50. Grausamer Scherz.

In England, wo man überhaupt mit den Spitzbuben nicht viel Umstände macht, besteht unter andern auch das Gesetz, daß wenn ein zum Tode Verurtheilter einen andern als Mitschuldigen angibt, sein Zeugniß als vollgiltig angenommen und der bezeichnete Spießgeselle ohne weiteres mitgehenkt wird. Einsmals hat sich einer einen grausamen Scherz erlaubt. Als er zum Galgen geführt wurde, hörte er einen unter den Zuschauern, die am Wege standen, laut sagen: Wie mag wol dem zu Muthe sein! Es lag eben kein Spott in diesen Worten, aber auch kein sonderliches Mitleid, sondern es war nur eine Außerung jener dummstieren Neugierde, welche auch bei uns nicht blos den Pöbel, sondern auch gebildete Herren und Damen hinaustreibt, wenn ein solcher Verbrecher der Gerechtigkeit zum blutigen Opfer gebracht wird. »Wie mag wol dem zu Muthe sein!« sagte der Engländer. Das hörte der Spitzbub, und er sah auf den Mann, der das Wort gesprochen; und er sah, daß er nichts weniger als aus Mitleid so geredet habe. Da wandte sich der Schächer zum Richter, der ihn begleitete, und sagte: »Der, welcher dort unter den Zuschauern stehe, sei sein Mithelfer gewesen im Diebstahl, weshalb er den Tod leiden müsse.« Sogleich wurde nun der Bezeichnete ergriffen und festgesetzt. Im Verhör mochte er läugnen, wie er wollte, es half ihm nichts; es hatte einmal ein Verurtheilter gegen ihn gezeugt, daß er's gewesen, und er selbst [129] konnte nicht beweisen, daß er's nicht gewesen. Also wurde er von den Geschwornen als ein Dieb zum Tode verurtheilt. Des andern Tages saßen ihrer zwei auf dem Wagen zum Galgenziel, und die Straße stand schier leer von neugierigen Zuschauern, da die Fuhr vorbei ging. Nachdem sie an der Richtstätte angelangt, fragte der erstere den andern: »Weißt du jetzt Kamerad, wie einem zu Muth ist, der zum Galgen geführt wird?« – »Ja wohl! Gott sei's geklagt!« sagte der andere. Drauf wandte sich jener an den Richter, und sprach: »Ich nehme mein Zeugniß zurück. Er ist unschuldig an dem Verbrechen, dessen ich ihn geziehen. Ich habe mir nur den Spaß machen und ihm Gelegenheit verschaffen wollen, zu erfahren, wie einem armen Sünder zu Muthe sei.« Also wurde der Angeschuldigte wieder – frei gegeben? Das weiß der Volksfreund nicht, er hofft es aber. Denn wer nach den englischen Gesetzen einmal dem Blutrichter überliefert worden ist – wofür dieser einen eigenen Empfangsschein an den Kerkermeister auszustellen hat – der ist ohne Rettung dem Tode verfallen. Darum danken wir Gott, daß wir nach deutschen Gesetzen gerichtet werden – ich meine nicht die Spitzbuben, sondern uns übrige ehrliche Leute.

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TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Ein Volksbüchlein. Zweiter Theil. 2. Allerlei erbauliche und ergötzliche Historien. 50. Grausamer Scherz. 50. Grausamer Scherz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-15DD-0