sie aus einem guten Stall [459] kommen, die sind auf dem Schramberger Markt vom Buchmaier gekauft worden.«

Ivo sprang zu den Thieren und erkannte seinen Stromel alsbald an den aufgesträubten Haaren mitten auf der Stirne, es war ihm, als habe er gleiches Schicksal mit dem Thiere und ginge er gleich ihm dem Tode entgegen, aber er konnte und wollte nicht mehr zurück.

Wie erstaunte aber Ivo, als, zu Neustadt angelangt, die Treiber ihren Herrn begrüßten, der zum Fenster des Wirthshauses herausschaute, und Ivo den Florian in ihm erkannte. Er wollte seinen Augen kaum trauen, bis Florian auf ihn zukam und mit unbändigem Gelächter den sonderbaren Ochsentreiber bewillkommte.

Ivo erzählte nun Alles, und Florian schrie, auf den Tisch schlagend: »Noch eine Bouteill'! Brav, das ist recht, ich helf' dir durch, du hast meine Parole. Narr, ohne Paß kommst du nicht auf Straßburg, da,« er schlüpfte behend aus seinem blauen Ueberhemde, »zieh das an, da wird dich jeder für einen Straßburger Metzger halten, und,« setzte der Schelm hinzu, seine schwere Geldkatze aufhebend, »die tragst du auf der Achsel, die macht dich ferm zu Einem von uns.«

Ivo ließ sich Alles gern gefallen und zog, nachdem er sich sattsam gestärkt hatte, wohlgemuth mit [460] Florian weiter. Florian war seinerseits froh, viel von seinem angesehenen Leben erzählen und den Nordstettern einen Schabernack spielen zu können; dabei half er aber auch dem Ivo von Herzen gern.

Es war ein heißer Tag, oben an der Höllsteig wurde Mittag gemacht. Florian setzte dem Ivo mit Trinken sehr zu, so daß dieser sich eine Weile von ihm loszumachen suchte. Er ging in die Schmiede neben dem Wirthshause und unterhielt sich mit dem Meister, es heimelte ihn hier wiederum so an, wie ehedem zu Hause. Plötzlich gedachte Ivo, daß hier der Ort und dieß der Mann sei, bei dem sich einst Nazi verborgen; eben wollte er nach ihm fragen, als der Schmied zu seinem Jungen sagte:

»Da, trag die zwei Pflugeisen 'nüber zum Beßtebuur.«

»Wie weit ist das?« fragte Ivo.

»Eine gute Viertelstund'.«

»Ich geh' mit,« sagte Ivo, sprang in das Wirthshaus, sagte Florian, daß er bald wiederkäme, und er würde ihn schon wieder einholen; dann legte er das Ueberhemd ab und nahm sein Waldhorn unter den Arm.

In Begleitung des Jungen ging er nun über die Wiese den Waldsteig hinab. Drunten rauschte der Bach und klapperten die Mühlen; Ivo war's, als müßte hinter jedem Baum sein Nazi hervortreten, er fragte den Jungen:

[461] »Ist der Beßtebuur ein braver Mann?«

»Ja, bräver weder sein Bruder, wo gestorben ist.«

»Wie heißt denn der jetzige Beßtebuur mit seinem Taufnamen?«

»Das weiß ich nicht, er heißt halt der Beßtebuur; er ist in vielen Ländern gewesen als Knecht und als Doktor.«

Ivo jauchzte hoch auf, hierher hatte ihn der Finger Gottes geführt.

»Seit wann ist denn der Beßtebuur da?« fragte er wieder.

»Seit zwei Jahren. Er hat ein Jahr lang als Knecht bei seinem Bruder gedient, und da ist der gestorben, man sagt, er häb's ihm anthun, er ist ein halber Hexenmeister; er hat ihn auch schon vor vielen Jahren einmal umbringen wollen, und weil keine Kinder dagewesen sind, ist der Hof an ihn gefallen, er ist aber sonst ein braver Mann.«

Mit tiefer Trauer erfuhr Ivo, daß nun sein guter Nazi doch als Brudermörder gelten sollte, weil er einst die Sünde zu begehen getrachtet hatte, aber Ivo tröstete sich bald wieder mit Recht, daß dies nur ein Geschwätz neidischer und boshafter Leute sein könne.

Sie kamen an der Sägmühle vorbei, in welcher Nazi einen großen Teil seiner Jugend verlebt. Ivo freute sich besonders, daß auch hier, von der Bergwand [462] geschützt, ein schöner Nußbaum stand, gerade wie zu Hause vor der Wohnung seiner Eltern.

Nun ging es rasch den andern Berg hinan. Ivo wußte zwar wohl, was eine nachbarliche Bauernviertelstunde zu bedeuten habe, aber daß es mehr als eine Stunde sei, hatte er doch nicht gedacht. Da er sehr eilte, nahm er dem Jungen die schweren Eisen ab, damit er gleichen Schritt mit ihm halte. Der Harzgeruch der sonnenbeschienenen Tannen erweckte in Ivo die Jugenderinnerungen immer lebendiger: er sah sich auf der Krippe neben seinem Nazi sitzen, er war draußen im Veigelesthäle – singend und jubelnd tanzten und sprangen alle die Bilder der Kindheit vor ihm her. Auf der Windeck angelangt, sah Ivo das ihm wohlbekannte kleine Haus, ein bleiches Frauenbild sah aus dem Fenster, es war das Windecker Lisle, das hier wieder einsam wohnte.

Ivo dachte darüber nach, wie auffallend es sei, daß die Kirche es wagte, ein ausdrückliches Gebot der Bibel in ein Verbot umzuwandeln. Nach dem Alten Testamente mußte der Bruder die kinderlose Witwe seines Bruders heirathen, das kanonische Recht aber verbot dieß geradezu, Nazi und Lisle durften sich nie ehelichen. Ivo fuhr sich mit der Hand über die Stirne, als wollte er die letzte theologische Erinnerung aus seinem Kopfe verbannen.

Man näherte sich dem Hofe des Beßtebuuren, [463] die Wege waren gut und sauber. Endlich wurde man des stattlichen Hauses ansichtig, als man fast vor ihm stand. Ivo sah den Nazi, der Heu rechte, mehrere Mägde und Knechte um ihn her; aber Ivo eilte nicht auf ihn zu, sondern setzte das Horn an den Mund und blies die Weise des Liedes:


Da droben, da droben

An der himmlischen Thür,

Und da steht eine arme Seele,

Schaut traurig herfür.


Dann rief er: Nazi! und die Beiden, sich erkennend, lagen einander selig in den Armen.

* * *


Wie nach banger, pfadloser Irre können wir jetzt auf gebahntem Wege dem Ende unserer Erzählung zueilen. Ivo blieb bei Nazi, der ihn wie einen Bruder behandelte. Als einer der reichsten Bauern konnte er in Allem für ihn sorgen. Er reiste für ihn als Brautwerber in die Heimath und holte die Emmerenz, die sich vor Freude gar nicht zu fassen wußte.

Alle Leute im Dorfe und sogar die Eltern söhnten sich mit der Lebenswendung Ivo's aus, denn wenn es einem Menschen gut ergeht, beruhigen sich die Leute gern bei einer Aenderung, die ihnen sonst verdammlich erschiene.

[464] Nazi schenkte dem Ivo die Sägmühle; mit freudiger Lust arbeitet er nun dort unverdrossen im Verein mit seiner Emmerenz. Oft sitzt er Abends unter seinem Nußbaum und bläst auf seinem Waldhorn, daß es fernhin erschallt. Weit umher vor den einzelnen Gehöften stehen in stillen Mondnächten die Burschen und Mädchen und lauschen den fernen Klängen. Emmerenz sagte das einst Ivo und dieser erwiderte: »Guck, an der Musik haben wir ein Gleichniß vom rechten Menschenleben. Ich mach' jetzt die Musik doch eigentlich nur für uns; aber wenn ich weiß, daß die Töne weit hinausfliegen und noch anderer Menschen Herz erfreuen, da ist mir's noch viel lieber, ich bin noch viel fröhlicher und besser. Wenn nur Jeder für sich selber sein Sach' recht macht, so hilft er auch Anderen und macht ihnen Freud'. Ich bin nicht uneigennützig genug gewesen, bloß für andere Leut' Musik zu machen; ich tanz' auch gern selber mit.«

»Ja,« sagte Emmerenz, »du bist doch studiert, und ich versteh' dich doch. Wenn als die Buben beim Mocklesammeln in der Neckarhalde so lustig gesungen und gejodelt haben, da hab' ich als denkt: guck, die singen für sich und mich freut's doch auch und einen Jeden, der die Ohren bei ihm hat, und die Vögel singen auch für sich, und es gefällt den Menschen doch wohl, und wenn ein Jedes in der [465] Kirch' recht für sich allein singt, nachher paßt Alles gut zusammen und ist Alles schön.« Ivo umarmte innig seine Emmerenz.

»Wenn's nur nie Winter werden thät; es ist doch gar einödig da,« sagte Emmerenz.

»Da wohnet ihr eben bei mir,« sprach eine Stimme. Es war die des guten Nazi.

Fußnoten

1 Ivo setzte hier wirklich für die Kirche, statt für den Kaiser.

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TextGrid Repository (2011). Auerbach, Berthold. Erzählungen. Schwarzwälder Dorfgeschichten. Erster Band. 7. Ivo, der Hajrle. 7. Ivo, der Hajrle. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-13ED-B