[185] Bemerkungen. 1

1. Bemerkungen zur Geschichte des ewigen Juden

1. Bemerkungen zur Geschichte des ewigen Juden.

Wenn die Geschichte des ewigen Juden, eine der ältesten Volkssagen, 2 die vielleicht an volksthümlicher Celebrität keine ihres Gleichen hat, außer etwa die Volkssage von Faust, dessen ungeachtet ungleich seltener poetisch aufgegriffen und behandelt worden ist, als die letztere: so müssen wir wol den Grund zunächst in dem Umstande suchen, daß die Idee eines Faust von Anfang schon einen historischen Leib erhalten, und durch reichliche Nahrung an romantischen Abenteuern sich groß gebildet hat, während die Legende von dem ewigen Juden eben nur einfältige Legende geblieben ist, und als eine beinahe heilige Ueberlieferung zu jenen frommgläubigen Zeiten jede poetische Erweiterung und Ausschmückung als profanirend zurückgewiesen hat.

Doch hat diese Sage (so viel uns bekannt) bereits schon im 16. Jahrhundert einen Bearbeiter gefunden (s. Kochs Compendium), und ist als Volksbuch, nebst so vielen andern, bekannt und beliebt geworden. Originale hiervon werden heutiges Tages wol nur sehr wenig mehr aufzutreiben sein, da das Buch bei weitem nicht das Glück gemacht zu haben scheint, wie andere, besonders komischen Inhalts. 3 [186] Reinhardt, in seiner Romanbibliothek (Bd. 8–12) hat hievon einen verhochdeutschten Auszug geliefert; und wenn nun freilich diese Copie dem Original auch nur in den wesentlichsten Zügen getreu geblieben ist, so war jene Arbeit nichts weniger als eine volksthümliche, sondern vielmehr das Gegentheil – einerseits ohne reges Leben und tiefen Geist, anderseits prunkend mit historischen Daten, um die, als solche, das Volk sich am wenigsten bekümmert, sondern sie vielmehr als lästig von sich weist. Kurz, man findet darin ein historisches Compendium, das noch überdies mehr als ein zufällig zusammengeflicktes Aggregat, denn als ein, auf die Personalität des beobachtenden Helden Bezug habendes, und seine außerordentliche Individualität heraushebendes System genommen werden kann.

Und doch möchten wir dieses alte Volksbuch, auch in dem dürftigen, verhochdeutschten Auszug, noch ungleich höher stellen, als das jüngste Product, das freilich auf wälschem Boden gewachsen ist. Es ist die Geschichte des ewigen Juden, von ihm selbst beschrieben. (Aus dem Französischen, Cotha 1821.) Das Werk enthält nur einen kurzen, magern Abriß seiner Reisen von Anno 33 nach Christi Geburt bis auf das Normaljahr 1789, und man glaubt eben nur einen Pariser roué zu hören, der die Welt aus langer Weile durchwandert hat, um sich mit flüchtigem Beobachten zu amüsiren, und um andere, bei guter Gelegenheit, mit leichtfertigem Erzählen zu amüsiren. Dessen ungeachtet wurde das schlechte Product für würdig befunden, ins Deutsche übersetzt zu werden. Denn was wird nicht ins Deutsche übersetzt?

Pragmatischer, als die beiden angezeigten, aber nicht blos unpoetisch, sondern sogar antipoetisch sind die »Briefe des ewigen Juden,« 3 Thle. 1791. (Utopia, gedruckt mit scharfen Lettern.) Man findet darin eine Sammlung aller der gemeinen Vorurtheile und abergläubischen Meinungen, aus der Krambude der wohlfeilen Aufklärung jener Zeit. Das Werk würde hier deshalb keine Erwähnung verdienen, wenn es nicht vielleicht einst einem künftigen geistreichen Bearbeiter der Sage dienen könnte, zur Fundgrube von Meinungen, die, Gott Lob, schon heutiges Tags wieder zu [187] den obsoleten gehören – einem Bearbeiter meinen wir, der den ewigen Juden (nach Goethe's bekannter Andeutung im Gegensatz der Begeisterung und himmlischen Verläugnung des Heilandes, als eine kalt prüfende, nur den augenblicklichen Vortheil berechnende, prosaische Person nehmen und nach dieser Musteridee dessen Charakter durchführen würde. Ja, wenn man diese Idee, – freilich gegen den Willen und ohne Verdienst des Verfassers – nämlich den Geist der gemeinhin verneinenden Prosa, in das, übrigens ganz geistlose Buch hineinlegt, so mag der Charakter – hier der Autor – als ein gemeiner Stock- und Schacher-Jude, der mit dem Trödel aus der gesammten heiligen und Profangeschichte Handel treibt, immer noch zu nicht geringer Ergötzlichkeit dienen.

Außer diesen romanhaften (nicht romantischen) Bearbeitungen wären wol noch viele andere aufzuzählen, worin jene Sage unter verschiedenen Ansichten aufgegriffen und in besondern Formen dargestellt wurde. So kennen wir alle Schubarts Gedicht; und als ein Dithyrambus aus dem Munde dieses antichristlichen Prometheus verdient es sicherlich große Beachtung, wenn auch die Anschauung eines solchen wildverzerrten Gegenstandes, einer so zermarterten, ohnmächtig leidenden sittlichen Natur eher Abscheu (vor dem Richter) als Mitleid (gegen den Verurtheilten) erwecken, und darum alles rein poetische Gefühl vernichten möchte. – Wahrhaft poetisch und zugleich sittlich- und religiös-bedeutend erscheint diese Gestalt in A. W. Schlegels Romanze, welche die Aufschrift »die Warnung« führt (Gedichte Th. 1. S. 196). Obgleich nur als eine vorübergehende Erscheinung macht sie, mit ihrem tiefen und feierlichen Ernst, als Gegenstück zur frivolen Ansicht und Handlung des gemeinen Lebens, eine große Wirkung, so wie denn auch die einfache und doch großartige Schilderung des ewigen Juden in den zwei Versen:


Ich bin nicht alt, ich bin nicht jung,
Mein Leben ist kein Leben,

von einer erschütternden Wahrheit ist. –

Befriedigend, besonders für das sittlich religiöse Gefühl ist auch die Novelle von Franz Horn. Obwol hier der [188] ewige Jude als eine beinahe gespenstische Erscheinung in die Mitte einer stillen, glücklichen Familie tritt, und (dem Anscheine nach) durch seine Anwesenheit den Tod, wie eine verpestende Person, hineinbringt, so weiß doch der Dichter über die ganze düstere Erzählung eine milde Wehmuth zu verbreiten, die sich zuletzt wol gar in ein sanftes, schönes Himmelblau auflöset, wiefern der Schrecken aller Schrecken als eine wahrhaftige Wohlthat erscheinet. – VonKlingemanns dramatischer Behandlung des ewigen Juden wollen wir nicht reden, da unsere Leser, wenn sie zugleich Theaterliebhaber sind, den Geist dieses Autors schon aus dessen »Faust« kennen werden.

Was nun endlich die von uns mitgetheilte Geschichte anbelangt, so wird wol ein streng kritisches Urtheil nur dann erst zu fällen sein, wenn wir uns vorläufig über den Standpunkt verständiget haben werden, unter welchem man die Legende vom ewigen Juden zu betrachten habe.

Diese Sage steht, gegen die übrigen zusammen gehalten, in dem doppelten Nachtheil: erstlich in der Armuth des durch die Ueberlieferung gegebenen Stoffes, sodann aber auch, wenn der Stoff selbst zu erfinden steht, in dem großen Umfang des historischen Rahmens, der diesen Charakter einschließen soll. Wir haben bereits an den Beispielen gesehen, wie weit sich einige Bearbeiter dieser Sage in letzterer Hinsicht von ihrer ungeregelten Phantasie haben irre führen lassen, indem sie eben nur den Rahmen ausschmückten mit historischen Fragmenten, aber das Bild selbst, den Charakter bedeutungslos hinstellten, und mehr eine Geschichte lieferten, als ein Gedicht, ohne eine die Data befruchtende Idee, und eine durch Handlungen sich charakterisirende Person ... Auf der anderen Seite aber liefert die Legende, als gegebene Sage, keinen Stoff, den der Dichter bearbeiten und in ein großes Gemälde ausbreiten könnte. Sie hat sich nie recht lebendig gestalten wollen, hat nie (poetisch) Leib und Leben angenommen, und steht blos da, als der, zwar unverwesliche, Leichnam einer uralten Tradition. Und gerade die historischen Data, welche man zu verschiedenen Zeiten von der Erscheinung dieses sonderbaren Wesens haben und geltend machen wollte, trugen zur Bereicherung [189] des poetischen Materials nicht nur nichts bei, sondern schadeten vielmehr wesentlich und hinderten jede Gestaltung innerhalb eines beliebigen Umrisses, der nun nothwendig um das Volk für die Wahrheit zu gewinnen, sich bis auf die Gegenwart herauf ausdehnen mußte.

Dessen ungeachtet muß man doch gestehen, daß die einfältige Legende, wie sie uns überliefert worden, ein fruchtbares Samenkorn ist, aus dem ein großes, kräftiges poetisches Gewächs sich entwickeln kann, sogar in mannichfaltiger Form. Nur müßte es für die Dichter allererst Grundregel sein: die christliche Idee obwalten zu lassen, und den Charakter des Juden in steter Beziehung zu jener Handlung, wovon die Legende Meldung thut, zu erhalten. Ob nun der Charakter in dieser Beziehung abstoßend, und im Gegensatze zur christlichen Gesinnung (wie Goethe vorschlägt), oder sich allmählich annähernd zu derselben, und zuletzt sich ausgleichend gedacht werde, wie in der von uns mitgetheilten Geschichte, das möchte gleich viel gelten, weil das Motiv zu dieser wie zu jener Verfahrungsweise schon in der Grundidee liegt. In dem (oben in der Note angezeigten) »Bericht von einem Juden aus Jerusalem,« wird Ahasverus wirklich als recht christlich gesinnt bezeichnet; er besucht die Kirche, hört der Predigt zu, erbittert sich heftig, wenn er fluchen hört, und ist überhaupt fromm und gottesfürchtig. 4 Das Volk, scheint es, hat sich daher für die anti-Goethe'sche Vorstellungsart entschieden. Dagegen aber möchte für die gelehrte und gebildete Classe die Geothe'sche Vorstellungsart angemessener und eindringlicher sein, wie denn wirklich auch bereits ein geistreicher Mann 5 in der Form einer Parodie jenes »Berichtes« eine eindringliche Satyre auf die ewigen Juden unter uns gemacht hat, die »immer nur fortschreiten, fortschreiten wollen – wohin? [190] darauf kommt's nicht an, wenn nur nie stille gestanden wird;« und »die nun nahe daran sind, den Grundsatz aller Wissenschaft ein- und durchzuführen: Man kann nicht wissen, ob man nicht wissen könne, man wisse nichts« – Wie gesagt: für das gemeine Volk paßt mehr der poetische, christlich gesinnte, für die gebildete Classe aber der prosaische ewige Jude.

Nach dieser vorläufigen Erörterung wird es den Lesern leicht sein, ohne daß es ihnen erst noch gesagt zu werden braucht, über die mitgetheilte Erzählung das richtige Urtheil zu fällen. Ich habe ihnen einzig nur noch von der Quelle zu referiren, woraus ich sie, wie sie vorliegt, geschöpft habe. Es war meine Amme, welche sie mir erzählt hat. 6 Hat die Geschichte daher einiges Verdienst, so muß man sie lediglich jener Märchenerzählerin (nutrix poetica) auf die Rechnung schreiben: aber dann, bitte ich, auch die Unrichtigkeiten, Anachronismen, und andere dergleichen Fehler, die in der Erzählung vorkommen. Ich hielt es für meine Pflicht, sie so zu geben, wie ich sie empfangen habe; und das Einzige muß ich nur bedauern, daß ich sie, zu allgemeiner Verständlichkeit, in die hochdeutsche Mundart übersetzten mußte, als in welcher sie nicht erzählt worden ist, sondern in der gemeinen oberdeutschen Mundart, voller volksthümlichen Idiotismen.

Fußnoten

1 »Vgl. Maßmans Recension über den I. Theil der I. Aufl. des Volksbüchleins in den Heidelberger Jahrbüchern. XX. Jahrg. p. 354 bis 390«.

Anm. des Herausgebers.

2 Laut der Notiz vor einer altenglischen Romanze in den Reliques of ancient english Poetry. Frankfort 1803. Vol. II. p. 245 war diese Sage z.B. in England schon im Jahre 1228 bekannt.

3 Man darf mit diesem Volksroman nicht ein anderes Büchlein verwechseln, das den Titel führt: »Bericht von einem Juden aus Jerusalem, mit Namen Ahasverus, welcher vorgibt, er sei bei der Kreuzigung Christi gewesen, und bis hierher durch die Allmacht Gottes beim Leben erhalten worden« – was noch vor nicht gar vielen Jahren in unsern Landen als Volksbuch Umlauf hatte, mit Recht aber, weil es auf historische Wahrheit Anspruch machen wollte, und anderer unziemender Beilagen wegen, als dumm abergläubisch verboten wurde.

4 So auch in der von Westenrieder (Beiträge X. S. 261) mitgetheilten Notiz, welche besaget: der ewige Jude sei im Jahre 1721 nach München gekommen, und habe gar andächtig vor dem Crucifix am Gasteig gebetet. – Desgleichen in andern ältern Sagen: S. Reliques of ancient english Poetry. Laut der vorausgeschickten Notiz legt ihm die Sage in der Taufe den Namen Joseph bei.

5 Gesammelte Blätter von Johannes Nariskus. Schulzbach 1832.

6 Solche und ähnliche Fictionen liebt der Verfasser.

Anm. des Herausgebers.

2. Bemerkungen zu den erbaulichen und ergötzlichen Historien

2. Bemerkungen zu den erbaulichen und ergötzlichen Historien.

»Der gemeine Mann fordert auch seine Schriftsteller, und zwar solche, die sich seinen Vorurtheilen bequemen,« sagt J. G. Hamann (sämmtliche Werke Th. III. S. 103). Die Worte des nordischen Magus sind bekanntlich geflügelte Pfeile, die tief eindringen in Herz und Haupt, so daß man ihrer nicht mehr so leicht los wird. Seine Sprüche haben die geheimnißvolle Kraft und Tiefe der Orakelsprüche; sie [191] erregen eben so sehr das Gelüste des Gemüthes, als sie die Thätigkeit des Verstandes in Anspruch nehmen. – Ich beschloß sogleich, ein Volksschriftsteller zu werden. Denn – sprach ich zu mir selbst und glaubte mir sehr – es gibt Bücher, die ich zu schreiben im Stande bin; und ein Volksbuch kann Niemand schreiben, als – meinesgleichen.

Indem ich nun aber des Hamannschen Satzes zweiten Satz näher ins Auge faßte, fand ich ihn je dunkler und zweifelhafter, als ich ihn genauer erwog und tiefer in ihn einzudringen versuchte. »Er, der Volksschriftsteller, soll sich den Vorurtheilen des gemeinen Mannes bequemen?« »Das ist ja, dachte ich, eine esoterische und wahrhaft ketzerische Lehre, in theoria undin praxi gleich verdammlich und verderblich. Ich schlug sämmtliche Pädagogiken des aufklärenden und aufgeklärten Jahrhunderts nach, und ich traf in allen das Kapitel de exstirpandis praejudiciis als einen stehenden Artikel. Ich durchblätterte nochmal, im Geiste, die beliebtesten Volksschriften; ich fand darin wol seiten- und bogenlange Steppen, aber kein einziges, noch so winziges oder auch unschuldiges Unkräutlein der Art. Bei solchen Widersprüchen, was soll da der Mensch denken? Ohne Zweifel nichts, sondern lediglich dem Zuge seines Herzens folgen. Ich liebte den Mann sehr, darum glaubte ich ihm. Vielleicht, dachte ich hinterher, vielleicht hat der Magus auch hierin, wie in so vielen andern Dingen, Recht gehabt gegen sein Jahrhundert. Kurz, der Autoritätsglaube hob mich auch über diesen Stein des Anstoßes hinweg. Allein – wie es bei tiefsinnigen Forschungen zu geschehen pflegt – es ergab sich sogleich ein anderer, noch größerer Anstand. Ich, der Volksschriftsteller, soll mich also den Vorurtheilen des ›gemeinen Mannes‹ bequemen! Recht! Wie aber, wenn nun der ›gemeine Mann‹, der Mann unserer Zeit, keine Vorurtheile mehr hätte, denen man sich bequemen könnte? Die Zeiten sind vorbei, wo Hexen und Gespenster, Träume, Zeichen und Anmeldungen, hundert andere Dinge unter dem gemeinen Volke als patentisirte Glaubensobjecte galten, und welche folglich dem Volksschriftsteller zu seinen Dichtungen und Täuschungen willkommenen Stoff boten. In unsern Tagen aber, wer glaubt [192] noch an solche Alfanzereien? Nicht einmal ein Kind, geschweige ein Mann, höchstens nur hie und da alte Weiber, die aber, als ›weise Frauen‹, eben ein Volksbuch nicht lesen mögen. Woher also, bei solchen aufgeklärten Aspecten, das Element des Aberglaubens holen? wie sich den Vorurtheilen bequemen, wo überall keine sind? So fragte ich den Autor, und – beschwor ihn. Der Magus erschien, im bekannten Negligé, mit der Schlafmütze auf dem Haupte, und in buntgestreiftem Schlafrocke. Nach dem gewöhnlichen Geistergruße fragte er mich: was ich wolle? ›Vorurtheile‹, antwortete ich, indem ich zugleich auf die Stelle im Buche hinwies. Da lächelte er und sprach: Was brauchst du da lange zu suchen? Es steckt ja deine eigene Haut voll von Vorurtheilen; greif nur darnach.« Diese Rede verdroß mich schier; doch faßte ich mich als ein Mann von feiner Lebensart. Er aber fing nun an mit mir förmlich den Katechismus durchzunehmen, den kirchlichen und den politischen (ältern Styls), und fragte bei jedem Punkte: Glaubst du u.s.w. Ja, ich glaube u.s.w., antwortete ich zu Allem. Sieh nun (schloß er endlich seine Katechese), dies Alles und noch mehr gilt bei einem verehrlichen gebildeten Publikum aus allen Ständen als Vorurtheile des »gemeinen Mannes«. Engel und Teufel, Himmel und Hölle, mitunter Gott selbst, werden in jenem aufgeklärten Kreise nur noch als seltsame Antiquitäten geschätzt, als historische Reminiscenzen geduldet, als poetische Fictionen gebraucht und benütz. Ei! – rief ich aus und rieb mir vor Freuden die Hände – so hat denn heutzutage ein Volksschriftsteller noch leichteres Spiel, als je zu einer andern Zeit? So ist's, antwortete er; alles positive Element, was ehedem als wahr, hehr und heilig gegolten, es hat sich in den Augen derer, die nicht gemeine Leute sind oder sein wollen, zu einem rein Erdichteten, Abergläubischen, Poetischen umgewandelt und der religiöse und politische Codex der ältern Zeit ist zu einer reichen, unerschöpflichen Fundgrube geworden, von Mährchen, Fabeln und Parabeln, von Gedichten aller Art. – Ich wollte den Mann voll Dank und Freudengefühl umarmen; er aber, ein Feind aller Complimente, ließ es nicht zu, sondern verschwand.

[193] Das »Volksbüchlein« war fertig, noch ehe ich eine Feder angesetzt hatte. Ich durchlas nur einige Folianten und einige Dutzend alter bestaubter Octav- und Duodezbände, und excerpirte sie. Denn ich dachte so: Willst du volksthümlich, d.h. den Vorurtheilen des Volks gemäß schreiben, so magst du eben den Stoff sogleich aus einer Zeit nehmen, wo die Vorurtheile noch in voller Blüte waren. Und ich täuschte mich auch nicht; ja ich selbst vergaffte mich allmählich und unbewußt so sehr in diese alterthümliche, obsolete und crude Vor- und Darstellungsweise unserer schlichten und steif und festgläubigen Aelterväter, daß ich Gefahr lief, ein gut Theil meines gebildeten Geschmacks mit sammt dem Reste meiner Denkgläubigkeit einzubüßen. Und wahrlich – ich spreche in vollem Ernste, meine gebildeten Damen und Herren! – in den Schriften jener Männer aus dem 16. und 17. Jahrhundert, zumal auch in den ihrem Lehrvortrage eingestreuten Historien und Fabeln herrscht eine Frische und eine Jugend, die, wie die Lineamente und Farben auf altdeutschen Gemälden, keine Zeit verwischen kann, während so viele neuere Erzählungen der Art beim Volke keine Aufnahme finden, oder doch bald wieder in Vergessenheit kommen. Der Grund dieser Erscheinung ist derselbe, wie in Ansehung der Sprüchwörter, welche von den Moralien und Sentenzen der neuern Volkslehrer, ungeachtet der Feinheit des Sinnes und der Glätte des Ausdrucks, nicht verdrängt werden können. Sie sind nämlich aus dem Volke hervorgegangen, und darum bleiben sie auch beim Volke in Gunsten; als ächten Kindern des Volksgeistes ist ihnen die Heimat für immer zugesichert. Ueberhaupt standen die Männer, denen die Volksbildung anvertraut war, und von denen auch wol jene tiefsinnigen und doch einfach lautenden Sprüche und Historien erfunden und verbreitet worden sind, dem Volke ungleich näher, als die heutigen Schul- und Kanzelleute; ja sie gehörten selbst zum Volke, und verkündeten in der einfältigen Weise des gemeinen Mannes die hohen Gedanken ihres Witzes. Und eben darum fanden ihre Lehren und Gleichnisse auch sogleich Anklang in den Herzen jener Leute, und blieben ihnen lieb und unvergeßlich; so wie es wol auch uns selbst ergeht, [194] daß z.B. eine sinnig erdachte und einfach gesetzte Tonweise sich unserm Gemüthe sogleich für immer einprägt, während andere künstlich durchgeführte und verzierte Melodien unserm Gedächtnisse bald wieder entschwinden. – Dasselbe Lob verdient auch der Vortrag in den bessern Schriften jener Zeit. Es spricht uns ein so gesunder Menschenverstand in einem so einfachen Ausdrucke daraus an, daß man sie, je näher man sie betrachtet, desto mehr lieb gewinnen muß. Wir gewahren an ihnen (um unsere Meinung bildlich zu bezeichnen) eineDürer'sche Manier, zwar das Eckige und Schroffe, aber zugleich auch das Einfach-Kräftige und Mild-Starke, das in den Werken jenes Meisters liegt. Und wie dieser Künstler sich mit Recht rühmte, daß er mit wenigen Farben ein schönes Bild zu malen verstünde, so auch die Meister im Styl, die seine Zeit hatte. Auch ihre Schriften waren und sind noch classisch, in ihrer Art. Wer diese Behauptung übertrieben findet, der versuche es einmal, eine jener alten Historien, in der einfachen alten Sprachweise erzählt, in das heutige vornehme Hochdeutsch zu übersetzen, und sehe dann, wie unbeholfen und geschmacklos sich das Ding ausnimmt. Oder er wage – ich setze aber voraus, er sei ein sehr gelesener Schriftsteller – jene altherthümliche Manier in irgend einer Erzählung oder Abhandlung nachzuahmen, und er wird erfahren, daß es eines ganz eigenen Geistes, nicht blos alter Wörter und Satzformen bedürfe, um gemein deutsch und wahrhaft populär zu schreiben.

Philologen kommender Jahrhunderte mögen übrigens entscheiden, und daran eben so sehr ihre Belesenheit, als ihren Geschmack erproben: welche von den mitgetheilten Historien wörtlich aus jenen alten Büchern entnommen worden seien. Gestehen darf und muß ich jedoch, daß ich die meisten, in denen sich eben ein poetischer Keim vorgefunden, in meinen Garten verpflanzt, und (wenn mir der Ausdruck erlaubt ist) zu veredeln versucht habe. Einige wenige sind auch darunter, die, meines Wissens, von mir selbst erfunden, erdacht und gedichtet worden. 1 In diesen, [195] wie in jenen Erzählungen, die offenbar das Gepräge eines neuern Styls an sich tragen, wird denn freilich dem Leser sogleich ein uns allen bekanntes und beliebtes Vorbild einfallen, das sich der Herausgeber bei seinen Nachbildungen vorgesetzt zu haben scheint. Die Nachahmung eines solchen Musters könnte ihm auch nicht zum Tadel, und die glückliche Nachahmung müßte ihm sogar zum größten Lobe gereichen. Denn er hätte dann die Natur selbst nachgeahmt. So muß ein Volksschriftsteller schreiben, wo der Inhalt und die Absicht nicht geradezu simple Prosa verlangt, sondern auch poetische Ausschmückung erfordert oder doch zuläßt. Und wahrlich, diese Classicität in Anlegung und Ausführung der Vorträge, daß sie den Verstand und das Gemüth des Naturmenschen lebendig ansprechen, diesePopularität des Ausdruckes besitzt Hebel in einem außerordentlichen Grade. Er trifft immer und sicher den rechten Ton, der in dieser und jener Erzählung vorherrschend sein sollte, und weiß hier liebliche Heiterkeit zu verbreiten, dort zarte Empfindung fürs Schöne und Gute. Er scherzet überaus gern, und die neckischen Einfälle mengen sich überall in die Unterhaltung, wie liebe Kindlein gern drein plaudern in das Gespräch des Großvaters, und durch ihre Naivität gefallen. Nur wo es Noth thut, lehrt er, und dann allzeit kurz und gut. Sein Witz ist natürlich, seine Laune fröhlich, seine Satyre gutmüthig, und seine Empfindung wahr. Bei aller Mannichfaltigkeit der Materien tritt ein stehender Charakter hervor – der zum gemeinen Manne sich freundlich herablassende, mit dessen ganzer Denkweise vertraute, bei Scherz und Ernst sich gleichbleibende, achtungswerthe Hausfreund. Und so denn auch die Sprache. Man hört einen Gebildeten reden, aber mit Beziehung auf den Leser, der ihn verstehen und liebgewinnen soll. Seine Worte sind ungesucht, und seine Sätze einfach und kurz, auf daß sie dem Geistesauge des gemeinen Mannes überschaulich seien, der in periodis sich nicht geübt hat, und nicht einmal an periodos gewöhnt ist. Er ist reich an Bildern und Figuren; aber er wählt Bilder, die aus dem gemeinen Leben entnommen sind, und Figuren, wie sie wol der gemeine Mann selbst – denn auch der ist [196] ein Redekünstler in seiner Façon – natürlich gebraucht. Wie der gemeine Mann, ist er ausführlich, wo das Interesse der Handlung steigt, und redselig bei guten Thaten und lustigen Schwänken. Die Fehler des Ausdruckes selbst benutz er weise zu Tugenden. Bei aller äußern, scheinbaren Lockerheit in den Sätzen und Satzreihen, die keine künstliche Fügung zulassen, herrscht doch der bündigste innere Zusammenhang; der aufmerksame Geist wird sanft über die vorbereitenden Stellen hinweggehoben, leicht und sicher in die Mitte der Erzählung eingeführt, und mit dem Schlusse ganz befriedigt gelassen. So kommt es denn, daß seine Erzählungen – ich rede immer nur von den mehr ausführlichen, die einer poetischen Darstellung fähig waren – von dem Gebildeten, wie von dem Ungebildeten mit gleicher Zufriedenheit gelesen werden. Wenn dieser die Rede eines Mannes gern vernimmt, der ihm etwas Trauliches in seiner Art sagt, und nicht satt werden kann in der Anschauung des lieben, vornehmen Herrn, der sich herabläßt zu seinem blöden Verstande und harten Gemüthe, ja sogar zu seinen kindlichen Neigungen und gemeinen Späßen, so leiht ihm dagegen auch der andere gern sein Ohr, weil er sich auf eine wunderbare Art, gleich einem sanft Träumenden, in eine Region des Denkens und Sinnens versetzt fühlt, die ihn anheimelt und sehnsüchtig macht, wie die verlorne Jugend in Stunden glücklicher Erinnerung.

Fußnoten

1 Nr. 60. »Ei so lüg!« ist ein Plagiat aus der »Dorfzeitung«.

Anm. des Setzers.

3. Bemerkungen zu den Abenteuern der sieben Schwaben

3. Bemerkungen zu den Abenteuern der sieben Schwaben.

Die Geschichte von den sieben Schwaben, welche zusammt mit einem Spieß auf einen Hasen losgehen, hat seit undenklichen Zeiten in ganz Deutschland eine Berühmtheit bekommen, wie kaum eine andere Sage. Das drollige Abenteuer ging nicht nur im Gedächtniß des Volkes, von Mund zu Mund bis auf unsere Zeiten herauf, 1 sondern [197] es wurde auch durch die Schrift, den Pinsel und den Grabstichel 2 vielfältig dargestellt, und gleichsam verewigt. Ja, ich wüßte kein ähnliches Abenteuer, das eine so poetische und philosophische Bedeutung unter uns erhalten hätte, als der Kampf des ehrlichen Ritters aus der Mancha gegen die Windmühlen; wie denn (um nur Ein Beispiel der Art anzuführen) selbst der tiefsinnige Hamann Gelegenheit fand, in einem Briefe an Fr. H. Jacobi 3 diese Sage unter seine divertissements philosophiques einzumengen.

Die Veranlassung zu dieser Erdichtung – denn dafür müssen wir sie doch gelten lassen – mag, wie bei ähnlichen Fällen, in dem Charakter des Volkes selbst zu suchen sein. Die Männlichkeit der Schwaben einerseits, anderseits ihre Treuherzigkeit mochten wol irgend einem »Fatzvogel« den Einfall gegeben haben, das Uebermaß der erstern, den Hang zu eiteln Abenteuern, und den Schein der letztern, einen guten Grad von Verstandesbeschränktheit, dem Spotte preis zu geben, und den Ruhm der tapfern und ehrlichen Schwaben dadurch zu läutern und zu reinigen, daß er nicht in Eitelkeit ausarte 4. Ja, wenn mann den Ursprung und [198] die Fortleitung ähnlicher Geschichten von sogenannten Schwabenstreichen bedenkt, so kann man sogar mit der größten Wahrscheinlichkeit muthmaßen, daß diese Sage auf schwäbischem Boden selbst gewachsen, und ursprünglich vielleicht nur irgend einer Gemeinde oder einem Gau zum Trutz erdacht worden sei. So viel ist gewiß, daß noch im Verlauf des vorigen Jahrhunderts, der beliebte schwäbische Volksdichter Sebastian Sailer 5, nicht nur diese, sondern auch andere, den Muth und Verstand seines Volkes eben nicht besonders rühmende Sagen zur Ergötzlichkeit seiner eignen Landsleute dichterisch (in seiner Art) bearbeitete und zum Theil in Druck ausgehen ließ 6. Diese Erscheinung kann wenigstens demjenigen nicht auffallend sein, welcher weiß, daß gerade ein Volk, wie ein Individuum, welches der eigenen Tüchtigkeit und Würdigkeit sich ganz bewußt ist, am wenigsten Anstand nimmt, sich selbst gutmüthigem Spotte preis zu geben, während der, dessen Tugend und [199] Einsicht von zweideutiger Art ist, mit Eifersucht für die Ehre bis auf den kleinsten Punkt wacht, und leicht in seiner Eitelkeit verletzt werden kann.

Für jeden Fall ist diese Sage von einer sinnvollen Bedeutung und einer sehr ergötzlichen Art, so daß es wol der Mühe lohnte, wenn der Harausgeber die Spur derselben nach allen Seiten hin verfolgte, und, was er in schriftlichen Denkmalen davon fand, oder in mündlichen Ueberlieferungen vernahm, aufzeichnete. Da ward es ihm aber bald wahrscheinlich, daß jene Thatsache nicht so isolirt dastehen könne, sondern wol nur die Haupthandlung in einer Reihe von Abenteuern bilde. Diese Muthmaßung rechtfertigte sich schon dadurch, daß die sieben Helden, wie sie gewöhnlich nach ihren Spitznamen bezeichnet werden, aus verschiedenen Gegenden Schwabenlands zusammen kommen, das wol erst nach langen Umschweifen, vorgängigen Einleitungen und gelegentlichen Zwischenacten geschehen mochte. Sodann dichtet die mündliche Volkssage wirklich den sieben Schwaben noch so manches andere Abenteuer an, z.B. wie sie durch das blaue Meer schwimmen, u.A. Auch ist jene Handlung selbst possirlich großartig genug, daß sich gar noch viele andere an sie anknüpfen lassen, ohne ihrer Originalität und ihrer äußern und innern Bedeutsamkeit Schaden zu thun.

Die Hoffnung, einen solchen Fund zu machen, war freilich gering; wenigstens mußte auf die Meinung Verzicht gethan werden; daß irgend einmal ein solches Volksbuch vorhanden gewesen sei, da selbstGörres in seiner Literaturgeschichte »deutscher Volksbücher« davon nicht eine Silbe Meldung thut. Der Zufall war jedoch günstig. Es fand sich unter vielen andern Manuscripten unbedeutenden Inhalts, welche wahrscheinlich aus irgend einer aufgelösten schwäbischen Reichsabtei in die dritte und vierte Hand gekommen waren, ein Manuscript vor, des Titels und Inhalts, wie es nun dem geehrten Leser gedruckt vorliegt.

Leider ist aber die Handschrift, wie sie auf uns gekommen, unvollständig, und die Geschichte bleibt daher so lange mangelhaft, bis der Zufall etwa ein anderes Exemplar [200] dem Herausgeber in die Hände spielt 7. Auch, scheint es, ist das Manuscript aus einer neuern Zeit, die Copie einer andern fehlerhaften Copie, und man bemerkt beinahe auf jeder Seite Spuren einer modernen Ueberarbeitung in der Wahl der Wörter und in der Folge der Sätze 8. Dessen ungeachtet, und obgleich diese volksthümliche Sage in dieser unvollkommenen Gestalt für die Wissenschaft der Sprache und für die Geschichte der Sitten nur einen sehr untergeordneten Werth haben mag: so hielt man die Bekanntmachung derselben doch ihres hohen Alters und ihrer unstreitbaren Aechtheit wegen auch aus sonstigen Gründen für nützlich und verdienstlich.

An und für sich schon müssen gute Volksbücher – die es in der That, nicht blos dem Namen nach sind – als willkommene Gaben geachtet werden, und gerade solche am meisten, welche die Ergötzung der ehrbaren Menge, und [201] nichts als Ergötzung zum Zwecke haben. Alle Welt sammelt und schreibt für den Müßiggang der sogenannten höhern, gebildeten Stände, und sucht ihnen die lange Weile, welche ihnen übrig bleibt zwischen ihren vielen andern Vergnügungen, durch allerlei kurzweilige Schriften zu vertreiben. Nur die größte, ehrwürdigste Classe von Menschen geht bei dem jährlichen Leipziger Markte leer aus an vergnüglichen Dingen; denn was dem gemeinen Manne sonst geboten wird an Moralien und landwirthschaftlichen Katechismen, das ist wol nicht geeignet, sein Gemüth zu erheitern, und ihn, durch Ausruhen seines Geistes von Sorgen und Gedanken aller Art, tüchtig zu machen zu freudiger Handanlegung an sein Werk. Mancher Volksfreund glaubt viel, ja alles gethan zu haben, wenn er Lehren gibt und nichts als Lehren; er bedenkt aber nicht, daß die Bildung des Menschen ebenfalls eine Art von Dreifelderwirthschaft sein solle, und daß der Geist manche Zeit mitunter brach liegen müsse, auf daß er Kraft gewinne, wiederum Samen aufzunehmen und Früchte zu tragen.

Von einer ächten Volksgeschichte, die diesen Nutzen, nämlich Vergnügen, hervorbringen soll, darf man darum auch nichts anders fordern, als daß es eine »lustige oder doch anmuthige Historie« sei, ohne alle Moralien und Nutzanwendungen. Die tiefere Bedeutung zu erforschen, welche gemeiniglich solchen Erzählungen mit oder ohne Bewußtsein des Verfassers zu Grunde liegt, ist zwar lediglich nur Aufgabe für den müßigen Gelehrtenwitz; eine Ahnung desselben entgeht aber wol auch dem gesunden Menschenverstand des gemeinen Mannes nicht, obwol er es nicht in deutliche Begriffe zu fassen oder in Worten auszudrücken vermag. Ueberhaupt abstrahirt ein ächtes Volksbuch, wie die ächte Poesie, zunächst von allem Stoffe, und will nur durch seine Form gefallen. Darum kann man ihm auch nicht gewisse Unanständigkeiten zum Vorwurfe machen, die es eben nur in Beziehung auf die sogenannten gebildeten Classen sind, und den Geschmack des gemeinen Mannes nicht im fernsten beleidigen. Unanständig sind nur, hier wie überall, die Unsittlichkeiten, wohin eben nicht blos die Zoten zu rechnen sind, sondern überhaupt alles und [202] noch mehr, was das jedem Menschen eingeborne Gefühl für Unschuld, Recht und Wahrheit beleidiget. Die Sitten- und Splitterrichter, welche ein so hartes Urtheil über so manches Volksbuch ergehen lassen, mögen daher lieber den nächsten besten moralischen Roman vornehmen, und daran ihren kritischen Scharfsinn versuchen, um unter der sehr decenten Form das wahrhaft Verderbliche, Unmoralische in Gesinnung und Handlung auszuspüren, was in solchen Büchern »für Gebildete« verborgen liegt. Ich wenigstens kenne z.B. keine so gemeine Gaunergeschichte (von Eulenspiegel und den Schildbürgern zu schweigen), welche so unsittlich wäre, wie so manche hochgepriesene Schicksals-Tragödie der neuesten Zeit.

Daß die vorliegende Geschichte der sieben Schwaben von aller Unsittlichkeit der Art frei ist, kann ihr, als Poesie, natürlich zu keinem Vorzug gereichen. Indessen wird man ihr, so weit bei ihrer Unvollständigkeit ein Urtheil möglich ist, doch auch nicht allen dichterischen Werth absprechen können. Der Anfang und der Schluß wenigstens ist nach einer wahrhaft epischen Form angelegt; und wenn die folgenden Reiseabenteuer mit der Haupthandlung selbst in keinem oder doch nur entfernten Zusammenhang stehen, so dienen sie wenigstens zur Entwickelung der verschiedenen Charaktere, und gewinnen wol auch dadurch einigermaßen Zusammenhalt, daß sie theilweise mit der Prophezeiung der Zigeunerin in Einklang treten. Abgesehen aber auch von allem poetischen Charakter, dürfte diese Geschichte, in ihrer anspruchlosen Einfalt, immerhin noch Reiz genug haben, für das Volk und jene, die des Volkes Sitte kennen und lieben. Sie empfiehlt sich schon, unsers Bedünkens, durch die gutmüthige Laune, die im Ganzen herrscht, und die nicht nur uns mit den sieben Schwaben, sondern auch die Landsleute der Sieben selbst mit dem Dichter aussöhnen möchte. In der That, wenn man die grundehrlichen Menschen auf ihrer Wanderung so allgemach verfolgt, und ihre Gesinnungen und Handlungen vor sich so nackt ausbreiten sieht, so bekommt man beinahe Lust, von der Partie zu sein, und das drollige Abenteuer mit ihnen zu bestehen. Sodann versöhnet mit der Schalkheit, die in der Sage [203] liegt, so mancher gutmüthige, ja edle Zug in dem Charakter der Gesellen; und wenn einerseits der Spiegelschwab das, dem Schwaben inwohnende Princip der Klugheit sehr wohl repräsentirt, so kann der Thersites unter den Helden, der Nestelschwab, dessen Herkunft, nach der Sage, unbekannt ist, füglich als der Repräsentant der Dummheit unter den andern Deutschen gelten, und ihnen, falls sie sich ihrer Gescheidtheit zu sehr rühmen, diese Personnage vorgerückt werden. Denn Gott verhüte, daß das Necken unter den deutschen Landsleuten abkomme; es wäre dies ein übles Anzeichen, daß auch das Lieben unter ihnen abgekommen sei.

Es sei erlaubt, noch auf einen Umstand aufmerksam zu machen, welcher dem Sprachliebhaber von einiger Wichtigkeit sein dürfte. Das Buch ist, möchte man sagen, in einem schwäbischen Hochdeutsch geschrieben, das heißt, in der Art und Weise, wie ein Schwabe, der sich gewöhnlich des Hochdeutschen bedient, inmitten seiner Landsleute mitunter eine provinzielle Form unter die hochdeutsche einmengt, was nicht nur für das, einigermaßen daran gewohnte Ohr sehr gut läßt, sondern auch dem Gemüthe wohl thut, welchem das Einheimische, wo es sich nur findet, lieb und werth ist. Darum hielt es der Herausgeber für seine Pflicht, in dieser, wie in jeder andern Hinsicht, gewissenhaft zu verfahren, und das Buch seiner Materie und Form nach so zu lassen, wie er es gefunden. Der Sprachliebhaber, denken wir, wird so manches schöne, bedeutsame Wort finden, von dem er wünschen möchte, daß es ins Schriftdeutsche übertragen würde, welches oft gar arm ist, besonders an solchen Ausdrücken, die zur Bezeichnung gemeiner Gegenstände und niedrig komischer Zustände erforderlich sind. Wenigstens nehmen sich gar viele dieser Wörter in dem Zusammenhang der Rede, und auf dem Rasen, wo sie gewachsen, ungleich schöner und lebendiger aus, als wenn man sie nur, mit Stumpf und Stiel ausgerissen, in den Herbarien gelehrter Sammler kennen lernt.

Zum Schlusse wollen wir hier noch ein, von uns erst jüngsthin entdecktes, wichtiges Document mittheilen. Es fand sich unter dem hinterlassenen Trödel eines geistlichen Herrn als Handschrift vor, die zwar selbst, den Charakteren [204] nach, dem ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts anzugehören scheint, aber zugleich durch den Beisatz am Schlusse »ex antiquo Mscr.« das höhere Alter des Gedichts bekundet. Denn Gedicht müssen wir doch wol dieses opus nennen, nicht nur weil es in zierlichen lateinischen Hexametern abgefaßt ist, sondern noch mehr wegen dessen wahrhaft epischer Anlage und Ausführung. Den Namen des Verfassers auszumitteln, wird wol unmöglich sein; daß er aber ein Schwabe gewesen, steht außer Zweifel; es ergibt sich dies aus der Tendenz des Gedichtes, das als eine förmliche Ehrenrettung der sieben Schwaben und ihres heldenmüthig bestandenen Straußes gelten mag, und schon darum der Mittheilung werth ist.

Septem Suevorum bellum cum lepore gestum.

Insignes Suevorum animos et proelia campis
Teutonicis commissa cano, celebremque triumphum,
Quem dederat Suevis leporum devicta propago,
Carminibus celebrare meis mens conscia gestit.
Alma Diana! fave coeptis, quia proxima sylvis
Arva rei seriem proponent: dexter adesto
Tuque, Gradive Pater, dum fortia proelia canto.
Forte per apricos timidus spatiatus agellos
Gramina carpebat nunquam ante lepusculus oris
Teutonicis visus. Pecus est, si corpora spectes,
Exiguum: huic celeresque pedes et dentis acuti
Ordo stat, ore minax, bifidum os, oculique micantes
Ingentes pandunt orbes, tum barba colorque
Glaucus et Arcadio nil concessurus Asello,
Auribus erectis hostes formidine complet.
Talis erat: sic ille oculos, sic ora pedesque,
Sic aures dentesque illi, sic caetera membra.
Vix ita Germanis timidus lepus appulit oris,
Extimuere omnes, gentem nova cura fatigat
[205]
Sollicitam; pars una trucem putat esse leonem,
Acturum praedas pecorique hominique nocivas;
Pars timet una ferum Lybico superesse Draconem;
Ex antro Herculeam credit pars sanior Hydram.
Ergo omnes commune malum communibus armis
Propulsare student, totamque in proelia gentem
Accersunt et adesse jubent juvenesque senesque,
Quos illic vel Rhenus alit, vel parte sinistra
Moenus et Albis habet, rapidi quos Savus et Ister,
Quos Lycus aut Ilarus nutrit. Mox Francones omnes
Westphaliaeque viri, Saxo, Helvetus, Alsata, Bojus,
Austriadumque chorus properat, strumosa Tyrolis
Arma virosque suos legat, mox Suevia mittit
Algoios Lyciosque feros, et Norica pubem
Terra suam, Nicarusque suam Tubarusque ministrat;
Convolat ex nigris fere tota Hercynia sylvis.
Ingens turba virum concordi in proelia mente
Se parat, et variis leporem oppugnare sagittis
Quisque studet, patriaeque petit reparare decorem.
Jam prope funestis turba innumerabilis agris
Constitit, arma micant, jaculis, sudibusque praeustis
Bella parant, altisque animos hortatibus augent.
At lepus, interea generoso percitus oestro,
Nunc quatit arva pede, et nunc ambas arrigit aures.
Mox oculis, mox ore minas intentat et ungues.
Jactatis mox Franco armis velocior Euro
Aufugit et timidis implens clamoribus auram:
Huc, ait, huc socii, me saeva pericula terrent;
Qua, data porta, sequi jubes – mors certa manenti est!
Praevius ibo prior, ne vos discrimina mortis
Tanta premant. Fugite! Oh, est alea plena periclis!
Westphalus arma jacit trepidus, certamque salutem
Franconis exemplo pedibus vestigat anhelis:
Anxius, ah pernas! pernas, inclamat, edaces
Huc date nam miserum cruciaverat ardor edendi
Et furibunda fames. Sequitur dein Alsata, panem
Esuriens, vitaeque timens, vineta petebat.
Helvetus ad vaccas, stimulatus amore mamillae,
[206]
Pergit et esse domi, nolensque volensque coactus,
(Patrius arsit amor)vaccarum jam ubera mulget.
Cocta Ceres lupulo placuit Saxo tibi! Suillam
Esuriens Bavarus, formidine captus uterque
Terga dat. Austriacum gelidus tremor opprimit, atque
Accelerare fugam reliquos jubet: horridus illi
Marcescit cruor in venis! flascone rigentem
Conatur revocare animum, quem terror ademit.
Struma Tyrolenses, morsu ne forte periret,
Quem daret auritus mordace lepusculus ore,
Sollicitos fecit, timidique recessibus altis
Montanisque jugis cupidi se condere, jactant
Sarcinulas collo carnosas. Sola timorem
Exemit fuga, sola manet generosa juventus
Suevorumque senes: et septem ex omnibus aptos
Elegere viros, queis texerat ocrea flavas
Firma suras: caligis sunt visa ex ordine pulchro
Dependere suis formosa ligamina nodis.
Corpore proceros major sed corpore virtus
Dicitur exornasse viros, laudisque cupido
Arma dedit, jaculoque manus instruxit acuto.
Tum reliquos inter barba senioque decorus
Dextra hastam quatiens Jaculus(sic nomen habebat)
Alloquitur socios: Animoso Marte premamus
Invisum terris monstrum! tu praevius ito
Veitle, sequar propiore gradu: tu proximus esto
Michel(sic proprio compellat nomine quemque),
Vosque alii unanimes generosum claudite coetum;
Alter ego Alcides Hydra mucrone necata
Nobile depulso referam super hoste tropaeum.
Dixit et audaci nisu conversus in hostem
Praetendit manibus jaculum, vulnusque minatur.
Conclamant omnes avidi certare: Petamus
Has partes, has, has:! Subitis terroribus actus
Parvulus exsiliit timidus lepusculus, atque
Saltu agili nemora alta petit quaeritque salutem.
Insequitur generosa cohors, impune volantem
Per sylvas leporem, tandemque labore peracto
Atque fatigati reduces risere vicinos,
[207]
Queis animos confregit iners vecordia. Franco
Erubuit, fremuêre alii, queis pectora livor
Exitiale furens rosit: victoria Suevos
Nobilitat! semper generosa propago triumphat.
Eja age, Suevigenas quisquis colis accola terras,
Admirare viros, animosaque facta per orbem
Decanta. Aeterno scribatur marmore dignum:
Suevia nobilium genitrix est sola virorum!

Fußnoten

1 Das, unsers Wissens älteste, hieher bezügliche, schriftliche Document steht in Wilhelm Kirchhof's Wendunmuth, d.i. 550 züchtige Historien. Frankf. 1589. – Den Schwank hat auch die Volkspoesie unter ihre Possenspiele aufgenommen. Siehe »Des Knaben Wunderhorn« Th. II. S. 445.

2 Das Gemälde auf dem Anger zu München, dessen in unserer Geschichte Meldung geschieht, datirt sich v. J. 1674. – Eines Holzschnittes v. J. 1688 erwähntvon der Hagen in seinem »Narrenbuch« S. 494.

3 Jacobi's S. W. IV, 3. S. 214.

4 Ueber den Muth und die Tapferkeit der Schwaben war von jeher, im Ernste, nur Eine Meinung unter ihren deutschen Genossen. Es ist bekannt, daß sie von Alters her das Recht besaßen und ehrenfest behaupteten, in den Schlachten des deutschen Reiches den Kampfreihen zu eröffnen; und noch bei der Krönung Friedrichs des Dritten zu Rom übten sie dies ihr altes Recht aus, die St. Georgs-Fahne voraus tragend (Epitome laudum Suevorum bei Goldast). – Aber auch sonst galten die Schwaben als faustgerechte und kampffertige Männer. Johann Agricola nennt sie irgendwo »Raufbolde und große Hansen, als die nahe bei der Schweiz wohnen.« Auch von ihrer Weisheit und Wissenschaft muß man schon zu jenen Zeiten große Meinung gehabt haben. Sebastian Franck sagt von ihnen: »Die hungrigen und dürren Schwaben, und die nüchternen Itali und Saraceni sind subtil und hohe Künstler in allen Künsten, und nit die vollen matten Wein- und Bierzapfen.« Und anderswo: »Das hungrig Schwabenland, item das arbeitselig Niderland gibt mehr Künstler dann alle volle Lande und Leute« (Sprüchwörter; Frankf. 1601 pag. 210 u. 216). – Wie Schwaben damals als »Hungerland« gelten mochte, ist schwer zusammen zu reimen mit jener Stelle aus »Reinecke Fuchs« VI. Gesang (nach Goethe'scher Uebersetzung):

Laßt uns nach Schwaben entfliehn! – –

– – – Hilf Himmel! es findet

Süße Speise sich da und alles Guten die Fülle!

5 S. dessen »Schriften im schwäbischen Dialekte;« gesammelt und mit einer Vorrede versehen von SixtBachmann. Buchau 1819.

6 Eine andere Bearbeitung dieser Sage, in gereimten Versen, erschien im Jahre 1763 zu Nördlingen, unter dem Titel: »Heldenmäßige und weltberühmte Haasenjagd der sieben ehrlichen Schwaben, beschrieben von einem unwürdigen Landsmann schwäbischer Nation.« (1 Bog. in 8°). Am Schlusse heißt es:

Willst wissen, wer ich sei,

Ein Schwab bin aus dem Ries,

Mein Nam steht auch hierbei,

Ich schreib mich Riamgis.

Auch Heinrich Bebel, ein Würtemberger, spickte seine Facetias damit. Ueberhaupt sind alle älteren Geschichtbücher voll von solchen ähnlichen drolligen Begebenheiten, welche die pinselhafte Schwabeneinfalt (freilich auch anderer Nationalen) darstellen.

7 Den weitern Nachforschungen des Herausgebers seit dem Jahre 1827, wo die erste Auflage des »Volksbüchleins« erschien, ist es wirklich gelungen, ein anderes, dem Anschein nach vollständiges Exemplar dieser abenteuerlicher Geschichte zu entdecken; und es wurde nach diesem Texte bereits i. J. 1832 eine »Ausgabe zunächst für Kunstfreunde« mit zehn lithographirten Abbildungen, nach Zeichnungen von J. Fellner, veranstaltet. Seit der Zeit – wie es den emsigen Forschern zu geschehen pflegt – haben sich noch Fragmente eines dritten Exemplars vorgefunden; und wir entsagen nicht aller Hoffnung zu fernern Entdeckungen, die wir denn zu seiner Zeit mitzutheilen nicht ermangeln werden.

8 Ueberhaupt scheint es, daß diese Geschichte zu verschiedenen Zeiten mit Zusätzen vermehrt worden sei. Gewiß ist, daß der Eingang zum Kap. S. 149 unsers Volksbuches eine Anspielung ist auf ein historisches Factum, das sich zur Zeit des dreißigjährigen Krieges begeben hat. Die Geschichte, worauf der Scherz hindeutet, ist diese: Das Städtchen Mindelheim, das Dominium der Freundsberge, wurde im Schwedenkriege einstmals von einem schwedischen Detachement heimgesucht. Es rückte an einem nebeligen Morgen, unbeachtet, bis an das Thor, und die zwei Bürger, welche Wache hielten, wurden sogleich niedergestoßen. Da die Feinde jedoch keine Bewegung im Städtchen sahen, so befürchteten sie einen Hinterhalt, und begaben sich wieder unverrichteter Dinge von dannen. Nur ein einziger Schwede wagte es und eilte in die Stadt, um sich bei dem nächsten Bäckerladen mit Proviant zu versehen. – Um dieses unbedeutenden Umstandes willen werden die wackern Städter noch heut zu Tage, mit einer Variante, von ihren lieben Landsleuten geneckt.

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TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Ein Volksbüchlein. Erster Theil. Bemerkungen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-14B1-7