II.
Ein eigen Haus.

[43][45]

Das alte Liebespaar

Das alte Liebespaar.

Wohlgemuther und feiner war kein Mädchen im Dorf anzuschauen als des Bäckers Zilge. Nach dem Landesbrauch änderte man ihren Taufnamen Cäcilie in Zilge, und das konnte wohl passen, denn man nennt hier zu Lande auch die Lilie Ilge, und des Bäckers Töchterlein war so weiß und sein wie eine Lilie. Man sah Zilge selten auf der Straße und nie im Feld. Sie saß jahraus jahrein beim Küfer auf der Winterhalde am Fenster und fertigte weiße Stickereien für Schweizer Fabriken, die ihre Gewerbthätigkeit immer tiefer in das Grenzland herein ausdehnen. Zilge war schon frühe verwaist. Ihr Vater war Bierbrauer und Bäcker im obern Dorfe gewesen, aber als leidenschaftlicher Prozeßkrämer in Noth und Armuth gestorben, und Zilge kam in das Haus des ihr verwandten kinderlosen Küfers, wo sie als Kind des Hauses hätte leben können, wenn sie einen gewissen trotzigen Uebermuth zu bannen vermocht hätte; sie aber blieb herrisch und verlangte von Jedem Unterwürfigkeit, so daß sie am Ende von einer Verwandten der Küferin im Hause verdrängt wurde. Sie trug das gleichmüthig, denn [45] ihr Stolz war doch gewahrt. Der einzige Bruder Zilge's war schon in der Fremde als Bäcker und Bierbrauer.

Es gab eine Zeit, wo der Maurer-Seb viel beneidet wurde, daß die feine Zilge ihn vor Allen auserwählt hatte. Das war aber schon lange, denn vierzehn Jahre waren es, seitdem die Liebesleute unverbrüchlich einander anhingen. Zilge war siebzehn und Seb neunzehn Jahre alt gewesen, als ihre Liebe sich entschied. Im Frühling, bevor Seb regelmäßig auf die Wanderschaft zog, und im Herbst, wenn er heimkehrte, gingen die Beiden miteinander an Sonntag Nachmittagen einsame Pfade, die Gartenwege zwischen den Maßholder-Zäunen und durch die Felder. Sie führten einander nicht an der Hand, sie schlangen nicht die Arme in einander, und doch hielten sie fest zusammen. Manchmal auch gingen sie nach dem Nachbardorfe Weitingen, aber ohne dort in ein Wirthshaus einzukehren. Zilge duldete keine unnöthigen Ausgaben, Seb besuchte nur einen Handwerksgenossen, der bereits einen Hausstand hatte und oft mit ihm gemeinsam in der Fremde arbeitete. Wenn eine Lustbarkeit im Dorfe war, zogen sich die Beide davon zurück, auf dem Tanzboden spielte jetzt ein junger Nachwuchs die Hauptrolle, der noch in die Schule gegangen war, als Seb und Zilge schon an's Heirathen dachten und sie hatten nicht Lust, sich darunter zu mischen; und zu ihren Altersgenossen taugten sie auch nicht, denn diese waren fast alle verheirathet.

Warum aber zögerten sie so lange? Anfangs verweigerte ihnen die Gemeinde wegen ihrer Armuth die[46] Niederlassung, und als sie sich Beide etwas erspart hatten, muthete das Zilge so sehr an, daß sie es erst weiter bringen wollten, ehe sie einen Hausstand gründeten. Sie wußte viele Beispiele anzugeben von Ehepaaren, die nach kurzem Wohlstand und Frieden in's Elend gerathen waren, und sie beharrte dabei: vor der Ehe ließe sich leichter sorgen, als nach derselben.

Seb war oft unwillig, dieses Hinhalten Zilge's that ihm tief wehe, er klagte manchmal, daß Zilge ihn eigentlich nicht von Grund des Herzens lieb habe, sonst könnte sie nicht so lange zögern, sie aber wußte mit kluger und inniger Rede ihn immer wieder zu beschwichtigen; und es zeigte sich ja auch, daß sie getreulich an ihm hielt. Oft gingen sie schweigend große Strecken Weges, bisweilen aber sprachen sie auch über das Hauptkapitel, das unglücklich Liebende heutigen Tages ebenso sicher verhandeln, wie vor Zeiten Entführung und heimliche Trauung, und das heißt:Amerika. Seb sprach davon, daß er auch über's Meer ziehen, sich umsehen und etwas erwerben wolle, um dann seine Braut zu holen oder nachkommen zu lassen. Der ganze Charakter Zilge's war darin ausgesprochen, indem sie einmal darauf erwiderte:

»Wenn ich ein Bursch wär' und ich hätt' ein Mädle, wie ich eins bin, und ich hätt' das Vertrauen zu ihm, daß es mir getreu bleibt, ich thät' nicht viel mit ihm überlegen; ich thät', was ich mein', das recht ist. Wenn du von selber nach Amerika gangen wärst, und hättest mir geschrieben: Zilge, ich bin da und ich will sehen, ob ich hier unser Glück gründen kann – [47] ich hätt' dir wieder geschrieben: da thust Recht dran, und du darfst nur winken, da komm' ich. Jetzt aber mit mir überlegen kannst du die Sach' nicht, ich versteh's nicht und will's nicht verstehen und mit meinem Willen lass' ich dich nicht so weit über's Meer.«

»So geh gleich mit.«

»Das mag ich auch nicht.«

Die Beiden überzählten oft, wie viel sie bereits erspart hatten, und so bestand ihr Gespräch meist in Sorgen und Ueberlegen. Zilge trat endlich mit ihrem Entschlusse hervor, daß sie nicht heirate, bis sie ihr eigen Haus habe, sie sei ihr Lebenlang genug bei fremden Leuten herumgestoßen worden, sie wolle auch einmal wissen, wie sich's unter eigenem Dach lebt, und sie könne es den Kindern nicht anthun, daß sie keinen Unterschlupf hätten, wo sie hin gehörten und wo sie Niemand vertreiben könne. Der Maurer-Seb mochte im Gütlichen erklären, daß es viel klüger sei, wenn sie sich von ihrer Ersparniß einen guten Acker kauften für den Kartoffelbrauch, und eine Wiese, um eine Kuh zu halten: Zilge widersprach und behauptete, daß sie mit Sticken mehr verdiene, als wenn sie das Feldgeschäft versehe, auch könne man nicht im Felde schaffen und dann wieder sticken, man müsse sich zu dieser Arbeit die Hände sein erhalten. Sie beharrte bei ihrem Entschluß: ohne eigen Haus kein eigner Herd. Oft dachte Seb daran, sein Vorhaben auszuführen, ohne Zilge darum zu fragen, und wer weiß, ob sie sich nicht darein gefunden hätte; aber seine Liebe zu ihr hielt ihn wieder davon ab, nach eigenem Gutdünken zu handeln. [48] Wollte er dann irgend ein wohlfeiles Häuschen von einem Auswanderer kaufen, so hatte Zilge wieder allerlei Einwürfe; dieses war zu finster für die Stickarbeit, jenes nur ein halbes mit bösen Inwohnern u.dgl. Sie sagte dann auch oft: »Ich thät' mich schämen, wenn ich ein Schneider wär', mir einen alten Rock zu kaufen. Wozu bist denn Maurer? Bau' dir doch ein Haus. Oder kannst's nicht? Sag's nur.«

So lebten die Beiden vierzehn Jahre, und Manche bedauerten im Stillen den Seb, oder sagten es ihm auch, daß er an Zilge gebunden sei, denn diese hatte wenig Freundlichgesinnte im Dorfe. Man war ihr gram, weil ihre Lebensweise sich streng von der im Dorf üblichen abschied, und weil ihr stolzes Wesen es dahin gebracht hatte, daß die Küferin eine Verwandte, die aus Weitingen war, an Kindesstatt angenommen hatte; das hätte Zilge mit ein bischen Klugheit und Nachgiebigkeit für sich erringen können, und Seb brauchte sich dann nicht so zu plagen; schließlich aber vereinigte sich Alles darin, daß Zilge unerhört hochmüthig sei und immer unverzeihlich sauber daherkäme.

Endlich im fünfzehnten Frühling ihrer Liebeszeit kam der Seb vom neuen Ziegler herauf, der sich links im Thal angesiedelt hatte und berichtete freudig, daß er dem Ziegler die Anhöhe mit den zwei Tannen gradüber vom Küfer als Bauplatz abgekauft habe, und der Ort schien wohl gelegen, denn der Blick ging hinaus über die Wiesen nach dem jenseitigen Waldberg:

»Ich dreh' das Häusle 'rum,« sagte er triumphirend zu Zilge, »und richte alle Fenster in's Freie, daß [49] dir Niemand zugucken kann als die Sonn'. Es freut mich, daß ich dir deinen Willen thun kann, und du wirst sehen, was ich herstelle!«

Das lustige Häusle

Das lustige Häusle.

Mit unermüdlicher Emsigkeit arbeiteten nun Seb und sein Vater, den er dafür bezahlte, als ob er für einen Fremden arbeitete, an seinem Hause. Sie mußten die Grundmauern tiefer legen, als sie sich gedacht hatten, denn sie kamen bald auf eine Schicht von Triebsand; sie wollten sie ausheben, aber je tiefer sie gruben, je nachhaltiger schien die Sandschichte zu werden, und sie legten endlich doch die Steine auf dieselbe. Der Vater warnte wiederholt, daß dieser Grund kein Haus trage, und daß es überhaupt unpassend sei, hier an den Bergrücken zu bauen, wo jedes wilde Wetter das Haus an allen vier Ecken packe; er wollte, daß man mindestens mehrere Schuh tiefer in's Land hineinrücke und das Haus nicht so keck an den Berghang stelle. Er lobte die Klugheit der alten Zeit, da man ein Haus lieber geschützt zu einem andern setzte, und überhaupt auch im Häuserbau geselliger gewesen sei. Seb widersprach alledem, und um so entschiedener, je weniger er sich leugnen konnte, daß die Einwände des Vaters nicht unhaltbar waren.

Seb stand trotz seines vorgerückten Alters doch noch in jener unversuchten Jugendlichkeit, wo man an die Ausführbarkeit einer jeden Sache mit Zuversicht glaubt, [50] wenn man sie unternommen hat, und aus keinem andern Grunde, als eben weil man sie einmal unternommen hat. Um auch noch den letzten Einwand zu beseitigen, berief er sich gegen den Vater nachdrücklich auf das Urtheil des Bauamtes, das nach Besichtigung der Oertlichkeit und mit Erwägung aller Bedingungen die Erlaubniß zum Bau gegeben habe. Er redete sich dabei aus, daß er selber es ja gewesen, der die ganze Sachlage zu solchem Endbeschlusse in's Licht gestellt hatte; die Maßnahmen des Bauamtes mußten jetzt als felsenfester untrüglicher Hort gelten.

Als die Grundmauern aus dem Boden herauswuchsen, war Seb überaus glückselig; jetzt war Alles gewonnen. Er dehnte den Bau größer aus, als er sich anfänglich vorgesetzt, denn beim ersten Spatenstich übergab ihm Zilge eine nicht unansehnliche Ersparniß, und er lernte in der Wohnung Zilges die Wahrheit des Sprüchwortes kennen: ein heruntergekommener Reicher hat noch mehr als ein aufkommender Armer. Auch hiegegen warnte der Vater, und er traf zwei Dinge auf einmal, indem er sagte: es läßt sich gar nie berechnen, was ein Neubau und was eine Frau aus einem vormals reichen Hause für Aufwand kostet. Weil das Letzte offenbar griesgrämige Verleumdung war – denn zufriedener und sparsamer als Zilge konnte ja Niemand sein – so durfte auch das Erste nichts als Altersängstlichkeit sein.

Seb war ehrgeizig und stolz, wenn auch minder als Zilge, er wollte der Welt und vor Allem in der Welt seiner Zilge zeigen, was er vermöge, und welch' [51] ein lustig Haus er dahinsetze. Er dankte ihr oft im Stillen, und er sprach es manchmal am späten Feierabend gegen sie aus, daß sie ihn vermocht habe, neu zu bauen. Wer im Dorf ein Fuhrwerk hatte, that dem Seb eine oder mehrere unentgeltliche Baufuhren. Ein Jedes freute sich, daß die Liebesleute, die schon so lange treulich zusammenhielten, doch endlich vereinigt werden sollten, und beim Freitrunk, den Seb einzig dafür als Lohn gab, zeigte sich, daß Zilge auch reichlich mit Flaschen und Gläsern versehen war.

Die Fuhrwerke hatten viel Mühe, wieder leer umzuwenden, denn das Haus wurde an das Ende der Gasse gebaut, gerade da, wo dieselbe sich sackte. Ein Zaun von kurz gehaltenen knorrigen Tannen, darein sich wilde Rosen mischten, zog sich querüber zum Schutze der dahinter liegenden Wiese, deren Waldursprung noch zwei hohe Tannen bekundeten, die an der Westseite von Seb's Bauplatz standen; sie hätten wohl schöne Baustämme gegeben, Seb aber wollte sie erhalten, theils zum Schutze des Hauses, theils auch, weil seinem nicht ungebildeten Schönheitssinn die Bäume als erwünschter Schmuck erschienen; er hatte sie auf dem Plane gezeichnet, den er mit Hülfe des Zimmermanns von seinem Hause entworfen und den jetzt Zilge über ihrem Stickrahmen hängen hatte. Er nannte diese beiden Tannen gern scherzweise seinen Wald.

Den ganzen Sommer war Seb in fieberischer Aufregung und schlief keine Nacht ruhig. Er hatte, seitdem er aus der Schule entlassen war, beim Bauen geholfen, er war daran sattsam gewöhnt, aber jetzt [52] war's ihm allzeit, als ob Steine, Kalk und Mörtel auf ihn warten und ihm keine Ruhe lassen.

Oft, bevor der Tag graute, hörte man ihn meißeln und hämmern, und in der Mittagsruhe legte er den Kopf auf einen Stein und schlief eine Weile.

Seb machte die Umfassungsmauern des nur einstöckigen Hauses bis unter das Dach von Stein.

Die wilden Rosen am Zaune blühten, als man das Haus richtete und der grüne bebänderte Maien vom Giebel prangte.

Von der Wiese aus, die man jetzt, da das Heu eingeheimst wurde, betreten konnte, nahm sich das Häuschen gar freundlich aus und erhielt auch von dort den Namen, denn im ganzen Dorfe verbreitete sich das Wort, das Seb zu Zilge, die er dorthin geführt hatte, sagte:

»Jetzt siehst, daß ich Recht habe, ich bau' dir ein lustig Häusle.«

So hieß nun das Haus, das gegen allen Ortsbrauch sein Angesicht nicht den Menschen zuwendete, sondern hinaus in's Freie.

Seb war nicht wenig glücklich und stolz, daß die Sommerzeit noch so früh war; das Haus konnte bequem ausgebaut werden und austrocknen bis zum Herbst. Nun wurde im Innern gehämmert und gerichtet und Seb war überaus wohlgemut, daß er nun zum Erstenmal einen Bau hergestellt, den er nicht wieder verlassen sollte. Aber eben als er an's Dachdecken gehen wollte, und das verstand Seb meisterlich, stand er schwindelnd vor dem Hause. Es war ihm, als müßte [53] er selbst umfallen: die Ostseite des Hauses hatte sich ja tief gesenkt. – Seb stand lange zitternd da, es versetzte ihm den Athem, und er biß sich die Lippen blutig, als er das gewahrte. Seltsamerweise bemerkte aber der Vater nichts, ja er bestritt es dem Seb, als dieser ihn darauf aufmerksam machte, und Seb wollte selbst bezweifeln, daß er das Wahre gesehen.

Die Zuversicht auf die bisherige Untrüglichkeit seines Augenmaaßes, und der Wunsch, daß es ihn doch dießmal getäuscht haben möge, stritten sich in ihm. Um diesen Streit nicht zu schlichten und sich selber in der Schwebe zu halten, warf er den Zollstab weg, mit dem er eben sich hatte Gewißheit verschaffen wollen. Als er nun aber das Dach deckte, drängte sich ihm auch ohne Zollstock die Gewißheit auf, daß er richtig gesehen.

Er nagelte an der Ostseite doppelte Latten auf, er legte doppelte Ziegel, das glich wohl ein wenig aus, aber doch noch nicht genug, und jetzt tröstete ihn nur das Eine, daß Niemand, selbst der Vater nicht die Senkung merkte.

Die Freude vor sich selbst war dahin, aber die Ehre vor den Menschen war doch geblieben. Er hatte dem Dorf und der ganzen Umgegend zeigen wollen, wie man ein Musterhaus baue; es sollte ihnen der Verstand aufgehen, jetzt war es nur gut, daß er ihnen nicht aufgegangen war. Der einzige, der die Sache recht beurtheilen konnte, leugnete beharrlich, und das war der Vater. Seb hatte sich selber davon abhalten können, aber den Vater nicht, daß er nach allen Seiten [54] ausmaaß, aber noch jetzt, da er doch auf die Linie hin den Fehl kennen mußte, behauptete der Vater, daß Alles in Ordnung sei. Und das war das Klügste. Wie sollten denn fremde Leute zur Baukunst des Seb Vertrauen haben, wenn er sein eigen Haus nicht gehörig stellen und richten konnte?

Das Dach prangte bald in ungewohnter Herrlichkeit. Der neue Ziegler, der sich im Dorf angesiedelt hatte, um als Aushelfer der Regierung die Stroh- und Schindeldächer verdrängen zu helfen, benutzte das Haus des Seb als Musterkarte und gab ihm seine neuen glasirten Ziegel zum Preise der gewöhnlichen. Aus einer doppelten Reihe von grünen und weißen Ziegeln bildete nun Seb die Buchstaben S. und Z. sammt der Jahreszahl auf dem Dache und Alles betrachtete staunend und bewundernd von der Wiese das schöne »lustige Häusle.«

Der Baumeister

Der Baumeister.

Im Herbst feierten endlich Zilge und Seb ihre Hochzeit. Ein seltsamer Gast war dabei, der von seinen Angehörigen, wie vom ganzen Dorf mit scheelen Blicken betrachtet wurde. – Es war der einzige Bruder Zilge's, der als Landjäger gekommen war. – Er hatte vom Vater eine Scheu vor regelmäßiger Arbeit geerbt, und da er militärpflichtig geworden, ließ er sich nach Umlauf seiner Dienstzeit als Landjäger anwerben.

Dieses Herumschlendern behagte ihm, er aß lieber[55] das Brod, das fremde Leute backen, und trank noch lieber Bier, das fremde Leute brauten, als daß er selber solches bereitete. Er beredete sich dabei, daß er bei seiner Vermögenslosigkeit es doch nie zu einem eigenen Hausstand gebracht hätte, und jetzt war er »staatsmäßig« versorgt. Wie das Dorf ihn mit einer gewissen Scheu fast wie einen Abtrünnigen betrachtete, so war auch Seb nicht eben stolz auf diese Schwägerschaft, und der Bruder Landjäger, der das merkte, sagte am Hochzeitstische seiner Schwester: »Zilge, wenn dein Mann einmal gegen dich ist, wenn er vergessen sollt', wer du eigentlich bist, da wend' dich nur an mich.«

Durch den Bruder Landjäger und seine Großsprechereien war etwas Bedrücktes auf der ganzen Hochzeit. Erst Tags darauf, als die beiden jungen Eheleute allein in ihrem neuen Hause waren, ging ihnen die volle Glückseligkeit ihrer Herzen auf.

Der Vater Sebs hatte in jeder Weise, außer in Bezug auf Zilge, richtig prophezeit. Seb war dem Glaser, Schreiner und Hafner Geld schuldig geblieben, aber schon am ersten Tag seiner Ehe ergab sich ein glückliches Ereigniß. Der Ziegler machte mit Seb den Accord zum Bau einer neuen Hütte, und Andere sprachen von Häuserbauten, die sie ihm übergeben wollten; das lustige Häusle, das er allein hingestellt hatte, brachte ihm Ehre und Vertrauen, und er redete es sich selbst als eine Kleinigkeit aus, daß es einen geheimen Schaden hatte.

Seb hatte den Gedanken nicht in sich aufkommen[56] lassen, aber er war ihm doch manchmal durch den Sinn gefahren, daß Zilge vielleicht durch ihr Bedrängen auf ein eigen Haus seine Handwerksehre zu Grunde gerichtet haben könne; jetzt zeigte sich das Gegentheil, und er sagte ihr das dankbar ohne ihr den Vorgedanken mitzutheilen. Zilge war doppelt glücklich, daß die Erfüllung ihres eigenen Wunsches noch nachhaltige Folgen gehabt, an die sie kaum gedacht, jetzt aber erschien es ihr, als habe sie solche mit kluger Berechnung beabsichtigt; sie rühmte sich dessen, wenn auch bescheiden und Seb ließ ihr gern diesen Ruhm.

Zilge war fleißig und heiter von Morgen bis in die Nacht; die Hand, die mit dem silbernen Trauringe geschmückt war, schien noch flinker und unermüdlicher geworden. Sie wußte das Innere des Hauses so schön herzurichten, daß kein zweites im Dorfe so freundlich war.

Der Winter war mild, man konnte bis nach Neujahr im Freien arbeiten, man konnte die neue Ziegelei unter Dach bringen, in der nun Seb für ein anderes Haus die Steine meißelte. Aber auch Ungemach kam in diesem Winter.

Der Vater Sebs ward schwer krank. An dem letzten Tage, als Viele sein Bett umstanden und er die arbeitsmüden Hände kaum mehr erheben konnte, hieß er alle Anwesenden hinausgehen, nur Seb sollte bei ihm bleiben. Und als dieser allein mit ihm war, richtete der Vater sich auf und sagte:

»Seb, bevor es Nacht wird, komm' ich zum großen Meister. Seb, jetzt horch, ich will dir was sagen: [57] mir schadet's nichts mehr, aber dir, dir kann's schaden; ich will Zeugen hereinrufen und will vor ihnen sagen, daß wenn deinem Haus was geschieht, ich daran Schuld bin, du nicht, du nicht. Ruf die Leut'.«

»Nein Vater, nein, Ihr dürfet nicht mit einer Lüge aus der Welt gehen, nein, die Sünd' lade ich nicht auf Euch und nicht auf mich,« rief Seb, und der Alte legte seine zitternden harten Hände auf das Gesicht seines Sohnes und sagte: »Hast Recht, es wär' mir doch auch schwer geworden, und unser Herr Gott wird dir's vergelten.«

Bevor der Abend niedersank, der den Handwerksburschen in die Herberge ruft, hatte der alte Maurer seinen Lebensweg vollendet.

Auf dem Dorfe ist es nicht Sitte, daß um den Tod der Eltern, die satt an Jahren scheiden, sich schwere Klage erhebt; eine gewisse Dumpfheit des Gefühls, mehr aber noch die natürliche Anschauung, daß die Eltern vor den Kindern aus dem Leben scheiden müssen, und dazu der Mangel der Gesellschaftspflicht, die da nöthigt, mit einem Schmerze zu prunken, Alles das läßt solche Ereignisse viel schneller vorübergehen, und man kann den Sohn in den Kleidern des Vaters, die Tochter in denen der Mutter bald nach deren Tode fröhliche Wege wandern sehen.

Um so auffälliger war die ungewöhnliche Trauer Sebs, in die sich zu dem Gefühl der Verlassenheit noch das Bangen und eine drohende Selbstverantwortlichkeit mischte.

Er wies den Gedanken weit weg, daß er dem Vater[58] die Schuld hätte aufbürden sollen, und doch kam er bald wieder. Zilge suchte ihren Mann mit inniger Tröstung aufzurichten, aber es gelang ihr nicht, sie sagte ihm, es sei so beschieden, er solle nicht mehr haben als sie auch; sie sei ja auch elternlos. Er konnte und wollte ihr für diese guten Worte nicht sagen, daß ihr Vater sich nicht mit dem seinigen vergleichen ließe. Erst als Zilge ihm sagte, daß die Leute seine Trauer als Reue über die Ehe mit ihr deuten müßten, schüttelte er gewaltsam alle Trauer ab, und Frühling und Arbeit halfen ihm darin getreulich als die besten Tröster.

In diesem Frühling konnte Seb nicht nur Gesellen annehmen, es trat auch ein Ereigniß ein, das, so klein es erschien, doch ihm und Zilge große Freude machte, ein Schwalbenpaar nistete unter ihrem Dachsims, gerade über dem Fenster, wo Zilge stickte. Die fröhlichen Verheißungen, die seit uralten Zeiten sich an den Anbau des lieblich behenden Vogels knüpfen, erheiterten Zilge: da schlägt kein Blitz ein, und Friede und Ruhe ist im Hause; der Ausspruch der ganzen Lebensfreude, die sie erfüllte, knüpfte sich an die Ankunft des Vogels. Seb hatte aber noch seine besondere Freude, die er nicht aussprach. Die Wahrnehmung, daß der Vogel unter seinem Dach nistete, galt ihm als eine Gewähr, die alle Messungen zu Schanden machte; das Haus war wohlgebaut, denn der kluge fromme Vogel baut nicht unter ein Dach, das schwankend und unsicher ist. So waren die jungen Eheleute vom Kleinen aus und im Großen ihres ganzen Hausstandes heiter und werkthätig.

[59] Am Abend desselben Tages, an dem das neue Haus gerichtet wurde, das erste, das Seb als Meister für einen Fremden baute, wurde ihm ein Sohn geboren, und Zilge war noch am Mittag beim Bauspruche gewesen.

Die ganze lustige Baugewerkschaft kam noch am späten Abend und sang vor dem Hause helle Lieder, die lustig das Thal hinab und von den jenseitigen Bergen widerklangen. Zilge war nicht wenig stolz, da sie hörte, daß man ihr als »Frau Baumeisterin« ein Hoch und abermals Hoch ausbrachte.

Sie lächelte ablehnend, aber sie hörte es doch gern, wenn man sie fortan auch nur scherzweise Frau Baumeisterin hieß. Das war ein einträglicher und ehrenvoller Scherz, und einmal sagte sie sogar im Stillen zu ihrem Seb: Ein Mann, der Häuser bauen könne, brauche nicht mehr Maurermeister, er könne wohl Baumeister heißen; in dieser bösen Welt aber hätten die großen Herren alle schönen Titel für sich allein genommen.

Seb gab seinem erstgebornen Sohne den Namen des Schutzpatrons der Baugewerke: Johannes.

Die Schwalben vor dem Fenster zwitscherten, wenn Zilge ihr Kind in den Schlaf sang, und sie, die allezeit still und sinnend war, erweckte auf Einmal einen ungeahnten Schatz von Liedern, die ihr im Gedächtnisse schlummerten; sie sang sie dem Kind und sich selber zur Lust.

Und wenn Zilge bei der Arbeit still war, sangen ihr die Schwalben geheimnißvolle Weisen. Ja, man [60] thut den Schwalben Unrecht, wenn man ihnen nur ein Zwitschern zuerkennt. Wenn sie so ruhig auf der Dachfirste sitzen, schlingen sie Töne ineinander, so innig, so aus tiefster Seele und so fein, daß es ist als sänge Jemand das schönste Lied, aber nur mit halber Stimme, nur für sich, nur in sich hinein. Sängen die Schwalben so laut wie die Nachtigall und Lerche, man hörte nur noch auf sie. Wird es einmal einen nie dagewesenen herrlichen Frühling geben, in dem das leise halbstimmige Singen der Schwalben zum schmetternden Klange wird? Oder können sie nie aus voller Brust laut hinaus jubeln, weil sie doppelten Frühling und doppelte Heimath und eigentlich Keines recht und einzig haben? ... Es ist das beste Zeichen einer von Sorgen befreiten und frohgeweckten Seele, wenn sie sich hinein versenken will in das geheimnißvolle Leben von Thier und Pflanze und sich selber drin vergißt.

Zilge konnte allerlei denken und grübeln, ohne doch je in ihrer Thätigkeit lässig zu sein, ja sie war emsiger als je, ihr stetes Denken und Arbeiten war darauf gerichtet, die Schulden, die sie noch vom Hausbau her hatten, abtragen zu helfen, und bevor das Töchterchen angekommen, war dieß gelungen. Das Haus war vollständig bezahlt und Vieles in das selbe eingeschafft; wohlgemuther sah kein Ehepaar darein, und fröhlicher grüßte und dankte keins als Seb und Zilge, wenn sie Sonntag Morgens mit einander zur Kirche gingen und aus derselben heimkehrten. Dieser gemeinschaftliche Kirchgang ist oft eine selbständige heilige [61] Feier, der die eigentliche nicht gleichkömmt. Zilge sagte einst auf diesem Kirchgange zu Seb:

»Wenn ich so mit dir geh', jetzt vor Gott und der Welt dein und du mein, da ist mir's gar nicht als ob wir zwei Menschen wären und Jedes für sich allein gehen könnt'! Und jetzt können wir bald unsern Johannes mit nehmen, und da sind wir dann Beide in Einem Stück. Und unser Haus hab' ich mit der Nadel und du mit dem Hammer aufgebaut. Man könnt' ein Räthsel drauf machen.«

»Ich glaub' nicht, daß der Pfarrer mir was besseres sagen kann als du,« erwiderte Seb lächelnd, und noch in der Kirche auf ihren getrennten Plätzen schauten sie einander oft an.

Der Grund wankt

Der Grund wankt.

Es war gegen den vierten Frühling, da regnete es wochenlang unablässig, man sah die jenseitigen Waldberge den ganzen Tag nicht, die Tannen an der Westseite des Hauses sausten und brausten unaufhörlich und ein brauner Strom stürzte am Hause die Wiese hinab.

Seb grub dem Wasser einen Graben, etwas entfernt von der Mauer; aber der Ziegler, dem die Wiese gehörte, that Einsprache: wenn das Wasser ungesammelt den Berg hinabrollte, tränkte es die Wiese, und jetzt riß es eine tiefe Schrunde hinein, und floß unnützlich ab. Die Sache kam vor den Schultheiß und Seb war mit seinem besten Freunde im Widerstreit.

[62] In einer Nacht schrie Zilge plötzlich auf, sie wollte gespürt haben, wie das Haus sich senke. Seb gestand ihr, daß das schon längst der Fall sei, er behauptete aber, daß nichts Neues geschehen, und beschwor nun seine Frau, ihre Wahrnehmung geheim zu halten, da sonst sein ganzes Ansehen und sein Erwerb zerstört würde.

Zilge faßte ihre beiden Kinder in ihre Arme, »O Gott meine Kinder! Wenn das Haus einstürzt« – jammerte sie.

»Und an mich denkst du gar nicht?« fragte Seb er bittert.

»Ich denk' ja auch nicht an mich,« erwiderte sie.

Seb ging unter heftigem Regengusse hinaus und sah, daß der Ziegler den Graben zugestopft hatte, so daß das Wasser wieder zerstreut abfloß; das ganze Haus stand ringsum wie in einem Bache. Er arbeitete nun aus allen Kräften, und als der Tag anbrach, zeigte sich, daß das Haus noch um ein Merkliches gewichen war.

Seb eilte zum Schultheiß, sein Ungemach ließ sich nicht mehr verhehlen, der Ziegler sollte ihm nun dafür einstehen, aber noch als er beim Schultheiß war, kam ein Bote und rief:

»Seb, geh heim, dein Haus ist auseinander.« Die Sturmglocke läutete, um unter dem Regensturze das ganze Dorf wach zu halten. Alles war um das Haus Sebs versammelt, und verzweifelnd sah dieser, wie das Haus mitten auseinander in zwei Stücke gefallen war, gerade in jenem Zwischenraume, zwischen [63] dem Buchstaben S und Z war das Dach auseinander gerissen. Man eilte in das Haus, um die Frau und die Kinder zu retten und vom Regen triefend brachte man sie heraus. Zilge schien ganz verwirrt und besinnungslos. Sie hatte keinen Versuch zu ihrer Rettung gemacht, sie sprach kein Wort, hielt ihre Kinder fest in ihren Armen und ließ sich dieselben von Niemand abnehmen. Erst als man ihr sagte, daß sie nicht mehr in das Haus zurückkehren dürfe, erst als ihr die Nachbarn anboten, daß sie bei ihnen wohnen möge, sagte sie:

»Soll ich denn nicht mehr in meinem eigenen Haus wohnen? in einem fremden?«

Der Küfer hatte eine hohe thurmartig zugespitzte Beuge Faßbretter neben dem Hause Sebs stehen, sie waren nicht zusammengestürzt, weil das Wasser durch die Zwischenräume durchfloß. Seb biß auf die Lippen, als der Küfer ihm selbstgefällig sagte: »Ich kann allem Anschein nach besser bauen als du.«

Während man Zilge und die Kinder nach dem Nachbarhause brachte, wurden mächtige Stützen an das Haus angestemmt, daß es nicht vollends einstürze. Das Schreien und die Axtschläge tönten dumpf mitten im Regensturme.

Der blaue Frühlingshimmel spannte sich über die reichgetränkte, grünende Erde, die Schwalben kamen wieder, aber Seb riß denen an seinem Hause das Nest ein. Diese scheinheiligen Thiere hatten also doch gelogen! Sie sollten darum auch nicht mehr bei ihm wohnen. Sie umzwitscherten ihn wie vorwurfsvoll, während er sein Haus wieder zusammenrichtete, aber er [64] war jetzt ingrimmig auf Alles in der Welt, was auf der Erde, in der Luft und im Himmel. Es hatte im wahren Sinne des Wortes Unglück auf ihn herabgeregnet. Bei dem Rechtshandel mit dem Ziegler hatte er Nichts gewonnen als einen unversöhnlichen Feind. Mit knapper Noth hatte er vom Bauamt die Erlaubniß erhalten, sein Haus wieder aufzurichten, und noch schwerer ging es, eine Hypothekenschuld auf dasselbe aufzunehmen, um neu bauen zu können.

Die Bauverträge, die er für diesen Sommer abgeschlossen hatte, wurden ihm entzogen, und er wagte es nicht vor Amt deshalb zu klagen; ja, die Bauten, die er schon ausgeführt hatte, ließen die Besitzer noch einmal gerichtlich besichtigen und mancher Uebelstand kam dabei zu Tage. Von Gesellenhalten war jetzt keine Rede mehr, er mußte froh sein, wenn man ihn selber als Gesellen annahm. Während er jetzt einsam arbeitete und nicht mehr wie ehedem mit dem Vater, und doppelt schwierig, weil er ein verpfuschtes Werk einzurenken hatte, gingen ihm schwere Gedanken durch die Seele. Er mußte darüber nachdenken, wie es denn wäre, wenn er die letzte Handreichung des Vaters nicht abgelehnt hätte, und jetzt sah er auf einmal, daß das Rechtschaffene auch das Klügste ist. Läge auch die ungerechte Schuld auf dem Vater, er selber wäre dadurch doch nicht frei. Darum ist es doppelt gut, daß der Name des Vaters rein geblieben, und sein Segen wird nicht ausbleiben. Oft, wenn Seb der Arbeit überdrüssig war, warf er seinen Hammer weg und nahm den vom Vater ererbten auf, und Alles [65] ging so leicht von Statten als ob ein Anderer für ihn arbeite.

Jeden Morgen, wenn er auf die Baustätte kam, seufzte er tief und ließ die Hände hängen. Jetzt mußte er jede Baufuhre bezahlen und fand dabei noch unwillige und höhnende Helfer. Sein ganzer Ruf, sein Glück und sein Besitzthum waren dahin, und alles Das, weil er sich hatte verleiten lassen, einen stolzen und eigenen Bau auszuführen. Ein längst erstorbener Keim trieb wieder neue Knospen. Er gedachte jetzt, daß sich Zilge berühmt hatte, sie habe ihn zu dem Bau gedrängt, um seinen Ruf dadurch zu gründen. Er machte ihr nun darob Vorwürfe, daß sie ihn zum Hausbau verführt habe und als sie erwiderte:

»Ich bin unschuldig. Wenn du kein Haus allein bauen kannst, hättest es sollen bleiben lassen,« da war er doppelt grimmig; auch sie verletzte seine Handwerksehre. Sie sagte zwar nur, was alle Leute sagten, aber eben das sollte sie nicht, meinte er, sie sollte sein Ungeschick für ein Unglück ansehen.

Als er dies mit Schmerz und Zorn darlegte, suchte sie ihn damit zu beschwichtigen, daß sie sagte:

»Vielleicht ist dein Vater selig schuld, du hast ihm immer zu viel gefolgt.« Das hieß aber ein Feuer mit Oel löschen wollen. Seb wurde über diese Rede noch ingrimmiger.

Oft war es ihm, als sollte er alles Handwerksgeschirr wegwerfen und in die weite Welt laufen; hier zu Land war sein Ruf auf ewig vernichtet, und er kam nie mehr zu seiner alten Festigkeit. Aber er blieb doch.

[66] Von allen Bauverträgen, die ihm gekündigt worden, war ihm doch einer geblieben, nämlich das Umdecken des Kirchendaches und des Thurmes mit neuen glasirten Ziegeln.

Der Stiftungsrat hatte die Uebertragung an Seb aufrecht erhalten, obgleich bei seinen jetzigen Vermögensverhältnissen von der ausbedungenen vierjährigen Gewähr füglich nicht mehr die Rede sein konnte.

Kaum war das Haus nothdürftig hergerichtet, und die Familie wieder eingezogen, als Seb sich an den Kirchenbau machte; er hoffte wieder frischer zu werden, wenn er nun wieder eine fremde Arbeit ausführte. Aber auch auf dem Kirchendach vergaß er sein Unglück nicht.

Die Wege der Eigensucht sind tief verschlungen. Seb wälzte immer wieder die wesentliche Schuld seines Ungemachs auf Zilge, als hoffärtige Bierbrauerstochter hatte sie ihn dazu verleitet ein eigen Haus zu bauen. Freilich konnte er sich immer nicht verhehlen, daß ja Alles gut wäre, wenn er gut zu bauen verstanden hätte, und Zilge hatte keine Schuld daran, daß er seiner Unerfahrenheit vertraute und die Warnungen des Vaters überhörte; aber doch ließ ihn der Gedanke nicht los: das ganze Unglück wäre nicht da, wenn er nicht ein eigen Haus gebaut hätte. Wäre er seinem Plane gefolgt und hätte er nun sein Geld in einem Acker stecken, so könnte man es leichter wieder herauskriegen und sein Glück an einem andern Ort versuchen, die Welt ist ja so weit ... Bei dieser letzten Wendung seines Nachdenkens hielt er oft still, und ihm [67] schwindelte, nicht vor der sichtbaren Tiefe unter ihm, aber vor einer andern, die sich in ihm aufthun wollte. Und zu diesem innern Sinnen gesellte sich plötzlich ein äußeres Wahrzeichen.

Zu allen Zeiten hatte das zweiflerische und sorgenvoll bewegte Menschenherz sich gern aus dem umgebenden Naturleben, das sich in stetigen Gesetzen hält und bewegt, Rath und Richtung erholt.

Als Seb dem Storchennest auf dem Giebel nahe kam, starrte er lange darauf. Das Storchenmännchen war schon da, es säuberte das verlassene Nest und setzte es neu in Stand, es hungerte gern bei der Arbeit, und erst wenn Alles wieder in der Richte, und Nahrung wieder ringsum vollauf ist, fliegt es zurück und holt das Storchenweibchen. Das Weibchen in der Ferne klagt nicht und jammert nicht, denn es weiß, der Mann baut und sorgt in der Ferne und holt es zur Zeit ...

Der Speisbub, der für Seb den Mörtel auf das Dach trug, hatte ihn schon zweimal angerufen, aber er hörte nicht und starrte auf das Storchennest. Endlich machte er sich wieder an die Arbeit.

Er verhöhnte sich und Zilge oft, indem er am Abend sagte: »Jetzt hast du doch kein eigen Hans, jetzt hat's die Hypothekenschuld.« Selbst die wiederkehrende heitere Laune der Zilge mißstimmte ihn. Er sah darin den thatsächlichen Beweis, daß sie alle Schuld auf ihn wälze, und sich gar keinen Theil davon zuerkannte.

[68]

Auf schwindelnder Höh'

Auf schwindelnder Höh'.

Am Morgen als das Decken des Thurmes beginnen sollte, that Seb seine silberne Sackuhr aus der Tasche und hing sie an den Nagel.

»Warum thust das? Nimm sie nur mit,« sagte Zilge.

»Ich hör' auf dem Thurm schon schlagen, und ... man weiß nicht, es kann Einem was passiren, man ... man kann sich stoßen.«

»Seb, sei heiter, unser Herrgott hält doch seine Hand über uns –«

»Ja, er kann aber keinen Regen schicken, der mir die Hypothekenschuld abwascht.«

»Mit Fleiß und Sparsamkeit können wir schon Manches abtragen, bet' nur recht, eh' du auf den Thurm steigst, und bet' auch, wenn du oben bist.«

»Bet' du, du hast's an deiner Stickerei da geschickter.«

»B'hüt' dich Gott Seb, und gieb mir auch ein' Hand.«

»Ich bin zu alt zu solchen Kinderpossen, du hast mich lang genug warten lassen.«

Dennoch küßte Seb beim Weggehen die Kinder und reichte auch Zilge die Hand. Zilge, die sonst keine Minute unnöthig von ihrem Stickrahmen auf stand, nahm das eine Kind auf den Arm und das andere an die Hand, und stand lange Zeit auf der Anhöhe hinter der Kirche und schaute hinauf zu ihrem Manne auf dem Thurme. Aber Seb schaute sich nicht um.

[69] Es ist eine alte weise Regel der Dachdecker, daß sie nicht über sich und nicht unter sich schauen dürfen; blickt Einer nach den ziehenden Wolken, so zieht es ihn unwillkürlich mit fort, hinein, hinauf in das wogende Wolkenmeer, und die Wolken treiben ein falsches Spiel, sie nehmen ihn nicht auf, die Erde läßt ihn nicht und zieht ihn zerschmettert zu sich nieder.

Das aber thut sie auch, wenn der in der Höhe Schwebende hinabschaut auf die Erde, sein Fuß gleitet und er stürzt und zerschmettert.

Seb mußte immer an jenen grausenhaften Augenblick denken, wenn er bald zwischen Himmel und Erde schweben wird, er greift aus und nirgends ein Halt, nirgends als im Tod ...

Den Blick auf das Nächste geheftet, arbeitete Seb weiter, und das ist die sicherste Gewähr, man steht fest, als stände man auf ebenem Boden. Wie der Blick am nächsten haftet, so hat auch der ganze Körper eine Ruhe und Sicherheit an ihm.

Tagelang war Seb auf dem Kirchthurm, und seine unheimlichen Gedanken verließen ihn nicht. Das alte Uhrwerk im Thurm, das im Innern mit einem Bretterdache gedeckt war, schnurrte und surrte, und wenn es eine Stunde anschlug, dröhnte es Seb durch Leib und Seele, aber immer sah er keinen andern Ausweg als den jähen Tod. Er liebte sein Weib und seine Kinder, aber er sagte sich, daß er ihr Elend nicht ertragen könne, und dazu noch die Unmacht ihnen zu helfen; starb er, und starb er im Dienste der Gemeinde, so mußten gute Menschen, ja die Gemeinde [70] mußte sich der Verlassenen annehmen; bei eignen Lebzeiten wäre das nie geschehen, und er hätte das nie ertragen. Das stand fest.

Der Küster rief eines Mittags Seb in die Glockenstube, er mußte zu einem Leichenbegängnisse läuten und fürchtete, daß es dem auf dem Thurme Arbeitenden Schaden thun könne. Seb stand in der Glockenstube, und um und um umdröhnt von den gewaltigen metallenen Klängen rannen ihm die Thränen aus den Augen und er wischte sie mit harter Hand ab.

Als er wieder auf das Dach stieg, war es ihm, als müßte er jetzt sein Schicksal vollenden, aber der über dem Abgrund schwebende Geist wird oft an unscheinbar dünnen, seltsam verschlungenen Fäden gehalten. Die Leute sollten nicht sagen, der Seb habe weder eine Grundmauer legen, noch einen Thurm decken können; seine Handwerksehre mußte für ewige Zeiten feststehen; er wollte nicht von einer halbfertigen Arbeit sich davonmachen. Er legte jeden Ziegel und strich jede Kelle Mörtel fest, daß sie für die Ewigkeit haften. Trauernd sollten die Menschen bekennen, was der Seb für ein Mann gewesen.

Daheim redete Seb fast gar nichts, es war ihm unheimlich bei Weib und Kindern, er kam sich wie ein Gespenst vor, das hier noch umwandelte, er hatte sie ja verlassen, er verließ sie ja bald.

Am letzten Morgen ließ Seb von dem Küster die Thurmuhr stellen, er behauptete, daß er heute das Summen und Surren und gar das Schlagen nicht vertragen könne. Lautlose Stille lag nun über dem [71] ganzen Dorf, als Seb auf das Thurmdach heraustrat, und wie heute keine Stunde schlug, so mußte Alles still daran denken, in welcher gefahrvollen Lage heute Seb schwebte.

Er war noch nicht lange an der Arbeit, als er plötzlich ein Klappern hörte, er schaute sich um – der Storch war mit seinem Weibchen angekommen und zeigte ihm unter seltsamem Verbeugen und in die Brust werfen das neu hergerichtete Haus und die ringsum frühlingsgrüne Welt; das war ein Schnattern und Klappern und ein bedächtig fröhliches Gethue, und jetzt flogen die Wandervögel auf. Halt! fast wäre unfreiwillig zur Wahrheit geworden, was Seb so lange als Vorsatz im Sinne hatte, er war ausgeglitten, er hielt sich nur noch am Vorsprunge fest. Er hatte dem Fliegen des Storchenpaares zugesehen, wie sie so wohlig in der Luft schwimmen, und ohne sich zu stoßen und zu schwingen ruhig schweben und wieder in schiefen Bogen in's Nest sich senken.

Als sich Seb wieder aufrichtete, belebte ihn plötzlich ein neuer Gedanke: er hatte den Tod überwunden, er wollte leben und Zilge und dem Dorf zeigen, was er vermag; sie sollten eine Weile noch schlechter von ihm denken, dann aber – – Seb hielt sich mit beiden Händen fest und schaute hinaus in die weite mit Blüthenbäumen besäte Welt und in den blauen Himmel.

Lange schweifte sein Blick in der Landschaft umher, mit neugeborner Lust sie erschauend: dort drüben steht der Gemeindewald auf dem Berg, und hinter dem Berg thürmen sich andere, und Felder und Dörfer breiten [72] sich weitaus, und näher! Wie still stehen die Bäume im wogenden Korn und als grüne Bänder ziehen sich die Gartenhecken dorthin, und dort das kleine Geschöpf, das mit den kleinen Thieren im Brachfeld pflügt, und hier unten der Ameisenhaufen, den man ein Dorf nennt – Ein Narr ist, der sich aus dieser schönen offenen Welt hinaustreiben läßt.

Seb suchte unter dem Häusergewirre sein eigen Haus, er fand es bald, er konnte es gar nicht begreifen, daß er sich da wieder in Noth und Sorgen hineindrängen sollte.

»Ich will ein größer Theil an der Welt haben,« sagte er vor sich hin. –

Die Arbeit ging rasch von Statten. Der Schlosser und sein Geselle kamen mit dem neu vergoldeten Kreuze, Seb ließ es sich heraus reichen und steckte es auf die Thurmspitze. Die Schlosser nieteten das Kreuz im Innern fest, und als dieß vollendet war, ließ sich Seb die neuen Strümpfe und Schuhe herausreichen, die nach altem Brauch die Gemeinde dem geben muß, der das Kreuz auf den Thurm setzt. Seb schwang sich keck hinauf zu dem Kreuze, und abwechselnd es mit dem einen und dem andern Arme umklammernd, zog er hier hoch oben die neuen Schuhe und Strümpfe an. Er schaute nicht hinab, wo eine große Menschenmenge versammelt war, er hörte nur von dort Jauchzen und Wehklagen, es war ihm, als hörte er seinen Namen rufen, bald in Angst, bald in Freude.

Wie zum Spott warf er seine alten Schuhe hinab auf das Dorf, schlüpfte durch die Lucke in die Glockenstube, [73] füllte die Oeffnung aus und stand endlich wieder unten auf dem Boden unter der staunenden Menge.

Noch fühlte er sich wie taumelnd, aber mitten im Taumel triumphirte sein Herz, sie hatten Alle bewundernd einsehen gelernt, welch' ein muthvoller geschickter Mann er war; und sie sollten noch Weiteres, Unerwartetes kennen lernen. Zilge war nicht unter den Versammelten. In seinen krachneuen Schuhen mit dem siegreichen Handwerkszeuge in der Hand ging Seb wie ein Siegesheld durch das Dorf.

Aus allen Häusern glückwünschte man ihm, als käme er von einer großen Reise, er dankte freundlich. Es war ein zweideutiges Lob, als ihm sein Nachbar der Küfer sagte: »Es scheint, du kannst besser in den Himmel als in den Boden bauen.« Dennoch gab er ihm den Auftrag, andern Tages eine eingesunkene Gartenmauer hinter dem Hause herzurichten, da sonst aller Boden abrutsche. Seb sagte nicht zu und lehnte nicht ab.

Zu Hause traf er Zilge am Stickrahmen, sie beugte ihr Angesicht tief auf denselben und redete kein Wort. Er nahm die Taschenuhr vom Nagel und steckte sie wieder zu sich. Die ganze Welt hatte ihn triumphirend begrüßt, und nur Zilge sprach kein Wort.

Er wollte eben im Zorn darob die Stube verlassen, als er an der Thüre wieder umkehrte und fragte:

»Zilge, verdien' ich gar kein Wort?«

Sie antwortete nicht und stickte weiter.

»Red', verdien' ich gar kein Wort?« wiederholte er zornig.

[74] »Mehr als eins,« erwiderte sie endlich, ohne aufzuschauen.

»Und was?«

»Was ich nicht sagen will.«

»Du mußt aber.«

Laut weinend klagte nun Zilge, wie sündhaft er mit seinem Leben gespielt habe, das doch ihr und den Kindern gehöre. Seb stand einen Augenblick erschüttert von diesen Worten, und halb im Scherz erklärte er, daß die Gemeinde sie und die Kinder hätte erhalten müssen, wenn er gestorben wäre.

Mit einem eigenthümlichen Trotz entgegnete hierauf Zilge, daß sie allein sich und die Kinder erhalten könne, und sich nie von der Gemeinde erhalten ließe.

Es durchzuckte Seb sichtbar, als er das hörte, aber er sprach lange nicht. Endlich erzählte er Zilge lachend, was das für eine Lustbarkeit, ein Knixen und Klappern und Schwingen gewesen sei, als heute der Storch mit seinem Weibchen ankam.

»Die fangen jetzt von neuem zu hausen an,« schloß er, »und das Weible ist ganz glückselig, weil sie eine Zeitlang von ihrem Manne fortgewesen ist, und er das Haus neu hergerichtet hat.«

»Was geht mich das dumme Zeug an?« schalt Zilge schon im schwindenden Unmuth, und Seb war froh, daß sie nicht mehr merkte und nicht mehr sagte.

Drei Tage arbeitete er nun an der Gartenmauer hinter des Küfers Haus, und oft, wenn er aufschaute nach dem in der Sonne blinkenden Thurmkreuz, dachte er mit Schauder daran, wie er da oben geschwebt, [75] und welche Gedanken ihm durch die Seele gezogen, und doch waren es in Lust und Leid übermüthige gewesen; jetzt aber stand er wieder auf ebenem Boden in einem Gartenwinkel und führte eine ärmliche Mauer auf. Wie er die Steine wälzte und meißelte, hob und legte, so hob und legte er manchen Gedanken hin und her, aber wie er's auch richtete, es blieb bei dem alten Vorsatz, wie bei einem unabänderlichen Bauriß. Am dritten Abend war die Mauer fertig, und Seb raffte mit einem schweren Seufzer sein Handwerkszeug zusammen. Er wußte es, das war seine letzte Arbeit im Dorfe. Er war jetzt los und ledig.

Am Morgen früh zog er seine Gemeindeschuhe an und sagte Zilge, daß er sich in der Fremde Arbeit suchen wolle; hier zu Land, wo er Meister sei und Gesellen gehalten habe, könne er nicht mehr als Geselle arbeiten. Zilge, die ehedem seinen Stolz gereizt hatte, daß er Meister werden und selbst Bauten aufführen solle, wollte jetzt diesen Stolz beschwichtigen, aber es gelang ihr nicht mehr und mit bangem Herzen ließ sie endlich Seb scheiden.

Er sagte ihr noch, wie viel sie von der Gemeinde für den Kirchenbau zu bekommen habe und hing seine Uhr, die er schon in der Tasche hatte, wieder an den Nagel. Zilge wollte, daß er sie mitnehme, er aber willfahrte ihr nicht und sagte, sie könne sie verpfänden, wenn sie kein Geld mehr habe. Wiederum stolz schwur sie, daß das nie geschehen würde, und endlich ging Seb von dannen.

Die Kinder schliefen noch, das kleine Töchterchen[76] mit seinen rothgeschlafenen Backen zuckte zusammen als er es küßte, und der Knabe Johannes, der unbewegt fortschlief, schrie noch als Seb die Hausthüre zumachte, plötzlich:

»Vater bleib' da!«

Seb reichte noch Zilge die Hand, preßte die Lippen zusammen, und fort rannte er, als jagte Jemand hinter ihm drein.

Ein Bauer der am frühen Morgen seine Wiesen im Thale wässerte, sah den Seb, wie er lange dem Storchenpaare zuschaute, das gemächlich steif und stillernst durch die Wiesen stelzte, die Füße hoch hob und mit Kopf und Hals stets rechts und links nickte. Als der Bauer den Seb anrief, sagte dieser: »Ich geh auch in die Fremd' und komm' vielleicht vor dem Winter oder Frühjahr nicht wieder.« Der Nachbar Küfer traf den Seb in der Stadt, und ihm gab er den ausdrücklichen Auftrag, seiner Frau die Botschaft zu bringen, sie möge keine Sorgen haben, wenn sie vielleicht lange nichts von ihm höre.

Das waren die letzten Nachrichten, an denen Zilge lange ihr Hoffen und Harren befriedigen mußte.

Siebenmal einsam

Siebenmal einsam.

Schon am ersten Tage nach Sebs Abwesenheit hatte Zilge fast keine Ruhe mehr am Stickrahmen, ja, was ihr seit Jahren nicht geschehen, traf ein, sie mußte die Arbeit eines ganzen Tages wieder auftrennen, und [77] da sie keinen Tageslohn entbehren konnte, mußte die Nacht das Verfehlte wieder einbringen.

Sie hatte stets einen halben Gulden besonders gelegt, damit sie den Brief gleich bezahlen könne, den Seb ihr aus der Fremde schicke, und sagte sie sich auch wieder, daß er von seinem Verdienst den Brief frei machen könne, sie rührte das Geld nicht an. Oft mußte sie in überwallender Empfindung sich aufrichten, wenn sie daran dachte, wie lieb sie doch ihren Seb hatte, und sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihm das nie so gezeigt; sie beruhigte sich aber bei dem Gedanken, daß sie bei seiner Heimkehr ihm den Himmel auf Erden schaffen wolle. Sie sah jetzt die Rechtschaffenheit und den Biedersinn Sebs in vollem Glanz, und wie getreu und sparsam er war, und wie er sie hoch hielt. Keine Frau weit und breit hat einen braveren Mann. Ja, sie schalt sich innerlich, daß sie nach Vollendung des Kirchendaches ihn nicht gelobt habe, sie hatte ja selber diesen übermüthigen Ehrgeiz in ihm gepflegt.

Während sie sonst den verdienstlosern, Oel und Holz verzehrenden Winter fürchtete, freute sie sich jetzt darauf; da kehrt Seb heim, und sie sah oft staunend auf die Kinder, sie war jetzt sehnsüchtiger nach ihm, als da sie Braut gewesen. Ihr Herz pochte so heftig, wie an jenem Abend, nachdem sie ihn Tags vorher zum Erstenmal geküßt; alle Küsse, die ihr Seb je gegeben, entbrannten jetzt wieder auf ihren Lippen, und leise und verstohlen sang sie sich jetzt am Stickrahmen die Lieder, die sie einst mit ihm gesungen. Der kleine Johannes hütete sein Schwesterchen gut, und Zilge [78] hatte viel Zeit zum stillen Denken und Grübeln. Wenn der kleine Johannes am Abend betete und den Vater in Gottes Schutz befahl, sprach sie dem Kinde immer die Worte leise nach, und oft in stiller Nacht schaute sie stundenlang zum Fenster hinaus über die Wiese nach den jenseitigen Waldbergen, die waren noch dunkler als die Nacht. Zilge war es oft so bang, daß sie fast laut aufschrie, und doch schalt sie sich wieder wegen dieses ungerechten Zagens; sie zwang sich zur Munterkeit. Als aber der erste Schnee fiel, wurde sie plötzlich tief traurig, sie beredete sich, daß wohl in den wärmern Ländern noch heller Herbst sei, aber immer mehr sagte ihr eine innere Stimme: er kommt nicht, er kommt nie mehr, du bist einsam und verlassen ... Sie wollte diesen Gedanken wieder ausreißen, er sollte sie nicht hindern, ihrem Manne mit voller Liebe entgegen zu kommen, und hundertmal ließ sie sich von Johannes die Worte vorsagen, die sie ihn gelehrt hatte, daß er den Vater damit bewillkomme; bald ließ sie auch das und pries im Stillen das Glück des Kindes, dem ein Entfernter ganz aus dem Sinne schwindet, wenn man es nicht geflissentlich daran erinnert.

Die fröhliche Weihnachtszeit kam; nur um den Kindern Wort zu halten, zündete sie ihnen einen hellen Baum an, und es schnitt ihr in die Seele, als das Kind von selbst sagte: »Gelt Mutter, weil der Vater nicht kommen ist, darum kriegt er auch nichts?« Einen Baum voll Liebesflammen hatte ihm Zilge entzünden wollen, jetzt war Alles dunkel und ausgestorben. [79] Auf einmal stieg eine freudig traurige Tröstung in ihr auf: Seb ist krank, er kann nicht kommen, aber warum schreibt er nicht, und läßt nicht schreiben? Vielleicht hat ihn ein jäher Tod ereilt, er war ja so übermüthig keck, und seit dem Einsturz des Hauses doppelt verwegen. Zilge glaubte vor zweiflerischem Sinnen und Grübeln vergehen zu müssen. Nicht umsonst wohnte sie in einem Hause, dessen Einsturz man allzeit befürchten mußte.

Um Fastnacht hörte Zilge, daß der alte Kamerad Sebs, der Maurer in Weitingen, den Sommer über mit Seb gearbeitet hatte und Nachricht von ihm geben könne. Sie übergab ihre Kinder dem Nachbar Küfer, und wanderte im Schneegestöber nach Weitingen. Sie kam mitten in den Faschingsjubel, sie mußte Alles mit traurigem Herzen mit ansehen, denn der Maurer spielte selber eine Rolle darin. Endlich berichtete er ihr mitten unter dem Wirthshauslärm, daß er allerdings bis zum Herbst mit ihrem Manne gearbeitet habe, sie brauche aber nicht traurig sein, denn ihr Mann sei überaus lustig gewesen, und habe gesagt, er gehe noch weiter, vielleicht in die neue Welt, seine Frau habe ihn bis zur Hochzeit lange warten lassen, jetzt könne sie nachher auch sich daran gewöhnen. Zilge bat und beschwor ihn, mit ihr keinen Faschingsscherz zu treiben; darauf ward der Mann böse, ließ sie stehen und mengte sich wieder unter das lustige Gewimmel. Auf dem Heimweg war es Zilge einmal, als müsse sie auch sich in die weite Welt stürzen. Warum war sie allein festgebannt? Waren denn die Kinder[80] nicht so gut die seinen wie die ihrigen? Da überlief es sie plötzlich eiskalt und bis in's Herz hinein schauerte sie, und sie stieß in die schneebedeckte Welt hinein einen gräßlichen Fluch gegen ihren Mann aus. Ein wirbeliges Taumeln, eine Schlafsucht ergriff sie, daß sie mit starren Händen sich die Augen rieb, aber der Schlaf wollte sie überwältigen, schon wollte sie sich niederlegen, da schoß sie auf: schlief sie hier ein, war sie des Todes. »Meine Kinder! Meine Kinder!« rief sie im Weiterschreiten und rannte aus voller Macht dahin, bis sie endlich ihre Schritte mäßigte. Zwiefach arm kehrte Zilge wieder heim, sie war verlassen und von Haß erfüllt. Und doch, als sie von fern ihr Häuschen wieder sah, überkam sie ein gewisses Gefühl der Geborgenheit; draußen ist die Welt so kalt und starr, da ist doch eine warme sichere Stätte, da bist du daheim und mit Fleiß und Ergebung wird sich Alles ertragen lassen. »Gott sei Lob und Dank, daß ich gesund bin,« sprach sie vor sich hin und faltete die starrkalten Hände. Als am Abend der kleine Johannes in sein Nachtgebet den Vater einschloß, fuhr sich Zilge mit der Hand über die sträubenden Haare: das Kind segnete Den, dem sie heute geflucht, der ganze Jammer ihres Lebens sprach sich da aus, Segen und Fluch, Liebe und Haß stritten mit einander. Was wird die Oberhand behalten? ...

Der Morgen nach einem erfahrenen Ungemach erweckt doppelte Pein, und doch hat sich dabei der erste grelle Schmerz im Schlaf geklärt. Zilge wußte nun, was sie zu ertragen hatte, und nur eine Weile konnte[81] sie sich der schmerzgelähmten Mattigkeit hingeben, die Alles absichtlich noch mehr verkommen läßt und sich fast dessen freut, daß Schlag auf Schlag das Schicksal peinigt.

Am ersten Sonntag, nachdem sie die Gewißheit ihres Unglücks hatte, durchblätterte sie das Gesangbuch hin und her, endlich stand sie auf und sagte:

»Da stehen Lieder und Gebete für alle Leiden und Krankheiten, für meines nicht; das ist unerhört, das hat noch keine Menschenseele erlebt.«

Zilge erinnerte sich jetzt, daß ihr Mann ihr die Gemeindeversorgung in Aussicht gestellt; ihr Ehrgefühl und ihr Stolz erhob sich, sie wollte der Welt zeigen, wer sie sei, und es erschien ihr als eine erquickende Rache an Seb, er mußte es doch einst erfahren, daß sie ohne ihn das Haus im Stand gehalten, sein böser Vorsatz, sie in's Elend zu stürzen, sollte zur Lüge werden. Allem, was Zilge nun sann und unternahm, lag das Gefühl des Hasses gegen ihren Mann zu Grunde, sie verschloß das aber in sich vor fremden Menschen, nur manchmal konnte sie nicht umhin, gegen die Kinder ihrem Herzen Luft zu machen.

Der Frühling kam, er brachte keine Wasserfluthen mehr, die Störche waren wieder da und ein Schwalbenpaar nistete wieder über dem Fenster Zilge's. Zilge lebte ruhig und still. Nur zwei Vorkommnisse plagten sie vielfach. Wenn sie über die Straße ging, fragte sie Jedermann: »Hast noch keine Nachricht von deinem Seb?« Die Menschen hielten sie für herzlos, weil sie nicht Jedem den Gefallen that, mit der ganzen Ausbreitung [82] ihres Kummers darauf zu antworten, und man glaubte es ihr doch nicht, daß Seb nicht in heftigem Zank von ihr gegangen sei. Ja, Manche glaubten ihr Mitleid nicht anders bezeigen zu können, als indem sie ihr vorhielten: »Wie wird's deinen armen Kindern gehen, wenn du einmal krank wirst?« Am erbittertsten war aber Zilge, wenn man ihr vorwarf, wie unklug es von ihr gewesen, daß sie sich ehedem nicht besser in die Launen der Küferin gefügt hatte, sie wäre an Kindesstatt angenommen und Haus und Aecker der Küferin wären nicht verfremdet worden an die Verwandte von Weitingen.

Viel schwerer konnte Zilge der Störung ihres Bruders, der nach der nahen Amtsstadt versetzt war, widerstehen; er wußte seine Schwester nicht anders zu trösten, als indem er Feuer und Flammen gegen Seb spie und ihm alles Schlechte nachsagte, und dazu hatte er noch Streit mit Zilge, weil sie das nicht dulden wollte. Er schwur, Seb »mit Gusto« krumm zu schließen, wenn er ihn fahnde; er prahlte mit seiner Kenntniß des Amtsstyls, indem er ihr den Steckbrief vorsagte, den er gegen Seb erlassen wolle, aber Zilge behauptete, daß Niemand dazu ein Recht habe, als sie, und der Bruder kam mit der Zeit oft in's Dorf, ohne sie heimzusuchen. Der Pfarrer kam auch bisweilen zu Zilge und lobte sie wegen ihrer milden Ergebung und ihrer ehrenhaften Thätigkeit. Sie nahm das Letzte, das sie verdiente, eben so an, wie das Erste, das sie nicht verdiente. Niemand sollte wissen, was in ihr vorging.

[83] Die traurigste Zeit war für Zilge Pfingsten und die hellen Sommersonntage. Da sitzen Nachmittags die Frauen unter einem Nußbaum, oder vor einem Hause auf der Bank und plaudern allerlei. Zilge war so viel allein, daß sie an diesen Tagen sich auch zu den Menschen gesellen mußte, aber sie wußte nicht wohin; sie gehörte nicht zu den Mädchen, nicht zu den Frauen und nicht zu den Wittwen. Das stille ewige Insichhineinleben hatte ihre Empfindung krankhaft geschärft, und jetzt gab ihr doch die Welt eine, wenn auch nicht wohlthuende Heilung. Zilge gewahrte bald, wie die Unempfindlichkeit und Theilnahmlosigkeit der Menschen doch auch ihr Gutes hat. Die Welt nahm ihr Schicksal viel unbefangener, viel nüchterner: sie ist eine verlassene Frau, das ist schon oft dagewesen, und wird noch mehr kommen. Diese Nüchternheit der Welt hat Anfangs etwas furchtbar Erkältendes, allmählig stellt sich aber die Erkenntnis ein, daß die Welt fremdes Ungemach alsbald so faßt, wie man es im Verlauf der Zeit doch auch selber auch nehmen kann und muß. Zilge war anfangs erstaunt, daß man sie nicht darüber schalt und höhnte, sondern es natürlich fand, wenn sie auch einmal unwillkürlich lachte und scherzte, und manchmal erschien es ihr selbst, als ob ihr Ungemach gar kein so außerordentliches wäre. Man sprach von Wiedergekehrten, und wie doppelt glückselig die Menschen dann miteinander wurden. Wenn Zilge das hörte, gab es ihr einen Stich durch's Herz: ein heimliches Labsal, der Haß gegen ihren Mann sollte ihr dadurch entrissen werden, und doch konnte sie sich des [84] Einflusses nicht erwehren. Es gab Stunden, wo ihre Wangen glühten, und sie sich dachte, daß sie ihren Mann mit offenen Armen empfangen würde, und wieder andere, wo sie die Zähne knirschte und ihn erwürgen wollte, wenn sie ihn wiedersah.

Von Zeit zu Zeit klopfte Zilge die Sonntagskleider ihres Mannes aus, die er daheim gelassen hatte. Die Leute riethen ihr, diese Kleider zu verkaufen, aber sie konnte sich dazu nicht verstehen. Tief erschreckt wurde sie aber einst, als sie mit dem Kleiderausklopfen beschäftigt, den kleinen Johannes sagen hörte: »Nicht wahr Mutter, wenn der Vater da wär', thätest ihn auch so ausklopfen, wie den Rock da?« Zilge schauderte vor dem, was sie und vielleicht auch andere in die Kindesseele gepflanzt hatten, aber sie konnte es nicht mehr ausjäten.

Im dritten Herbst kam ein Brief von Ausgewanderten aus Amerika, worin es hieß, daß Seb auch dort sei und viel Geld verdiene. Wieder bestürmten wechselnde Gefühle das Herz Zilge's, aber der Unmuth behielt die Oberhand. Konnte Seb nicht selbst schreiben oder Etwas schicken? Sie wollte ja gern seiner in Geduld harren. So oft nun Jemand kam und von Amerika sprach, jammerte Zilge viel und es war ein seltsamer Treffer, daß der kleine Johannes auf die Frage: »Wo ist dein Vater?« immer antwortete: »In Jammerika.« Er ließ sich nicht dazu bringen, das Wort richtig auszusprechen, und die Leute erlustigten sich zuletzt daran, und im Dorfe sagte man eine Zeitlang nie anders als: »Jammerika.«

[85] In demselben Winter kam in der That auch ein Brief von Seb aus der neuen Welt. Er traf Zilge am Krankenbett ihres Töchterchens und der Brief enthielt nach einer Schilderung vieler Mühsal nichts als die Tröstung, daß es ihm jetzt besser ergehe und er Zilge bald hole. Das ganze Dorf kam nach und nach, um den Brief zu hören und zu lesen, und als der Nachbar Küfer las, daß Seb seine Frau darin erinnerte, wie der Storch auch zuerst allein fortfliege und dann sein Weibchen nachhole, sagte er nicht uneben:

»Das ist kein Vergleich, die Storchen geben jedes Jahr ihre Kinder aus, der Mensch aber muß sie lang ernähren, ehe sie sich selber forthelfen können.«

Auch der Bruder Landjäger stellte sich wieder ein, und dießmal konnte ihm Zilge nicht wehren, daß er auf Seb schimpfe, weil er nicht für einen Kreuzerswerth geschickt hatte. Seb hatte versprochen, bald wieder zu schreiben, worauf man ihm dann antworten könne.

Das Kind genas und Zilge mußte nun die Nächte hindurch arbeiten, sie schüttelte oft den Kopf, wenn sie des Wiedersehens gedachte. »Du kommst zu spät,« sprach sie dann oft vor sich hin, sie dachte an ihren Tod und an die Erkaltung ihres Herzens.

Neues Ungemach kam, Zilge konnte nicht mehr sticken, ihre Augen wurden krank, und dabei klagte sie dem Arzte, daß sie sich oft wie besessen vorkäme, sie habe so schwere Gedanken, daß sie oft aus dem Schlaf laut aufschreie und es ihr am hellen Tage manchmal vorkäme, als müßte plötzlich Jemand die Thüre [86] aufreißen, und ihr mit einer Axt das Hirn einschlagen. Der Arzt wußte kein anderes Mittel, als daß sie die sitzende Lebensweise aufgebe.

Zilge verstand sich nicht auf die Feldarbeit, eine Fabrik war nicht in der Gegend, sie faßte aber dennoch einen raschen Entschluß.

In unserer wohlregierten, allseitig beschützten Welt bedarf aber jede aus der Linie gehende Thätigkeit der amtlich gestempelten Erlaubniß. Der Schultheiß, bei dem sich Zilge ein Leumundszeugniß holen mußte, billigte ihren Entschluß, daß sie Lumpensammlerin werden wolle, er rieth ihr aber, ihr Häuschen zu verkaufen, denn so lange sie das hatte, mußte sie neben den Zinsen für die Hypothekenschuld auch noch Gemeinde- und Staatssteuern bezahlen. Zilge, die nichts hatte als ihrer Hände Arbeit, um sich und ihre Kinder zu ernähren, mußte Steuern zahlen zur Erhaltung der Gerichte, der Militärmacht und des ganzen sogenannten Staatsorganismus. Sie konnte aber doch ihr Haus nicht aufgeben, schon der Gedanke daran war ihr, als würde sie mit ihren Kindern auf die Straße gesetzt; sie hatte sich ihr Lebenlang nach einem »eigenen Unterschlupf« gesehnt, lieber wollte sie sich nur halb satt essen, ehe sie solchen aufgab.

Mit knapper Noth kam sie bei ihrem ersten Schritt in die fremde Welt straflos davon. Als sie das ausgestellte Patent, das sie zum Lumpensammeln ermächtigte, bezahlen sollte, ergoß sie sich in heftigen Worten: warum sie denn seit Jahren Steuern bezahle, daß sie nun, wenn sie einmal das Gericht brauche, nochmals [87] Blutgeld dafür geben müsse? Der Amtmann antwortete nicht, er zog an einer Klingel, ein Landjäger trat ein; glücklicherweise war es aber der Bruder Zilge's, dessen Fürsprache es nun gelang, daß ihr die Strafe des Einsperrens erlassen wurde. Zilge hörte zu ihrer Verwunderung zum Erstenmal die Entschuldigung, daß es ihr nicht ganz geheuer im Kopfe sei.

Zilge freute sich mit dem Patente, als hätte sie damit ein großes Glück errungen, denn eine mühsam errungene Möglichkeit muthet oft schon an wie eine Erfüllung. In der That war sie nun auch heiterer als je auf ihren Wanderungen durch die Dörfer, und der Gewinn war rascher, als mit der langsamen Nadel am Stickrahmen. Die Leute waren überall freundlich gegen sie und wenn sie sich auch anfangs dessen schämte, fühlte sie doch bald ihre Kräfte wieder wachsen bei manchem nahrhaften Bissen, den man ihr schenkte. Manche Mitleidige sagten ihr noch, wie schön und stolz sie einst gewesen sei, und sie lächelte still dazu, wobei die Leute sie immer mit einer gewissen unruhigen Scheu betrachteten. Am Abend trug Zilge neben der Last auf ihrem Rücken noch immer in einem Handbündel allerlei Eßwaaren heim, und sie freute sich mit ihren Kindern, die sie den Tag über beim Nachbar Küfer gelassen.

Auf ihren einsamen Gängen mußte Zilge immerdar ihres Mannes gedenken und wenn sie in ein Haus kam, zuckte ein eigentümliches Lächeln über ihr Antlitz, wenn man sie scherzweise »Frau Baumeisterin« nannte, sie aber sagte nie etwas darauf.

[88] Man sprach da und dort davon, daß viele Ausgewanderte in Amerika sich zu einem Kriege hätten anwerben lassen, und viele beim Bau der Panama-Eisenbahn gestorben seien. Zilge war es, als ob die Leute wüßten, daß ihr Mann nicht mehr am Leben sei, obgleich man ihr das stets ausredete. Die Leute sahen sie aber immerdar so wunderlich an. Was hatte das zu bedeuten?

Zilge, die ehedem nicht in Sonnenhitze, nicht in Frost vor das Haus gekommen war, scheute jetzt kein Wetter, und mit einer sich stets gleich bleibenden Hast und Unruhe wanderte sie von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf, und ihre Mühe brachte erfreuliches Erträgniß. Im stillen Denken über Feld und durch den Wald setzte sie sich oft auch Termine, indem sie, ihres Mannes gedenkend, sagte: »Wenn er bis da und da nicht heimkömmt, so sind wir Beide verloren, er und ich, auf ewig geschieden.« Er kam nicht und sie war nur froh, daß sie diesen Vorsatz gegen Niemand ausgesprochen, als zu sich selber, sie konnte den Termin wieder weiter hinausrücken, und sie that es und malte sich's glückselig aus, wie sie ihm vergebe. Sie legte einmal mehrere Wochen den silbernen Trauring ab, den sie von Seb an der linken Hand trug, aber wenn sie in ein Haus kam, verdeckte sie mit ihrer rechten Hand die linke, und da Niemand bemerkt hatte, daß ihr etwas fehle, zog sie still den Ring wieder an. Nur der kleine Johannes hatte Acht darauf, denn er fragte: »Hast deinen Ring wieder gefunden?«

Als aber Sommer und Winter vergingen, und [89] keine Nachricht, nichts kam, setzte sich wieder eintöniger Haß in ihr fest. Er war es ja, der sie so in die Welt hinaus trieb. Wie kann er das je wieder entgelten?

Im Vorfrühling schritt sie einst im Regensturm die Straße am Neckar dahin, der Wind wollte sie umreißen und machte ihr die regentriefenden Wangen glühen, da stand sie still, und plötzlich überkam sie, als müßte sie sich hinabstürzen und den Tod suchen in den Wellen; aber sie jagte rasch davon, und als sie heimkam, bat sie den Lehrer, ihr doch den Johannes auf einige Tage aus der Schule zu entlassen, daß er mit ihr gehe; sie gestand nur halb, wovor sie sich fürchtete, aber der Lehrer willigte doch ein. Im Geleite des Knaben, der ein Bündel trug, erfuhr sie nun immer mehr, welch eine Hässigkeit gegen den Vater in der Brust des Kindes sich festgesetzt hatte; er erzählte ihr, wie der Ziegler ihm gesagt: Seb habe in Jammerika eine Schwarze geheirathet und wolle nichts mehr von seiner Frau und seinen Kindern. Zilge gab sich viele Mühe, den Vater zu loben, aber es wollte ihr bei ihrer Gemüthsstimmung nicht gelingen.

Eines Mittags suchte sie im Weitinger Walde unter einem Ahornbaum mit ihrem Knaben Schutz vor einem Platzregen. Mutter und Kind standen an den Stamm gelehnt, die Tropfen fielen so schwer nieder durch die Zweige, es raschelt auf den vorjährigen Blättern am Boden allezeit, als kämen Schritte von allen Seiten; in den Wipfeln saust es, und drunten der Neckar rauscht, und es läßt sich nicht mehr unterscheiden, was ist Waldessausen, und was ist Stromesbrausen. Der [90] Kukuk hat noch kaum vor einer Weile gerufen und dabei so seltsam gelacht, ja, wer ihn tief im Walde belauscht, kann ihn hören wie er lacht: jetzt ist er auch still.

»Ich möcht' nur auch den Kukuk einmal sehen,« sagte der kleine Johannes.

»Laß ihn, dein Vater ist auch ein Kukuk.«

»Warum?«

»Ich weiß schon warum, du brauchst nicht Alles zu wissen. Wenn du und dein Schwesterle nicht wär', da hätt' man mich schon da unten am Mühlrechen aufgefischt.«

»Wie denn?«

»Ich hätt' mich vertränkt.«

Eine Elster huschte plötzlich über Zilge tiefer in den Wald hinein, als hätte das böse Wort sie verscheucht; den Vogel gewahrend wurde Zilge seltsamerweise plötzlich inne, was sie gethan, sie pflanzte ja neue unheilvolle Gedanken in die Seele des Kindes; sie gab ihrem Bruder Recht, der sie für irrsinnig erklärt hatte, sie nahm fortan den Knaben nicht mehr mit auf ihren Wanderungen.

Jahr an Jahr verlief, man hörte nichts von Seb. Die Storchen kamen und gingen, die Menschen freuten sich, daß die Bäume blühten und das Ackerfeld grünte, und freuten sich, als die Saaten dürr und reif wurden, und die Bäume voll Früchte hingen; nur Zilge blieb allezeit still und in sich gekehrt. Man hörte nichts von Seb. Zilge harrte nicht mehr und dachte nicht mehr. Sie versuchte es, ihre alte Thätigkeit wieder [91] aufzunehmen, aber sie hatte keine Ruhe, und lässig und still ging sie nun ihrem Erwerbe nach.

»Ich bin siebenmal einsam,« klagte sie am Pfingsten, als es sieben Jahre geworden waren, seitdem Seb sie verlassen. Zilge war mit Steuern und Zinsen rückständig geblieben, sie mußte oft auf das Rathhaus, darüber manchen Tag versäumen und gerieth immer mehr in's Elend.

Seb wurde nun doch in den Zeitungen ausgeschrieben und nach Gesetzesbrauch aufgefordert, binnen dreißig Tagen sich zu gestellen, widrigenfalls ihm wegen des eingeleiteten Gantverfahrens ein Abwesenheitspfleger gesetzt werde. Zilge sah dem letzten Schlage, den sie bisher mit aller Macht abgewehrt hatte, jetzt gleichgültig entgegen.

An die große Glocke

An die große Glocke.

Es war ein heller Herbstabend, die Schwalben sammelten sich in Schaaren und strichen in großen Flügen dahin; vor den Häusern saßen die Bauern und dengelten die Sensen, um das Oehmd zu schneiden; das war ein Klingen und Hämmern durch das ganze Dorf, daß man kaum das Abendläuten hörte.

Vor dem Rathhaus spielte ein Trupp Knaben laut jauchzend das sogenannte Habergeisspiel, des Maurer Sebs Johannes war auch unter ihnen. Da tönte eine wolbekannte Klingel durch das Dorf, die Dengelnden hielten eine Weile an und hörten den Ausruf des Dorfschützen, [92] dann hämmerten sie wieder weiter. Den Knaben am Rathhause mußte zweimal Stille geboten werden, bis sie ruhig waren, daß man hören konnte, wie der Schütz nach dreimaligem Klingeln von einem großen Bogen las: »Aus der Gantmasse des Maurermeisters Eusebius Groler, genannt Maurerseb, und seiner Ehefrau Cäcilia, geborene Künzle, wird deren allhier an der Winterhalde belegenes einstöckiges Wohnhaus morgen nach der Nachmittagskirche im Aufstreich zum Erstenmal öffentlich versteigert.«

Der Schütz ging gravitätisch weiter und man hörte ihn bald wieder vor einer andern Häusergruppe schellen.

Die Knaben schauten Alle auf Johannes, der mit niedergeschlagenem Blicke dastand, seine Lippen zuckten; bald aber ging das Necken der Kameraden los:

»Jetzt wird euch euer Häusle verkauft. Dein Vater hat eine Schwarze geheirathet.«

So zwitscherten die Jungen, wie die Alten sungen. Johannes schlug um sich auf Jeden, der ihm nahe kam, dann rannte er laut heulend das Dorf hinauf und stand nicht still, wenn ihn Manche fragten, warum er weine; er rannte unaufhaltsam fort heim zu seiner Mutter. Zilge stand in der Küche und schnitt Brod für eine Suppe: »Mutter, gieb mir das Messer,« schrie Johannes, »gieb's mir. Wenn der Vater kommt, stech' ich ihn mit todt.«

Zilge entfiel im Schreck ob dieser Worte das Messer aus der Hand, sie wies den Knaben scharf zurecht, in ihrem Innern aber trauerte sie tief, da sie nun immer gräßlicher wahrnahm, welch ein Kind sie mit ihrem [93] Hasse groß gezogen. Und dennoch wälzte sie die Hauptschuld auf Seb. Sollte ein so schlechter Vater ein braves Kind haben? Welch ein muthiger aufgeweckter Knabe wäre das unter dem Auge des Vaters geworden, und mit welchen Verbrechen wird er nun sein Leben erfüllen? ...

Sie wußte das Kind nicht anders zu beruhigen, als indem sie ihm sagte: »Dein Vater kommt nie mehr wieder, und du bist mein Sohn und mußt brav sein und meine Stütze im Alter.«

Dieses letzte allein beschwichtigte endlich den unnatürlich erregten Knaben; aber noch als ihn die Mutter schlafen legte, wollte er nicht beten, und als er endlich auf ihr Bitten die Worte sprach: »Lieber Gott, behüt' meinen Vater –« da warf sich Zilge auf ihn nieder und bedeckte ihn mit Küssen.

»Wirst sehen ich werd' für dich sorgen,« betheuerte das Kind und schlief endlich ein.

Zilge zündete kein Licht an und saß am Fenster, bald vor sich nieder, bald in den sternglitzernden Himmel schauend, wo Sternschnuppen hin und herflogen; sie hatte nichts mehr, das sie sich dabei wünschen konnte, als: Gott möge ihre Kinder in seinen Schutz nehmen, und sie brav werden lassen.

Auf der Bergwiese vor ihrem Hause war es heute Nacht lebendig, man mähte das Oehmd und der würzige Thauduft stieg zu Zilge empor, aber das Schnittrascheln der Sense zuckte ihr durch das Herz. Sie hielt mit der Hand fest die Fensterleiste, als wollte sie damit ihr Haus festhalten, und es nicht aus der Hand geben. [94] Kann das Elend noch tiefer gehen? Warum kann man nicht sterben vor Kummer? Wie lange mußt du warten, bis der Tod dich nieder mäht? Das war ihr einziges Denken.

Des Zieglers Hund im Thale bellte, und alle Hunde im Dorf bellten ihm nach. Wenn ein Hund einen Feind abwehrt oder für sich klagt, stimmen Alle ein, die Menschen aber ... Zilge rieb sich oft die Augen, aber sie konnte nicht weinen, und die Augen mit der Hand zugedrückt, legte sie das Haupt auf das Fenstersims ...

Da öffnete sich die Thüre.

»Wer ist's? Wer will was?«

»Ein Bettelmann kommt und bittet.«

Wehe! was ist das für eine Stimme?

»Hülfe! Hülfe!« schrie Zilge zum Fenster hinaus.

»Sei ruhig, liebe gute Zilge, ich bin's, dein Mann –«

»Weg, weg, fort, ich will dich nicht, lebst du oder bist du todt, ich will dich nicht, nicht in dieser Welt und nicht in jener.«

Eine Hand legte sich auf Zilge, von Fieber geschüttelt zuckte sie zusammen, dann schrie sie laut auf und sank auf den Boden.

Die Mäher, die den Hülferuf gehört, kamen herbei; Seb, denn dieser war es, hieß sie wieder gehen, seine Frau habe eine Ohnmacht bekommen, sie sollten nur den Nachbar Küfer und dessen Frau holen.

Er richtete Zilge auf, und plötzlich fing sie laut an zu lachen.

[95] »Gelt, du bist der Maurer Seb? Ja der Maurer, du hast mich lebendig eingemauert. Rühr' mich nicht an, nie, nie, und wenn du mit der Krone auf dem Kopf wiederkommst, ich will dich nicht mehr, geh hin, wo du gewesen bist, geh', geh'.«

Sie stieß ihn mit großer Macht von sich, und fing dann an laut zu weinen und zu schluchzen.

»Um Gotteswillen, Zilge, sei doch ruhig,« bat Seb, »häng' nicht Alles an die große Glocke, schrei nicht so. –«

»Du hast Alles an die große Glocke gehängt, mich, die Kinder, und das Haus. Es giebt gar nichts, was du nicht gethan hast; weg, weg,« rief sie noch lauter.

Die Nachbarn kamen und zündeten Licht an.

Als Seb nach seinen Kindern sehen wollte, sprang Zilge wie rasend auf und duldete es nicht.

»Er hat sieben Jahr nicht nach ihnen gesehen, sie gehen ihn nichts mehr an,« rief sie.

Seb und die Nachharn waren starr, da sie Zilge sahen, sie war leichenblaß, strich sich bald mit beiden Händen über die Stirn, bald streckte sie die Hände vor sich hin mit ausgespreizten Fingern, ihre Augen lagen weit heraus. So oft Seb ein Wort sagen wollte, schrie sie laut, als steche man sie mit Dolchen.

Die Kinder erwachten weinend, Seb rief ihnen zu, aber Zilge gebot ihnen, nicht zu antworten.

Vor dem Hause war Alles versammelt, was noch im Dorfe wach war. Der Maurer Seb ist wieder da, das hatte sich schnell verbreitet, aber Zilge raste und wüthete immer fort, und Seb mußte sich endlich aus seinem eigenen Hause vertreiben lassen, aus dem er[96] vor Jahren entflohen war. Der Nachbar Küfer beredete ihn beschwichtigend dazu, und die Küferin versprach, diese Nacht bei Zilge zu bleiben. Seb reichte den Bewillkommenden kaum die Hand, denn er hörte vom Küfer, daß man an seiner Frau schon lange Anzeichen von Irrsinn bemerkt habe, sie habe sich ihre Verlassenheit zu sehr zu Herzen genommen und nur selten mit Jemand davon gesprochen. Am Morgen, als Seb in sein Haus kam, fand er Zilge noch schlafend, er näherte sich auf den Zehen ihrem ärmlichen Lager. Wie abgehärmt sah sie aus! Aber sie mußte doch seinen Blick gespürt haben, denn sie schlug mit der Hand um sich und wendete sich nach der Seite.

Die Küferin berichtete leise, wie Zilge ihr gestanden habe, als sie ihren Mann gehört, gesehen und seine Hand gespürt, habe sie nicht mehr gewußt, wo sie sei, was sie thue, und was sie rede, und da sei ihr auf einmal all das in den Sinn gekommen, was sie seit Jahren einsam für sich gedacht und gesprochen und heraus sei es, und es sei ihr gewesen, als ob etwas in ihrem Kopfe reiße, es habe gesurrt und geschnellt, wie wenn man einen Seidenfaden beim Nähen spannt, mit dem Finger tönen macht und dann reißt, und sie habe reden müssen, wie sie sich's tausendmal vorgesagt. »Ein Teufel,« das waren ihre Worte, »ein Teufel habe aus ihr gebellt.« Seb schöpfte aus dieser Mittheilung doch einigen Trost. Es gelang ihm mit Hülfe der Küferin, die Kinder in das Nachbarhaus zu bringen, das Mädchen war bald zutraulich gegen den Vater, der Knabe aber blieb trotzig und [97] widerspenstig, er stand immer bei Seite mit niedergeschlagenen Blicken, und nur manchmal heftete er sein großes Auge auf den Vater. Welche unergründlichen Gedanken sprachen aus diesem Auge. Nicht von dem Vater, sondern nur von dem Küfer ließ sich der kleine Johannes die neuen schönen Kleider anziehen, die der Vater ihm und der Schwester mitgebracht hatte. Die Kleider waren zu eng und knapp. Seb hatte sich im Wachsthum seiner Kinder verrechnet. Er schien sich überhaupt verrechnet zu haben, denn kaum war Johannes schön geschmückt, als er, ohne ein Wort zu sagen, das Dorf hineinrannte; er kam aber alsbald wieder im vollen Athem, er hatte offenbar die neuen Kleider seinen Kameraden zeigen wollen und war doch wieder von einem Schamgefühl gejagt, unaufhaltsam hin und her durch das Dorf gerannt, als brennten die Kleider.

Ein seltsamer Zwiespalt ging in dem wilden Knabenherzen vor. Das Mädchen, schon viel zu groß dafür, ließ sich doch von dem Vater auf dem Arme tragen, es war glückselig in seinem neuen Kleide und Seb trug das Kind unter Küssen rund um das Haus und stand lange bei den Tannen, die er ehemals seinen Wald genannt. Die Sonne schien so hell und warm, der Würzgeruch des frischgemähten Oehmdes erfüllte die Luft, die Welt wird mit jedem Morgen wieder neu; warum sollte das ein Menschenherz nicht auch können?

Endlich hörte Seb, daß Zilge aufgestanden war, er ging mit den Kindern an der Hand in die Stube, der Knabe wand sich unwillig an seiner Rechten. Zilge[98] saß am Fenster, blaß mit hohlen Wangen, sie blickte unbewegt gläsern darein.

Sie schüttelte mehrmals nickend den Kopf, als Seb sie mit liebreichen Worten begrüßte und sie um Verzeihung bat, daß er sie am Abend so plötzlich überrascht; er habe gehofft, es damit gut zu machen. Sie ließ ihn ihre Hand fassen, die leblos und starr in der seinen lag, dann sagte sie, sich hin und her wendend:

»Er sieht gut aus wie ein Bierbrauer.«

Es war als spräche sie zu jemand Fremdem, und doch war Niemand außer Seb und den Kindern in der Stube.

Jetzt erst schien sie die Kinder zu bemerken, sie rief sie zu sich und riß ihnen hastig die Kleider vom Leibe; das Mädchen weinte darob und sie sagte:

»Er hat euch sieben Jahr hungrig und nackt gelassen; damit fangt man mich nicht. Gieb die Kleider wem du willst.«

Seb bat sie, doch vor den Kindern gemäßigter zu sein, sie aber sagte:

»Sie haben das Elend bisher mit angesehen, sie können's auch noch weiter.«

Seb brachte die Kinder aus dem Hause, dann setzte er sich zu seiner Frau und erzählte ihr, wie ja Alles wieder gut sei und besser als je, er sei nach Kalifornien gereist, wo man Gold grabe, er habe sich aber damit nicht abgegeben, sondern auf seinem Handwerk gearbeitet und dabei großen Verdienst gehabt, er habe mehr als zehn Bauten ausgeführt und keine sei ihm mißlungen. Zum Beweise seines Wohlstandes legte er [99] mehrere Goldrollen auf den Tisch und brach einige davon auf, daß der Inhalt wie neugierig auf den Tisch rollte. Zilge aber schüttelte den Kopf, und erst auf wiederholtes Bedrängen sagte sie: »Damit fängt man mich nicht, wenn du tausend Millionen bringst, kaufst du mir nicht ab, was da drin –« sie deutete auf ihr Herz, es würgte sie im Halse, sie konnte nicht weiter reden.

Man hörte Besuche vor der Hausthüre, Seb raffte schnell das Gold wieder zusammen, und als viele Männer und Frauen eintraten, sagte Zilge lachend:

»Wenn ein Hund an der Kette liegt, werfen die Buben mit Steinen nach ihm, sie wissen wohl, warum, wenn er aber los ist, hui!«

Sie erklärte trotz vieler Fragen beharrlich nicht, was sie damit meinte, und die Leute schüttelten den Kopf ob ihres Irreredens; sie hatte aber wohl damit sagen wollen, daß man sie in ihrem Elend vielfach verhöhnt und verspottet habe, und allerdings waren unter den Angekommenen auch Menschen, die sich das hatten zu Schulden kommen lassen. Seb drängte die Besuchenden mit Höflichkeit hinaus und verschloß die Hausthüre, und jetzt wendete er sich mit erneutem Eifer an Zilge und betheuerte ihr, wie er ihr jede Minute ihres Lebens doppelt vergelten wolle für das große Leid, das er ihr angethan. Zilge lächelte freudig, faßte seine Hand und drückte sie, als er aber hinzusetzte: »So ist's recht, jede Minute, die wir noch jetzt von unserem schönen gesegneten Leben verlieren, ist eine Sünde an Gott,« da schrie sie laut auf und stieß ihn von sich, indem sie sagte:

[100] »So? Eine Sünde an Gott ist jede verlorene Minute? Wie viel Minuten hat sieben Jahr? Hol' die Tafel und rechne. Nein, nein, nein, du kannst gehen, wohin du willst. Sieben Jahre verlassen seyn ist ein Scheidegrund, ich will's auf mich nehmen, was du willst, wie du willst, sag' mir nur nichts mehr von deinem Geld –«

»Und unsere Kinder?« sagte Seb bebend.

»Ihnen zulieb möcht' ich schon, aber ich kann nicht, Gott ist mein Zeug', ich kann nicht;« sie schlug sich wie betheuernd mehrmals auf die Brust, dann sagte sie dumpf:

»Wart nur noch eine Weile, dann holt mich der Tod, dann hast Alles allein, Alles, ich will nichts davon, gar nichts, man soll mich mit meinen Lumpen zudecken.« –

Seb legte den Kopf weinend auf den Tisch, Zilge stand auf und fuhr ihm mit der Hand über die Haare, dann sank sie plötzlich nieder. Seb trug sie in seinen Armen auf das Bett, dann eilte er hinaus und schickte einen reitenden Boten nach dem Arzte.

Als es zum Erstenmal zur Kirche läutete, richtete Zilge sich auf und sagte:

»Nimm das Gesangbuch, nimm's, was zitterst? Sind dir meine Thränen drin zu schwer? Lies, sing's ganz durch, von Anfang bis End, mein Leid und mein Weh steht nicht drin, das hat Keiner gewußt, das hat kein Schriftgelehrter, kein Heiliger und kein Kirchenvater erlebt.«

Seb saß auf einem Schemel zu Füßen seiner Frau, die die Augen schloß und, wie es schien, ruhig schlummerte. Die Glocken läuteten zur Morgenkirche, und [101] Seb bedeckte sich sein Antlitz mit beiden Händen. Wie stolz triumphirend hatte er unter diesem Geläute an der Hand seiner Frau vor aller Welt wieder erscheinen wollen, wie hatte er gehofft, ihr Herz mit Jubel zu erfüllen, da er nun die Glücksgüter ihr in den Schooß legte, die ihrem seinen ehrliebenden Wesen gebührten. Und jetzt! Zorn und Ingrimm wollten in ihm aufsteigen, er hatte sich ja keine Ruhe und keinen Genuß gegönnt, nur um diese Höhe zu erreichen. Wie aber, wenn sie unterdeß gestorben, da sich ihr Herz ihm verfremdet und im Elend verkümmerte, so daß es nicht mehr fähig war, ein heiteres Glück und ihn in sich aufzunehmen? Wie muß Schmerz und Jammer in dieser Seele gewühlt haben, bis sie verwirrt und zerrüttet war! Seb fühlte sich auf einmal tief gedemüthigt. Er konnte jetzt ein Haus erbauen, wie keines im Dorfe war, aber läßt sich erstorbene Liebe wieder auferbauen? Seb wand sich hin und her und die Geldrollen in seiner Brusttasche schlugen von außen wie ein schwerer Hammer an sein klopfendes Herz. Leibhaftig fühlte er jetzt die ungeahnten Schläge, die ihm nun sein Reichthum brachte. Und mitten in aller schweren Kümmerniß überkam ihn doch wieder ein trostreicher Gedanke: wie mußte ihn diese Frau einst geliebt haben, und ihn allein, keinen Reichthum und keine Größe, sie fragte nichts danach, es schauderte sie davor, sie waren mit ihrem Herzblute erkauft. – Von dem Gedanken der unergründlichen Liebe seines Weibes bewegt, schnellte Seb empor und drückte einen Kuß auf die blasse, nur leichtgeröthete Wange der Schlafenden.

[102] Die Kinder kamen herbei; Seb kleidete sie wiederum festlich an, und selbst Johannes ließ ihn gern gewähren, dann stellte sich der Knabe zu Haupten des Bettes und betrachtete mehrmals die Mutter, meist aber stand er, das Kinn auf die Brust gesenkt, die Augen zum Vater aufrichtend und fest auf ihn schauend. Ein Kind kann mit einer Dauer und unbewegten Stetigkeit den Blick auf einen Gegenstand heften, wie das Auge eines Erwachsenen ohne zu blinzeln nicht vermöchte, und dieser starre Kindesblick gewinnt eine Durchdringlichkeit und Strenge, der keine Worte gleichkämen. Seb senkte oft den Blick, wenn er den dreinstarrenden Knaben ansah. Er brachte kein Wort aus ihm heraus, nur einmal sagte der Knabe von selbst: »Gelt, die Mutter wird nicht sterben?«

Der Knabe hatte gehört, daß Seb einen reitenden Boten nach dem Arzte geschickt, und daher die eigentümliche Erweichung seines starren Wesens; vielleicht hatten aber auch die neuen Kleider doch eine Aenderung in ihm hervorgebracht.

Als Zilge erwachte und die wieder geschmückten Kinder sah, bat Seb, ihnen doch die Kleider zu lassen. – Sie schwieg.

Der Arzt kam und fand den Zustand Zilge's nur wenig beunruhigend; als Seelenkundiger empfahl er indeß noch Seb die äußerste Geduld und Nachgiebigkeit, da Zilge ohnedieß schon oft an Anfällen von Schwermuth gelitten habe.

Als Seb die Aussagen der Küferin berichtete, lächelte der Arzt und sagte, Zilge sei zwar durch ihr Stubenleben [103] und ein gewisses nachdenkliches Grübeln etwas feingeartet, aber doch nicht so subtil, daß nicht Alles noch zu Gutem sich wenden könne.

Seb verließ keine Minute seine Frau, aber er durfte ihr nichts reichen, sie nahm nichts aus seiner Hand, und nur von der Küferin.

Als die Nachmittagskirche ausläutete, sagte sie:

»Jetzt versteigern sie unser Haus, geh doch auch dazu und kauf's, wenn du kannst.«

Seb wollte erklären, daß das nun nicht mehr geschehe, und wäre es auch, er behielte es doch nicht mehr. In bitterem Tone sagte darauf Zilge:

»Nicht einmal das will er mir thun!«

Seb ging und kam bald wieder, indem er freudig rief:

»Das Haus ist wieder dein und blank.«

Zilge sah starr drein, als ob sie gar nichts gehört hätte.

Mit Seb war auch der Bruder Landjäger gekommen. Er hatte von der Ankunft seines Schwagers gehört und hatte ihn beim ersten Ausgang getroffen; er, der sonst nicht Schimpfworte genug für den Seb gehabt, war jetzt stolz auf ihn, und sein bester Freund, zumal, da er ihm eine silberne Taschenuhr mitgebracht hatte. Er zog jetzt heftig gegen Zilge los, daß sie sich so ziere und sperre. Seb suchte seinen Reden Einhalt zu thun, aber mit jener Art von martialischem Gleichmuth, ja von Heiterkeit, die solche Leute gern bei einer Exekution zur Schau stellen, strich sich der Bruder Landjäger den Schnurrbart und sagte, auf umherstehende Süßigkeiten deutend:

[104] »Das ist nichts, der muß man's einmal aus dem Salz geben, dann ist sie geheilt; du bist viel zu zimpfer, Seb.«

Dieser verbot mit Gemessenheit jedes weitere derartige Wort, aber der Bruder Landjäger kehrte sich nicht daran, und Seb wußte endlich keinen andern Ausweg, als daß er den Bruder Landjäger mit sich fort nach dem Wirthshause zog. Zilge verriegelte hinter ihnen die Hausthüre und öffnete sie nicht mehr.

Ein Leidensgang und stilles Dulden

Ein Leidensgang und stilles Dulden.

Als Seb am andern Morgen die Hausthüre offen fand und nach seiner Frau umschaute, war diese verschwunden; sie hatte den Kindern noch die Morgensuppe zurecht gestellt, die mitgebrachten Sonntagskleider verschlossen und das Werktagsgewand hergerichtet und war dann davongegangen. Der kleine Johannes mußte fühlen, welch eine ahnungsschwere Unruhe den Vater bewegte, der im ganzen Hause nach ihr rief; er sagte, die Mutter sei auf ihre Handelschaft gegangen, sie habe ihr Säckchen mitgenommen. Nun mußte Seb im ganzen Dorf und auf allen Wegen nachfragen, welchen Weg seine Frau eingeschlagen. Er fürchtete das Gräßlichste. Endlich erfuhr er von den Oehmdenden an der Windenreuthe, daß seine Frau den Waldweg nach Weitingen eingeschlagen; sie habe sich noch herabgefallene Zwetschgen in der Wiese aufgelesen. Seb eilte durch den Wald, drunten rauschte der Neckar [105] und sein Rauschen war ihm unheilverkündend; da sah er plötzlich Zilge auf einem Baumstumpfe sitzen, ein kleines Bündel lag neben ihr; sie aß ruhig Zwetschgen, und warf die Steine weit weg, sie bewegte sich nicht bei seinem Anblick und doch mußte sie ihn sehen. Als er vor ihr stand, starrte sie ihn an, und als er sie dringend bat, doch mit ihm um zukehren, sie brauche dieses elende Leben nicht mehr zu führen, stand sie rasch auf, nahm ihren zusammengerollten Sack und schritt davon. Seb ließ sie eine Strecke gehen und rief ihr nach, daß sie ihn auf ewig von sich vertreibe, daß er wieder in die weite Welt gehe, wenn sie nicht umkehre; sie antwortete nicht, aber kaum war sie aus seinen Augen verschwunden, als er ihr nachrannte, und da er sie sah, hinter ihr dareinschritt. Seb war doppelt unglücklich und voll Zorn, er hatte eine Drohung ausgesprochen und gleich darauf gezeigt, daß er sie nicht auszuführen vermöge. Endlich ging er wieder stumm an der Seite Zilge's, und sie sagte jetzt von selbst und ganz verständig:

»Die Müllerin hat mir auf heute einen halben Zentner versprochen. Wenn ich's nicht hol', dann kommt ein Jud und schnappt mir's weg.«

Seb wußte nicht mehr, was er thun und denken sollte, nur das eine wußte er, er durfte seine Frau nicht mehr verlassen.

Zilge ging in die Mühle und kam bald wieder heraus und setzte sich, den Sack auf dem Schooße, auf die Schwelle. Seb setzte sich neben sie. Die Müllerin kam aus dem Feld. Seb schlugen die Flammen aus[106] dem Gesicht, als er hier Vorwürfe über seine Entweichung hören mußte, und es war wunderbar, wie klug und auf ihren Vortheil bedacht Zilge das Versprochene zu erwerben wußte. Seb stand dabei, er wußte nicht mehr wo er war. Zilge lud sich den schweren Sack auf den Rücken und ging damit davon; aber kaum war sie zwanzig Schritt gegangen, als Seb ihr den Sack abnahm und mit flammendem Antlitze rief:

»Zilge, ich will dir Alles thun, was du willst, ich will mich vor den Leuten hinstellen und mich ausschimpfen lassen. Sag', soll ich den Sack den jähen Berg da 'nauftragen? Ich thu's gleich, wenn du's sagst. Nur sei gut, und sei wieder mein liebes, gutes Weib und komm' jetzt heim.«

Zilge antwortete nicht, und als Seb sie bat, doch mit ihm im Wirthshaus einzukehren, sagte sie:

»Ich hab' kein Geld.«

»Aber ich hab'.«

»Das geht mich nichts an.«

Seb mußte nun dabei stehen wie Zilge von Haus zu Haus in bettelndem Ton um Lumpen bat; er biß sich die Lippen zwischen die Zähne, und die Last auf seinem Rücken ward übermäßig schwer.

Endlich machte man sich auf den Heimweg, Zilge ging so rasch, daß Seb neben ihr kaum Schritt halten konnte.

Am Neckar auf einem Felsenvorsprung stand sie plötzlich still und sagte:

»Seb, komm' her, schau, da bin ich gestanden,[107] mehr als Einmal, in Wind und Wetter und hab' mir den Tod geben wollen, und wären meine Kinder nicht, sie hätten mich da drunten am Mühlrechen aufgefischt. Seb, sei zum Letztenmal aufrichtig gegen mich. Sag' mir ehrlich: hast du am ersten Tag, gleich wie dir's gut gangen ist, wie du mir hättest was schicken, wie du mich hättest holen können, das gleich ausgeführt? Hast du keinen Tag versäumt? Sag's, sag's ehrlich.«

»Das ist recht, daß du einmal ordentlich redest. Schau, so fortlaufen, oder was man hat, gleich aus der Hand geben, das kann man nicht. Ich hab' damit weiter Geld gemacht, und ich hab' mir denkt: hast du's so lange ausgehalten, geht's auch noch ein bisle weiter, und ich hab' wollen groß –«

»So geh groß zum Teufel,« schrie Zilge, stieß heftig nach ihrem Mann, riß sich krampfhaft windend den Trauring von der Hand und rief dabei: »Aus ist's mit uns, los und ledig,« warf den Ring hinab in den Fluß und rannte davon; aber bald wendete sie querfeldein, denn sie sah einen Landjäger des Wegs daher kommen, der Landjäger sprang ihr über den Graben nach und sie sank vor ihm auf das Stoppelfeld.

»Fang' mich, bind' mich, ich will nichts mehr von ihm, gar nichts, nie mehr, nie,« rief sie.

Der Landjäger, der niemand Anders war, als der Bruder Zilges, stand wie verwirrt, und als jetzt Seb herbeikam, schrie Zilge gellend auf und wühlte ihr Antlitz in den Boden.

[108] So wäre also doch wahr, was man schon lange geahnt hatte? War Zilge irrsinnig?

Ein leerer Wagen kam des Weges. Zilge ließ sich lautlos von den Männern auf denselben tragen, nur zuckte sie bei jeder Berührung Sebs elektrisch zusammen. Ein Theil der Lumpen wurde ihr als Kissen untergelegt, mit dem andern deckte man sie zu, denn es schüttelte sie ein Fieberfrost.

Seb hatte schon im Spätherbst wieder in die neue Welt zurückkehren wollen, jetzt war er mit schwerem Leid in der Heimath gefangen; schrecklich war's, blieb er in derselben, aber noch schrecklicher, zog er in die Fremde mit der zwar nicht Irrsinnigen, aber im unbezwinglichen Widerwillen gegen ihn Befangenen.

Seb hatte den Leuten nicht geglaubt, daß seine Frau irrsinnig sei, und man hatte ihm das auch bald wieder ausreden wollen; jetzt kam abermals Jedes darauf zurück, aber Seb wehrte ab. Es wäre viel leichter gewesen, die unbegreiflichen Launen Zilge's zu ertragen, wenn sie Krankheit und nicht eine Herzenshärtigkeit waren, aber Seb war ehrlich genug, sich keine unwahre Erleichterung zu verschaffen, und in dieser Aufrichtigkeit fand er wieder einen neuen Trost; mit Milde und unzerstörbarer Liebe konnte er eine Herzenshärtigkeit lösen, nicht aber einen Irrsinn. Er übte unsägliche Geduld an Zilge, er warb um jeden Blick, um jedes Wort, jede Handreichung mit einer nachhaltigen Geduld, daß ihn das ganze Dorf darob lobte.

Er war glücklich, wenn er ihre Hand berühren [109] durfte, und als sie einst von selbst seine Hand faßte, küßte er die ihre.

Oftmals sah sie ihn lächelnd an, dann aber wendete sie rasch und wie erschreckt den Blick und unversehens wurde sie äußerst zänkisch und unwillig bei dem Geringsten, was er unterließ oder in seinem Schmerze linkisch that. Nie durfte Seb vor ihren Augen Geld zeigen, sie schrie dabei laut auf, wenn er diese Vorsicht vergaß, nie durfte er vor ihren Augen eines der Kinder liebkosen, sie sagte einmal ganz offen:

»Wenn die Kinder nicht wären, wärst du nie mehr wiederkommen, mir hast du mein Leben abgewürgt; aber die Kinder sind mein, nicht dein, das wird sich zeigen, und du bist ganz irr, wenn du glaubst, du kannst mich sieben Jahr in's Elend werfen und mich dann wieder holen, weil dir's jetzt recht, weil dir's jetzt geschickt ist, ich bin auch mein Eigen.«

Keine Einwendung, keine Betheuerung half, es schien, daß sie gar nicht darauf hörte.

Wenn Seb sie manchmal durchdringlich ansah, konnte sie ausrufen:

»Nicht wahr, ich bin alt und verhutzelt? Wie hast dir denn denkt, daß eine verlassene Frau aussieht nach sieben Jahr Elend? Ich brauch' dir auch gar nicht mehr zu gefallen, ich will gar nicht mehr.«

Seb konnte ihr der Wahrheit gemäß betheuern, daß sie nur der Erholung und guter Tage bedürfe, um wieder frisch und munter zu sein; sie gab keine Antwort, sie sprach was sie auf dem Herzen hatte, und schien nichts erwidert haben zu wollen.

[110] Wenn Seb ihr erklärte, daß der Hausbau sein Unglück und sein Glück geworden sei, rief sie oft: »Ich bin an keinem von Beiden schuld und will auch kein Theil an keinem.«

Seb führte seine beiden Kinder täglich zweimal an der Hand nach der Schule, und holte sie zweimal wieder ab. So schwer es ihm gelingen wollte, den kleinen Johannes dazu zu bringen, daß er die neue Welt nicht mehr Jammerika nannte, ebenso schwer ging es, sein verhetztes und verstocktes Wesen zu schmeidigen. Gerade weil der Knabe bemerkte, daß der Vater um seine Liebe warb, schien er um so verschlossener. Mit Geschenken war er noch weniger als Zilge zu gewinnen, denn ein Kind freut sich der Gabe und vergißt alsbald des Gebers. Der trotzköpfige und hinterhältige Knabe erschien als der leibhaftige großgezogene Haßgedanke Zilge's, und bald zeigte sich, daß er noch etwas Anderes war.

Es war am Neujahrstag, da saß Seb bei Zilge und betheuerte ihr in innigen und festen Worten, wie er wisse, daß er kein Recht mehr auf sie habe, sie könne ihn verschmähen und verstoßen, sie sehe ja aber, daß er um sie werbe, wie um eine Fremde, er wünsche nur, daß er Etwas thun könne, um ihr seine Liebe zu beweisen; wenn es der Pfarrer thäte, er würde sich noch einmal und mit erneuter Glückseligkeit mit ihr trauen lassen. Da streckte Zilge zitternd die Hände aus, aber in demselben Augenblicke trat der kleine Johannes ein und Zilge schrie laut auf, rannte nach der Kammer und verschloß sie hinter sich.

[111] Hatte Zilge eine Scheu, eine vielleicht erwachende Liebe zu ihrem Manne vor dem Knaben zu zeigen, der so oft ganz Anderes von ihr gehört hatte?

Aus dem Stromesgrund

Aus dem Stromesgrund.

Die Zeit der Abreise rückte immer mehr heran und Zilge wollte sich für nichts entscheiden, und sie sollte es doch allein. Sie war voll Ingrimm, daß Seb nach wiederholten, vergeblichen Versuchen die natürlichen Folgerungen ihrer Worte aufnahm: sie hatte ihm so oft gesagt daß er jedes Anrecht auf sie verwirkt habe, er stellte nun jede Entscheidung ihr anheim und gelobte, ihr nicht mehr dreinzureden und sich in Jegliches zu fügen. Diese unbewegte richterliche Annahme ihrer Aussprüche empörte sie, und doch konnte sie sich zu nichts entschließen und bestimmen; bald wollte sie mitgehen, bald daheim bleiben, bald durch dieses Rache und Vergeltung üben an Allen im Dorf, die ihr je eine Unbill angethan, bald wollte sie durch die Auswanderung sie auf ewig vergessen und mit Verachtung strafen. Wenn Seb darauf drang, daß man aus dieser Schwebe heraus müsse, wenn er mäßig und bestimmt Alles darlegte, so war sie äußerst gereizt. Sie erkannte wohl, welch ein fester ruhiger Mann Seb geworden, und ein Bewußtsein der innern Verwahrlosung, in die sie während der sieben verlassenen Jahre gerathen war, dämmerte in ihr auf. Sie war die stolze Zilge, sollte jetzt Seb mehr sein als sie? »Ich will[112] deine Gnad' und Barmherzigkeit nicht,« sagte sie ein mal zu Seb, ohne zu erklären, woher sie zu diesem Gedanken gekommen war. Sie ließ gern Alles in der Schwebe hängen, sie war durch die sieben Jahre an eine solche Schwebe gewöhnt, allezeit einer Erwartung hingegeben, und wenn man sie jetzt zu einem Entschlusse drängen wollte, weinte sie unaufhörlich. Ueberhaupt weinte sie viel über ihr vergangenes Elend, und war dabei gar nicht zu beschwichtigen, und es verdroß sie sehr, daß Seb sie lehren wollte, das Vergangene als abgethan und todt zu betrachten, sie weinte dann nochmals über solche Rede.

Der Arzt, der auf den Wunsch Seb's allwöchentlich einmal kam, aber auch von selbst, wenn ihn sein Weg in's Dorf führte, Seb besuchte und gern mit ihm über Amerika sprach, der Arzt war ein verständiger Mann und Sebs Tröster und Helfer. Er erklärte das viele Weinen Zilge's als eine Eigenthümlichkeit der Frauen, die oft mit heldenmütiger Kraft das Ungemach ertragen, sich aber von der Erinnerung an dasselbe niederwerfen lassen; sie bespiegeln sich im Mitleid mit sich selber, und kommen schwer darüber hinaus.

»Da haben Sie in's Schwarze getroffen,« sagte einst Seb, als ihm der Arzt den ganzen Zustand Zilges daraus erklärte, daß sie eines Prozeßkrämers Tochter sei, sie habe mit ihrem Mann auch einen Prozeß und wolle ihn auf's Aeußerste hinausführen, und die Entscheidung sei ihr eigentlich nicht recht, auch wenn sie gewinne.

Den Bruder Landjäger, der auf Anrathen Sebs [113] gelinder mit seiner Schwester umgehen wollte, duldete sie gar nicht um sich, sie sagte so oft er kam: »Das ist mein eigen Haus,« und weiter war kein Wort aus ihr herauszubringen. Das ganze Dorf kam nach und nach und redete Zilge zu, doch ihren Starrsinn zu lassen. Sie ließ sich die mancherlei Triumphe nicht entgehen, die sie bei diesen Besuchen hatte; sie lächelte frohlockend, wenn Jedes sagte, wie gut und demüthig Seb gegen sie sei und entgalt es dabei Manchem in scharfen Worten, was er ihr vormals angethan. Zur Verwunderung Aller entschied sie sich aber endlich gegen den Pfarrer dahin, daß Seb allein in die weite Welt ziehen solle, sie bleibe im Dorfe und in ihrem eigenen Hause, es werde noch aushalten, so lange sie lebe.

Seb redete von nun an kein Wort mehr über die Hauptsache, und sie sah ihn darob oft im verbissenen Zorn an. Wie ist es denn möglich, daß er sich drein fügt?

Es handelte sich jetzt nur noch darum, bei wem die Kinder bleiben sollten. Seb machte Anspruch auf eines derselben, wie er dem Pfarrer sagte, auch als Unterpfand, daß Zilge vielleicht dadurch andern Sinnes werde und ihm nachkomme. Er überließ es ihr, welches der Kinder sie hergeben wolle, das Mädchen war ihm anhänglich aber der Knabe bedurfte seiner vielleicht mehr. Auch darüber konnte sich Zilge lange nicht entscheiden, sie weinte wieder viel und schalt innerlich über Seb, der sie gar nicht zu trösten suchte. Auf wiederholtes Bedrängen erklärte sie schließlich im Frühling [114] dem Pfarrer, daß Seb den Knaben mitnehmen möge. Als Zilge aus dem Pfarrhause heimkam, umhalste sie ihren Johannes weinend und sagte ihm, daß er sie nun auf ewig verlasse und mit dem Vater in die weite Welt ziehe. Da riß sich der Knabe aus den Armen der Mutter los, rannte aus der Stube, so sehr ihm auch Seb rief, er rannte durch das Dorf und wendete sich auf den Zuruf des hinter ihm drein folgenden Vaters nicht um. Mit der Behendigkeit eines Rehes sprang er durch die Felder und hinab den Bergwald nach Weitingen, Seb hinter ihm drein, rufend und schreiend, bittend und scheltend. Johannes verlor im Rennen seine Mütze, er wendete sich nicht danach um, der Vater hob sie auf und sie in der Hand schwingend eilte er dem störrischen Kinde nach. Jetzt stand der Knabe an der Stelle, wo Zilge den Trauring in den Neckar geworfen; Seb rief nochmals dem Knaben zu, die Haare standen ihm zu Berge, da spritzte der Strom hoch auf, der Knabe war verschwunden. Seb rannte ihm nach, sprang in's Wasser, schrie laut um Hülfe, das Klappern der Mühle verschlang seinen Hülferuf. Am Mühlrechen erhaschte er das Haupt des Knaben und schrie an die Luft gekommen, mit letzter Kraft um Hülfe: da wurde die Mühle gestellt, die Mühlknappen kamen mit Stangen herbei und halfen Seb und dem Knaben aus dem reißenden Strom.

Der Knabe hing leblos in den Armen des Vaters. Da drang ein gellender Schrei widerhallend durch das Thal, Zilge stand händeringend am Ufer. Die Müllerin eilte über den Steg zu ihr und hielt sie fest.

[115] Eine Viertelstunde entsetzlichen Jammers war in der Mühle. Man rieb den Knaben, der blau geworden, leblos da lag, und als er endlich viel Wasser ausspie, die Augen aufschlug und sie bald wieder schloß, hochauf athmete und den Kopf zurückwarf, fiel Zilge ihrem Manne um den Hals:

»Jetzt kannst du mit mir machen, was du willst. Verzeih mir nur,« rief sie.

»Weil ich das Kind aus dem Wasser gezogen?« fragte Seb.

»Nein, du hast mich auch aus dem Tod geholt, mich auch. Hättest du nur auch meinen Trauring wieder mit herausgebracht,« sagte Zilge.

»Laß ihn versunken sein, ich hab' einen neuen, sieh; den hab' ich dir aus der neuen Welt mitgebracht; jetzt fasse ich dich in Gold.«

Und als der Knabe zum Erstenmal sprach:

»Vater, ich hab' mich nicht in's Wasser stürzen wollen, thu' mir nur nichts,« zog Seb seiner Zilge den neuen Trauring an, und sie kniete vor ihm nieder und bat Gott und ihren Mann tausendmal um Verzeihung und Vergebung ....

Gerade auf den Jahrestag, an dem der Grundstein zu dem eigenen Hause gelegt worden war, hatte Seb die Abreise bestimmt.

Am Abend als der Thau sich auf den Roggen senkte, der eben aus den Aehren schoß, gingen Seb und Zilge Hand in Hand wieder die alten heimlichen Wege durch die grünen Gartenhecken, die jetzt so knospenharzig dufteten und von Vogelgesang erschallten.

[116] »Ach, ich hab' dich so lieb,« rief Seb, »es ist ein' Schand', daß ich dir's sag', aber ich mein' du wärst noch ein jung Mädle und es seien noch die Zeiten, wo wir da miteinander gegangen sind.«

»Und mir ist's, wie wenn wir nicht so große Kinder daheim hätten, und uns erst jetzt bekämen. O, ich hätte dir oft gern gesagt, wie ich dich im Grund des Herzens so gern hab', wie du so geduldig und liebreich gegen mich gewesen bist, aber ich hab' nicht können. Es ist mir gewesen, wie wenn mir Jemand zum Guten den Mund zuhielte. So muß es einem Scheintodten sein, das reden will und nicht kann. Jetzt bin ich selig, glücklich wieder auferstanden.«

Seb lenkte bald wieder in die männlich ruhige Mittelstimmung seines Charakters ein, er war kein Freund von den raschen Umstürzen, und Zilge ließ sich's gefallen.

»Hast du denn drüben auch ein eigen Haus?« fragte sie.

»Das geht schwer, wir ziehen von Stadt zu Stadt und bauen, und hab' ich ein eigen Haus, verkauf' ich's wieder. Wenn du aber willst, sag's nur.« –

»Ich will nichts mehr, als was du willst.«

»Dein Bruder geht auch mit uns,« sagte Seb, und Zilge erwiderte:

»Ich will's ihm vergeben, was er mir angethan hat, man hat mir ja auch viel zu vergeben, aber du ladest dir viel auf mit ihm, er will nichts schaffen.«

»Er wird's in Amerika schon lernen.«

»Ich sag' dir noch einmal, mir zulieb brauchst du's[117] nicht zu thun; du bist mir genug auf der Welt, mein Alles; ich brauch' auch keinen Bruder.«

»Aber lass' nicht von ihm, von Keinem, der einmal mein ist ....«

Wie Neuvermählte glückselig zogen Seb und Zilge mit den Ihren fort in die neue Welt.

[118]

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TextGrid Repository (2011). Auerbach, Berthold. Erzählungen. Schwarzwälder Dorfgeschichten. Achter Band. 2. Ein eigen Haus. 2. Ein eigen Haus. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-142B-A