Aus der Herrgottsperspektive

(Meinem lieben Kameraden Frau Anna Croissant-Rust, zugeeignet.)


Jüngst trieb michs auf eine Kirchturmplatte,
Weil ich genug des Winkelwerks hatte
Da unten in den staubigen Straßen.
Genug für Aug und Ohr und Nasen.
Ich wollte mirs mal von oben besehn,
Wo frei und rein die Winde wehn.
Auch heißt es, man sei dort oben näher
Dem Herrgott, dem stummen Herunterspäher,
Und wunderlich blicke sichs in die Tiefe
Aus der himmlischen Herrgottsperspektive.
So macht ich mich ans Steigen keck,
Hub wacker die stadtmüden Füße vom Fleck,
Und stieg und stieg.
Nicht eben lang:
Es mündete der Wendelgang
In ein Gemach, so nett und rein,
Als heimte drin ein Mädel fein,
Deß zarte Patschhand froh und frisch
Gern regt den Federflederwisch.
[209]
Blank Tisch und Diele, weiß das Bett,
Ein Epheustock am Fensterbrett;
Von dem kroch friedsam das Gerank
Um einen Wanduhrkasten schlank,
Aus dem es feierlich ticktackte.
Auf der Kommode die gezackte
Schneeweiße Decke sonder Tadel
Verriet die fleißige Häkelnadel.
Auch Vasen viel und bunte Gläser.
Darinnen graue Raschelgräser
Aus Feldblumsträußen, längst verdorrten;
Nippsächelchen von allen Sorten,
In einem Glasschrank schön plaziert;
Ein Bücherbrettchen, braun poliert;
Die Bücher drauf in Goldschnitt fein; –
Macht wohl »Die deutsche Jungfrau« sein,
Kochbücher auch und auch Traktätchen.
Sag eins: was wohnt hier für ein Mädchen?
Ich sah mich um: Kam niemand her,
War, wie wenns ausgestorben wär
Und wär doch jemand in der Nähe.
Und wie ich durch die Thüre spähe,
Die in ein Nebenstübchen führt,
Werd ich von hinten angerührt;
Und bis zum Tod vergeß ich nicht
Des alten Jüngferchens Gesicht,
Das plötzlich in der Stube stund.
[210]
Ein wenig schmerzlich schien der Mund,
So säuerlich und lippenschmal;
Stand drauf geschrieben manche Qual,
Doch Liebe auch und Gütigkeit.
Zur Nase wars ein wenig weit,
Schien mirs, von diesem Lippenbogen.
Streng war und länglich sie gezogen
Von einer Stirne groß und klar.
Still, wie ein graues Taubenpaar,
Die Augen unter dünnen Brauen.
Sie träumten in gelassenem Schauen,
Als sähen sie nichts um sich her.
Als sähen weiter sie und mehr –:
Ein reiches Land voll Friedensglanz.
Vom Scheitel fiel, ein loser Kranz,
Aschblondes Haar zur Schulter weich.
Die Kleidung war nicht arm, nicht reich.
Aus keiner Mode kam sie her,
Wie wenn aus keiner Zeit sie wär.
Ganz wunderlich! Antik beinah,
Wie eine Gürteltunika,
Doch ärmellang und gar zu glatt.
Von Farbe war sie bläulich matt,
Wie ausgewaschen.
Wortelos
Stand ich und schaute, schaute bloß.
Gewöhnlich alles, ganz und gar,
Und doch im Tiefsten – Wunder war.
[211]
Ein zarter Glanz, ein dünner Duft
Lag wie vibrierend in der Luft,
Und aus dem leeren Weben höre
Aus alter Zeit ich leise Chöre,
Uralt, urfern und urvertraut ...
Da hat sie groß mich angeschaut,
Als fragte sie: Was willtu hier,
Du Mensch von unten, im Revier
Der hohen Stille ...? ... Doch ihr Mund
That Frage nicht und Deutung kund.
Als wär er stumm. – Mir wurde bang.
Da, plötzlich, von den Lippen klang
Es lind: »Der Vater kommt.« Und, weiß
Von Haar und Bart, stand still ein Greis
Im Thürgevierte. – Wundersam:
Mich wieder Staunen überkam.
Mir wars, als kennt ich lange ihn,
Als hätt ich einst auf seinen Knien
Gesessen in der Kindheit Jahren,
Gezaust ihn in den weißen Haaren,
Indes er tiefe Worte sprach.
Die klangen lang im Herzen nach,
Bis Gassenlärm sie draus vertrieb;
Oh, Worte heimlich, heilig, lieb ...! ...
Kannt ich den Türmer? Wie ich sann,
Kam näher her, gebückt, der Mann
[212]
Und fragte mich, was mein Begehr
Und meines Kommens Ursach' wär.
»Von oben säh ich gern die Stadt,
Der ich in innrer Seele satt!«
Sprach ich. Da lächelte er eigen:
»Ich will dir alles, alles zeigen.
Doch bist du auch von Schwindel frei?«
»Meint nicht, daß gar so hoch ich sei.«
Erwidert ich. »Nun, eben g'nung;
Es huben schnell dich Beine jung.
Ich brauchte viele tausend Jahr,
Bis ich hier angekommen war.
Altherrgottsruh heißt dieser Turm,
Hoch steht er über Staub und Sturm,
Hoch steht er steinern aufgericht,
Die Menschen sehn den Türmer nicht.
Sie haben hier zu guterletzt
Hübsch hoch und weit mich weggesetzt,
Dieweil sie meiner überdrüssig;
Auch war ich wirklich überflüssig;
Und schließlich, grad wie du, mein Sohn,
Recht satt hatt' ich den Trubel schon.
Von oben läßt sichs noch besehn,
Muß man nicht mitten drinnen stehn.«
Da faßte mich ein Ahnen an:
»Wer bist du denn, du alter Mann?«
»Ich? Oh, nichts, das der Frage wert,
Ein weißes Haupt, höchst ungeehrt.
[213]
Wie sagt Ihr doch ...? ...Na ... ein Rentier
Mit Sorgenstuhl und Kanapee
Und einer alten Wärterin,
(Er strich dem Jüngferchen das Kinn)
Im Austragsstüberl recht gemütlich,
Und thu mir an Erinnrung gütlich.
Still, meine gute Gabriele,
Du liebe, letztgetreue Seele .....«
Das alte Mädchen nickte leis
Und beugte tief ihr Haupt dem Greis,
Der seine Hände auf sie legte.
Mir wars, als ob sichs sachte regte
An ihrer Schulter zitterzart
Wie Flügelschlag verborgener Art.
Dann sah er scharf mir ins Gesicht:
»Du, höre Sohn, verrat mich nicht!
Daß sie mich nicht noch einmal stören,
Mit Opferdünsten, Bittechören
In ihrer neuen Qual und Not:
Ich bin unauferstehlich tot
Jetzt war sein Auge sturmesgrau,
Und seine Worte klangen rauh,
Und ich erschrak im Herzen tief,
Und wußte, wer die Worte rief,
Und wollte gehn und wandte mich;
Da klang es wieder sänftiglich:
[214]
»Bleib nur, mein Sohn, und sieh die Stadt,
An der dein junges Herz schon satt;
Bleib nur bei mir ganz ohne Scheu.
Ich bin euch Deutschen heut noch treu,
Wenn ihr auch derb mir zugesetzt
Und furchtbar gründlich mich gehetzt
Durch eure graue Philosophie.
Die wilde Jagd vergeß ich nie!«
Er schob mich sanft zur Thür hinaus.
Still war und hell die Luft da drauß.
Hoch über uns die schwarze Leere,
Zu Füßen tiefst die Sternenheere.
»Wo ist der Turm denn festgesetzt?«
»Mein Seel! Der Deutsche fragt noch jetzt!
Könnt ihr denn nie das Fragen lassen?
Du wirst den ganzen Blick verpassen.
Paß auf! Schau dort: im rechten Eck,
Siehst du den gelben Flammefleck?«
Er deutet aus. Ich folge: »Wohl!«
»Siehst du! Lateinisch heißt ihrs Sol;
Die Sonne das. Es spritzt herum
Wie Bienenschwarm mit Bienensumm
Bunt eine Funkenglitzerherde;
Das weiße Glitzchen nennt ihr Erde.
Du sollst sie dir genau besehn,
Wir wollen etwas näher gehn.«
[215]
Und wie im Fahrstuhl sanken wir
Gemächlich durch das Weltrevier,
Von Surresumm allwegs begleitet,
Bis unten sich die Erde breitet.
Die Erde?
Meine Blicke spähten
Und sahen einen Fetzen Tuch,
Den bunte Flicken übersäten.
Und spöttisch sprach der Alte: »Such,
Such deine Stadt, an der du satt,
Was sie für eine Farbe hat
In dieser bunten Narrenjacke.
Denn wisse: Eine reine Schlacke
Ist jeder Stern; der Menschen Hand
Wirft über sie das Buntgewand
Und meint, sie mache damit Staat
Im großen Weltenhohenrat.
Koketterie und Mummenschanz
Ist dieser ganze Tummeltanz.
Mir wenigstens wills also scheinen,
Wenn ich einmal herunter seh
Auf dieses bunte Zeug von meinem
Blaßblaugeblümten Kanapee.«
Er lachte, stieß mich in die Seite:
»Was meinst du von dem Erdenkleide,
Mein Staunekindchen? Schau nur, schau:
[216]
Hier schwarz, hier grün, hier rot, hier grau,
Hier weiß, hier gelb, hier blau, hier braun;
Ist das nicht lustig anzuschaun?
Nur bitt ich: Schau mir nicht hinein,
Sonst fliegt davon der schöne Schein,
Und eine Wahrheit liegt am Grund,
Die für euch Menschen nicht gesund.«
Ich hörte nicht des Alten Spruch.
Ich sah aufs bunte Erdentuch.
Oh blutig Rot, wie Flammenwut!
Oh giftig gelbe Giereglut!
Oh kaltes Weiß! Oh Gramesgrau!
Oh Schwarz, wie steiniger Acker rauh!
Das Blau verblaßt, das Grün verdrängt,
Von bösen Farben eingeengt ...
Da ward mein Blick mir müd und matt.
Der Alte nur gelächelt hat
Und schob mir unter seinen Arm
Und führte mich in die Stube warm
Und sah mir ernsthaft ins Gesicht:
»Du höre, Sohn, verrat mich nicht!
Ich sah dem Ding zu lange zu,
Nun will ich endlich meine Ruh.
Doch du, wenn du heruntersteigst,
Daß du mir nun nicht Wehmut geigst,
[217]
Weil du gesehn die Narrenjacke:
Nein, Junge, hoch das Herz und packe
Die Flinte fest und gehe kühn
Ins Zeug fürs arme Blau und Grün;
Und geht dirs bös in diesem Kampfe,
So denke still im Pulverdampfe
An Herrgottsruh und den Rentier
Im blaugeblümten Kanapee.«

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2011). Bierbaum, Otto Julius. Gedichte. Irrgarten der Liebe. Gedichte. Bilder und Traeume. Aus der Herrgottsperspektive. Aus der Herrgottsperspektive. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-31C7-F