9. Die Fabel geht dich an.

Die alten Weisen haben eine gute Art erfunden, wie man den Menschen die Wahrheit fein zeigen mag, ohne sie ihnen grob ins Gesicht zu sagen. Sie hielten ihnen nämlich einen wunderbarlichen Spiegel vor, darin allerlei Gethier und seltsame Dinge vor das Auge kamen, und ein eben so ergötzliches als erbauliches Spiel machten. Das nannten sie eine Fabel; und was nun die Thiere Thörichtes oder Kluges darin verrichteten, das mochten die Menschen [55] auf sich beziehen, und bei sich denken: die Fabel geht dich an. Und also konnte es Niemand für ungut nehmen. Als zum Exempel: Da waren zwei Berge, und auf jedem Berge stand ein Schloß, und ein Hund durchlief das Thal, und schnüffelte vor sich hin, als suche er Rebhühner oder Mäuse, um seinen Hunger zu stillen. Da erklingt auf einmal die Trompete auf dem einen Schloß, wie dies in derselbigen Zeit zu geschehen pflegte, wenn zum Essen gerufen wurde, und der Hund läuft sogleich den Berg hinauf, um hier etwas zu erschnappen. Wie er aber auf der Mitte des Berges ist, da hört der Trompeter auf zu blasen, und es fängt der Trompeter auf dem andern Schlosse an. Da denkt der Hund: Hier hat man schon gegessen, und dort wird man essen; und springt wieder herab, und den andern Berg hinauf. Jetzt aber fängt der erste wieder zu trompeten an, und der andere hört auf; und der Hund läuft nun wieder herab und wieder hinauf, und macht so fort, bis endlich alle beide Trompeter stillschweigen, und die Mahlzeit da und dort vorüber ist. Nun rathe einmal, günstiger Leser, was der Weise mit diesem vorstellen will, und wer der Narr sei, der sich müde läuft hin und her, und nichts erhascht weder hier noch dort?


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TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. 9. Die Fabel geht dich an. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-1579-1