Der Lügner.

Als die Großmutter wieder eine Pause machte, nahm der Großvater das Wort, und erzählte folgende Geschichte:

Es begab sich, daß ein frommer Rittersmann ins Wälschland nach Rom pilgerte. Unterwegs gesellte sich ein lustiger Bruder zu ihm, den jener sofort als Bedienten mit sich nahm. Dieser Geselle hatte aber die böse Gewohnheit, daß er entsetzlich log, was der Ritter nicht leiden mochte. Eines Tags erzählte er ihm: er habe auf seinen Reisen einen Hund gesehen, der so groß gewesen sey, wie ein Elephant. Das verwies ihm der Ritter, und [75] sagte, das sey' gewiß erlogen. Jener aber betheuerte und schwor, daß es wahr sey, und daß nicht ein Haar daran fehle. Da dachte der Ritter: Wart, deine Lüge will ich dir so schwer machen, daß du sie gern abschüttelst. Er sagte nach einiger Weile zu dem Gesellen: Nun kommen wir bald zu einem Flusse, den wir übersetzen müssen; und es ist die Eigenschaft dieses Wassers, daß derjenige, welcher an demselben Tage gelogen, ohne Rettung darin ersaufet. Das fiel dem Lügner etwas schwer aufs Herz, und er fragte: wie weit es noch hin sey? Der Ritter antwortete: nicht mehr gar so weit. Da sagte jener, von Furcht getrieben: »Mit Verlaub! habe ich nicht vorher zu Euch gesagt: der Hund, den ich gesehen, sey so groß gewesen, wie ein Elephant?« »Ja, antwortete der Ritter, das hast du gesagt.« »Da hab' ich mich versprochen, sagte der Geselle; ich wollte sagen, er sey so groß gewesen, wie ein Ochs.« Sie gingen darauf eine Weile weiter, und der Ritter sagte: Nun sehen wir schon in der Ferne den Fluß, über den wir setzen müssen. Der Geselle sah trübselig hinaus und schwieg still. Kurz darauf sagte er aber: »Wenn ich's so recht bei mir bedenke, so erinnere ich mich, daß jener Hund doch nicht ganz so groß gewesen ist, wie ein Ochs; aber größer war er sicherlich, als ein Kalb, ein gemästetes; das kann [76] ich Euch sagen, und ich laß mir nun nichts mehr abmarkten.« Der Ritter sagte darauf kein Wort, sondern ritt weiter, und sie standen nun am Flusse. Wie nun der Ritter schon im Wasser war, schaute er nach dem Gesellen um, und sah, daß er noch am Ufer wartete, und sich am Kopf kratzte. »Nun was ist's? fragte der Ritter; folgst du, oder folgst du nicht?« Der Geselle sagte: »Mit Vergunst, Herr Ritter! daß ich Euch etwas sagen will. Der Hund, von dem ich zu Euch gesprochen; er war eigentlich nicht viel größer, als ein anderer Hund, oder vielmehr gerade so groß, wie Ihr wißt, daß die Hunde alle sind.« Nachdem er dieß Geständniß gethan, ritt auch er in das Wasser, und beide kamen glücklich ans andere Ufer. Als sie wieder im Trockenen waren, da las ihm aber der Ritter ein tüchtiges Capitel; und späterhin, so oft es dem Gesellen beifallen wollte, zu lügen und aufzuschneiden, so erinnerte er ihn an den Hund und an das Wasser, das keinen Lügner duldete.


* * *


Nachdem der Großvater geendet, wendete sichFritz wieder zur Großmutter, und sagte, in einem Tone, der fast wie Spott klang: »Als die Küchle gebachen [77] waren – – wie heißt's weiter?« Die Großmutter drohte dem Schelm mit dem Finger, und fuhr dann fort:

Als die Küchle gebachen waren, sagte die Mutter: »Die armen Kinder des Nachbauern möchten auch gern Kirchweih haben. Ihr könnt wohl warten bis Mittag, wo andere Leute essen.« Also wurden die Küchle eingepackt, und hinüber getragen zu des Nachbauern seinen Kindern. »Was man den Armen thut, tragt Gotteslohn, sprach die Mutter; und die Creatur schreit zum Himmel, und bringt Segen oder Fluch. – Habt ihr die Geschichte von den sechs Raben nicht vergessen, und dem Schwesterle, das sie gefüttert? Hört nun, wie die Geschichte ausgegangen.«

Das fromme Lisele war von dem Tage an, als die Raben ausgeblieben, nicht mehr bei frohen Sinnen. Es schmeckte ihr kein Vesperbrod mehr, seitdem sie es nicht mehr mit ihren lieben Vögeln theilen konnte. Da kam sie auf den Gedanken: als habe vielleicht das Brod den Raben endlich zu schlecht geschienen, und sie seyen darum ausgeblieben. Und sie bat die Mutter, daß sie ihr doch einmal ein einziges Küchle bachen möchte, aber ein recht großes. Die Mutter erschrack darob, wie ihr leicht denken mögt, denn die Küchle gemahnten sie an jenes frühere [78] Unglück. Sie konnte aber dem Lisele, dem einzigen Kinde, nichts abschlagen, und so bachte sie denn eines Tags Eines, und zwar ein so großes, daß es die ganze Pfanne ausfüllte. Das nahm Lisele, die nun sieben Jahre alt geworden, und trug es mit sich fort in den Garten, und rief:


Raben schwarz, mit dem Schnabel roth,

Kommet her zum Vesperbrod.


Doch die Raben kamen nicht; aber, indem sie die Worte gesprochen, entwitschte ihr das Küchle, und es wargelte fort auf dem Boden, wie ein Rad. Lisele lief ihm nach, um es einzuholen; aber das Küchle rollte fort und fort, jetzt bergab, dann gradaus, dann ums Eck herum, immer weiter und weiter, bis endlich ein Berg von lauterm Krystall am Wege stand. Das Küchle aber rädelte sich auch den Berg hinauf, und Lisele konnte nicht nach auf der glatten Wand, weil sie immer ausrutschte. Das arme Mädle wurde nun sehr traurig, und fing an, bitterlich zu weinen. Da öffnete sich ein Thor im Krystallberg, und heraus trat eine weiße Frau zu ihr, die sagte: »Weine nicht! Dein Küchle ist am rechten Orte. Willst du aber selbst sehen, wo es hingekommen, so nimm diesen Ring, stecke ihn an den Finger, und reibe ihn.« Lisele nahm den Ring mit Dank an, und that, wie ihr gerathen ward. [79] Und, sieh da! husch! flog sie als Fliege davon, den Krystallberg hinauf, wohin das Küchle den Weg genommen. Oben am Gipfel bemerkte sie eine weite Oeffnung, und wie sie hinein schaute – was meint ihr, was sie da sah? Sechs Junker, in schönen, seidenen Kleidern, saßen da um einen großen Tisch, in dessen Mitte, auf einer silbernen Schüssel, das Küchle lag. Es war aber ein hoher, weiter Saal, darin sie saßen, Boden und Wände von eitelm Silber und Golde, und übersäet mit funkelnden Edelsteinen, so daß es im Himmel nicht schöner seyn könnte. Lisele bekam Lust, in den Saal zu fliegen, und die schönen Junker in der Nähe zu besehen – wie denn die Mädle alle neugierig sind. Und sie flog sogleich hinab, und setzte sich dem ältesten auf die Nase. Die Junker waren in lebhaftem Gespräch über das Küchle, wie es so plötzlich herein gekommen, und was wohl die Mutter mache und das liebe Lisele. So konnte sie denn von einem zum andern fliegen, und jeden genau besehen, ohne daß sie bemerkt wurde. Endlich aber sah sie der jüngste, und er rief: »Wie kommt denn diese Fliege herein? Jagt sie hinaus!« Und nun machten sie Alle Jagd auf die arme Fliege; diese flog hin und her, auf und ab, in voller Angst, erschlagen zu werden, bis sie endlich ganz müd und matt an der Wand hinab fiel in ein Eck, wo man [80] sie nicht mehr bemerkte. Als sie wieder zu sich gekommen, so stand sie wieder in ihrer wahren Gestalt da, wie sie leibte und lebte; und sie fürchtete und schämte sich, unter so vielen Junkern allein da zu seyn. Diese aber, als sie kaum das Mädle erblickten, riefen wie aus Einem Munde: »Sieh da! Schwester Lisele! Ja, wie kommst denn du hieher, liebs Schwesterle? Sey willkommen, Herzenslisele!« Und sie küßten und drückten sie, daß sie sich fast ihrer erwehren mußte. Dann führten sie dieselbe zum Tische; dann mußte sie ihnen sagen, wie's zu Hause zugehe, und ob die Mutter noch auf sie zürne; dann erzählten sie, wie es ihnen ergangen; dan baten sie, sie möchte, wie sie es einst mit ihnen als Raben gethan, das Küchle vertheilen und mit ihnen essen. Das geschah denn auch; und es schmeckte ihnen über die Maßen gut. Während sie nun so fein friedlich und geschwisterlich mit einander aßen, bemerkten sie nicht, daß der Krystallberg sich plötzlich in einen großen Pallast verwandelt habe, mit hohen Fenstern, Thoren und Thüren, und daß sie in einem prächtigen Speisesaal saßen, aus dem man eine schöne Aussicht hatte an zwei wohlangebaute Berge und längs einem fruchtbaren Thale hin. Leute kamen von allen Seiten herbei, und guckten in den Saal, und verwunderten sich über den Pallast, und über die schönen [81] Kinder, die also in Eintracht zusammen wohnten und aßen und fröhlichen Muthes waren.

»Was ist denn aber aus den Eltern geworden?« fragte Fritz neugierig, nachdem die Großmutter eine Pause gemacht. Diese sagte: »Um das haben auch die neugierigen Kinder ihre Mutter gefragt. Weißt du aber, was die Mutter gesagt hat? ... So eben, hat sie gesagt, hab' ich euch das noch erzählen wollen; es kann aber auch ein anderes Mal geschehen.«


* * *

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Büchlein für die Jugend. 4. Das Mährchen von den Kücheln. - Der Reiter und sein Ross. usw.. Der Lügner. Der Lügner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-158E-2