Ludwig Börne
Aufsätze und Erzählungen

[589] Bemerkungen über Sprache und Stil

Im Jahre 1814 glorreichen Andenkens war ich als Herausgeber eines politischen Blattes so glücklich, unter der pädagogischen Leitung eines großmächtigen Polizeidirecktors und Zensors zu stehen. Ich war damals, was sich von selbst versteht, jünger als jetzt, stand in den Flegeljahren der Schriftstellerei, war ohne Scheu, freimütig, ein kleiner Hutten. In dieser glücklichen Gemütsstimmung ließ ich drucken: »Die Engländer sind Spitzbuben.« Der Herr Polizeidirektor strich ganz gelassen diesen [589] Satz aus der Weltgeschichte und bemerkte mir freundschaftlich: ich wäre ein junger Mann, gar nicht ohne Talent, und es wäre recht schade, daß ich meinen Geist nicht auf etwas Solides legte. Sehr beschäftigt, wie er war, wartete er nicht erst meine Erkundigung ab, was er unter Solides verstehe, sondern fügte von selbst hinzu: in der deutschen Sprache wäre noch viel zu tun und das eigentlich mein Feld, auf dem ich Ruhm und Lohn einernten könnte. Ich erwiderte hierauf: dieses Feld wäre allerdings so angenehm als fruchtbar; aber meiner Meinung nach wäre jetzt gar nicht die Zeit, wo ein braver Mann an seine Spaziergänge oder sonstige Vergnügungen denken dürfe. Wenn wir uns mit Untersuchungen über die deutsche Sprache beschäftigten, wer denn Europa in Ordnung bringen sollte? – fragte ich ihn. Ohne von dem Zensurblatte aufzublicken und mit dem Streichen einzuhalten, antwortete mir der Polizeidirektor: das ist unsere Sorge; Sie aber sollten Ihre glückliche Freiheit – Freiheit? Nein, das Wort gebrauchte er nicht. Er sagte: Sie aber sollten Ihre glückliche Sorgenlosigkeit gehörig benutzen, über unsere Muttersprache Forschungen anzustellen. Beatus ille, qui procul negotiis – setzte er mit klassischer Bildung hinzu. Atque emolumentis? frug ich satirisch. Aber er hörte diese Frage nicht oder wollte sie nicht hören, und es blieb zweifelhaft, ob das Imp., das er im nämlichen Augenblicke niederschrieb, die Abbreviatur von Impertinent oder von Imprimatur war. Indessen versprach ich, den guten Rat zu befolgen, nahm mein radiertes Blatt und empfahl mich.

Seit jener Zeit habe ich oft und ernstlich über Sprache und Stil nachgedacht, aber was ich suchte, habe ich bis jetzt nicht entdeckt. Was heißt Stil? Buffon sagte: Le style c'est l'homme. Buffon hatte einen schönen und glänzenden Stil, und es war also sein Vorteil, diesen Satz geltend zu machen. Ist aber der Satz richtig? Kann man [590] sagen: wie der Stil, so der Mensch? Nur allein zu behaupten: wie der Stil, so das Buch – wäre falsch; denn es gibt vortreffliche Werke, welche in einem schlechten Stile geschrieben sind. Doch die Behauptung: der Mensch ist wie sein Buch – ist noch falscher, und die Erfahrung spricht täglich dagegen. Der eine dichtet die zartesten Lieder und ist der erste Grobian von Deutschland; der andere macht Lustspiele und ist ein trübsinniger Mensch; der dritte ist ein fröhlicher Knabe und schreibt Nachtgedanken. Machiavelli, der die Freiheit liebte, schrieb seinen Prinzen, so daß er alle rechtschaffene Psychologen in Verlegenheit und in solche Verwirrung gebracht, daß sie gar nicht mehr wußten, was sie sprachen, und sie behaupteten, Machiavelli habe eine politische Satire geschrieben. Was heißt also Stil? Wie gesagt, ich weiß es nicht, und ich wünsche sehr, darüber belehrt zu werden.

Die Schreibart eines Schriftstellers gehörig zu beurteilen, muß man die Darstellung von dem Dargestellten, den Ausdruck von dem Gedanken sondern. Aber dieses wird zu oft miteinander verwechselt. Noch ein anderes wird nichst immer gehörig unterschieden, nämlich: die Schönheit und das Charakteristische des Stils. Man kann sehr schön schreiben, ohne einen Stil zu haben, und einen Stil haben, ohne schön zu schreiben. Ja, eine Schreibart von eigentümlichem Gepräge schließt die vollkommene Schönheit aus, wie ein Gesicht mit ausgesprochenen Zügen selten ein schönes und ein Mann von Charakter selten ein liebenswürdiger ist. Nicht im Kolorit, in der größern oder kleinern Lebhaftigkeit der Farben, sondern in der Zeichnung, Stellung und Gruppierung der Gedanken liegt das Eigentümliche einer Schreibart. Vielleicht hängt der Stil eines Schriftstellers mehr vom Charakter als vom Geiste, mehr von seiner sittlichen als von seiner philosophischen oder Kunstanschauung des Lebens ab. Cicero [591] schreibt vortrefflich, aber er hat keinen Stil, er war ein Mann ohne Charakter. Tacitus hat einen, und Cäsar. Die Franzosen können keinen Stil haben, weil ihre Sprache einen hat. Wer in Frankreich schreibt, schreibt wie die guten französischen Schriftsteller oder schreibt schlecht. Vergleicht man Rousseau mit Voltaire, so findet man zwar beider Stile sehr voneinander verschieden, doch sind sie es nur so lange, als sich beider Ansichten voneinander unterscheiden. Wo Rousseau denkt wie Voltaire, schreibt er auch wie er. Die deutsche Sprache hat – der Himmel sei dafür gepriesen – keinen Stil, sondern alle mögliche Freiheit, und dennoch gibt es so wenige deutsche Schriftsteller, die das schöne Recht, jede eigentümliche Denkart auch auf eigentümliche Weise darzustellen, zu ihrem Vorteile benutzten! Die wenigen unter ihnen, die einen Stil haben, kann man an den Fingern abzählen, und es bleiben noch Finger übrig. Vielleicht ist Lessing der einzige, von dem man bestimmt behaupten kann: er hat einen Stil.

Eine andere Frage: Woher kommt es, daß so viele deutsche Schriftsteller so sehr schlecht schreiben? Vielleicht kommt es daher, weil sie sich keine Mühe geben, und sie geben sich keine Mühe, weil sie, als Deutsche treu und ehrlich sich mehr an die Sache und die Wahrheit haltend, es für eine Art Koketterie ansehen, den Ausdruck schöner zu machen, als der Gedanke ist. Entspringt die Vernachlässigung des Stils aus dieser Quelle, so ist zwar die gute Gesinnung zu loben; doch ist die Sittlichkeit, von der man sich dabei leiten läßt, eine falsche. Wie man sagt: der Gedanke schafft den Ausdruck, kann man auch sagen: der Ausdruck schafft den Gedanken. Worte sind nichtswerte Muscheln, in welchen sich zuweilen Ideen als edle Perlen finden, und man soll darum die Muscheln nicht verschmähen. Zu neuen Gedanken gelangt man selten. Der geistreiche Schriftsteller unterscheidet sich [592] von dem geistarmen nur darin, daß er, mit größerer Empfänglichkeit begabt, schon vorhandene Ideen, deren Dasein jener gar nicht merkt, aufzufassen und sich anzueignen vermag; aber neue schafft er nicht. Der menschliche Geist müßte eine ungeheure Umwälzung, eine solche erfahren, von der wir gar keine Ahnung haben, wenn der Kreis seiner Wirksamkeit sich bedeutend erweitern sollte. Die größte bekannte Revolution, welche die Menschheit erlitten, war das Christentum, und doch kann man nicht sagen, daß wir viele neue Ideen gewonnen, welche den Alten fremd gewesen. Freilich erklärt sich dieses dadurch, daß auch schon vor Christus christliche Weltanschauung, wenn auch nicht in solcher Ausbreitung als jetzt, geherrscht hat. Kann aber der Schriftsteller keine neue Ideen schaffen, so vermag er doch die alten in neue Formen zu bringen, und wie die Lebenskraft in der ganzen Natur die nämliche und es nur die Gestalt ist, welche in der Wesenkette ein Geschöpf über das andere stellt, so wird auch der ewige, ungeborne Gedanke durch einen edlern oder gemeinern Ausdruck edler oder gemeiner dargestellt – und der Pflegevater ist auch ein Vater.

Die schlechte Schreibart, die man bei vielen deutschen Schriftstellern findet, ist etwas sehr Verderbliches. In Büchern ist der Schaden, den ein vernachlässigter Stil verursacht, geringer und verzeihlicher; denn Werke größern Umfangs werden mehr von solchen gelesen, die eine umschlossene oder gesicherte Bildung haben, und der sittliche und wissenschaftliche Wert dieser Werke kann ihren Kunstmangel vergüten. Zeitschriften aber, aus welchen allein ein großer Teil des Volks seine Bildung, wenigstens seine Fortbildung schöpft, schaden ungemein, wenn sie in einem schlechten Stile geschrieben sind. Die wenigsten deutschen Zeitschriften verdienen in Beziehung auf die Sprache gelobt zu werden. Es ist aber [593] leicht, an ihnen zu gewahren, daß die Fehlerhaftigkeit des Stils von solcher Art ist, daß sie hätte vermieden werden können, wenn deren Herausgeber und Mitarbeiter mit derjenigen Achtsamkeit geschrieben hätten, die zu befolgen Pflicht ist, sobald man vor dreißig Millionen Menschen spricht. Man glaubt gewöhnlich, jedes Kunsttalent müsse angeboren sein. Dieses ist aber nur in einem beschränkten Sinne wahr, und gibt es ein Talent, das durch Fleiß ausgebildet werden kann, so ist es das des Stils. Man nehme sich nur vor, nicht alles gleich niederzuschreiben, wie es einem in den Kopf gekommen, und nicht alles gleich drucken zu lassen, wie man es niedergeschrieben. Eine gute Stilübung für Männer (denn Knaben auf Schulen im Stile zu üben, finde ich sehr lächerlich) ist das Übersetzen, besonders aus alten Sprachen. Ich meinerseits pflege mich am Horaz zu üben, und – es kommt hier nicht darauf an, ob mir die Übersetzungen mehr oder minder gelungen, aber das habe ich dabei gelernt: daß die Reichtümer der deutschen Sprache, wie wohl jeder, nicht oben liegen, sondern daß man darnach graben muß. Denn oft war ich tagelang in Verzweiflung, wie ich einen lateinischen Ausdruck durch einen gleich kräftigen deutschen wiedergeben könne, ich ließ mich aber nicht abschrecken und fand ihn endlich doch. So erinnere ich mich, acht Tage vergebens darüber nachgedacht zu haben, wie sub dio moreris zu übersetzen sei, und erst am neunten kritischen Tage fand ich das richtige Wort. Mehrere deutsche Journalisten werden es einst bereuen, daß sie die gegenwärtige vorteilhafte Zeit nicht zur Verbesserung ihres Stils benutzt haben. Die goldene Zeit der römischen Literatur begann, als die der Freiheit aufhörte. Natürlich. Wenn man nicht frei herausprechen darf, ist man genötigt, für alte Gedanken neue Ausdrücke zu finden. Die schönsten Stellen des Tacitus sind, wo er von der alten Freiheit spricht, weil er [594] dieses verdeckt tun mußte, da er, zwar unter einem guten Kaiser, aber doch unter einem Alleinherrscher lebte. Unsere Zeit auch verstattet nicht, alles frei herauszusagen, und durch diesen Zwang befördert sie sehr den guten Stil. Man möchte von Konstitution, von Spanien, von Italien sprechen, aber es ist verboten. Was tut ein erfinderischer Kopf? Statt Konstitution sagt er »Leibesbeschaffenheit«, statt Spanien »Iberien«, statt Italien »das Land, wo im dunklen Hain die Goldorangen glühen«, und gebraucht für diesen und jenen Gedanken diesen und jenen dichterischen Ausdruck, den der gemeine Mann nicht versteht. Denn darauf kommt jetzt alles an, daß der gemeine Mann nicht errate, was wir wollen, sondern fühle, was wir gewollt. Die deutschen Journalisten müssen sich aber eilen. Sie sollen nicht vergessen, daß am 20. September 1824, abends mit dem Glockenschlage zwölf, die Zensur in Deutschland aufhört. Wenn sie also bis dahin ihren Stil nicht verbessert, werden sie mit ihrem schlechten Stile in die Ewigkeit wandern.

Weil wir gerade in so freundschaftlichen Unterhaltungen begriffen sind, will ich noch erzählen, wie ich dazu gekommen, den Horaz zu übersetzen. Am 20. März 1815 kehrte Napoleon von der Insel Elba zurück. Wir deutschen Zeitungsschreiber wurden rein toll vor Freude. Nicht etwa aus Liebe für die korsische Geißel – bewahre der Himmel! – sondern weil uns nach langer Dürre endlich wieder erfrischende Nachrichten zugekommen. Ich schrieb hurtig einen schönen Artikel in meine Zeitung – nicht für, sondern gegen Napoleon; denn, es offenherzig zu gestehen, ich war damals noch eine recht gläubige Seele und sehr dumm, wenn ich mich so ausdrücken darf. Aber der Artikel, der mit vielem Feuer geschrieben, wurde von oben erwähntem Polizeidirektor dennoch gestrichen. Den andern Tag fragte ich dessen Sekretär, warum es geschehen, da wir doch alle [595] mit der Geißel der Menschheit Krieg führten? Dieser antwortete mir: »Wind ist Wind, ob er nach Osten oder Westen bläst – gleichviel. Er soll gar nicht blasen, wir wollen Ruhe haben.« Also, wie gesagt, mein Artikel wurde gestrichen. Es war zehn Uhr abends, und es fehlte mir eine halbe Spalte. Was tue ich? Im Polizeizimmer lag unter den Sachen eines Jenaer Studenten, der am nämlichen Tage, weil er seine Wirtshauszeche nicht bezahlen konnte, arretiert worden war, ein kleiner Horaz. Ich setzte mich hin und übersetzte daraus die Ode Nunc est bibendum und bringe das nasse Manuskript zum Zensieren ins Nebenzimmer, wo der Polizeidirektor saß. Dieser las es und sprach: »Charmant! Ich muß Ihnen das Kompliment machen, daß Sie die Ode recht gut übersetzt. Horaz – ja, das war ein Mann! Welche Sprache, welche Delikatesse, welches attische Salz! (Schade, bemerkte ich, daß auch dieses Salz ein Regal ist!) Und welche Philosophie, welche Sittlichkeit, welche Tugend! Ja, Horaz, das nenne ich einen wackern Mann!« ... Als ich Horaz wegen seiner Sittlichkeit loben hörte, pochte mir das Herz; ich konnte es nicht länger aushalten und mußte mir Luft machen. Ich ordnete meine Glieder, streckte feierlich wie ein Gespenst meine Rechte aus und sprach wie folgt: »Horaz ein wackerer Mann? der? Nun, dann seid mir willkommen, ihr Memmen und Schelme! Nicht als ich Sylla morden, als ich Cäsar rauben, als ich Oktavius stehlen sah, gab ich die römische Freiheit verloren – erst dann weinte ich um sie, als ich Horaz gelesen. Er, ein Römer, ihr Götter! und seine Kinderaugen haben die Freiheit gesehen – er war der erste, der sich am Feuer des göttlichen Genius seine Suppe kochte. Was lehrt er? Ein Knecht mit Anmut sein. Was singt er? Wein, Mädchen und Geduld. Ihr unsterblichen Götter! ein Römer und Geduld. Er vermochte darüber zu scherzen, daß er in jener Schlacht bei Philippi, wo Brutus und [596] die Freiheit blieb, seinen kleinen Schild ›nicht gar löblich‹ verloren. Klein war der Schild, Herr Polizeidirektor, und doch warf er ihn weg – so leicht macht' er sich zur Flucht! Und der ein wackerer Mann?« ... Ich sagte noch mehrere solche teils fürchterliche, teils heidnische Dinge. Der Polizeidirektor entsetzte sich, trat weit, weit von mir zurück und sah mich flehentlich an. Ich ging. Auf der Treppe dachte ich, er ist doch kein ganzer Türke – er fürchtet die Ansteckung!

›Aber das Lob, das offizielle Lob, daß ich Nunc est bibendem gut verdeutscht, hatte ich weg. Das munterte mich auf, ich übte mich weiter, und so habe ich nach und nach fast den ganzen Horaz übersetzt. Da liegen sie nun, die armen Oden und Satiren, und ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Sollte ein unglückseliger Zeitungsschreiber Gebrauch davon machen wollen, die Zahnlücken der Zeit damit auszufüllen, so stehen sie ihm zu Gebote. Briefe werden postfrei erbeten.‹

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[598] [622]Einige Worte über die angekündigten Jahrbücher der wissenschaftlichen Kritik
Herausgegeben von der Societät für wissenschaftliche Kritik zu Berlin

Was diese meine Blätter enthalten werden, das weiß der allwissende Gott jetzt schon; ich aber weiß es noch nicht. Nur so viel sehe ich in die Ferne, daß, was ich auch sagen dürfte, der Leser sich doch immer meine Angst und die Wichtigkeit nicht wird erklären können, die ich auf die Ankündigung jener Berliner Jahrbücher gelegt habe, und daß er fragen wird: hat der Verfasser dieser Blätter vielleicht mehr gedacht als gesagt, und welche Absicht hatte er, als er sie geschrieben? Um diese zu erfahren, darum schreibe ich sie eben; der Leser soll mir sagen, was ich gewollt. Ich habe die Feder ohne Überlegung in die Hand genommen, nicht ein klarer Gedanke, ein dunkles Gefühl hat mich angetrieben. O ich bitte, zürne und spotte keiner hierüber! Sage mir, Leser, wenn dir träumte, dein Freund sei in Gefahr und jammere nach deiner Hülfe, würdest du nicht aufspringen von dem weichen und warmen Bette und zum Beistande des Freundes eilen? Und wenn unter tausend Traumgestalten, die gelogen, auch je nur einmal ein warnender Gott erschienen – würdest du kalt die tausend Täuschungen berechnen und eitel die kleine Gefahr, verlacht zu werden, mit der des Freundes messen? Nein, das tätest du gewiß nicht. Nun wohl, ich hatte einen solchen Traum. Geträumt nur? Nein, es war mehr. In dem Buche eines Arztes habe ich gelesen, es gäbe Menschen mit so reizbaren Nerven, daß sie eine Wolke am heitern Himmel, die sie nicht sehen, fühlen könnten. So reizbarer Art bin ich auch. Es steht eine Wolke am reinen Himmel der [622] deutschen Wissenschaft; ich sehe sie nicht, aber ich empfinde sie. Den Vorwurf, daß ich kränklich sei, will ich gern ertragen, hört man nur auf das, was ich sage.


Deutsche Rezensionen lassen sich in der Kürze mit nichts treffender vergleichen als mit dem Löschpapiere, auf dem sie gedruckt sind. Ach, man kennt ja dieses Löschpapier und das, was darauf steht! Es löscht den Durst nicht, es ist selbst durstig. Und doch rühmen sich die Deutschen, die besten Kritiker zu sein! Sie sind es auch, nur daß sie nicht wissen, sich als solche geltend zu machen, wie sie überhaupt nicht verstehen zu zeigen, was sie haben, und zu scheinen, was sie sind. Die Natur hat die Deutschen zum Denken und nicht zum Schreiben bestimmt, und blieben sie ihrer Bestimmung treu, würden sie ihre Gedanken roh ausführen und sie von Franzosen und Engländern verarbeiten lassen. Wenn in Frankreich Bettlergedanken sich immer schön und sauber kleiden und darum Zutritt in guter Gesellschaft finden, hüllen sich die reichsten deutschen Geister in Lumpen ein, finden alle Türen verschlossen und werden von jedem unverschämten Hofhunde angebellt. Der Deutsche kann kein Buch machen. Ein gutes Buch, ein Buch, wie es sein soll, muß des Titelblattes entbehren können. Nun versuche man es mit einem deutschen Werke, ob man ohne das Titelblatt seinen Inhalt und seine Bestimmung erraten kann. Es sind Baumaterialien, die besten oft, Marmorblöcke, Säulen, Acajouholz, Teppiche, Kristallspiegel, schöne Gemälde; aber es ist kein fertiges Haus. Und ist ja ein Haus daraus geworden, und es ist wohnlich und bequem, so hat man die Außenseite vernachlässigt, und kein Vorübergehender wird gelockt, hineinzugehen und das Haus zu sehen und zu kaufen. Vornehme Berliner Gelehrte ruhen hinter Lehmwänden auf seidenen Polstern, während Pariser Lumpengesindel durch hohe Marmorportale[623] zu seinem Strohlager trippelt. So schlimm ist es mit Büchern; mit Zeitschriften, also auch mit kritischen, ist es noch schlimmer. Es gibt kein kritisches Blatt in Deutschland, das verdiente, sein eigner Gegenstand zu werden. Woher das Übel? Der deutsche Gelehrte betrachtet sich als einen Staatsbeamten. Seine Bücher sind ihm Akten, seine Studierstube ist ihm eine Kanzlei, seine Wissenschaft ein Geheimnis. Er hat es geschworen, den Verstand zu Hause zu lassen, sooft er ausgeht, nämlich sooft er schreibt für die Menge. Treibt ihn nun ja einmal Not oder Laune an, für das Volk mit Verstand zu schreiben, macht er es eben wie jene Beamte, welchen er gleicht. Diese haben über dem Gebrauch der Macht den der Rede verlernt, und kommt einmal eine Zeit, wo Drohung nichts wirkt, wo nur Überredung wirken könnte, stehen sie unbehülflich da, grinsen, wenn sie bitten, sind ohne Grazie, wenn sie schmeicheln, und lächerlich, wenn sie rühren wollen. Die deutsche gelehrte Welt ist ein Freistaat, und sie wird auch einer bleiben, allen Triumviraten zum Trotze. Da aber in einem Freistaate weder monarchischer noch aristokratischer Einfluß gestattet ist, so bleibt denen, welchen die Natur selbst den Herrscherstab in die Hand gegeben, nichts anderes übrig, ihre Rechte geltend zu machen, als daß sie Demagogen werden und das Volk durch Lehre und Beispiel zu leiten suchen. Aber dieses zu tun, unterlassen die vornehmen deutschen Gelehrten, die einen aus Stolz, die andern aus Feigheit. Sie fürchten das literarische Volk und verachten es. Aber indem sie es fürchten, machen sie es furchtbar, indem sie es verachten, verächtlich. Darum ist in Deutschland der literarische Pöbel so herrschend, darum füllt er mit seinen Haufen den Markt der Zeitungen aus und bedeckt mit seinem Geschreie jede Stimme der Wahrheit und des Rechtes. Es ist die Schuld derer, die durch ihre eitle Absonderung das Volk zu Pöbel gemacht.

[624] In Deutschland nehmen die bessern und besten Köpfe keinen Teil an Zeitschriften. Warum tun sie es nicht? Ich frage die unbekannten Mitglieder der so geheimnisvollen Berliner Societät für Kritik, warum sie nicht schon früher kritisiert? sie versprechen jährlich hundertundzwanzig Bogen zu schreiben; diese hätten hingereicht, allen schon bestehenden kritischen Zeitschriften einen Wert zu geben, die schlechten Kritiker ins Dunkel zu setzen, sie zurückzudrängen oder auch durch Lehre und Beispiel sie zu bessern. Ob aber durch eine geschlossene Sozietät, ob durch den Glanz einer kritischen Residenz das arme platte Land der deutschen Kritik bereichert werden wird, das wollen wir jetzt untersuchen.

Ich hasse jede Gesellschaft, die kleiner ist als die menschliche. Unterwirft man sich dem Staate, so ist dieses eine traurige Notwendigkeit; aber man soll sich nicht mehr unterwerfen, als man muß. Nichts ist betrübter und lächerlicher zugleich als die kranke Lust, welche besonders die Deutschen haben, sich freiwillig einzupferchen und aus Furcht vor den seltenen Wölfen sich täglich den Launen des Schäfers und seinen unvermeidlichen Hunden preiszugeben. Nur allein die deutschen Gelehrten – und das gereicht ihrem Geiste und ihrem Herzen zu Ruhme – haben bis jetzt ihre Unabhängigkeit zu behaupten verstanden. Sie haben, weder aus Übermut noch aus Feigheit, weder herrsch-noch schutzbegierig, die unbezahlbare Freiheit hingegeben. Haben denn gelehrte Gesellschaften je Nutzen gebracht? Sie haben nur immer geschadet. Die Wissenschaft haben sie aufgehalten und den Leidenschaften freien Lauf gelassen. Nicht den edlen Leidenschaften, welche, gleich Wein, alle Kräfte aufregen und jede Bewegung rascher machen; sondern den unedlen, narkotischen, die betäuben, verwirren, einschläfern und damit endigen, jede Kraft zu zerstören. Wenn hundert Gelehrte ihre Seelen in eine gemeinschaftliche [625] Kasse legen, lacht der Teufel; denn mit einem Griffe holt er sie dann alle hundert. Eine solche Gesellschaft hat sich in Berlin gebildet, und zwar eine für Kritik; sie hat sich angekündigt. Man täusche sich über jene Ankündigung nicht. Sie gleicht nicht den gewöhnlichen Ankündigungen, die allen literarischen Unternehmungen vorausgeschickt werden, wo man auch immer von einem allgemein und dringend gefühlten Bedürfnisse redet, wo man auch verspricht, dem Bedürfnisse abzuhelfen, es aber nachher macht wie alle und es gehen läßt, wie es Gott gefällt – nein, jene Ankündigung ist sehr bedächtig, in sehr abgemessenen Reden abgefaßt, und es ist eher zu fürchten, daß sie mehr als daß sie weniger halte, als was sie versprochen, und daß der Vorteil, die guten Köpfe anzuziehen, den Nachteil, sie abgezogen zu haben, nicht vergüten werde. Kurz, um es geradeheraus zu sagen, ich fürchte, die Berliner Gesellschaft möchte die bisherige Freiheit der deutschen Kritik, und als Folge die der Wissenschaft überhaupt, gefährden, und vor dieser Gefahr will ich warnen.

Die Societät will die Kritik auf Aktien betreiben und alljährlich nach Verteilung der Dividende ihren Statuten gemäß von ihrem Verfahren Rechenschaft ablegen. Aber was enthalten diese Statuten? Warum werden sie nicht bekanntgemacht? Moses auch hatte seine Gesetzestafeln von dem Wolkengipfel des Berg Sinais herabgebracht, und keiner wußte, von wem er sie erhalten; aber er machte den Inhalt der Gesetze bekannt, und so konnte jeder urteilen, ob sie von Gott gegeben. Die Berliner Societät aber hält ihre Statuten geheim. In welche Lage werden nun die externen Gelehrten kommen, die, ohne in die Gesellschaft aufgenommen zu werden, sich ihr anschließen? Sie werden eine Art dienender Brüder sein, die nicht alles wissen, die man aber alles zu tun verpflichten wird, was die Zwecke der Allwissenden befördern [626] soll. Zu wissenschaftlichen Zwecken verbundene Männer sollen nichts Gemeinschaftliches haben als Fähigkeit, guten Willen und das Papier, auf dem sie drucken lassen. Was sie noch außerdem verbindet, ist als Freiheit beschränkend zu verwünschen, und es wird nach innen auf die Gesellschaft, nach außen auf die Wissenschaft verderblichen Einfluß haben.

Leise, doch richtig wurde in der Ankündigung der Tadel ausgesprochen, den die in Deutschland übliche Kritik lauter verdient hätte. Aber die Kritik ist eine Frucht der Wissenschaft, und jede Veredlung, die man beabsichtige, müsse mit letzterer anfangen. Was fehlt dieser nun? Nichts als frische Luft. Ihr fehlt der Sinn für die Öffentlichkeit, der ihr aus Mangel an Übung abgestorben. Ihr fehlt feine Sitte, Gewandtheit, Anstand, Mut und Gegenwart des Geistes. In Deutschland schreibt jeder, der die Hand zu nichts anderem gebraucht, und wer nicht schreiben kann, rezensiert. Nichts ist verzeihlicher als das, es ist jeder berechtigt, über alles, was alle angeht, seine Stimme zu geben. Nur fehlt es an einer öffentlichen Meinung, an einer Urne, worin alle Stimmen zu sammeln wären, daß man sie zählen könne. Diese herbeizuschaffen, die Stimmen für das Rechte zu gewinnen und die Abstimmung zu leiten, dazu sollte sich eine Gesellschaft bilden, nicht aber zu dem bloßen Zwecke, die Stimmen zu vermehren. Und die Berliner Societät, abgeschlossen, umregelt und monarchisch wie sie ist, und mögen noch so viele, noch so achtungswürdige Männer sich ihr anschließen, wird das kritische Geschrei doch nur mit einer Stimme vernehmen, und die Bauchrednerei mannigfaltiger Akzente wird nur Unkundige, und nicht lange, täuschen.

Die Societät will nur solche Schriften beurteilen, »die in irgendeiner Richtung bedeutend sind und eine Stelle in der Geschichte der Wissenschaften einnehmen«. Durch [627] dieses Verfahren würde künftig jedes neue Werk schon durch die bloße Anzeige in den Berliner Jahrbüchern sich ausgezeichnet, schon durch deren Stillschweigen sich zurückgesetzt sehen – eine schnelle, aber scharfe Art zu richten! Kann die Societät blindes Vertrauen auf die Billigkeit solcher Urteilssprüche fordern, die kein Entscheidungsgrund begleitet? Ja, das könnte sie, wären die Mitglieder, die sie bilden, frei; da sie es aber nicht sind, sondern, wie wir schon angedeutet haben und noch klarer erörtern werden, einer monarchischen Regel unterworfen – so kann die Societät jenes Vertrauen nicht erwarten. Übrigens ist es sehr zu fürchten, daß wenn nur solche Werke beurteilt werden sollen, die eine Stelle in der Geschichte der Wissenschaften einnehmen, die versprochenen hundertundzwanzig Bogen jährlich nicht möchten ausgefüllt werden können. Die Geschichte der Wissenschaft, das heißt ihr Wachstum; aber die deutsche Wissenschaft ist ausgewachsen, sie wächst nur noch in die Breite, und da sie täglich dicker und dicker wird, viele Nahrung zu sich nimmt und sich gar keine Bewegung macht, so ist wohl zu besorgen, daß sie einmal in ihrem Lehnstuhle der Schlag rühren möchte und daß sie das viele schöne Fett nur für die Würmer wird aufgehäuft haben.

Unsere kritischen Hauptstädter wollen sich in Klassen teilen, je nach den Fächern der Wissenschaft, und jede Anzeige wird, vor der Zulassung zum Drucke,die Genehmigung der betreffenden Klasse erhalten und mit dem Namen des Verfassers versehen sein müssen. Ich gestehe es frei – früher konnte ich es nicht gestehen; da es mir während dem Schreiben erst selbst klar geworden – daß dieses der Punkt ist, der meine Gefühle aufgeregt und sie gegen jene Anstalt so feindlich gestimmt hat. Die Vernunftgründe, meine Abneigung zu verteidigen, habe ich erst später gesucht und, wie ich denke, [628] auch gefunden. Ich begreife nicht, wie die Berliner Societät hoffen durfte, unter freien deutschen Gelehrten Männer zu finden, die sich einen solchen Zwang freiwillig gefallen ließen; doch hätte sie sie dennoch gefunden – nun, dann freilich begreife ich ihre Zuversicht. Die Mitglieder jener Societät haben sich nicht genannt; doch sind es ganz gewiß sehr achtungswerte Männer, die Bedacht genommen haben werden, sich unter den fremden Gelehrten nur gleichbegabte, gleichgesinnte zuzugesellen. Ist dieses aber geschehen und sind die Männer bewährt, wozu dann noch jene beleidigende Vorsicht, wozu jene freiheitbeschränkende Zensur? Sie sagen, es geschähe: »damit Willkür und Nebenrücksicht ausgeschlossen bleibe«. Allein wenn zu wählen ist zwischen der Willkür eines einzelnen und der Willkür einer Klasse, so ist die erstere zu wählen. Der einzelne hat seine Leidenschaften, aber sie wechseln, und er wird oft, was er aus Laune gefehlt, aus Laune wieder gutmachen, wenn es nicht aus Tugend geschieht. Aber die Leidenschaften einer Klasse wechseln nicht. Der Eigensinn einer Gesellschaft taut niemals auf, und da sie, wie den Gewinn, den sie beabsichtigt, auch die Schuld unter sich teilt, die auf ihr liegt, so hat sie kein Gewissen, und sie kennt die Reue nicht. Alle ihre Fehler sind unverbesserlich. Wer bürgt uns für die Unparteilichkeit der Berliner Societät, wenn sie die Kritik eines ihrer Mitarbeiter verwirft? Vielleicht war es nicht die Unbedeutendheit der beurteilten Schrift, vielleicht war es nur ihre eigentümliche Bedeutung, die man nicht wollte aufkommen lassen – vielleicht war es nicht die verwerfliche Darstellung des Kritikers, vielleicht war es die eigene, herrschsüchtiger Regel nicht zusagende Art der Darstellung, warum die Anzeige zurückgewiesen worden. Man weiß ja, wie eine Gesellschaft gleich der, von welcher wir hier sprechen, sich bildet. Der schaffende Gedanke entspringt aus [629] einem Kopfe; es wird ein guter, ein enzyklopädischer Kopf sein, einer der das ganze Reich der Wissenschaften übersieht und jeder einzelnen Lage und Grenzen kennt. Aber mit diesem enzyklopädischen Kopfe wird auch ein enzyklopädisches Herz verbunden sein, das zwar alle Tugenden in sich schließen, aber auch das ganze Alphabet der Leidenschaften enthalten kann. Ein solcher Stifter wählt sich gleichgesinnte Anhänger, diese wählen andere, und so wird es ein Gedanke, der alle beherrscht und dem alle, die sich dem Kreise anschließen, sich unterwerfen müssen.

Jede Kritik soll mit der Unterschrift des Verfassers versehen sein müssen. Warum dieser Zwang? Es wäre wohl gut, wenn es freiwillig geschähe. Ich habe nie begreifen können, wie man schreiben, wie man kritisieren mag, ohne sich zu nennen. Es ist so etwas Unbehagliches, so etwas Gespenstisches darin. Ach, ich habe auch geschrieben und gekrittelt, aber ich habe zur Buße mich immer genannt, und wenn ich aus Laune oder Unachtsamkeit meinen Namen verschwiegen, ging ich immer schwermütig umher, als hätte ich ein zweites Verbrechen begangen. Aber ich bedenke auch, daß ich frei bin, weder Weib noch Kinder habe, und daß die Rache, die jede ungefällige Wahrheit, wenn auch nicht immer trifft, doch immer bedroht, nur mich allein hätte treffen können. Doch nicht jeder ist so frei, viele deutsche Gelehrte leben in Verhältnissen der Dienstbarkeit, sie haben Familien, und keiner ist verpflichtet, ja vielleicht nicht berechtigt, andere als sich allein der guten Sache aufzuopfern. Wenn jeder deutsche Schriftsteller sich nennen müßte, würde manches verschwiegen bleiben, was, kund geworden, sehr ersprießlich gewesen wäre. Die Teilnehmer an den vortrefflichen Wiener Jahrbüchern der Literatur nennen sich auch nicht, sie müssen es wenigstens nicht – warum will man die Mitarbeiter an den Berliner Jahrbüchern [630] dazu zwingen? Ist Furcht etwa keine so gute Entschuldigung, als Scham es ist? Wenn es geheime Diener des Bösen gibt, warum will man keine geheimen Diener des Guten dulden?

Es ist alles bedacht, alles bestimmt worden bis auf den Ton, bis auf den Takt, in welchem jede Kritik für die Berliner Jahrbücher vorgetragen werden soll. Es wird der Ton »durchaus nicht anders als gehalten und der Würde der Wissenschaft angemessen sein«. Gehalten! Was heißt das? Heißt das jener ausgehaltene, zähe Viervierteltakt, von dem wir nur schon zuviel ausgehalten? Tut eine solche Erinnerung not? Wäre nicht dringender, den Gelehrten presto, presto zuzurufen? Wäre nicht gut, wenn die deutschen Federn den schleichenden Menuett ihren Voreltern überließen und etwas walzten? Die Würde der Wissenschaft! Nun freilich, Würde soll sie haben, aber nur keine Standeswürde. Doch würdig macht sie nur der Wert, den sie hat, nicht der Schein, den sie annimmt. Ernst soll die Wissenschaft sein und das Leben auch; aber nicht ernsthaft. Nur zu ernsthaft ist sie in unserm Vaterlande, und es wäre gut, sie lächelte ein wenig. Der Bart macht den Gelehrten nicht ehrwürdig, er macht ihn nur lächerlich, und eine große Summe seines Wertes geht darin auf, daß er seine lächerliche Erscheinung damit loskaufen muß. Was bezweckt die Berliner Societät mit ihrer Stilordnung? Doch nicht, die Wissenschaft zu isolieren gleich ehemals? Dann wäre ihre Täuschung groß, und ihre Enttäuschung würde bitter sein. Wahr ist es, die deutsche Wissenschaft konnte sich nur darum zu solcher Kraft und Freiheit entwickeln, weil sie einsam und verborgen lebte. Ungeachtet, weil unbemerkt, hielt sie Furcht und Argwohn, Haß und Verfolgung von sich fern. Aber die Not der Zeit hat sie ins Freie gerufen, sie hat sich im Felde des Lebens versucht, man lernte sie kennen, fürchten und hassen.

[631] Nun hofft sie vergebens, wenn sie das Feld räume und in ihre vorige Einsamkeit zurückkehre, auch die vorige Ruhe und Bequemlichkeit wiederzufinden – man wird sie bis in ihre Feste verfolgen, und nur erst auf deren Trümmern wird der Argwohn seinen alten Schlaf wiederfinden. Darum bekämpfe sie den Feind; ihn zu beschwichtigen, ist zu spät geworden.

Die kritische Gesellschaft spricht am Schlusse ihrer Ankündigung die Hoffnung aus: es dürfte »eine neue, eben unter bedeutenden Auspizien aufblühende Anstalt in der Folge auch mit ihren Kräften die Societät verstärken«. Ich denke, damit ist München gemeint, und wünsche mich zu irren, wenn ich dieses denke. Es wäre nicht gut, es wäre wahrlich nicht gut, wenn jene neue Anstalt nicht ihren eigenen Weg einschlüge und fremder Führung folgte. Die Münchner Professoren werden sich bedenken, sie werden überlegen, wie es den Enten ergangen, welchen Münchhausen nachgestellt. Dieser band einen guten Bissen an eine Schnur; die erste Ente verschlang den Bissen und zog die Schnur nach und gab beides hinten wieder von sich. Die zweite Ente verschlang den nämlichen Bissen und machte es weiter so. Dann kam die dritte, die vierte Ente; so eine nach der andern. Nachdem die letzte angebissen, zog der kluge Jäger die Schnur an sich, hockte die ganze Herde auf seinen Rücken und trug sie mit Leichtigkeit fort. Da zappelten, da flatterten, da schnatterten sie – zu spät; sie hingen, sie hatten sich fest gefressen. Doch das waren dumme Enten; Gelehrte aber haben Verstand, und ehe sie nach einer Lockspeise schnappen, sehen sie zu, ob kein Bindfaden daran befestigt.

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[633] [639]Monographie der deutschen Postschnecke
Beitrag zur Naturgeschichte
der Mollusken und Testaceen

Es ist sehr einfältig, daß ich gleich vorn sage: ich werde mich in dieser Abhandlung über vaterländische Postwägen satirisch auslassen; denn indem ich durch dieses Geständnis die Überraschung störe, übertrete ich die heilsamsten Polizeigesetze der Redekunst. Aber kann ich anders? Ist nicht zu fürchten, jene gelehrte Überschrift werde alle Leser abschrecken, wenn sie nicht bald erfahren, daß es damit Scherz gewesen? Sie sollte aber keinen abschrecken als den Zensor, zu seinem und meinem Vorteile, und da dieser jetzt schon getäuscht ist und der falsche Paß der verdächtigen Abhandlung glücklich über die Grenze geholfen hat, so ist längere Verstellung unnötig. [639] Wahrlich, Menschenliebe, Mitleid und Rührung durchwärmen mich nie stärker, als wenn ich an einen Zensor denke, der besser ist als sein Amt. Leidet er nicht an den schmerzlichsten aller Plagen, an solchen, die mangibt? Muß er nicht, als lebten wir noch in den Zeiten Ludwigs XIV., aller englischen Freiheit in Reden und Gärten gram erscheinen und, ein Schüler des Le Nôtre, jeden überrankenden Zweig mit der Schere abschneiden? Darf er andere Blumenbeete dulden als solche, die mit glänzenden Scherben zerbrochener Gefäße übersäet sind? Hat er nicht die vollsten, kühnsten Bäume in Affen, Bären und andere Viehgestalten umzustutzen? Muß ihm nicht selbst oft wehe sein bei seiner Aufsicht über die schnurgerechte Denk- und Schreibart, und wird er nicht jedem Schriftsteller danken, der, gleich mir, ihn überlistet, unter einer naturgeschichtlichen Überschrift über die öffentlichste aller Staatsangelegenheiten, über Postwägen, schreibt und erst, nachdem sich die betastenden Finger entfernt haben, seine Fühlfäden aus dem Schneckenhause streckt? Er dankt mir gewiß. Über Postwägen aber habe ich schon auf früheren Fahrten die besten satirischen Einfälle gefunden, doch sie auch alle wieder verloren. Mein Ideenmagazin ist zu klein und gibt mir keinen Platz, um Gedankenernten, die ich nicht gleich verzehre und niederschreibend verarbeite, aufzuspeichern. Gedanken über Postwägen konnte ich aber nie gleich aufschreiben, da der Stoß dieser mit dem Anstoße zu jenen immer zusammenfiel. Noch auf meiner letzten Fahrt sah ich, wie einem Commis voyageur, der während des Fahrens einen badenschen Kupferkreuzer, den er durch den Schlag einem Bettler zugeworfen, seinem Prinzipalen zur Rechnung bringen wollte, durch das Rütteln des Wagens so stark die Hand schwankte, daß das 1 statt in die Kreuzer- in die Guldenreihe kam, worüber der junge Mensch ganz untröstlich war; denn, sagte [640] er, es sei nicht mehr zu ändern, da er sich durch Radieren bei seinem Prinzipalen verdächtig machen würde.

Ich brauche nur fortzufahren, denn wie ich merke, bin ich, ohne darauf zu denken, bereits satirisch gewesen. Es wäre Unverstand von mir, wenn ich das langsame Fahren der Postwägen innerhalb der Städte aus dem Grunde tadeln wollte, weil Knigge in seinem Buche Über den Umgang mit Menschen das Gegenteil anratet. Knigge nämlich sagt, in Städten solle man schnell fahren, damit, wenn am Wagen etwas Zerbrechliches sei, er da zerbräche, wo Hülfe in der Nähe wäre. Kondukteurs und Postillione können hinlänglich beweisen, daß sie jenes Werk über feine Lebensart niemals gelesen haben; vielmehr sind die Vorteile dieses langsamen Fahrens auffallend. Nach den Fenstern guter Freundinnen kann man oft und lange zurücksehen; guten Freunden begegnet man zweimal auf der Straße; hat ein Reisender vergessen, seine Rechnung im Gasthause zu bezahlen, so kann ihm der Wirt nachgehen und ihn daran erinnern. Ein Ehemann, der mit mir nach Stuttgart gereist wäre und 15 Minuten auf dem Wege vom Rahmhofe bis zur Brücke zugebracht hätte, würde sich getröstet und gedacht haben: jetzt endlich hat die Teure ihre Tränen getrocknet, und ich will es auch tun und mich den Eindrücken der schönen Natur hingeben, sobald ich draußen bin vor dem Affentore. Ohne jenes langsame Fahren hätte der mitreisende Franzose niemals seinen Dukaten Silbermünze wiedergefunden. Er sagte mir nämlich auf der Zeil, er habe einen Dukaten wechseln lassen und sei dabei ganz gewiß betrogen worden, denn alle Kaufleute wären Spitzbuben; ich möchte so gut sein und das Geld nachzählen. Als ich ihm bemerkte, ich sei kein Handelsmann, erwiderte er in logischer Zerstreuung: Tout le monde est marchand ici. Ich fing an zu zählen, da kam aber einer jener fürchterlichen Erdstöße, die [641] unter dem Himmel der Postwägen so häufig sind, und schleuderte das Geld aus meiner Hand zum Wagen hinaus. Der Franzose stieg aus, und hatte schon nach fünf Minuten den letzten Groschen von der Fahrgasse wieder aufgelesen, worauf er dem Postillion zurief, er könne jetzt fortfahren. So eitel war der Narr, daß er sich einbildete, man hätte seinetwegen stillgehalten, welches gar nicht der Fall gewesen.

Schwerer aber ist zu entschuldigen, daß das langsame Fahren auch auf der Landstraße fortgesetzt wird. Zwar kann man dafür folgenden nicht unbedeutenden Rechtfertigungsgrund anführen. Der plötzliche Wechsel der Schritte, von langsamen zu geschwinden und umgekehrt, ist den Pferden, wie bekanntlich, sehr schädlich. Da nun nach obigem in Städten und Dörfern langsam gefahren werden müsse und das ganze Land zwischen Frankfurt und Stuttgart so gesegnet und bevölkert ist, daß jede halbe Stunde ein Dorf oder eine Stadt liegt, so könne man nie dazu kommen, rasch zu fahren. Denn habe man, aus einem Orte kommend, den langsamen Schritt eine Viertelstunde fortgesetzt, so müsse man ihn wegen des nächsten Ortes zur Vermeidung des schnellen Wechsels von neuem anfangen und so immer weiter. Dem ist allerdings so; doch der Grund gegen das langsame Fahren auf der Landstraße ist von größerem Gewichte. Menschen-und Pferdekenner wissen, daß langsames Gehen am meisten ermüdet, weil man dabei länger gehen und mehr Schritte machen muß. Wirklich waren Kondukteur, Postillion und Pferde bald so abgemattet, daß sie schon in Sprendlingen liegen bleiben mußten, um sich zu stärken. Dort hatte ich einen ganzen Schoppen Zeit, durch Horchen und Fragen herauszubringen, daß die junge schöne Frau, die mir im Wagen gegenübersaß, die Neuvermählte ihres Begleiters sei, der sie vor neun Wochen in Memel, ihrem Geburtsorte, geheiratet hatte und [642] am Tage nach der Hochzeit mit ihr abgereist war, um sie nach Triest in sein elterliches Haus zu bringen. Er hatte sich auf dem Wege nach Frankfurt nicht länger aufgehalten als der Postwagen. Der Gedanke erquickte mich ungemein, daß diese junge Frau so viel glücklicher sei als andere Neuvermählten, weil sie, statt der üblichen Flitterwochen, sich langer Flittermonate erfreuen dürfe; denn der erste häusliche Zwist kann nur zu Hause, aber in keinem Postwagen entstehen. Ja, ich trieb die Sache weiter, ich bedachte, wie sehr die schlechten Herbstwege die Fahrt verzögern müssen, und berechnete, daß die harrende Schwiegermutter in Triest nicht bloß eine geliebte Schwiegertochter, sondern auch einen Enkel werde bewillkommen und küssen können.

In Langen, als der ersten Station oder Bet[t]fahrt, dachte ich gar nichts, sondern schlief während dem Umspannen der Pferde sanft im Bette, um nachzuholen, was ich in der vorigen Nacht wegen der Abschiedszeche versäumt hatte. Wir kamen um halb sches Uhr abends in Darmstadt an. Dies war gewiß gut gefahren; denn erst um zwölf Uhr hatten wir Frankfurt verlassen, und mich, der ich in ebensoviel Zeit den Weg zu Fuß mache, pflegen gute Freunde einen guten Fußgänger zu nennen. Wieviel schwerer aber ein beladener Postwagen fortzubringen sei als ein 120pfündiger Doktor, bedenke man gehörig! In Darmstadt hatte ich sowohl am als im Darmstädter Hofe – welcher auch der Wiener Hof genannt werden könnte, denn der Wirt jenes Gasthauses heißt Wiener – folgende gute Gedanken. Ich zog eine künftige Zeit ganz nahe zu meiner Einbildungskraft herbei, eine schönere Zeit, da man nicht mehr die schlechten Menschen zu geheimen Aufsehern über die guten bestellt, sondern umgekehrt. Ich dachte mir, wieviel besser es alsdann sein würde, wenn lohnsüchtige Wächter durch erlogene Gefahren nicht länger Fürsten und Völker mit [643] Argwohn erfüllten und sie ängstigten. Alsdann, dachte ich, wird man mich wohl auch zum geheimen Kundschafter gebrauchen, und irgendein unsichtbarer Ober-Tugend-Direktor gibt mir den Auftrag, Deutschland zu durchreisen, um die Stimmung des Volks zu untersuchen und zu erforschen, ob nirgends unzärtliche verdächtige Triebe sich offenbarten. Ich wäre hierauf eiligst von Frankfurt abgereist und hätte aus dem Darmstädter Hofe zu Darmstadt folgendes berichtet:

»Herr geheimer Ober-Tugend-Direktor!

Zufolge erhaltenen Auftrags bin ich heute mittag um zwölf Uhr von Frankfurt im Postwagen abgegangen und um halb sechs Uhr abends in Darmstadt angekommen, von wo aus ich die Ehre habe, Ihnen zu berichten. Wenn ich nicht fürchtete, Zweifel gegen meinen Diensteifer zu erregen, so würde ich sogleich wieder zurückreisen, da der Zweck meiner Sendung schon vollkommen erreicht ist. Ich habe auf dem ganzen zurückgelegten Wege auch keine Spur von dem gefährlichen bösen Geiste der Einwohner, sondern im Gegenteile überall einen guten gefunden. Zugleich aber sind mir die stärksten Beweise geworden, daß der nämliche gute Geist das ganze deutsche Volk beseelt. Der Postwagen überzeugte mich davon. Posthalter, Kondukteurs, Postillione, Wagenmeister, Packer wie überhaupt das ganze Hochfürstlich Thurn-und-Taxischfahrende Personal gehen bei ihrem Geschäft mit solcher Bedächtigkeit zu Werke, daß man wohl sieht, es sind gute, ruhige Bürger, die Deutschen, die nichts Gewagtes unternehmen. Desgleichen die Passagiere, deren keiner über das langsame Fahren ungeduldig wurde und etwas aus der Haut fuhr. Ja, selbst der junge Mann, der in Heilbronn Hochzeit machen wollte, zeigte mehr Zufriedenheit als Unzufriedenheit, daß der Wagen zwischen Frankfurt und Darmstadt sich [644] dreimal erquickte mit Wein und kalten Speisen, nämlich in Sprendlingen, Langen und Arheiligen. Beweist nicht schon das häufige Trinken die besten Gesinnungen? Menschen, die verdächtige Gedanken hegen, sind auf ihrer Hut und trinken Wasser, weswegen auch die Diligencenpostillione im revolutionssüchtigen Frankreich kein Trinkgeld fordern, damit sie nicht versucht werden zu trinken. Sie werden, Herr geheimer Ober-Tugend-Direktor, aus dem Gesagten mit Vergnügen entnehmen, daß in Deutschland alles ruhig ist und bleiben wird; denn Sie sind viel zu gerecht, eine einzige Ausnahme dem ganzen Volke anzurechnen. Eine solche Ausnahme ist mir allerdings aufgestoßen. Unter den Passagieren war einer, der durch seine Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung der Postdinge deutliche Spuren neologischer Denkungsart zeigte. Er trippelte vor Ungeduld mit den Füßen, schnalzte mit den Fingern und gebärdete sich überhaupt wie toll. Mehrere Male rief er den Postillionen zu, sie sollten doch in's Teufels Namen nicht so rasch fahren, er verliere den Atem, er werde schwindlig, und die schönsten Gegenden flögen an ihm vorüber. Ich hörte, wie jener Passagier auf der Station Langen zum Postillion sagte: ›Ehrwürdiger Greis, wie Ihr doch noch so sehr munter und rüstig seid! Da habt Ihr nicht bloß die 8 kr. Taxe, sondern noch 2 weitere, und macht Euren jüngsten Enkeln, die noch unverheiratet sein können, eine Freude damit!‹ Dies war deutlich genug gespottet. Ja, in Arheiligen, da der Kondukteur etwas Wein zu sich nahm, spottete er noch offener und sagte, es wäre zweckmäßig, wenn in jedem Postwagen ein Hochfürstlich Thurn-und-Taxisches Stückfaß gestellt würde, damit das fahrende und gefahrene Personal daraus zapfen und trinken könnte, ohne sich aufzuhalten, und eine vollständige Restauration der Postwägen sei noch wünschenswerter. Dieser gefährliche Passagier hat [645] noch auf andere Weise seine verdächtigen Gesinnungen an den Tag gelegt. In Darmstadt machte er beim Aussteigen einen großen Sprung über einen Kothaufen, ob er zwar sehr bequem hätte durchgehen können. Es ist gar nicht zu zweifeln, daß er hierbei ein Turnziel zu erreichen gesucht. Bei solchen bedenklichen Zeichen habe ich jenen gefährlichen Passagier stets im Auge behalten und werde ihn ferner beobachten, auch ihn durch andere Vertrauten beobachten lassen. Ich bin so gewisser, daß er keinen Schritt tun und kein Wort reden kann, das ich nicht erführe, da ich selbst dieser Passagier bin. In Stuttgart werde ich die Ehre haben, Ihnen weiter zu berichten. Genehmigen Sie, Herr geheimer Ober-Tugend-Direktor, die Versicherung meiner Hochachtung.«

Ich wollte eben den Brief versiegeln, da trat der Kondukteur in die Gaststube des Darmstädter Hofes und lärmte stark. Er fragte mich, ob ich denn nicht wisse, daß ich auf einem Postwagen fahre, der keinen Augenblick Zeit verliere und auf niemanden warte. Ich solle eilen, denn er könne sich nicht länger aufhalten, als bis er seinen Schoppen Wein werde getrunken haben, den ich ihm soeben hätte vorsetzen lassen. Nach einer halben Stunde gingen wir beide ans Posthaus, und wirklich war der Sattelgaul schon vorgespannt. Ich erschrak; wie leicht hätte ich zu spät kommen können!

Von der Nacht habe ich nichts mitzuteilen. Nur wenigen guten Freunden (ich reiche nicht weiter) fülle ich ein Glas von meiner echten Bergsträßer Freudenstation. Ich erwachte wie ein Mühlknappe aus dem festesten Schlafe, da die Räder stillstanden und nicht mehr klapperten. Der Wagen hielt vor der Posthalterei – eines Dorfes, wie ich dachte; denn das Haus lag abgesondert von dem Orte, und man konnte nicht merken, daß es einem Städtchen zugehöre. Ich trat hinein, stieg eine Treppe hinauf und öffnete rasch und gebieterisch die Stubentüre. [646] Nichts anderes suchte ich als einen Schnaps und die dazugehörigen Umgebungen, aber was traf ich, und wie ward ich betroffen! Um einen städtisch geordneten Abendtisch saßen vierundzwanzig Augen (worunter mehrere schön), die frugen mich alle zugleich, was ich hier wollte? Mir aber war im Innern voller Jämmerlichkeit, im Bewußtsein meiner äußern. Einem vom Viehmarkte heimkehrenden Ochsentreiber sah ich nicht sowohl ähnlich als gleich. Die brünette Nachtmütze auf dem Kopfe war mit einem Schnupftuche umwunden, nicht zu mehrerer Wärme des Kopfes, sondern zu größerer Sicherheit der Mütze. Der Postwagen nämlich hatte gleich einem jungen muntern Kater seine Freude daran, mit der Mütze zu spielen, er machte häufige Sprünge und warf sie in die Höhe; da mußte ich sie festbinden. Eine angeschneite Halsbinde hing als gewässertes Ordensband in weiten Kreisen um meinen Nacken. Mein Ganzes umgab ein schabiger Biber. Ich riß beim Eintreten schnell Mütze und Tuch vom Kopfe und sagte halb fragend, halb positiv: »Ich weiß nicht, ob ich recht bin?« Die Postmeisterin sagte: »ja« und hieß mich Platz nehmen, indem sie den nahe am Tische stehenden leeren Stuhl etwas zurückschob. Diese Exkommunikation aus der Familiengemeinde fuhr wie ein Bannstrahl durch mein Herz und zündete. Ich fühlte, wie fremd ein Fremder sei in jedem häuslichen Kreise, wo Liebe wohnt, und daß er nur da nicht störe, wo er kein Glück zu stören findet. Kleiner war mein Kummer, daß ich hungerte, und zu der traurigen Scheidung vom Bette auch die Scheidung vom Tische kam. Als endlich der Blitz ausgebrannt hatte, ward ich kalt, erbost, ich dachte höhnisch: Kleider machen Leute, und schlug meinen Mantel zurück, damit die ganze Gesellschaft den eleganten englischen Frack darunter sähe, wie ihn wohl kein Ochsentreiber zu tragen pflegt. Aber ich Unglückseliger [647] hatte vergessen, daß ich in Darmstadt den Frack weggelegt und einen Nachtpelz angezogen hatte, der aus mehreren Katzenfellen ganz elend zusammengesetzt war. Jetzt fühlte ich, daß meine gekränkte Eitelkeit errötete, und ich eilte, das Befestigungstuch in meiner rechten Hand als Maske meiner Verlegenheit zu gebrauchen. Aber mein böser Geist verfolgte mich; mit dem Tuche war noch die Mütze verwickelt, und so machte ich mir, als wolle ich die ganze Post verhöhnen, eine lange baumwollene Nase, deren Spitze die hundertästige Quaste bildete. Jetzt konnte es der Posthalter nicht länger aushalten, das Lachen stand ihm schon an der Unterlippe; er ergriff schnell ein Glas und trank, aber das Weinwasser war zu seicht, er konnte das Lachen nicht ertränken, und es kam lebendig aus dem Glase wieder hervor. Es platzte los; ich glühte.

Da erbarmte sich meiner ein Engel in der höchsten Not, die Tochter des Posthauses. Ihre zwei dunkelblauen italienischen Nachthimmel strahlten die süßesten Sterne auf den Geliebten herab, der an der Seite des Mädchens saß und, zur Gitarre singend, mit fröhlichen und schmachtenden Liedern in das Herz und Auge der seligen Braut einzog. Das seidenumsponnene Köpfchen lag auf seiner Schulter, und ihr Arm war zwischen dem seinigen und, von dem roten Bande der Gitarre umringelt, gar wunderlieblich geflochten. »Wilhelm«, sprach sie, sanft seine Hand und das Spiel hemmend, »so einen Tigerpelz, wie der Herr hat, mußt du dir kommen lassen, der hält wohl warm.« Ich dankte es dem guten Mädchen, das meinem schüchternen Katzenfelle durch Erwähnung seiner vornehmen Verwandten Mut einsprach. Sie frug mich nach dem Ziele meiner Reise, und das Tauwetter ihrer warmen Stimme schmolz das Eis um meinem Herzen. Jetzt folgte Vater und Mutter der freundlichen Führung der Tochter, man lud mich zum [648] Punsche ein, ich rückte den Stuhl näher an den Tisch und pries zum ersten Male die zögernde Fahrt. Eine Stunde schlich diebischleise vorüber. Ich stieg in den Wagen, die Stampf- und Walkmühle kam wieder in den Gang, und ich erwachte erst am Morgen an den steinigen Ufern des Neckars.

In Heidelberg hielten wir uns nicht lange auf; ich hatte nur Zeit, sechs Professoren, den Schloßgarten und die nächsten Umgebungen der Stadt zu besuchen. Es waren liebe alte Freunde meiner Studienjahre. Dort machte der Franzose einer Landsmännin Platz. Ich konnte auf dem ganzen Wege nicht recht klug aus ihm werden; denn ich hatte La police dévoilée par Manuel und die Briefe eines reisenden Franzosen über die geheime Polizei in Wien gelesen und war zu klug daraus geworden. Er war ein großer, starker, zerlumpter Kerl, der sich für einen reisenden Weinkrämer ausgab; aber er hatte seinen Flassan im Kopfe so gut als einer und sprach von der Politik des Duc de Choiseul, als wäre er dessen geheimer Sekretär gewesen. Allerdings war der Kerl verdächtig; denn er war Franzose und erhob die Deutschen über seine eigenen Landsleute. Die ihn zu Heidelberg ablösende Landsmännin wollte eine Gouvernante vorstellen, die nach Lausanne, ihrem Geburtsorte, reiste. Im Postwagen nahm sie ihren Platz und die Passagiere zu gleicher Zeit ein. Hinter dem Schleier, der über das niedliche Spitzenhäubchen herabhing, wetterleuchteten zwei schwüle Augen. Der kleine Mund lächelte bezaubernd, wenn er schwieg und wenn er sprach. Sie warf ein breites Netz aus, dessen Maschen sehr eng waren. Von einem Schreinergesellen, der aus Paris kam, ließ sie sich ein deutsches Zettelchen übersetzen; der Schreiner leimte mühsam, aber stolz und zufrieden die Worte zusammen. Die junge Ehefrau aus Königsberg nahm sie ein, indem sie gegen ihren Gemahl einsilbig war, und [649] diesen gewann sie durch verstohlenes Treten der Fußzehen. Ich selbst betete sie schon aus Dankbarkeit, obzwar im stillen an, da der Strom ihrer Rede mein Tintenfluß war, aus dem ich für den Charakter einer Französin zu einem künftigen Ostern- oder Michaelisromane unaufhörlich schöpfte. Sie setzte ihre feine Aufmerksamkeit sogar fort, wenn wir Passagiere des Nachts schliefen, und sie fragte den Heilbronner Bräutigam im Dunkeln mit der herzlichsten Teilnahme: warum er so stille und zerstreut sei. Unter allen Passagieren war sie gegen mich am artigsten aus keinem andern Grunde, als weil ich grob war. Denn man gewinnt die Weiber nie häufiger, als wenn man sie für Nieten hält. Obige Gouvernante ist für unsere Naturgeschichte von der äußersten Wichtigkeit; denn sie sagte über die Physiologie der Postwägen die frappantesten Dinge. Als wir in der Gegend von Neckergemünd aussteigen mußten, weil es bergan ging, bemerkte sie: wenn auf der See ein Schiff erleichtert werden sollte, würden die Güter über Bord geworfen, nicht aber die Mannschaft wie hier. Sie habe überhaupt die traurige Erfahrung gemacht, daß man auf Postwägen die Ballen höher schätze als die Menschen, und jedes gefühlvolle Passagierherz müsse darüber seufzen. Ein Passagier, er möge noch so schwer sein, brauche für seine Person kein Übergewicht zu bezahlen und zahle überhaupt weniger als tote Ware. Ihr Platz nach Stuttgart koste ihr kaum sechs Gulden, und sie wiege doch 100 Pfund brutto, die Fracht für einen Zentner Seidenzeuge aber betrüge mehr als das Doppelte. Dieser Tarif beleidige die Würde der menschlichen Natur auf das gröblichste. Auf den Stationen würden beim Auf- und Abladen des Wagens die Pakete mit der ängstlichsten Sorgfalt nachgezählt und nicht eher weitergefahren, bis man sich versichert, daß keines fehle. Um die Passagiere aber bekümmere man sich nicht, [650] und sobald der Kondukteur sich satt getrunken habe, fahre man fort, mag zurückgeblieben sein, wer da wolle ... Jetzt konnte es der Kondukteur in concreto, der hinter ihr herging, nicht länger aushalten. Er ward giftig und sagte (als Rheinländer und rezidiver Patriot): ja, ci-devant, werde Mademoiselle mit 4 Einquartierungspferden dans une voiture générale bequemer gefahren sein, das habe sich aber jetzt geändert. Er wollte sagen: in einem Generalswagen. Die Französin verstand ihn aber nicht und fuhr in der Weise des Boileau fort. Ja, zu Heilbronn im Falken machte sie es ärger und hielt an der Wirtstafel öffentliche satirische Vorlesungen über unsere vaterländischen Postwägen. Sie frug, warum so ein lourd animal »diligence« hieße und nicht, was richtiger wäre, paresse oder négligence. Man solle ihr Kamillentee machen, sie sei von dem starken Schaukeln ganz seekrank geworden, und es wäre ihr jämmerlich um das Herz. Ob es hierzulande nicht bekannt wäre, daß man, wenn die See hoch ginge, die steilen Wogen durch ausgegossenes Öl breche und hierdurch dem Schiffe einen sanften Weg bahnte; warum man Achsen, Federn und sonstiges Eisenwerk des Postwagens durch einiges Öl nicht ebenfalls geschmeidiger zu machen suche. Die langsame Fahrt des Postwagens habe ihr schon einmal ein großes Glück vereitelt. Sie sei nämlich unter sehr vorteilhaften Bedingungen von Stralsund nach der Gegend von Halberstadt berufen worden, um bei der Tochter einer Landedelfrau Erzieherin zu werden. Einen Tag nach Empfange der Einladung wäre sie auch schon im Postwagen gesessen. Als sie aber an Ort und Stelle gekommen, habe sie ihren Zögling als Gattin gefunden. Während ihrer Schneckenfahrt hätte sich das Fräulein in einen jungen Husarenoffizier verliebt und denselben nach langem Widerstande der Eltern endlich geheiratet. Mit Not hätte sie ihre Reisekosten wieder erstattet bekommen ... [651] Einen reisenden Flötisten an der Wirtstafel fragte sie, ob er niemals auf die vielen Instrumente achtgehabt, die alle der Postwagen spiele? Sie habe sich erstaunt über die mannigfaltigen Laute, die er bald gleichzeitig, bald abwechselnd während des Fahrens von sich gebe. Er ächze, seufze, stöhne, klappere, grunze, schnurre, rassele, zische, maue, belle, knurre, schnattere, quäke, brumme, klimpere, pfeife, murmele, schluchze, singe, klage und schmolle. (Die muntere Französin machte alle die hergezählten Laute mit Zunge und Lippen akustisch nach, welches artig genug war.) Alle Klagetöne des Jeremias gäbe er von sich. Sie habe im Sächsischen vierundzwanzig solcher Jammertonarten gezählt und auch durch fleißiges Nachforschen jedesmal deren Entstehung entdeckt. Bald klimperte das Wagenfenster in seiner Fuge, bald rasselte die Kette des Hemmschuhes, bald ächzte der lederne Sitz unter dem grausamen Drucke seiner sechs Tyrannen. Nur ein einziges Mal habe sie einen gewissen Tongrund unergründlich gefunden, durch Beharrlichkeit aber ihn doch endlich entdeckt. Das ohrenzerreißende Klappern sei von zwei sechspfündigen Vorhängeschlössern entstanden, welche die Pakete in dem Sitzkasten des Postwagens ängstlicher schützten, als nötig war. Dieses mörderische Geklapper sei ihr so lästig gefallen, daß sie auf der nächsten Station, nachdem die übrigen Passagiere ausgestiegen waren, vermittelst eines Fadens die Schlösser geschickt befestigt habe, damit sie sich nicht mehr rühren können. Über diese Arbeit habe sie der Kondukteur ertappt und sie als Postdiebin angeklagt. Der Amtmann, dem sie vorgeführt, hätte sie eine Cartouche, eine Schinderjohanna genannt; denn, habe er gesagt, er wisse recht gut, wie es die Spitzbuben machten, und daß sie vermittelst eines Zwirnsfadens die festesten Vorhängeschlösser öffnen können. Sie sei damals in [652] große Not gekommen, und nur mit Mühe wäre es ihr gelungen, durch Vorzeigen vielen Geldes, und indem sie, den reichsten und mächtigsten Fürsten gleich, vor einem gefallenen Napoleon sich zu bücken verschmähte und kaum hinabsah, den Richter von ihrem Überflusse und ihrer Unschuld zu überzeugen. Während der Untersuchung sei der Postwagen abgefahren und habe einen Vorsprung von zwei Stunden genommen, weswegen sie genötigt gewesen, mit Extrapost nachzueilen, und ob sie zwar schon nach einer halben Stunde den Wagen wiedereingeholt und die Extrapost zurückgeschickt habe, hätte sie doch die ganze Station zahlen müssen.

Nur Bosheit kann es für Bosheit erklären, daß die Französin auf gemeldete Weise länger als zwei Stunden ironisch war. Hatte sie nicht mit der Zeit dazu (die Zögerung des Postwagens verschaffte sie) zugleich das Recht dazu erlangt? Was sie über verwandte deutsche Angelegenheiten pythisch sprach (der Glühweinnapf gab die delphischen Dünste), verschweige ich mehr unwillig als freiwillig. Ich half ihr mit größerer Hochachtung und weniger Geschicklichkeit in den Wagen, als ich ihr neun Viertelstunden früher heraus geholfen hatte. Der Bräutigam blieb zu Heilbronn zurück, aber sein Herz machte als blinder Passagier noch die ganze Nachtreise mit. Er hatte bald in den Gesichtszügen der schönen Französin mehr Unähnlichkeit als Ähnlichkeit mit seiner Braut gefunden, und seine Blicke sangen unter vollständiger Seufzerbegleitung die rührendsten Liebeslieder. Deutsche Mädchen könnten die Treue ihrer Liebhaber auf keine bessere Probe stellen, als wenn sie sie eine funfzig Meilen weite Reise auf einem vaterländischen Postwagen machen und sie nach der Rückkunft schwören ließen, daß auf dieser Ulyssesfahrt nie eine Circe ihr Heimweh gemildert habe. Wenn sie nicht falsch schwören, dürfen sich die guten Mädchen wenigstens auf 52 Flitterwochen Hoffnung machen.

[653] Eine Stunde hinter Heilbronn, um Mitternacht, hielt der Wagen auf freiem Felde still. Die Türe wurde hastig aufgerissen, und eine fürchterliche Gestalt in langem Barte und Schwert an der Seite drohte einzusteigen. Der Neuvermählte schrie: »Herr Jesus!« Seine Frau wollte schnell ihre Ohrringe abziehen und kneipte mir mit den Worten: »Da, lieber Herr!« so fürchterlich ins Ohr, daß ich später mein zaghaftes Schreckgeschrei verschönernd in einen Schmerzesruf verwandeln konnte; die Französin sagte gelassen: »Hätten wir nur eine Laterne« (sie hoffte, der Räuber würde sie schonen, sobald er sie sähe); der Schreinergesell blieb ruhig. Wir wurden es auch alle wieder, da der Kondukteur erklärte, der Herr wolle ein wenig einsteigen, weil es schneie. Der Fußgänger, der, wie sich später ergab, um sich abzuhärten, gern in Winternächten reiste, nahm den Bräutigamsplatz an der Seite der Französin ein. Er verriet bald durch Worte und Taten, daß er sich vor kurzem aus einer Turnpflanzschule gerissen (einige Erde hing ihm noch an der Wurzel), und daß er sich nach Ludwigsburg zu versetzen gedenke, um dort Ableger zu machen. Als die Französin ihre Sprache, die sie keineswegs verloren, sondern nur versteckt hatte, wieder herbeigeholt, ließ der Turnsetzling das Wagenfenster nieder und sagte, er müsse Luft schöpfen. Es werde ihm immer engbrüstig, sobald er die Sprache des Erbfeindes höre. In seiner baldigen Erziehungsanstalt werde er, zum Nutzen seiner Zöglinge, die das Französische unglücklicherweise früher kennen gelernt als ihn, eine falsche französische Grammatik und ein desgleichen Wörterbuch drucken lassen, damit sie es daraus wieder verlernten. Auch dürften sie nie eine Halsbinde tragen. Er kenne nichts, was die Stabilität der Zwingherrschaft stärker schütze als jene beiden Dinge. Der verderbliche Einfluß der französischen Sprache sei jedermann hinlänglich bekannt; der der Halsbinden [654] aber weniger. Eine Halsbinde bilde eine unübersteigliche Mauer zwischen Kopf und Herz, weswegen beide nie zusammenkommen könnten. Darum wären auch die Soldatenhälse am engsten zugeschnürt. Die Weiber, welche keine tragen, dächten gefühlvoller und fühlten verständiger; sie hätten stets Liebe im Kopfe und liebten nie ohne vernünftigen Zweck. Die freien Griechen hätten nie Halsbinden getragen 1.

Die Französin erfuhr früher aus den Handlungen als aus den Reden des Turners (sie verstand das Deutsche wenig), daß er die Höflichkeit zu den Lastern des Erbfeindes zähle. Wir männlichen Passagiere alle hatten uns aus Rücksicht ihrer auf der ganzen Reise des Rauchens enthalten. Als ich mir hinter Heidelberg die erste Pfeife gestopft, wußte sie (noch hatte der Zunder im Kopfe nicht gezündet) ein vorläufiges Husten geschickt nachzumachen und sagte, der Rauch mache ihr Reiz. »Sie haben dann einen Reiz mehr«, hatte ich ihr artig erwidert. Sie faßte dankend den Sinn, ohne die Worte zu verstehen, wie man bemerken kann, daß selbst ein zweijähriges lallendes Mädchen lächelt, wenn man ihm etwas Schönes sagt. Aber es half mich nichts. Sie sagte, als Französin sei ihr Vaterland überall, und wie ich wissen werde, sei das Rauchen aus ländischen Tabaks in Frankreich verboten. Ich mußte nachgeben. Aber der Turner bekümmerte sich nicht darum und dampfte. In Besigheim auf der Station führte die Französin Klage beim Posthalter und berief sich auf ihren Heidelberger Postzettel, worin es heißt: »Das Rauchen ist untersagt.« Der Turner [655] zeigte einen Stuttgarter Postzettel vor, der ihm vor wenigen Tagen nach Heidelberg ausgefertigt worden und worin es Art. 15 heißt, das Rauchen aus wohlverschlossenen Pfeifen sei erlaubt; nun aber könne nicht geleugnet werden, daß es ganz der nämliche Weg sei, der von Heidelberg nach Stuttgart und von Stuttgart nach Heidelberg führe. Der Posthalter wagte weder das badensche noch das württemberger Landrecht zu beleidigen und enthielt sich der Entscheidung. Ich aber hatte einen glücklichen Gedanken. Ich trat ernst vor den Turner hin und sprach: »Wandersmann, die alten Deutschen haben nie geraucht!« Da warf er heftig die Pfeife zur Erde, umarmte mich, drückte mich an seine Brust und sprach: »O Bruder!« Darauf holte er aus dem Wagen einen Aschenkrug, der auf dem Leichenfelde der zweiundzwanzigsten Legion in der Nähe von Mainz ausgegraben worden war. Daraus schenkte er mir Met in ein Horn ein und trank mir zu. Wir ließen die freundschaftstiftenden Poststationen hochleben. Kurz vor dem Einsteigen sagte ich dem Teutonen: »Bruder, du bist ein Narr! Dir es mündlich zu beweisen, ist jetzt die Zeit zu kurz. Ich will es aber schriftlich in meiner Monographie der deutschen Postschnecke dartun.« Er wolle sich gedulden, sagte er. Darauf fuhren wir weiter.

In Ludwigsburg frug ich den Kondukteur, warum der schwerbeladene, nur mit zwei Pferden bespannte Beiwagen dem mit vieren bespannten Postwagen hart vorführe, wodurch der Lauf des letzteren notwendig gehemmt werden müßte? Er antwortete, dieses sei notwendig, die Hochfürstlich Thurn-und-Taxischen fahrenden Postpferde hätten zuviel Feuer und würden, um den Peitschenhieben auszuweichen, zu arg rennen, wenn man ihnen nicht, gleich den Soldaten beim Spitzrutenlaufen, ein gelassenes Hindernis vorangehen ließe. »Dieses erfahre ich noch zur rechten Zeit«, bemerkte ich. »Ich hatte [656] geglaubt, die Pferde gingen vorsätzlich aus unverzeihlicher Trägheit so langsam, und ich wollte in meiner wahrscheinlichen Satire über die vaterländischen Postwägen den Rat erteilen, man solle den Gäulen vor dem Anspannen einige Originalfläschchen von den so beliebten als magenstärkenden Diabolini, mit welchen der Konditor Schnell in Frankfurt bestens versehen ist, verschlucken lassen, damit sie den Teufel in den Leib bekämen und toll fortrennten, um eher zum Stalle in den Kreis der ihrigen zurückzukehren. Jetzt aber sind sie überflüssig, der Teufel und der Rat.« »Allerdings sind sie das«, er widerte der verständige Kondukteur. »Sie glauben nicht«, fuhr er fort, »welche große Mühe eine hohe Viehpolizei hat, das Feuer der raschen Tiere zu mäßigen, und wie wehe es ihr selbst tut, den Mißbrauch der tierischen Freiheit nicht anders verhüten zu können als durch das Verbot ihres vernünftigen Gebrauches. (Hier sah ich den Wagen- und Passagieraufseher mit dummen Augen an und zog meine Fühlhörner vorsichtig in mein Schneckenhaus zurück.) Der nicht bloß mit Habe und Gut der einzelnen, sondern auch mit steuerpflichtigen Bürgern und Staatsgeldern reich beladene Postwagen würde in Trümmer gehen, wenn man den vorgespannten Pferden freien Lauf ließe. Nur durch die schwerfälligsten Postwagen sei dieser zu hemmen, weswegen auch jeder Wagen, sobald er durch einigen Gebrauch abgeschliffener, geschmeidiger und leichter geworden wäre, sogleich ab- und dafür neue alte angeschafft würden, wie Sie sich am nächsten 8. Dezember in Frankfurt überzeugen können, wo die Fürstlich Thurn-und-Taxische Hauptexpedition fahrender Posten im Rahmhofe zwei für den Dienst nicht mehr verwendbare Diligencen öffentlich an den Meistbietenden, mit Vorbehalt höherer Ratifikation einer hochpreislichen Generalpostdirekton, würde versteigern lassen. Jenen [657] beiden Diligencen fehlt es aber an nichts als an Gewicht.«

In Ludwigsburg räumte der altdeutsche Nachzügler und Spätturner seinen Platz Nr. 6 einem Manne ein, der sehr niedergeschlagen schien und in der hohen Postwagenversammlung nur Sitz und keine Stimme nahm. Erst eine Stunde später munterte ihn die Präsidialstimme (die der Französin) zum Reden und Klagen auf. Er sei ein Hutmachermeister, erzählte er, und in Ludwigsburg wohnhaft. Vor einigen Monaten sei er von der Wanderschaft zurückgekommen und habe bald darauf eine Frau und das Meisterrecht genommen. Sein Schwiegervater, ein Weinwirt, habe ein glänzendes Hochzeitfest gegeben und die feinsten, gebildetsten Honoratioren als starke Hutkonsumenten dazu eingeladen. Die Gäste, als sie spät am Morgen weggegangen, hätten ihren Dank nur stammeln können, so voll sei ihnen Kopf und Herz gewesen. Zwei Tage später sei ihm dieser und jener der Hochzeitgäste auf der Straße in den Weg gekommen, und da habe er mit mehr Verdruß als Erstaunen bemerkt, daß ihn keiner bald mehr habe kennen wollen. Es hätte niemand den Hut vor ihm abgezogen, und höchstens habe man mit einer leichten Handbewegung seinen Gruß erwidert. Darüber sei er nun in keine große Verwunderung geraten; denn auf seiner Wanderung habe er die vornehme Welt hinlänglich kennen gelernt und erfahren, daß, wenn sie es auch nicht immer verschmäht, sich mit den Geringern gemeinschaftlich zu vergnügen, der Schlamm ihrer Gesinnung doch jedes mal wieder zum Vorschein komme, sobald die Weinüberschwemmung abgelaufen sei. Er für seine Person habe im Herzen die Hochmütigen verlacht und, seines Gewerbes eingedenk, die Höflichkeit gegen sie verdoppelt, indem er seinen Hut als sein ambulantes Warenschild und Muster stark vor ihnen geschwenkt. Eines Tages, da er diesen vor [658] einem Gerichtsassessor, der auch bei seiner Hochzeit gewesen, besonders tief geneigt, sei jener zu ihm getreten und habe erzürnt gesprochen: »Wie können Sie sich unterstehen, den Hut vor mir abzuziehen? Sie sind ein Flegel, wissen Sie das?« Er, Hutmachermeister, habe dem Erzürnten kalt und unbeweglich wie ein Schneemann nachgesehen und einer ganzen Viertelstunde bedurft, um von den Straßensteinen wieder loszufrieren. Selbst seine Frau, die den Assessor als einen sonst lieben Menschen gekannt, da er in ihrer elterlichen Weinstube oft gesessen, habe gesagt, sie könne nicht klug daraus werden. Aber noch am nämlichen Tage habe sich das Rätsel gelöst. Die Hutmachergeschwornen hatten auf den Abend sämtliche Meister zusammenberufen lassen und ihnen vorgestellt, daß dem Handwerke große Gefahr drohe. Die gebildetsten Stände der Stadt hätten sich nämlich vereinigt, gemeinschaftlich grob zu sein, den Hut nicht mehr vor einander abzuziehen, sondern sich beim Begegnen bloß starr anzusehen. Was in dieser Not zu tun sei? Aber keiner habe Rat gewußt. Wie nun seitdem das Nichthutabnehmen täglich zunehme, nehme der Hutverbrauch täglich ab, und sechs brot- und hoffnungslose Meister hätten sich vorgenommen, nach Rußland auszuwandern. Er, Passagier, reise nach Stuttgart, um sich einen Paß zu holen.

Die Französin hörte dieser Erzählung um so aufmerksamer zu, je weniger sie der ihr fremden Sprache wegen davon verstand. Ich aber schämte mich der Albernheiten meiner Landsleute und hütete mich, den Dolmetscher zu machen. Ich log ihr eine unglückliche Liebe vor und lockte dem guten Mädchen eine Träne in die Augen. Den Hutmachermeister aber tröstete ich. »Beruhigen Sie sich, lieber Freund«, sagte ich, »unsere deutschen Landsleute sind glücklicherweise keine chronische Narren, sondern nur akute; das Hutfieber wird bald vorübergehen. Kehren [659] Sie nach Hause zurück, doch wollen Sie sich von Ihrem Auswanderungsvorhaben nicht abbringen lassen, so eilen Sie sich wenigstens nicht, indem Sie zu Fuße aus Deutschland wandern, sondern fahren Sie lieber im Postwagen, und ehe Sie die deutsche Grenze übertreten, wird sich die Gesinnung der groben Gesellschaft gebessert haben.« Meine Zusprache blieb nicht ohne Erfolg, und als ich den Hutmachermeister aufmerksam machte, wie sehr durch das Rütteln des Postwagens die Hüte gequetscht und abgenützt würden, man habe sie nun auf dem Kopfe, auf dem Schoße oder oben im Netze, so erheiterte sich sein Gesicht, und er sagte, er bemerke dieses mit Vergnügen, und die Beulen, welche die Hüte von den Schlägen des Wagens empfingen, wären wahre Pestbeulen für sie, woran sie sterben müßten. Als ich ihn fragte, ob es für einen Hochfürstlich Thurn-und-Taxischen fahrenden Postpassagier kein Mittel gebe, seinen Hut unbeschädigt zu erhalten, riet mir der Schelm, ich solle ihn auf den Boden des Wagens stellen und abwechselnd den rechten und linken Fuß hineinsetzen, wodurch nicht allein der Hut unerschütterlich, sondern auch der Fuß warm gehalten würde, für welche Wärme die wenigen Strohhalme nicht genug sorgten.

In Stuttgart zerbrach ich den ironischen Mantel, zog die Glocke in die Höhe und ließ sie frei ihre Jammertöne über vaterländische Postwägen in der Trinkstube ausbrummen. »Herr Major«, sagte ich, »hätte ich einen Säbel wie Sie, meine ästhetischen Flüche gehörig zu unterstützen, hol' mich der Teufel, ich haute ein, und es gäbe blutige Köpfe. Ist der Passagier ein Narr jedes Postmeisters, Kondukteurs und Postillions, und muß er liegen bleiben, sooft es diesen Herren gefällt, Wein zu trinken oder auszuschenken? Kommt man in ein Nest und trägt nicht Lust, im Postwagen zu warten und zu frieren, umdreht der Eigentümer des Ofens unsern schlotternden [660] Leib wie die Katze den Brei, und tausend Fragezeichen im Gesichte zweifeln, was man befehle? Muß ein armer Passagier leben wie die große Welt in Paris und um Mitternacht Koteletts essen? In Zeit von 46 Stunden, worunter 14 nächtliche, habe ich 12 Schoppen Wein getrunken und noch einige mehr bezahlt für den Kondukteur. Wie weit ist es, Herr Major, von Frankfurt nach Stuttgart? Also kaum 40 Stunden! und auf diesem kurzen Wege haben wir 15 Stunden Rast gehalten 2. Ich bin von Straßburg nach Paris, und von Paris nach Metz auf der Diligence gereist und hatte kein Sohlleder unter mir, sondern gute Verviers-Mitteltücher, und auf [661] diesen beiden Reisen zusammen hat sich der Wagen nicht 10 Stunden aufgehalten. Ist das nicht zum Tollwerden, nämlich das erstere? Ist es nicht Schimpf und Schande, daß das Zusammentreffen der Postwägen auf den Kreuzwegen so schlecht eingerichtet ist, daß ich – ich erzähle es Ihnen jetzt schon, Herr Major, ob es mir zwar erst acht Tage später auf meiner Rückreise begegnen wird – daß ich in Bruchsal 24 Stunden liegen bleiben und auf den Straßburger Wagen warten mußte, bis ich weiter konnte nach Frankfurt? Warum gibt man den Reisenden nicht wenigstens Wartegeld, gleich den quieszierenden Staatsdienern, bis sie einen Platz und ihr Fortkommen finden? Wer verstattet mir meine Auslagen für zwei Lagen Postpapier, die ich in Bruchsal zu dieser Monographie verwendete, und, Herr Major – ich benutze diese Gelegenheit, mich zu unterrichten –, warum nennt man feines Papier so uneigentlich Postpapier? Ich weiß nicht, ob Sie die Abendzeitung lesen, Herr Major? dort erzählt Herr Mühlen in Nr. 33 dieses Jahrgangs die Anekdote von einem Sonderling, der viel gereist sei. Auf diesen Reisen (wird erzählt), die er stets mit Extrapost machte, verursachte ihm aber nichts so viel Ärger als die Postmeister, Posthalter und Postillione, und wenn er auf diese zu sprechen kam, so war er unerschöpflich in Sarkasmen und Schilderungen ihrer Roheit, Habgier und der Langsamkeit auf den Stationen und im Fahren. Dieser Antagonismus sprach sich auch in seinem letzten Willen aus. In seinem Testament hatte er nachstehendes verordnet. Nachdem er diejenigen namentlich aufgeführt, welche seine Leiche zur Ruhestätte begleiten sollten, hieß es: ›Ich verlange ausdrücklich, daß die vorgenannten Personen in mit Extrapostpferden bespannten Wagen meiner Leiche folgen sollen, und sind die diesfälligen Kosten aus den zu meinem Begräbnis ausgesetzten Summen zu bestreiten; denn da es [662] der Anstand erheischt, daß ein Leichenzug feierlich undlangsam vor sich gehen muß, so werden die Postillione das letztere unfehlbar am besten ausrichten.‹ Hätten Sie, wie ich, die Abendzeitung gelesen, Herr Major, wären Sie nicht auch auf meinen nachfolgenden Gedanken gefallen? Man sollte nicht die Leidtragenden, sondern die Leichen selbst auf Hochfürstlich Thurn-und-Taxischen fahrenden Postwägen zum Begräbnisse führen, damit sie Zeit gewönnen, aus dem Scheintode zu erwachen, da, wenn in der Asche des Lebens nur noch ein Fünkchen glimmt, das Rütteln des Wagens es zur Flamme anfachen müsse. Wäre dieses nicht eine sehr gute ambulante Totenschau?«

Nachdem ich mich auf diese Weise schlau zu revolutionären Äußerungen verleitet hatte, ging ich eiligst auf mein Zimmer, um alles, was ich von mir gehört, wie folgt zu berichten.

»Herr geheimer Ober-Tugend-Direktor!

Es war zum Glücke der Welt, daß ich nicht von Darmstadt sogleich wieder umgekehrt bin, sie wäre selbst umgekehrt worden, die Welt, wenn ich es getan hätte. Ich habe die Wurzel der Verschwörung entdeckt und halte sämtliche Verschwornen, ihre Namen nämlich, in meinen Händen. Schon wollte ich mich außer acht lassen, da ich seit jener Turnübung, wovon ich Ihnen früher berichtet, sonst keine verdächtigen Gesinnungen geäußert hatte, da habe ich mich noch zu rechter Zeit ertappt und die Überzeugung erhalten, daß ich nicht allein des Verdachtes verdächtig, sondern höchst wahrscheinlich wirklich verdächtig bin. Zu Heilbronn im Falken belauschte ich ein Gespräch, das ich mit dem Oberkellner geführt, und das ich stellenweise hierhersetzen will. Ich: Welche Zeit ist es?Kellner: Ich habe die Uhr nicht schlagen hören. Ich: Wo ist Ihr Herr? Kellner: Er sitzt dort am Tische [663] und trinkt roten Wein. Ich: Wo ist der Hausknecht? Kellner: Er liegt im Stalle und schläft. Ich: Wo kauft man Apfelsinen? Kellner: Bei Wolf auf dem Reismarkt.Ich: Bringen Sie mir Karbonaden! Kellner: Die letzte Kohle ist ausgelöscht. Ich: So bringen Sie mir eine Hammelskeule ... Der Herr, der Blut trinkt – der schlafende Knecht – der reißende Wolf in den Apenninen – die ausgelöschte Kohle – der Keil – Karbonari ... Das war der eigentliche Sinn jener Unterredung, die kleinen heuchlerischen Abänderungen an den Worten konnten mich natürlich nicht irremachen. Die Vermutung meiner karbonarischen Umtriebe bestätigte sich in der Folge noch mehr. Ein Vertrauter, von dem ich mich in Stuttgart hatte beobachten lassen, berichtete mir, der Postwagenkondukteur habe irgendwo erzählt, er hätte mich gefragt wo ich in Stuttgart einkehren wolle, und mir das Waldhorn empfohlen, worauf ich aber mit Hastigkeit erwiderte: ›Nein, nein, ich logiere jedesmal im Römischen Kaiser und werde auch dieses Mal dort logieren, ich lasse nicht vom Römischen Kaiser.‹ Sie werden, Herr geheimer Ober-Tugend-Direktor, von selbst daraus entnehmen, daß ich meine Anhänglichkeit an die alte deutsche Reichsverfassung und das ehemalige Reichsoberhaupt hinlänglich an den Tag gelegt und den verbrecherischen Wunsch, die Einheit Deutschlands wiederhergestellt zu sehen, offenbart habe. Weiter wurde mir berichtet, ich hätte bei Tische mit einem Franzosen sehr eifrig von jambon de Mayence gesprochen und wäre leichtsinnig genug gewesen, zu glauben, es werde keiner merken, daß ich den ehemaligen Mainzer PräfektenJean Bon St.-André im Sinne führe. Höchst wahrscheinlich ist dieser Napoleonische Präfekt nicht gestorben, wie er vor einigen Jahren auszubreiten gesucht, sondern präfektiert in Mainz heimlich fort.

Da ich auf diese Weise die Wurzel der Verschwörung [664] entdeckt hatte, ging ich ihrem Stamme und ihren Zweigen nach und war so glücklich, die wichtigsten Entdeckungen zu machen. Die alta vendita der deutschen Karbonari ist in Ludwigsburg, und bereits hat sie zu Tübingen, Stuttgart, Frankfurt und Offenbach Töchterlogen errichtet. Statt der ausgelöschten Kohle haben sie, wegen Gleichheit der Farbe, den Hut zum Sinnbilde genommen, und sie nennen sich Brüder vom standhaften Hute. Ihr geheimer Zweck ist: Gleichheit, Liebe, Höflichkeit; öffentlich aber sind sie grob und stellen sich fremd gegeneinander, um sich nicht zu verraten. Ihr Grundsatz ist, die Welt sei nicht wegen der Hutmacher auf der Welt, worunter sie sinnbildlich verstehen, die Völker seien nicht wegen der Regierungen geschaffen; denn da der Kopf den Menschen beherrscht, so sind die Hüte die Residenzen und Hauptstädte der Menschheit. Sie grüßen sich nicht durch Hutabziehen, sondern auf militärische Art, durch Winken mit der Hand. Über die Gefahr einer solchen Verbindung stimmen Sie gewiß mit mir ein, Herr geheimer Ober-Tugend-Direktor. Durch das Aufbehalten der Hüte werden die Köpfe warm gemacht, und welches Unglück erhitzte Köpfe über die Welt verbreiten, haben wir genug erfahren. Die soldatische Begrüßungsweise ist nichts als eine versteckte Waffenübung, und es ist klar bewiesen, daß die Brüder vom standhaften Hute eine heimliche Landwehr bilden. Es ist dringend, diesen karbonarischen Umtrieben Einhalt zu tun. Nur allein durch die Mobilität der Hüte kann in Deutschland die Stabilität der Köpfe erhalten werden.

Ich muß eiligst den Bericht schließen; denn man meldet mir soeben, daß ich ausgehen werde, und ich muß mir nachfolgen, meine verdächtigen Schritte ferner zu beobachten.

Der Ihrige.


[665] Nachschrift. Da ich bemerkt habe, daß ich beim Trinken gern plaudere, so habe ich mir auf meine Kosten mehrere Male Wein vorsetzen lassen und bin so frei, die Rechnung der gemachten Auslagen Ihnen beifolgend zu überschicken.«

Auf meiner Rückreise von Stuttgart nach Frankfurt fuhr der Wagen mit lobenswerter Schnelligkeit. Schon wollte ich meinen satirischen Feldzug wieder einstellen, diesen gerechteren Krieg als die üblichen; denn er sollte die Feinde dafür bestrafen, daß sie mit der Zeitnicht fortgingen. Aber unglücklicherweise wurden zu Bruchsal die versäumten Versäumnisse nachgeholt. Ich mußte 24 Stunden dort liegen bleiben. Da ließ ich mein Kriegsmanifest ergehen und rückte vor. Dem Turner aber schrieb ich in der Eile folgende Zeilen nach Ludwigsburg.


Trübsal, den 9. Nov. 1820

»Bruderherz!

In Besigheim versprach ich, Dir ein anders Mal zu beweisen, daß Du ein Narr bist, aber Du mußt Dich gedulden; denn ich bin gegenwärtig sehr beschäftigt, da mein Vortrupp noch in dieser Stunde ins Taxische einrückt. Nur so viel sei Dir gesagt: Du bist kein Hofnarr, aber ein Volksnarr, und das ist schlimmer; denn das heißt: aller Leute Narr.

Der Ort, wo ich mein schreibendes Hauptquartier aufgeschlagen habe, heißt Bruchsal, aber mir ist er ein Trübsal und Scheusal. Wenn die Verzweiflung Witz gibt oder nimmt, so werde ich hier ein Voltaire oder eine Kretine. Ich möchte aus der Haut fahren, wäre nur eine Öffnung groß genug, mich durchzulassen, da ich ganz geschwollen bin vor Wut. So einen geschlagenen Hund, wie ich, gab es noch nicht. Nur zwei Wünsche habe ich jetzt. Erstens wünsche ich, daß zehentausend Millionen [666] Donnerwetter in das verfluchte Nest schlügen, und zweitens wünsche ich das nämliche noch einmal. Ich gehe zu streiten für die gute Sache. Falle ich, so lasse Deine Jungen jedes Jahr an meinem Sterbetage einen Burzelbaum über meinen Grabeshügel schlagen. Lebe wohl, Bruderherz!«

Ankündigung der Wage

Wer mag wohl ohne Lächeln oder Schmollen die Ankündigung einer neuen Zeitschrift in die Hände nehmen? Auch der gutmütigste Leser nicht, wenn er ein Deutscher ist. Denn diesem erscheint das lange Aussprechen über vaterländische Dinge nicht als das notwendig fortdauernde Atmen eines gesunden freien Geistes, sondern als das Stöhnen einer beengten Brust, welches Bedrückung verrät und als Zeichen eines Übelbefindens unerfreulich ist. Die Klagen der öffentlichen Redner, welche die Oberflächen aller Verhältnisse überziehen, dünken dem Deutschen nur der Schimmel zu sein, der sich unsern verdorbenen Einrichtungen angesetzt hat, und die als Werk der Fäulnis seine Trauer erregen. Den Lesern solcher Gesinnung ihren Wahn zu entziehen, als solle eine Zeitschrift nur als Sekundenzeiger an einer Uhr dienen, um den ungeordneten Puls des Staates zu verraten, nicht aber als das Triebwerk selbst, welches die Gänge der Zeit regelmäßig erhält und ihre Fortschritte abmißt, – dieses zu tun wird ein künftiges Bestreben der hier angekündigten Blätter sein. – Aber es gibt auch Andersdenkende, welche die Lust und Würde des freien Wortes besser erkennen und dennoch mit Überdruß die Zahl der Tagesblätter wachsen sehen, weil deren nur wenige [667] von der breiten staubigen Landstraße abweichen, durch anmutigere Pfade ziehen und die Langeweile dabei nur dann unterbrochen wird, wann die auf einem Wege, aber nach entgegengesetzter Richtung Wandernden sich begegnen und mit den Köpfen aneinanderstoßen. Mit diesen letztern möchte ich mich sogleich verständigen und darzutun suchen, daß eine Zeitschrift auch ohne eigentümlichen Wert, und welcher weiter nichts gelänge als die Vermehrung der schon bestehenden, dennoch von Ersprießlichkeit sei.

Und wahrlich so ist es! Wie zahlreiche Straßen und Kanäle, die durch das Gebiet eines Landes kreuzen, immer für Anzeichen eines gutgeordneten und reichen Staates gehalten worden, da viele Wege auf häufige Bewegung deuten und durch sie große und mannigfaltige Kräfte sich verkünden, so zeugt es nicht minder von einem lebhaften Umtausche der Gedanken, wenn ihrer freien und schnellen Mitteilung viele Wege offenstehen.

Wenn ein Zeitschriftsteller auch nur der Fuhrmann der Wissenschaft und der Geschichte wäre, bliebe er doch ein ehrenwerter Mann; aber er ist mehr als das. Er reicht uns das Gefäß, das unentbehrlich ist, um an der Quelle der Wahrheit für den Durst des Augenblicks zu schöpfen.

Denn die Ausbeute edler Wissenschaft, durch mühsame Forschung aus der Tiefe des menschlichen Geistes zutage gebracht, liegt oft in verborgenen Gemächern lange Zeit unberührt, dem Besitzer ohne Lust und Vorteil, dem Entbehrenden unbekannt oder unzugänglich, und so geschieht, daß viele in klar gewordenen oder dunkeln Bedürfnissen mitten unter ihren Schätzen darben. Alles Wissen ist nicht mehr als das Metall, womit sich das Leben bezahlt; für sich ungenießbar, gibt es nur Anweisung auf Genuß, und erst durch Hingeben empfängt man seinen Wert. Aber dieBarren der Wahrheit, [668] von Reichen an Geist in großen Werken niedergelegt, sind nicht dienlich, um die kleinen täglichen Bedürfnisse der Unbemittelten damit zu vergelten. Diese Brauchbarkeit hat nur das ausgemünzte Wissen.

Die Zeitschriften sind es, welche diese Münzen bilden; von der Ausbeute der Erkenntnis geprägt, unterhalten sie den Wechselverkehr zwischen Lehre und Ausübung. Nur sie führen die Wissenschaft ins Leben ein und das Leben zur Wissenschaft zurück. Auch ihre tadelnswerte Seite mag nicht unberührt bleiben. Die Gutgesinnten mögen, um dem übelwollenden Spotte zuvorzukommen, freiwillig eingestehen, daß Zeitschriften sowenig als Münzen zu ihrer Haltbarkeit der Beimischung unedler Metalle entbehren können; aber nichts entwürdigt eine Sache, was ihre Brauchbarkeit vermehrt. Wahrlich, das Kupfer, das durch Tagesblätter unter das Volk gebracht wird, ist mehr wert als alles Gold in Büchern. Wenn auch manche Wahrheit nur mit Irrtum vermischt ausgebreitet [werden] und ein richtiges Urteil oft nur Eingang finden kann, wo es an Vorurteil sich knüpft, so wird doch endlich das Untaugliche zu Boden sinken und das Gute allein sich emporhalten. Konnte doch die Vaterlandsliebe der Deutschen sich nur an einem ungebührlichen Hasse gegen ein fremdes Volk entzünden, und lodert nicht jetzt die schöne helle Flamme gereinigt fort, nachdem der schmutzige Schwamm, der sie erzeugte, schon längst verglommen ist?

Im deutschen Lande war der Baum der Erkenntnis eine ehrwürdige Eiche, die dem müden Menschen Schatten, aber der hungrigen Seele keine Speise gab, und die Kunst war eine Blumenflur, die nur das Aug' ergötzte. Reicher an Quellen des Wissens ist wohl kein anderes Land, und dennoch dürstet das Volk; denn die Wünschelrute, welche jene zutag' bringt, ist in den Händen der schuldbewußten Furchtsamen, die in den sturmbewegten [669] Wellen, welche das schlecht gesteuerte Schiff verschlingen, und in dem Labetrunke im Becher nur die anverwandten Wassertropfen sehen. Wenn Kinder glücklich sind, die, im engen Gehäuse der Gegenwart lebend, weder Vergangenheit noch Zukunft kennen; wenn der Blinde glücklich ist, der die Blitze am Himmel nicht fürchtet, weil er sie nicht sieht; wenn der Buchgelehrte glücklich ist, den in seinem Treibhause der Wissenschaft die kalte frische Luft der Welt nicht berührt – dann waren es die deutschen Völker auch. Wenn aber nur der glücklich ist, der alle Kräfte, die er [in] sich fühlt, gebrauchen und in das große Triebwerk des bürgerlichen Lebens der Menschen immer den Blick richten und, wenn es Zeit ist, auch eingreifen darf; und wenn der nicht glücklich ist, der wie in einer Uhrwerkstätte immer nur Zeiger, nur Federn oder nur Zifferblätter gedankenlos zu machen hat – so waren es die Deutschen auch nicht. Sie sind auf dem Wege, es zu werden. Für wen die Geschichte arbeitet, weiß keiner vorherzusagen, aber wer am meisten dabei gewann, für den hat sie gearbeitet. Und wer möchte den Bemühungen der dreißig letzten Jahre mehr abgewonnen haben als unser Vaterland, das am meisten zu erwerben hatte, weil es am wenigsten besaß?

Die Aussagen der Zeit zu erlauschen, ihr Mienenspiel zu deuten und beides niederzuschreiben, wäre ein ehrenvoller Dienst, selbst wenn er nicht gefahrvoll wäre. Daß er auch dieses ist, vermehrt seinen Reiz, und nur die Schwachheit vermag einer solchen Lockung zu widerstehen. Die Menschen haben Furcht, als wären sie Geschöpfe von nur augenblicklicher Dauer. Darum unterbleibt so vieles Gute in Worten wie in Taten.

Zu jenem Dienste sind noch lange nicht genug berufen, und doch ist so vieles daran gelegen, daß die Zeitschriften sich vermehren; ja, oft wäre zu wünschen, daß [670] die Tagesblätter in Stundenblätter auseinandergingen, damit nichts überhört werde und verloren gehe. Der beobachtenden Blicke können nie zu viele und die Berichte des Geschehenen nicht zu häufig werden. Die Entwickelungsstufe, über welche jetzt die Menschheit schreitet, bringt Verborgenes hervor, das sich schnell wieder bedeckt, sobald die Stufe erstiegen ist, und erst nach Jahrhunderten des Stillstandes, wenn das Menschengeschlecht von neuem einen Schritt macht, wiedererscheinen wird. Wie dort, wo dem Leben Gefahr droht, seine Geheimnisse hervorspringen und in den Erscheinungen der Krankheit sich uns die Gesetze des Wohlbefindens offenbaren, so müssen wir an den Gebrechen dieser Zeit die Regel ihrer Vollkommenheit lernen und, um den innern Bau der bürgerlichen Gesellschaft zu erforschen, schnell, ehe sie sich schließen, durch ihre offenen Wunden sehen.

Die Wage, als ein Tagebuch der Zeit, soll nichts unbedacht lassen, was die Teilnahme der Verständigen und Gefühlvollen besitzt oder verdient. Sie wird besprechen: das bürgerliche Leben, die Wissenschaft und die Kunst, vorzüglich aber die heilige Einheit jener drei. Denn nicht die Kraft und Bewegung des er sten, nicht die Fruchtbarkeit der andern, nicht die Blüte der dritten vermag für sich allein die Menschheit zu beseligen; nur ihre Verbindung kann es. Unddas ist's was das gegenwärtige Geschlecht an Glück und Bedeutung über das vergangene erhebt, daß es Arbeit und Arbeit, Lust und Lust nicht mehr so feindlich teilt und die Toga des Bürgers zugleich das Feierkleid des fröhlichen Menschen und das Hausgewand des ruhenden Vaters sein darf.

Woher es komme, daß wir, ungleich den Völkern des Altertums, uns der Meinung unterworfen haben, daß das menschliche Dasein zur Knechtarbeit bestimmt, daß die Freude nur die vergängliche Blüte, nicht die dauernde [671] Wurzel des Lebens sei, daß wir nur genießen, um zur Entbehrung neue Kräfte zu sammeln, der Zukunft jede Gegenwart aufopfernd, und dieses bis in die Ewigkeit hinüberrechnend – woher alle dieser Jammer fließe – dies in wenigen Worten zu sagen, wäre gefährlich, und fruchtlos ist's, wo man, sich verständlich zu machen, vieler Worte bedarf. Aber wahrlich, seitdem uns des Lebens Spiel nicht heilig mehr erscheint, ist uns das Heilige zum Spiel herabgesunken. Das glücklichste aller Völker, bei dem jene düstere Lebensansicht am wenigstens vorherrscht und das den alten Griechen am meisten gleicht, ist das französische. Wer in seinen Zeitschriften liest, wie auf derselben Blattseite Talmas Spiel auf der Bühne und das der Minister in den Kammern, beides mit gleichem Ernste und gleicher Heiterkeit, besprochen wird; der Deutsche, der dies wahrnimmt und nur lächelt, nicht trauert, der weiß es nicht, welch einen Vorsprung die Franzosen vor uns haben, die wir immer nur plötzlich und mit Gefahr der Gesundheit aus dem umschlossenen gewärmten Tempel der Kunst in die kalte Zugluft des bürgerlichen Lebens übertreten.

Die Kunst, welche, das Geschöpf zum Schöpfer erhebend, und, indem sie das Leben ein- und fortpflanzt, allen Wesen, die sie beseelt, Unsterblichkeit gibt, hat vor dem Kriege des Himmels mit der Erde und des Ewigen mit der Vergänglichkeit schon längst sich und alle ihre Habe geflüchtet. Als die Griechen noch Götter und Helden besaßen, hatten sie Tempel und Bildwerke für beides. Als im Mittelalter in den Staaten Italiens ein kräftiges und üppiges Bürgerleben sich entfaltete und die Nacht des Wissens durch den Stern der Religion erhellt ward, da entblieben die Dichter und Maler auch nicht. Wie aber könnte Bildnerei bei einem Volke ohne Umriß und öffentliches Leben und Malerkunst da gedeihen, wo Philosophie mit dem Glauben kämpft? – Die deutsche [672] Dichtkunst liegt im Dämmerscheine; ob es Morgenoder Abenddämmerung sei – ich weiß es nicht. Schöne rote Streifen am Himmel reden für beides. – Die Tonkunst ist die einzige, deren die Deutschen Meister sind und worin sie den übrigen Völkern es zuvortun. Den Verstand der Franzosen mit dem Gefühle der Italiener verbindend, ist die deutsche Musik plastisch und malerisch, Geist und Herz finden gleiche Befriedigung in ihr, und man braucht in ihrem Genusse nicht dem Himmel um der Erde willen zu entsagen. Könnten die Deutschen in Tönen reden und nach diesen Worten auch handeln, sie wären das erste aller Völker und würden vielleicht sich selbst achten. Da Werke auch verschiedener Künste wohl miteinander verglichen werden dürfen, weil die Darstellung des Gottähnlichen im Vergänglichen das gemeinschaftliche Streben aller ist, so mag die deutsche Tonkunst ihren Mozart kühn an die Seite Raffaels, Shakespeares und Canovas stellen.

Diesen Künsten soll in der Wage ein Platz angewiesen werden, welcher der Würde, die sie im öffentlichen Leben der Deutschen genießen, angemessen ist.

Die Schauspielkunst zeigt jetzt in Deutschland einen raschen Lebenstrieb, und der Volkstümlichkeit bald vorgehend, bald nacheilend, verdient sie eine hohe Aufmerksamkeit. Deren Gänge und Halte wird diese Zeitschrift nie aus dem Blicke verlieren. Es ist nicht bloß der Kunstsinn und das Gefühl fürs Schöne, die sich an der Beurteilung dramatischer Werke und ihrer Darstellung auf der Bühne üben, es treten noch andere Dinge hervor, welche hierbei die Teilnahme fesseln. Das stehende Schauspiel eines Orts ist selten besser, nie schlechter als die Zuhörer darin, und so wird es die höflichste Art, einer lieben Bürgerschaft überall zu sagen, was an ihr sei, daß man über ihre Bühne spreche.

Die Wissenschaft, dieses Meer, wohin alle Ströme des [673] Lebens fließen, hat lange nur einige Küstenstriche der menschlichen Wohnstätten bespült und das große Festland trocken gelassen. Aber in den Stürmen und Erdbeben unserer Zeit wurden oft die Ufer durchbrochen und Wasserzungen in das Land hineingeführt. Aus dem Ozean selbst haben fruchtbare Inseln sich erhoben, die herrlich grünen und blühen. Die deutsche Wissenschaft glich auch darin dem Meere, daß sie gesalzen und ungenießbar war; doch haben wir in unsern vielen Nöten die Destillation des Meerwassers für den Trank etwas erlernt, und seitdem sind unsere Fahrten fröhlicher geworden. Man sagt, die Wissenschaft in Deutschland habe an Tiefe verloren; es mag sein, aber sie hat an Ausbreitung gewonnen. Die durch Dünger getriebene Gelehrsamkeit der Kunstgärtnerei zieht den Blick nicht so heiter an als die ins Freie gepflanzte Wissenschaft, durch deren Zweige der frische Hauch des öffentlichen Lebens weht. Aus dem Leipziger Meßverzeichnisse, dem schönsten unter allen in Deutschland erscheinenden Büchern, er sieht man mit Freude, wie der vaterländische Sinn immer mehr und mehr heranwachse und selbst die entferntesten Wissenschaften herbeieilen, das Bürgertum zu begrüßen.

In unserer Zeitschrift sollen die vorzüglichsten Werke der vaterländischen Wissenschaft, jene zumal, die von bürgerlichen Dingen handeln, beurteilt werden, und damit keine Einseitigkeit der Kritik sich geltend machen könne, wird man die Aussprüche von Männern verschiedenartiger Ansichten zu erlangen suchen.

Auf das bürgerliche Leben endlich, in welchem die verschiedenen Kräfte der menschlichen Natur sich vermählen und fruchtbar werden, wird unser Blick und Sinn, wie die Zeit selbst es tut, am häufigsten gerichtet sein. Hätten die, welche alle Macht besaßen, die Befriedigung eines natürlichen Triebes nicht so lange verwehrt, dann [674] wäre dieser gesunde Trieb nie in eine krankhafte Sucht ausgeartet. So mögen sie denn ihre unbeschreibliche Angst als Strafe ihres Vergehens in Demut tragen.

Nämlich: Narren von Philosophen hatten das Menschengeschöpf ganz drollig in ein dreistöckiges Haus abgeteilt und Staatsbaumeister diesen willkommenen Plan schnell und schadenfroh ausgeführt. Unten solle das Vieh wohnen, über ihm der Mensch, nächst dem Dache der Bürger. Diese verschiedenen Bewohner Eines Hauses lebten lange in stiller Feindschaft und offnem Hader. Wenn das Erdgeschoß knurrte und biß, ließ der Fromme über ihm sich in Sittenpredigten vernehmen, und die Memme im dritten Stocke versteckte sich und keifte aus ihrem Schlupfwinkel hervor. Die schlaue, immer wache und lauernde Zwingherrschaft benutzte diesen Streit, um jeden allein nach seiner Art zu bändigen, was nie gelungen wäre, wären die Hausbewohner einig geblieben. Dem Tiere gab sie zu essen oder machte es durch Hunger zahm; den Menschen umhüllte sie mit den Wolken des Aberglaubens, diese für den Himmel erklärend; den Bürger schreckte sie. So regierte man jahrhundertelang die Menge nach Willkür, bloß weil jeder einzelne Mensch mit sich selbst zerfallen war. Da geschah es zu unserer Zeit, daß unter dem Dache jenes Hauses Feuer ausbrach und dessen Erdgeschoß durch Überschwemmungen litt. Die Zerstörung[en] des Gebäudes unten und oben nötigten nun das Tier und den Bürger, zum Menschen ihre Zuflucht zu nehmen, und seitdem wohnen sie zum Ärger der Bösen friedlich in einer Stube beisammen.

Der Zwist der Hausgenossen ist geschlichtet, der Staatsbewohner ihrer dauert fort. Dem geendigten Waffenkriege, der fünfundzwanzig Jahre die Länder Europens durchzog, folgte, was ihm vorhergegangen war, ein Krieg der Meinungen. Dieser Kampf wird nur gefährlich, [675] wenn er dafür geachtet wird: es ist sonst nichts zu fürchten als die Furcht. Daß nach heftigen Stürmen die aufgeregten Wellen nicht gleich besänftigt fortfließen, ist in der Ordnung der Dinge, und besser ist es, daß die überspannten Gemüter durch mäßige Anstrengung zur Ruhe übergehen als plötzlich zur Abspannung überspringen.

Wie die Zeitschriftsteller diesen Meinungskampf über Angelegenheiten des bürgerlichen Lebens zu beobachten und seinen abwechselnden Erfolg zu berichten hätten, darüber ist mehr gesprochen als gedacht worden. Eine falsche Ansicht hat die andere verdrängt, aber die größte Betrügerin hat den Platz behauptet: die Lehre nämlich, daß der heftige Gedankenkrieg, der jetzt herrsche, von den Schriftstellern selbst erst angefacht, dann unterhalten, dann beschrieben worden, und es wäre alles ruhig geblieben ohne sie. Es ist, als sage man, der kranke Mensch werde von allen seinen Schmerzen geheilt, sobald man ihm den klagenden Mund verbände. Einem solchen Wahnwitze gegenüber stillzuschweigen, ist leichter als nur gelassen zu eifern. Doch auch zu letztern ist hier der Ort nicht, und es soll nur gesagt werden, was als Vorbereitung not tut.

Mancher Tadel schon hat diejenigen getroffen, die über unsere bürgerlichen Einrichtungen öffentlich sprachen. Die Schriftsteller, diesmal im Besitze der Übermacht, haben die Vorwürfe, die sie empfingen, zürnend und kräftig zurückgeworfen. Der Streit ist nicht ohne Verwicklung, doch bedarf es mehr Gerechtigkeit als Schlauheit, um den Richterspruch zu fällen. Mir, der ich jetzt eben selbst auf die Seite der Angeklagten trete, ziemt keine Entscheidung hierüber. Sie bleibe dem Leser überlassen, und zu dessen Richtschnur werde einiges hier mitgeteilt von dem, was diese, und von dem, was jene sagen.

Man kann von dem Schriftsteller nicht fordern, daß er [676] ohne Haß und ohne Liebe sei und über alle Wolken der Selbstsucht erhaben die Gewitter nur unter sich wahrnehme. Wie sollte er allein von den Banden der Eigenliebe frei bleiben und nicht auch manchmal in dem Gesetze seines eigenen Vorteils die Regel der Weltordnung zu sehen glauben? Aber das mag jederzeit von ihm verlangt werden, daß er der Möglichkeit jenes Einflusses sich bewußt bleibe und nicht keck und unbesonnen auf die Unfehlbarkeit seiner Ansichten trotze. Daß er sie gegen jeden zu verfechten und geltend zu machen suche, ist nicht unrühmlich, weil es für den Ernst der innern Überzeugung spricht. Aber wer den Fehdehandschuh herausfordernd hingeworfen hat, darf keinen Kämpfer zurückweisen und, wie es oft geschieht, seine aus selbstbewußter Schwäche entspringende Furcht hinter eine angenommene Geringschätzung verbergen. Es gibt in Deutschland auch nicht eine Zeitschrift, welche so unparteiisch wäre, daß sie die ihr feindlich begegnenden Meinungen nicht bloß dann aufnimmt, wenn sie erprobt hat, daß sie sie schlagen werde, sondern es auch täte, wenn der Sieg zweifelhaft oder dem Sieger geblieben ist. Sie nehmen immer nur die Leichen ihrer Feinde mit prahlerischer Großmut gastlich auf. Der Sklave seiner eigenen Meinung trägt auch schimpfliche Ketten; man soll nicht der Diener der guten Sache, sondern ihr Freund sein. Es gibt nur eine verwerfliche Meinung, die verwerfende, welche keine andere als die ihr gleichen duldet. Eine Zeitschrift müßte jeder Ansicht offenstehen, und einer schädlichen oder dafür gehaltenen den Platz zu versagen, ist ebenso unverständig, als es wäre, aus der Naturgeschichte die Lehre der Giftpflanzen und bissigen Tiere verdrängen zu wollen. In der Wage soll jede Ansicht, auch wenn ihr der Herausgeber nicht gewogen ist, dennoch eine willige Aufnahme finden; ja, sie soll sehr willkommen sein, weil am Widerspruche die [677] Wahrheit erstarkt. Nur möge man es nicht als einen Verrat an der Gastfreundschaft ansehen, wenn der Wirt selbst das, was ihm an seinen Gästen nicht behagt, freimütig tadelt oder geschehen läßt, daß es andere rügen. Was zu verschiedenen Zeiten nicht unedle Menschen behauptet haben, wiederholen die Schlechten unserer Tage gern und oft: daß das Wissen seine Wendekreise habe, über welche hinaus Geist und Herz verkohle, und daß die glücklichsten Völker im gemäßigten Klima der Zweifel wohnen. Vielleicht ist Wahrheit in dieser Lehre; denn auch in den schönsten Sonnentagen der Geschichte haben Priester und Tempel ein noch schöneres Licht stets vor der Menge bewahrt. Aber wäre dies auch, wie weit entfernt von der heißen Zone des Wissens ist noch jetzt die europäische Menschheit, und wie lau und sanft ist all ihr Wollen und ihr Tun. Darum sei man unbesorgt, froh des heranbrechenden Völkerfrühlings und fürchte nicht die Bewegung im Freien. Sie hat nur allzulange gedauert, die Alleinherrschaft des geheizten Ofens, die drohend oder liebkosend die frierenden Bürger in der Staatskinderstube zurückgehalten hat, und die verdunstete Luft darin war ganz unerträglich geworden.

Nach jenen kommen die Schwächlinge, die jedes Wort, das nicht gelispelt wird, wie ein Donner aufschreckt. Sie sagen euch leise, ganz leise ins Ohr: es wäre freilich nicht alles, wie es sein sollte; aber sie bäten höflichst keinen Lärm zu machen, der stillen Lehre wolle man in der Stille folgen. Habe ja längst die Sitte auch für die Meinungskriege an die Stelle eines wilden Handgemenges den Gebrauch anständiger Kunstwaffen gesetzt! – So reden sie. – Aber wißt ihr, welche am meisten sich auf die Erfindung des Pulvers berufen? Diejenigen, die am wenigsten an dieser Erfindung teilhaben. Sie wollen ihre Schwäche hinter Menschlichkeit und ihre Furcht hinter den Anstand verstecken. Es ist wahrlich [678] gut, daß der Geist des Menschen seine ursprüngliche Naturkraft wieder gebrauchen lerne und die Berechnungen der tückischen Feuergewehre zuschanden mache. Wahr ist's, auch im Streite der Meinungen gibt es Waffen, deren Gebrauch in Kriegen das Völkerrecht, in Zweikämpfen die Ehre verbietet; es gibt öffentliche Redner, die entweder mit vergifteten Pfeilen die Rache der Heimtücke üben oder mit Prügeln den Faustkampf der Gemeinheit durchfechten. Diesen nicht gleich zu sein, ist nicht einmal rühmlich. Der Herausgeber wird sich ernstlich bemühen, die Wärme der Leidenschaft ohne ihre Ungebührlichkeit sich anzueignen, und Gott gebe, daß ihm dieses Bestreben für gelungen angerechnet werde; denn gar verschieden sind die Deutungen der Menschen! Aber die Preßfreiheit in ihren jetzigen Flegeljahren hat Unarten milderer Art. Auch sie vermeiden ist gut, sie entschuldigen ist besser, und das beste sie ganz unschuldig finden. Man denke nur daran, daß es eine Zeit gab, wo Kinder artig genannt wurden, wenn sie steif wie Wachskerzen um den elterlichen Tisch saßen und Messer und Gabel wie nach dem Takte der Galeerenruder an den Mund brachten, und daß damals die Erziehung gleich einer garstigen Raupe die schönsten Blüten der Jugendjahre abfraß. Man sei dieser Vergangenheit eingedenk und wolle dem aufblühenden deutschen Volke aus Grämlichkeit und mißverstandener Liebe die Spiele nicht verderben, welche die beste Schule für den männlichen Ernst ist.

Über die Freimütigkeit, welche demjenigen, der über bürgerliche Angelegenheiten des Vaterlandes und fremder Staaten öffentlich urteilt, zieme oder nicht, sei mir noch ein freundlich – ernstes Wort verstattet. Ich hoffe mit Männern zu reden, bei denen eine kindische Geisterscheu nie Eingang fand und welche kein Rauschen der Blätter erschreckt. Das lange Stubenleben hat die Deutschen [679] dem öffentlichen entwöhnt, und das beständige Tragen von Schafs-oder Wolfspelzen hat Niedere und Vornehme gegen den Eindruck jedes Lüftchens empfindlich gemacht. Sie haben eine unüberwindliche Ängstlichkeit, den Gegenstand ihres Tadels genau zu bezeichnen und kenntlich zu machen. Sind sie etwas betrunken, dann machen sie die Augen zu, nehmen einen Anlauf, rennen in die dickste Gefahr hinein und sagen – Herr Esel! Aber, Herr Sempronius Esel zu rufen, dazu hat ihr Mut nie hingereicht. – Hat doch selbst der heldenmütige Ankündiger dieser Zeitschrift nicht eher gewagt, den Namen Sempronius hineinzuschreiben, als bis er sich überzeugt, daß er nicht im Kalender stehe. – Wohin führt aber jene Scheu, nichts Schlechtes bei seinem Vornamen zu nennen, sondern höchstens dessen Familiennamen zu gebrauchen? Da die Familie der Esel sehr groß ist, so werden die Tadler bei ihrer Vorsicht zwar nicht beunruhigt, aber es wird auch nichts gebessert, und alles bleibt beim alten. Es zeigt einen großen Mangel an Hochherzigkeit, wenn man keinen Tadel zu geben oder zu empfangen versteht. Wer sich einer Tugend bewußt ist, spricht den Tadel ohne Ängstlichkeit aus, weil er ihn ohne Demütigung anhört; aber bei selbstbewußtem Mangel irgendeiner Tüchtigkeit fühlt man sich durch jede Schwäche entmutet und durch ihren Vorwurf entehrt.

Sie kommen und sagen: man möge tadeln, ohne zu reizen, man möge Wunden heilend berühren, ohne wehe zu tun, man möge belehren, doch unter der einfältigen Maske der eigenen Wißbegierde. Sie fordern viel, und es ist schwer, sie zu befriedigen. Wie man in einem vom Sturme bewegten Schiffe mit Zierlichkeit strauchle oder falle, dies lehrt und lernt kein Vestris. Und von den Herolden der öffentlichen Meinung, die schon seit vielen Jahren schwindelnd schnell um die ganze Windrose kreist, von den Klägern des allgemeinen Wehes wagt [680] man zu fordern, daß sie sich höflich verneigen, wenn der Boden unter ihnen wankt, daß sie behutsam zwischen die faulen Eier gehen und an jede Tür leise anklopfen, ehe sie sie öffnen? Bescheidenheit und immerfort Bescheidenheit! Aber die Natur gibt ihre Not durch einen Schrei zu erkennen, und nur auf der bretternen Bühne singt der Schmerz in A-moll.

Wenn es Männer gibt, die auch im Kriege der Gedanken Mut mit Anmut verbinden und gleich Spartern geschmückt und unter süßen Flötentönen die ernste Schlacht bestehen, so sind sie wahrlich vor allen zu ehren. Aber so hochbegabt mögen nur wenige sein, und der Herausgeber dieser Blätter gehört nicht zu ihnen. Er bekennt es frei, daß die Kunst, die der Verfasser des Buches Welt und Zeit besitzt, die Bäume hinter dem Walde zu verstecken, ihm ebenso fremd ist als der Wunsch nach ihr. Wer seine Pfeile unter den Haufen abdrückt, in der Hoffnung, er werde nur den Schuldigen treffen, kann viele Unschuldige verletzen und den Strafbaren dennoch verfehlen.

Die gemäßigten Schriftsteller, als solche angesehen, wenn sie nur der geeichten Maße sich bedienen, sind die allein gefährlichen. Sie bilden die wahreAqua Tofana, welche die öffentliche Meinung siech und welk macht und deren Gift weder durch Geschmack noch Farbe noch schnelles Wirken eine rettende Warnung gibt. Indem sie Fürsten und Völkern zugleich schmeicheln durch das zur Hälfte zugesprochene Recht, jener auf Eigenmacht, dieser auf Freiheit, machen sie die einen lüstern, die andern schlaff und verderben beide.

Noch so manches wird, verschuldet oder nicht, den Zeitschriftstellern, die nicht sind wie die oben erwähnten, als Vergehen angerechnet. Aber, da es in unsern Tagen leichter ist, andere als sich selbst betrügen, so mögen die schlauen Eiferer, wenn sie allein sind und sie keiner beobachtet, [681] die Hand auf ihr Herz legen und sich fragen: ob ihnen der Gebrauch der Redefreiheit oder ihr Mißbrauch gefährlicher dünke? Sie werden die Antwort hören.

Oft reißt die Geschichte ein Wort stammelnd auseinander, aber es sollen die Zeitschriftsteller nicht gleich einem Echo nur die letzte Silbe der Ereignisse, sondern das ganze verständliche Wort wiederholen. Die Begebenheiten, diese Früchte der Zeit, haben ihren Endpunkt der Reife, wo sie gesammelt werden müssen; doch gelingt es nicht immer, sich jener flüchtigen Minute zu bemächtigen. Daher geschieht, daß die Zeitschriftsteller bald den Baum der Geschichte zu frühe schütteln und ihren hungrigen Gästen unreifes Obst vorsetzen, bald es zu spät tun, wann die Früchte schon faul und ungenießbar geworden sind.

Der Herausgeber dieser Blätter glaubt, daß Mißgriffe erwähnter Art öfterer, als es geschieht, vermieden werden könnten. Doch wird manches andere von Zeitschriftstellern gefordert, was nicht immer gewährt werden kann. Glaubt man etwa, die Forderung, stets nur wirkliche Begebenheiten, niemals Lügen zu verkündigen, wäre so leicht zu erfüllen? Ei, gewiß nicht. Es werden jetzt so schön plattierte Lügen verfertigt, daß sie von echten Nachrichten gar nicht zu unterscheiden sind. Man sei doch nachsichtlicher hierin und bedenke, daß große Lügen, die allgemeinen Glauben suchen oder finden, für die Zeitgeschichte nicht minder wichtig sind als wirklich geschehene Dinge, weil sie am deutlichsten aussprechen, was die öffentliche Meinung wünscht, hofft oder fürchtet.

Daß eine Zeitschrift wie eine Postkutsche an bestimmten Tagen und Stunden abgehe, gleichviel ob leer oder voll, diese Einrichtung ist ganz vortrefflich, der Tod und die Ehe lassen es wenigstens an blinden Passagieren niemals fehlen. Aber da es solcher Anstalten schon so viele gibt, [682] so ist ihre Vermehrung unnötig. Die Wage wird sich erst dann in Bewegung setzen, wenn Geschichte oder Wissenschaft sie befrachtet hat, und ihre Erscheinung kann daher an keine bestimmte Zeit gebunden sein.

Sie hätte wohl gewünscht, ihre Ansichten in Scheidemünze auszugeben, daß die Leser auch das kleinste und flüchtigste Ereignis erstehen mögen; aber die Erfüllung dieses Wunsches blieb versagt. Cäsar, heißt es, habe den hagern Cassius gescheut, doch bei dem beleibten Antonius sei ihm wohlgemut gewesen. Die Herrscher wechseln, und die Herrschsucht bleibt; darum wird auch jetzt noch der flinke Geist gefürchtet, und nur neben dem Dickbäuchigen fühlt man sich sicher. Große Schriften sind ungehinderter in ihremLaufe, die kleinen bleiben manchmal hängen – Dat veniam corvis, vexat censura columbas. – Darum, o werte Leser, findet ihr künftig, daß in unsern Reden nicht alles Geist und Blut ist, sondern auch unnützes Werg darinsteckt und Tagblättergedanken mit Wulst umgeben erscheinen, so wißt ihr, warum es geschah; sie haben sich nicht ausgestopft, um sich zu brüsten; sondern nur, um dicker und beliebter zu werden.

Der Geist des öffentlichen Lebens erfrischt noch lange nicht genug alle Glieder des deutschen Staatskörpers, am wenigsten in jenen Landstrichen, die in der Mitte zwischen süddeutscher und norddeutscher Gesinnung liegen. Den Bewohnern jener Gegend dämmert es nur noch über vaterländische Dinge; unter ihnen ist es nicht dunkel genug, um das Licht unentbehrlich zu finden, und nicht hell genug, um es zu entbehren. Für sie tut es am meisten not, daß die zerstreuten Lichtstrahlen sich zu einem Brennpunkte vereinen, der ihre Vaterlandsliebe entzünde. Bedarf es einer lautern Aufforderung an die vielen geistreichen und mutigen Männer unter ihnen, zu einem so edlen Vorhaben sich zu verbinden, und kann [683] der Herausgeber der Wage anders als mit Zuversicht auf ihren Beistand zählen?

Gefährlich ist nur das unterdrückte Wort, das verachtete rächt sich, das ausgesprochene ist nie vergebens. Es ist Täuschung oder Schwachsinn, zu wähnen, die Rede sei ja fruchtlos gewesen. Was die öffentliche Meinung ernst fordert, versagt ihr keiner; was ihr abgeschlagen worden, das hatte sie nur mit Gleichgültigkeit verlangt.

[684] [687]Die Zeitung der freien Stadt Frankfurt

Die Madrider Hofzeitung, ich meine die deutsche Übersetzung derselben, ich meine die Zeitung der freien Stadt Frankfurt, fühlt sich groß genug, einen Zufluchtsort darzubieten, den aus allen freien Herzen und Köpfen verbannten Trieben und Gesinnungen, die flüchtig umherirren und ein dunkles Obdach suchen, ihre Schuld und Schande zu verbergen. Es ist edel, der verfolgten Unschuld, aber es ist mitverbrecherisch, dem Verbrechen eine Freistätte zu gewähren. Welches andere Blatt Englands, Frankreichs und Deutschlands hat mit so wenig Scham als das genannte spanischer Ruchlosigkeit, jesuitischer Hinterlist und aristokratischem Hochmute das Wort geredet, verrostete Grundsätze so emsig gescheuert und ihnen den verlornen Glanz wiederzugeben gesucht? Ich gehöre wahrlich nicht zu jenen, die uneingedenk, daß auch sie wohl selbst des Wahnes fähig sind, jeden unbarmherzig verdammen, der nicht denkt wie sie. Noch weniger hege ich für die gute Sache jene unvernünftige verzärtelnde Mutterliebe, die jedes Lüftchen von ihr abwehrt. Ich sehe sie gern dem Sturme preisgegeben; sie soll ihm wiederstehen lernen und ihre Kraft bewähren. Der Sauerteig eines widersprechenden Geistes scheint mir unentbehrlich, damit das Werk gedeihe und genießbar werde. Aber eins ist, das mich schmerzt, und darum führe ich Klage: Ausländer könnten urteilen, es entspringe aus wahlverwandtschaftlichen [687] Verhältnissen, daß einzig unter allen deutschen Blättern die Zeitung der freien Stadt Frankfurt alle unfreisinnigen Ansichten aufnimmt und verbreitet. So ist es nicht, und etwa einige alte Basen ausgenommen, finden zu Frankfurt die von dem Herausgeber des genannten Blattes gehätschelten Grundsätze so großen Spott und Tadel, als ich selbst ihn wahrlich nicht auszusprechen gedenke. Ich habe dieses Blatt früher selbst geschrieben, und dieses allein hat mich bis jetzt abgehalten, mich seiner fehlerhaften Richtung entgegenzusetzen. Denn mancher hätte denken mögen, es geschehe aus einer eiteln Empfindlichkeit, es in meiner eigenen Gesinnung nicht fortgeführt zu sehen. Dem Vorwurfe der persönlichen Befangenheit entgeht man in Deutschland schwer. So wenig wurden wir zugelassen, im Öffentlichen und für das Vaterland zu leben, zu so zahmen Haustieren hat uns eine vielhundertjährige Zwingherrschaft gemacht, daß die politischen Schriftsteller der entgegengesetzten Ansichten darin übereinkommen, sich wechselseitig vorzuwerfen, ihr Eigennutz sei ihnen das Höchste, und die einträgliche Sache bei ihnen die gute. Den Liberalen sagen ihre Gegner, sie suchten Verwirrung zu stiften, um wie Diebe im Gedränge zu stehlen; den servilen Schriftstellern wird zugelästert, sie wären bestochen durch Geld oder Eitelkeit, und sie wären nichtswürdige Spione. Diese begreifen nicht, daß man ohne Sold und Hoffnung zur Beute aus reiner Liebe für Freiheit und Recht streiten könne; und jene begreifen nicht, daß es geborne Sklaven gibt, die nicht, weil sie sich einem Herrn verkauft, sondern aus Herzensneigung knechtischen Gesinnungen huldigen.

Die reinlichsten Gassen und Städte haben ihre Abführungskanäle; ja, sie werden zu jenen erst durch diese. Ich glaube, daß auch die öffentliche Meinung, um sich lauter zu erhalten, eines freien Abflusses schmutziger [688] Gesinnungen bedürfe. Doch unterirdisch und im Dunkeln sei ihr Weg, und sie sollen in der Nähe menschlicher Wohnungen nicht erscheinen. Darum empört es das Gefühl jedes deutschen Vaterlandfreundes, in einem Freistaate, im Angesichte der Stellvertreter unserer Fürsten, in Frankfurt, Grundsätze ausgesprochen zu sehen, wie sie das bezeichnete Blatt so oft enthält. Meine Stellung macht es mir zur Pflicht, ihnen zu begegnen. Daß ich den Herausgeber der Zeitung der freien Stadt Frankfurt von seinen Ansichten trenne, dieses ist eine so verbrauchte Redensart, daß ich mich ihrer ungern bediene.

Nicht die vollkommene Lüge, die den Feind im Innern trägt und durch Selbstmord zugrunde geht: die halbe Wahrheit, welche, mit freundlichem Gesicht Gehör erbettelnd, durch das geöffnete Tor ihr diebisches Gefolge nachzieht – diese muß bekämpft werden. Nicht das Dunkele bedarf der Beleuchtung, um als solches erkannt zu werden, sondern die falschen und schmutzigen Farben. Und solcher gleisnerischen Zusammensetzung, solchen betrüglichen Gewebes, wo mit den bessern Fäden auch die schlechten, als Kette und Einschlag sich durchkreuzend, dem Käufer aufgedrungen werden, ist dasjenige, was die Zeitung der freien Stadt Frankfurt in ihrem 233sten Blatte unter Deutschland mitteilt. Da wird von dünnem Eise gesprochen, auf das man sich gewagt, von der Zeit der Reife, die man nicht abgewartet, von Ideen, die nicht in das wirkliche Leben passen, von Nichtachtung der Erfahrung und dergleichen mehr; da wird auf dürren, abgemähten politischen Wiesen mit Wohlbehagen hin- und hergegrast; da werden alle die abgeschmackten Märchen vorgesungen, mit welchen man die Völker, als sie noch Kinder waren, in den Schlaf gelullt, die aber jetzt, da sie erwachsen sind, nur ihr Lachen oder ihren männlichen Unmut erregen.

[689] Es sei sehr beklagenswert, »daß durch solche Erscheinungen (wie die Ermordung Kotzebues) die Nachbarn Deutschlands hinlänglichen Stoff zu ebenso bittern als die Ehre des deutschen Volkes kompromittierenden Betrachtungen erhielten.« Wollte der Himmel, es wäre euch so viel an der Achtung eurer Nachbarn gelegen, als hier geheuchelt wird, dann müßte vieles besser werden unter uns. Wohl hat das Verbrechen Sands den Franzosen zu bittern Betrachtungen Stoff gegeben, doch nicht gegen das deutsche Volk war ihr Tadel gerichtet. Sie haben gezeigt, wie unterdrückter Freiheitstrieb in solche tolle Lüste ausbrechen müsse; sie haben gezeigt, wie die mystische Nacht des Mittelalters, mit der ihr euch umgebt, um unter deren Schutze aristokratischen Übermut zu treiben, auch manchen aus dem Volke verführt habe, demokratische Ausschweifungen zu begehen; und sie haben gezeigt, auf welche listige Weise ihr die freche Tat eines einzelnen werdet benutzen wollen, um die Freiheit von Millionen einzuschränken. Daß ihr so unklug seid, auf unsere Nachbarn hinzuweisen! Es ist zum Lachen. Sollen wir sie zum Vorbilde nehmen? Dürft ihr das wollen? Sie haben das Herrlichste erkämpft, mit Blut, mit tausend Verbrechen erkämpft und euch selbst die Einrede benommen, daß nie ein schlechter Weg zu gutem Ziele, nie Verwirrung zur Ordnung führen könne.

Es muß »der unbefangene wahre Vaterlandsfreund mit Schmerz sich sagen, daß man sich immer weiter von dem Ziele wieder zu entfernen scheine, zu welchem die Bahn gereinigt worden war«. Heuchlerische Klage! Wenn mit jedem Schritte, den die Freunde gesetzlicher Freiheit vorwärts machen, ihr das Ziel weiter hinaussteckt oder es vom Wege ab bald rechts, bald links schiebt, an wem liegt dann die Schuld der Verzögerung, oder daß es nie erreicht wird? Und wer hat die Bahn gereinigt? Das Volk, ihr nicht. Dessen Bewegung läßt sich freilich nicht [690] so lenken wie die der Soldaten auf der Wachtparade durch den Korporalstock, wie die eines Dutzends gehorsamster Beamten durch Tabellen und Weisungen geregelt wird; aber das tut auch nicht not. Berge von Schutt sind wegzuräumen, und bei dieser Arbeit sind Hast und Fleiß das Erforderlichste. Zum Bauen gehört Ordnung und Plan, und kommt es dazu, dann mögt ihr eure Risse zeichnen und besprechen. Aber zum Wegführen des Schuttes dürft ihr nicht so viel Zeit fordern, als das eingestürzte Gebäude gestanden hat, dessen Schutt weggeführt werden soll, und nicht die Langsamkeit, mit welcher im Verlaufe der Jahrhunderte jenes Gebäude aufgerichtet worden ist.

»Die aufgetretenen Bekämpfer aller illiberalen Ideen, die Verteidiger der Freisinnigkeit in Wort und Tat müssen dem kalten, unparteiischen Beurteiler wie Kinder erscheinen, welche, die Gefahr nicht kennend, auf das noch zu dünne Eis sich wagen ... Mit ihnen zugleich wird die schönere, bessere Idee zur Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes in der Wirkung vernichtet, die, hätte man die Zeit der Reife abgewartet, unfehlbar gewesen sein und herrliche Früchte getragen haben würde.« Das sind von den überreifen Früchten, die von dem Baume der bösen Erkenntnis so reichlich abfallen; das sind von den faulen Redensarten, zu denen ihr vergebens einen Käufer sucht! Wenn euch die Verteidiger der Freisinnigkeit als Kinder erschienen, die ihr täuschen könntet, dann wären sie euch sehr willkommen. Weil sie aber klug und besonnen handeln, ob zwar nicht mit Bedacht in eurem Sinne, da sie den eigenen Vorteil vergessen und ihre Freiheit der allgemeinen aufopfern, darum haßt und verfolgt ihr sie. Das noch zu dünne Eis! Darin eben liegt eure Verblendung zugleich mit eurer List. Ihr glaubt und wollt es glauben machen, der Anfang des Winters sei da, und man müsse abwarten, bis [691] alles fest zusammengefroren sei, bis man es im Freien nicht mehr aushalten könne und man zahm werde und gern in den warmen Käfig zurückfliege. Aber die Freisinnigen wissen, daß der Frühling gekommen ist, und wollen das noch nicht ganz geschmolzne Eis aufhauen, damit der Strom um so früher lustig und frei werde.Die Zeit der Reife! Wer hat sie zu bestimmen, und dürfen unter dreißig Millionen Deutsche einige Höflinge sich allein vermessen, den Kalender der Natur zu machen? Die Früchte sind noch nicht reif, das ist eine schlechte Vogelscheuche, und wenn wir warten wollten, bis uns die großen Pächter des Staates zuriefen: Jetzt pickt zu! kämen wir viel zu spät, denn sie hätten dann alle Bäume schon kahl geschüttelt. Auch ist von Früchtesammeln, von Ernte unter uns noch keine Rede, sondern nur vom Säen, und je mehr man schreit, der Boden sei noch nicht urbar, je emsiger und tiefer muß gepflügt werden. Guter Gott! sie reden von vorzeitiger Tat, als handelten hier nicht auch Menschen, wie sie selbst sind, ja oft bessere. Seid ihr so große Künstler, daß ihr es euch allein vorbehaltet, die Uhr der Geschichte auf die Minute zu stellen, die euch beliebt, und sie schlagen zu lassen, wann es euch gelüstet? Aber um dieses Bild noch einmal zu gebrauchen: geht euern langsamern Weg und laßt das Volk seinen schnellern gehen, nur daß ihr euch um einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt dreht! denn das Volk ist der Minutenzeiger, die Regierung der Stundenzeiger des Staates, und ob jener auch rascher umlaufe, so verfolgt er doch gleiche Bahn. Es ist leicht, das Bild zu vollenden.

Die Predigt haspelt sich so weiter ab: »Nicht nur, daß man durch voreiliges Handeln – (auch Worte werden zur Tat) – der gemeinen guten Sache schadet, sondern man scheint auch daran, ob solche Ideen in das wirkliche Leben passen, nicht gedacht zu haben.« Und [692] jetzt wird gesagt, was Lueder gesagt hat: daß für den wahren Politiker und Staatsmann nur das eine Geltung haben könne, was wirklich erreichbar sei, nimmer aber eine sogenannte höchste Idee, die niemals mit der Praxis des eigentlich politischen Lebens sich vertragen werde noch es könne; aus der Staatskunst sei jede Spekulation zu verbannen; und was dergleichen Göttinger Hofratsthesen mehr sind. Solche Redensarten zeigen nun zum tausendsten Male seit sechs Jahren, wie wenig noch die Anführer derstehenden Gesinnungen die Dialektik, womit man Volksmeinungen bekämpft, erlernt haben, und sie werden darum, sei es in gerechten oder ungerechten Kriegen, stets von jenen geschlagen werden, so wie die französischen Volksheere die ungelenke Taktik aller europäischen Feldherren zuschande gemacht haben. Sie verrammeln sich hinter ihre gotischen Grundsätze, legen die ganze Macht ihrer Beredsamkeit hinein, machen dann und wann einen ungeschickten Ausfall und meinen, das sei die rechte Art, die feindlichen Ansichten zu bekämpfen. Indessen spottet man ihrer Festungen, hungert sie gelegentlich aus, umgeht sie und gewinnt das offene Land. Ideen, die nicht ins Leben passen, Spekulationen, Träumereien, mit denen sich ein echter Staatsmann nicht befassen mag! Reden diese politischen Marktschreier nicht heute noch, als sei die Regierungskunst noch immer ein Kabinettsgeheimnis, und tun groß mit Wundermitteln, deren einfache Bestandteile jedermann kennt. Der echte Staatsmann ist, wer die Ideen seiner Zeit aufzufassen und anzuwenden versteht; wer dieses nicht vermag, taugt selbst zum Gehorchen nicht, um so weniger zum Gesetzgeber. Man nenne uns doch die politischen Schwärmereien, denen sich »die Verteidiger der Freisinnigkeit« hingegeben! Es ist wahr, irgendein junger Mann hat eine Aller-Deutschen-Stadt bauen und in einem prächtigen Dome die Reichsversammlung [693] halten lassen wollen. Das ist aber das Ärgste, was an den Tag gekommen. Die Franzosen, im Anfange ihrer Revolution, hatten schlimmere Träume, aber sie sind, nachdem sie aufgewacht, zur Vernunft gekommen, und die wahren freisinnigen Ideen, ob sie sie zwar anfänglich mißbraucht, sind dennoch nicht untergegangen und auf ein »späteres Jahrhundert hinaus zurückgeworfen« worden. Sie hatten eine konstitutionelle Monarchie gefordert; da widersetzte sich der Adel und zog den Thron mit in sein eigenes Verderben. Sie forderten nun eine Republik, und nach wenigen Jahren war man froh, sie mit einer konstitutionellen Monarchie zufriedenzustellen. Haben den Franzosen ihre Ausschweifungen geschadet? Sie forderten zu viel, um genug zu erhalten; sie spielten den Krieg in Feindes Land, um den vaterländischen Herd so sicherer zu behaupten. Die deutschen Schriftsteller, welche die gute Sache verfechten, sollten sich freilich etwas bestimmter ausdrücken, um den Übelwollenden die Ausflucht zu benehmen, sie wüßten eigentlich nicht, was sie fürs deutsche Volk verlangten. Sie sollten sagen: man gebe uns alle die guten Einrichtungen, deren sich die Franzosen erfreuen, als da sind: Unabhängigkeit von jedem auswärtigen Einflusse; Volksvertretung durch jährliche Parlamente; Schutz und Heiligkeit der Personen; Freiheit des Handels und der Gewerbe; Aufhebung der Zünfte; Aufhebung der Privilegien; Gleichheit vor dem Gesetze; gleichen Schutz allen Religionen; Öffentlichkeit der Justiz; Geschwornengerichte; Preßfreiheit; Verantwortlichkeit der Minister und der untern Beamten. Und wenn sie dieses forderten, könntet ihr wohl so unbesonnen sein zu antworten: Das sind wahrlich gute Dinge; aber nur nach einer Revolution, die alles über den Haufen wirft, können solche eingeführt werden. Könntet ihr mit so plumpen Heucheleien gleich folgenden erwidern wollen: [694] »Man übereile sich und die Sache nicht und verfehle dabei nicht die Manier, die schicklichste Art und Weise; man überhebe sich nicht über seinen Standpunkt, damit kein öffentliches Verhältnis verletzt werde; man befördere die Verbreitung einmal anerkannter liberaler Grundsätze, aber man tue dieses nur auf dem einfachen Wege der Volkserziehung, nicht aber indem man die Regierungen, die eben bestehen, unmittelbar angreife und vor dem eigenen Volke die leitenden, obersten Behörden kompromittiere. Diese dürfen solches nicht dulden, und indem man dadurch sie zu scheinbaren Gewaltschritten gegen die an sich doch ohnmächtigen, nur in ihren Ideen starken Einzelnen gleichsam selbst zwingt, bringt man das hoffnungsvolle Kind, aus dem einst ein rettender Held hätte werden können, dem Moloch der ungereiften Zeit zum Opfer!« Daß es Gecken gibt, die, wenn von der Freiheit und dem Glücke eines großen Volkes die Rede ist, von Manier sprechen, mit der man für die gute Sache zu streiten habe, und etwa gar fordern, man solle den Tanzmeister und den Hofmarschall dabei zu Rate ziehen, darüber mag man lachen – das schadet nicht. Aber anderer Ratschläge ernster Art mögen sie sich enthalten! Wie schlau! Die einmal bestehenden Mißbräuche soll man achten, aber das Volk durch dieErziehung erst für bessere Einrichtungen empfänglich machen! Daß diese Erziehung den Jesuiten anvertraut werden müsse, versteht sich wohl von selbst. Unterdessen und bis die Kinder die Schule verlassen, hat man Zeit gewonnen, das wankende Gebäude der Feudalität mit neuen Stützen zu versehen, die Vorratskammern der Privilegierten wieder anzufüllen, und dann lacht man aller liberalen Grundsätze. Die obersten Behörden dürfen durch Tadel nicht »kompromittiert« werden. Schon einmal kam dieses Wort vor, und dieser elegante Ausdruck verrät deutlich, daß der in der Zeitung [695] der freien Stadt Frankfurt enthaltene und hier bestrittene Aufsatz ein Konversationsstück ist, von der feinsten Teegesellschaft gelegentlich abgeschnitten. Er endet mit der Warnung, daß durch das Verfahren der Freiheitsfreunde die Regierungen »zu scheinbaren Gewaltschritten gegen die an sich doch ohnmächtigen, nur in ihren Ideen starken Einzelnen« gezwungen werden. Dieses ist gar nicht schlau; denn welcher liberale Schriftsteller wird sich abschrecken lassen, wenn man ihm mit scheinbaren Gewaltstreichen droht? Aber das eine ist wahr, und man muß es zugeben: Solange die Machthaber die Freiheit der Gesinnungen und der Handlungen mit Dauer zu unterdrücken vermögen, solange sind sie es berechtigt zu tun; was die öffentliche Meinung nicht erreicht, verdiente sie nicht zu erreichen. Hier ist der Besitz ganz der Maßstab des Rechts.

Der Roman
I.

»Nicht ein bißchen haben Sie mich lieb« – flüsterte Karoline ihrem Freunde zu und ließ ein Fädchen Seide aus ihren Fingern schweben – »nicht so viel!« Sie stand von dem Stickrahmen auf, setzte sich auf den entferntesten Stuhl im Zimmer und schmollte. »Wie unartig bist du wieder« – rief ihr die Mutter zu – »und sieh nur, wie du den Obersten verstimmt hast! Wahrhaftig, ihr beide da macht prächtige Gesichter, das sind glänzende Vorbereitungen zu eurer Hochzeit!« – »Hochzeit? ...« entgegnete Karoline und schüttelte bedächtig ihr blondes Köpfchen ... »das will ich noch überlegen; ich kann die Spitzen, die mir der Onkel geschickt, auf jedem andern Ball auch brauchen.« – Die Gräfin lachte. »Ei, [696] du liebe Unschuld, wo hast du denn das gelernt? Du sprichst ja wie eine moralische Erzählung von Marmontel! Sei geschickt, komm her und erkläre mir dein Zörnchen!« – »Sie geben mir auch immer unrecht, Mutter. Ist das ein Anbeter? Heißt das ein Bräutigam? Andere Bräute bekommen Gedichte, daß sie sie nicht alle lesen können, und ich habe noch keinen Vers erhalten! Und er hat doch eine Ode auf Napoleon gemacht. Sie wissen, Karl hat mir einen Roman versprochen, worin er mich schildern wollte, ich freute mich so sehr darauf. Das sind nun sechs Wochen, und sooft ich ihn daran erinnere, sagt er ›morgen‹ und macht ein Paar grimmige Augen, als wäre er auf der Wachtparade bei seinen garstigen Schnurrbärten. Herr Morgen, Sie gefallen mir gar nicht mehr!« Der Oberst schien gekränkt und schwieg. Karoline reichte ihm die Hand. – »Wir wollen wieder gute Freunde sein, sei nicht böse, lieber Karl!« – Sie streichelte ihm die Haare von der Stirne ... »Wo war es, wo du diese Wunde bekamst? kann ich doch den Namen nicht behalten!« – »In der Schlacht von Smolensk.« – »Die abscheulichen Kosaken! Das muß dir wohl recht wehe getan haben?« – »Es war meine schmerzlichste Wunde nicht.« – »Du bist ja heute sehr galant, mein Freund! Warte, ich will deinem Herzen den Puls fühlen ...« Sie legte die Hand auf seine Brust; der Oberst drückte sie mit Heftigkeit in seine Arme ... »Mein geliebtes Mädchen! Vieles lernt der Soldat entbehren und verlieren; ach! dich könnte ich nicht verlieren.« – »Guter Karl, wir wollen uns immer, wir wollen uns ewig lieben!« – »Unsterblich ist jede wahre Liebe; nicht Untreue, nicht Verrat, nicht der Tod kann sie töten. Sie schlummert nur, wie im Sarge, so im erkalteten Herzen unter der Winterdecke, um mit der Frühlingssonne frischer und grünender zu erwachen! Die Stunde ist die körperliche Hülle der Ewigkeit – es lieben sich ewig, [697] die sich auch nur eine Stunde geliebt.« – »Was sagst du, Karl? ...« Der Oberst zog ein Heft aus seiner Tasche und überreichte es lächelnd seiner Braut. – »Hier, Karoline, ist der versprochene Roman.«

Karoline belohnte mit den anmutigsten Liebkosungen das längst erwartete Geschenk. »Aber warte« – sagte sie mit drohendem Finger – »jetzt sehe ich, wie du dich verstellen kannst! Dachte ich doch, du seiest fürchterlich böse auf mich, weil ich dich an dein Versprechen erinnert, und – nicht wahr, du hast nur ein so ernsthaftes Gesicht gemacht, um mich zu überraschen? Doch wie heißt dein Roman, ich sehe ja keine Überschrift?« – »Wie du willst, liebes Kind!« – »Wie endigt die Geschichte, ist sie traurig oder lustig?« – »Wie es kommt, Karoline.« – »Nun, setzt euch jetzt, Karl soll uns seinen Roman vorlesen. Und du, Fritz«, sprach sie zu ihrem Bruder, dem Hauptmann, der mit schweren Tritten das Zimmer erschütterte, »störe uns nicht mit deinen Sporen, mache dir's in diesem Sessel bequem, aber rühre dich nicht! Hörst du?«

Die kleine Familie setzte sich um den Tisch. Der Oberst legte das aufgeschlagene Heft vor sich, stützte den Kopf auf seine Hand ... »Friede des Kriegs, o süße Ruhe der Schlachten« – sprach er leise vor sich hin. – »Du mußt lauter reden«, flüsterte ihm Karoline zu, »die Mutter kann dich sonst nicht verstehen.«

»Die Winterschule war geendigt, die Feuer wurden ausgelöscht, die Fenster geöffnet, muntere Sonnenstrahlen erheiterten die düstere Zimmerluft, der Frühling rief und lockte zu tausend Spielen.« ... »Haltet ein« – rief der Hauptmann, indem er vom Stuhle aufsprang und den Obersten beim Arm faßte – »haltet ein, Herr Schwager; ich weiß schon die ganze Geschichte. Jetzt kommt der Himmel und ein Fluß und ein Wald und ein besonderer Baum, und darunter sitzt Rinaldo und [698] seufzt oder flucht.« ... Karoline legte dem Schwätzer die Hand auf den Mund. »Horch' doch, Fritz, dein Schimmel hat schon zweimal gerufen, du mußt hinuntergehen und sehen, was deinem Freunde fehlt.« – »Nein«, erwiderte der Hauptmann, sich niedersetzend – »ich will ruhig zuhören; aber ihr werdet sehen, daß ich recht habe. Rinaldo sitzt unter einem Baume und seufzt oder flucht.«

Der Oberst fuhr fort: »Knaben und Vögel jubelten; glückliche Liebe lächelte und schwieg, die unglückliche weinte heißer, aber stiller. An einem dieser schönen Tage gingen August und Klara den Hügel hinauf, von dem sie den Strom, die Stadt, die alte Burg und unten im Parke die fröhlichen Gäste sehen konnten, die eingeladen waren, Augusts Geburtsfest zu feiern. Den Jüngling hatte im feindlichen Lande, im fremden Hause, in das er als Kriegsgast gekommen, eine schwere Krankheit niedergeworfen, und als er aus sei nem Fieberschlummer genesen erwachte, lächelte ihm wiedergefundenes Leben und der Frühling und die Liebe entgegen. Klara, die schöne Tochter seiner freundlichen Wirte, hatte ihm den letzten Becher des Heiltranks mit zitternder Hand und niedergeschlagenem Blicke gereicht. In das Herz des Mädchens, das sich dem Mitleide, in das Herz des Jünglings, das sich der Dankbarkeit geöffnet, schlich die Liebe ein. Sie errieten sich bald; Klarens Eltern sahen froh diese Wechselneigung entstehen. August war Sekretär bei einem französischen Prinzen und Marschall und hatte Gelegenheit gefunden, sich dem Kaiser bemerklich zu machen. Er schritt auf dem Wege des Glücks rasch und rascher fort. Klarens Hand wurde ihm zugesagt.

Die Liebenden saßen oben auf der Moosbank in süßen Gesprächen versunken. August erzählte von seinen Fieberträumen und wie ihm ein Engel in blauem Gewande erschienen sei, der ihm Genesung verheißen. Klara erzählte [699] von ihren Ängsten, von ihren durchweinten Nächten. So säuselte eine Paradiesesstunde vorüber. Die Sonne neigte sich zum Untergange, die Luft ward kühl, Klara erinnerte ihren Freund, daß er sich noch zu schonen habe. Sie eilten den Hügel hinab. Von neckenden Gästen empfangen, verbarg Klara ihr Erröten an der Brust ihrer Mutter. August, dem ein Bedienter meldete, daß eine Fremde in ihrem Wagen vor der Gartentüre hielte, die ihn zu sprechen wünschte, eilte dahin. Ein altes Mütterchen, reich aber wunderlich gekleidet und geschmückt, wankte auf einem Stabe gebogen ihm entgegen. August stürzte in ihre Arme ... ›Meine Mutter!‹ ... ›Mein Sohn! ... Nun Gott sei Dank, lieber Sohn, daß ich dich lebend und gesund finde. Jetzt will ich gern sterben.‹ – ›Welche Überraschung!‹ – ›Gleich nach dem Briefe, den du mir durch deinen Arzt schreiben ließest, reiste ich ab, um dich in deiner Krankheit zu pflegen. Auf dem Wege ward ich selbst schwach und mußte acht Tage liegen bleiben.‹ ... ›Teure Mutter!‹ ... ›Bist du es denn wirklich, lieber Sohn? Ich kenne dich nicht mehr! Wie du dich geändert hast! Und ein vornehmer Herr bist du geworden, dein Vater selig hat es immer gesagt: Aus dem Jungen wird etwas Rechtes. Ach, du hast ja gar einen Orden? Aber mein Sohn, das darfst du ja nicht tragen!‹ ... ›Liebe Mutter‹, erwiderte August lächelnd, ›es ist kein Kreuz, es ist ein Stern.‹ ... ›Ja, es ist wahr. Schau, was das kostbar ist! Aber wie leicht kannst du das verlieren; laß es dir festnähen!‹

Unterdessen waren die Gäste, welche die wunderliche Szene aus der Ferne mit angesehen, herbeigekommen. Klara hielt neckisch das Schnupftuch vor den Augen und sprach unter Schluchzen: ›Du Ungetreuer, du Bösewicht, hast dein Mädchen betrogen, liebst eine andere!‹ – Klarens Eltern drohten lachend mit dem Finger: ›Feiner Herr, sauberer Herr, das erfahren wir noch zur [700] rechten Zeit.‹ ... ›Ah! Frau Rachel‹ – ließ sich ein junger Offizier vernehmen – ›nicht wahr, dem Herrn Baron da habt Ihr früher aus der Klemme geholfen? Hat er noch ein Pfand bei Euch, habt Ihr ein Wechselchen? Macht's christlich!‹ ... August wandte sich dem Spötter zu und sprach mit flammendem Gesichte und drohendem Blicke: ›Sie ist meine Mutter!‹« ...

Ein Schmerzensschrei, den die Gräfin ausstieß, unterbrach hier die Vorlesung. Karoline und ihr Bruder sprangen erschrocken auf ... »Gott, liebe Mutter, was fehlt Ihnen, Sie werden ja blaß?« – »Nichts, Kinder, nichts, mein altes Herzklopfen. Bringt mir meine Arznei!« – Die Gräfin, nachdem sie sich wieder erholt hatte, bat den Obersten, morgen fortzufahren, der Kopf schmerze ihr. – »Haben denn Klarens Eltern nicht gewußt, daß August ein Jude ist?« fragte Karoline den Obersten. »Das werden wir morgen hören«, erwiderte dieser. – »Das ist eine Teufelsgeschichte!« bemerkte der Hauptmann. »Aus der Heirat kann nun nichts werden, und mein Rinaldo, der unter einem Baume seufzt, ist ein Hebräer. Muß doch morgen unsern Hausjud' fragen, ob sich ein Hebräer verlieben darf nach Mosis Gesetz.«

– »Es ist wahrlich eine verdrießliche Geschichte«, fiel der Oberst lachend ein. »Was täten Sie, gnädige Mutter, wenn Ihrer Tochter ein solches Unglück begegnete?« Die Gräfin bückte sich nach ihrem gefallenen Taschentuche.

– »Und Ihr, Herr Schwager?« – »Hölle und Teufel« – erwiderte der Hauptmann, mit den Füßen stampfend – »wenn mir ein verdammter Jude einen solchen Streich spielte, würde ich den Kerl vom dritten Stockwerk hinabwerfen, daß Vater Abraham ach und weh schreien soll, wenn ihm so ein schwerer Klotz in den Schoß fällt.« ... »Und du – und Sie, Fräulein?« ... fragte der Oberst Karolinen. Diese machte einen tiefen Knicks. »Bedanke mich schön für das Kompliment, [701] Herr Oberst. Wahrhaftig, Sie sind ein artiger Herr. Wie kannst du dir nur denken, Karl, daß ich einen schwarzen, spitzbübischen Juden jemals liebgewinnen könnte?« – »Es gibt auch blonde und ehrliche«, erwiderte der Oberst. – »Es ist freilich schlimm, es ist sehr traurig, nachdem man sich geliebt und geküßt hat, sich wieder zu verlassen. Aber was ist zu tun?« – »Du würdest also deinen Geliebten verstoßen, Karoline?« – »Wie anders? Die arme Klara würde ja ausgelacht werden, und ihr jüdischer Mann dürfte ja nicht einmal ins Kasino gehen. Aber sie muß es gescheit anfangen, wenn sie ihn fortschickt. ›Lieber Herr Schmul‹, würde ich meinem Bräutigam sagen – nicht wahr, Mutter, alle Juden heißen Schmul mit ihrem Taufnamen? – ›Lieber Herr Schatz, es ist wahr, ich habe Sie liebgehabt; Gott weiß, wie es gekommen, ich war immer ein närrisches Mädchen gewesen – aber lieber Herr Schmul, sei'n Sie vernünftig, wir können uns nicht heiraten. Sei'n Sie nicht bös, lieber Herr Schmul: sehen Sie, ich schenke Ihnen alle meine Brillanten, alle meine Blonden, sind viel Geld wert, Sie können gute Geschäfte damit machen auf der Braunschweiger Messe; aber geben Sie mir mein Wort zurück!‹«

»Nimm es!« sprach der Oberst mit bebender Stimme und stürzte wie im Wahnsinne fort.

II.

»Ihr habt mir die Spiele meiner Kindheit gestohlen, ihr schlechten Schelme! Ihr habt mir Salz geworfen in den süßen Becher der Jugend; ihr habt die tückische Verleumdung und den albernen Spott hingestellt auf den Weg des Mannes – abhalten konntet ihr mich nicht, aber müde, verdrossen und ohne Freudigkeit erreichte ich das Ziel. Empfindung nach Empfindung habt ihr mir getötet [702] und einen Kirchhof geschaffen aus dieser lebensvollen Brust. Daß mir die Rache nicht einmal geblieben, daß ich nicht Kraft habe, zu vergeben, und nicht Ohnmacht genug, sie zu züchtigen! Ich kann sie nicht erreichen in ihrer Fuchshöhle, ich kann mich nicht bücken, ich kann nicht kriechen; und recht behalten, wie immer, wird das schlaue Vieh ... Ach, dieser schöne Sonnentag, wie schnell ging er vorüber! Da sind sie wieder, die alten Fledermäuse, die mir so lange um Stirn und Ohren schwirrten; da bist du wieder, höhnisches Gespenst, das mich aus der Mutter Schoß in die Wiege, aus der Wiege in die Schule, aus der Schule in das Leben geneckt! Ein Wort – nein, weniger als ein Wort – die Erzählung eines alten Schalls – furchtbarer Zauber! ... Verloren, verraten, betrogen!« ...

In diesen heftigen Ausbrüchen eines verwirrten Sinnes und eines gekränkten Herzens suchte Karl sich seines Grams zu entladen. Corre, sein treuer Freund und Waffenbruder, stand ihm längst zur Seite. »Bravo!« – rief dieser, in die Hände klatschend – »Bravo, Charles! Herrlich, ganz unvergleichlich, wie Talma, ganz wie Talma! Hast Probe gehalten? Werdet morgen die Komödie aufführen bei deiner gnädigen Mama?« – »Die Komödie ist aus«, erwiderte Karl. – »Schon geschehen? Schade, wäre gern dabei gewesen. Hast Beifall gefunden? Hat die gnädige Sippschaft dich gelobt? Hat die hohe Götterschaft dir zugelächelt? O du Glücklicher!« – »Verloren, alles hin, nur du allein bleibst mir noch.« – Karl sank mit tränenden Augen an die Brust seines Freundes. – »Was ist das, Charles, was bedeutet das? Das ist nicht Spiel, rede, was ist geschehen?« – Karl sprach und weinte sich aus. – »Das ist alles? Weil du ein Jude bist?« frug Corre unter Zorn und Lachen. »Ich bin noch weniger als du, ich bin nicht einmal getauft. Ich heiße Brutus, und, Gott sei Dank! mein Name steht [703] nicht im Kalender der Heiligen. Keines jener frommen Lämmer, die sich geduldig schlachten, braten und verzehren ließen, führt meinen Männernamen; ich gehöre besser zu jenen kühnen Jägern, welche die Wölfe erlegt, die die Lämmer zerrissen.« – »Alles,« seufzte Karl, »alles ist verloren!« – »Alles?« fragte Corre mit gerührter Stimme, »und diese Narbe ist dir nichts, und die Erinnerung, für wen du sie trägst, rechnest du für nichts?« – »Mit tausend Herzen habe ich das Mädchen geliebt, und so zurückgestoßen zu werden von der Schwelle meines Glücks!« – »Sei ein Mann, Charles, du hast ein Mädchen verloren und dich gewonnen. Da es dahin gekommen, darf ich offen mit dir sprechen. Ich kannte die Liebe nie, ich bin ein Kind des Lagers; aber es kann nichts Unwürdiges sein, was meinen Charles besiegte. Doch hättest du nur eine andere gewählt! Und wäre es die schielende Alison, die liebliche Tochter unserer Marketenderin, gewesen; ich hätte Mondnächte mit dir durchseufzt und durchwacht und hätte nicht gelächelt. Aber jenes eitle Pfauengeschlecht ist meiner Seele verhaßt. Du kennst sie nicht, Charles, ich kenne sie besser. Den Hund verachten wir nicht so, wie sie uns verachten. Die Übermütigen, Verdorbenen, ob ich sie kenne! Sie haben uns alle unsere Siege vorgebahnt. Fürst und Land und Volk haben sie verraten. Eure Bürger haben wir mit den Waffen besiegt und nicht immer, jene Götter mit Gold und Tand und überall. Sei froh, Charles! Wein her, laß uns dieses Glas leeren. Es lebe die Freiheit!« – »Es lebe die Freiheit!« rief Karl begeistert, »und Tod und Verderben jeder Gewalt!«

Die Türe wurde mit Heftigkeit aufgestoßen, und der Hauptmann, Karolinens Bruder, stürzte wütend ins Zimmer. Die vorgerückte Abenddämmerung ließ ihn erst an seiner Stimme erkennen. »Finde ich dich endlich, spitzbübischer Jude! Hab' ich den Schurken!« Er drang mit [704] einem Stocke auf Karl ein. Dieser suchte seinen Degen, und da er ihn nicht fand, drängte er sich an Corre, ihm den seinigen aus der Scheide zu ziehen. Corre stieß ihn zurück. »Wag' es nicht«, sagte er; »dieser Degen ist mein, und ich hab' ihn zu führen.« – »So recht« – schrie der Hauptmann mit Hohngelächter – »Jud' und Franzos', Franzos' und Jud', das gehört zusammen, das steht eines für das andere.« – »Zieh!« schrie Corre, »wahr' dein Rosenblut, Page!« Sie fielen aus, beim zweiten Gange stürzte der Hauptmann nieder und badete sich in seinem Blute. – »Eil', lauf zum Stabschirurg«, rief Corre beklommen. – »Schick' zum Pfaffen,« sprach Karl, ruhig und kalt; »ruf den Pfaffen, daß er's zum übrigen lege!«

III.
Karoline v.P. an ihre Freundin

Wenn Sie recht hätten, liebe Sophie, wenn in den Jahren der Jugend Wunden und Schmerzen bald heilten und vergessen würden – wäre ich dann nicht noch elender? Von meinem Glück ist mir nur mein Leid geblieben, und das ist leichter zu tragen als ein leeres Herz. Gestern war es ein Jahr, daß meine gute Mutter gestorben, ich weinte den ganzen Tag. Mein Bruder weckte gewaltsam den schlummernden Zorn in seiner Brust auf; am Abend warf er Blut aus und war sehr krank. Ach, wie schrecklich sind die Männer! Der arme Fritz! Er hat die Kraft nicht mehr, ohne Führung durch das Zimmer zu gehen, und hat noch die Kraft zu hassen. Es ist keine Hoffnung für ihn; das hat mir der Arzt verraten, der mir mit Trost entgegenkam, ehe ich ihn suchte. Die Stichwunde, die er in der Brust erhalten, hat ihn unheilbar verletzt. Alle unsere Bekannten, welche meine Verbindung mit dem Oberst getadelt und mit meiner Mutter darüber [705] grollten, haben uns verlassen. Nachdem uns das Unglück getroffen, sahen sie uns mit schadenfrohen Augen an, und jetzt begegne ich nur gleichgültigen Blicken. Wie einsam ist doch der Unglückliche! Ihr Gatte und Ihre Kinder, liebe Freundin, werden einen stets engern, einen stets süßern Kreis um Sie schließen, und Sie auch werden meiner nur gedenken, sich Ihres Friedens inniger zu freuen.

Von dem Obersten habe ich nichts gehört. Neulich sagten sie, er sei in Gefangenschaft der Engländer geraten. Vielleicht war es nicht wahre Liebe, was ich für ihn gefühlt, aber es war die höchste Neigung, der ich fähig war. Ich kann mich nicht mehr zurechtfinden. Die Leiden meiner Mutter und meines Bruders haben mich irregeführt, und ich habe den alten Weg meines Herzens verloren. Er war ein edler Mensch und liebte mich mit aller Zärtlichkeit. Ob er wohl an mich denkt? Er ist ein Mann.

Wenn ich meinen Bruder verliere, werde ich in eine Erziehungsanstalt zu kommen suchen. Frau v.C. hat mir ihr Haus angeboten; aber ich kann nicht Kinder sehen unter den Augen ihrer Mutter; ich muß mich zu fremden Kindern gesellen, denken, sie wären auch verlassene Waisen, und ihre ältere Schwester sein.

Leben Sie wohl, liebe Sophie, und empfangen Sie meinen herzlichen Dank für Ihren gütigen Brief.

IV.
Oberst W. an Corre

Cadix, den 26. Dez. 1819


Ich kenne Dein Herz, Corre, und glaube daran, auch wenn ich es nicht begreife. Aber jedem andern würde ich sagen: »Du liebst die Freiheit und kannst der Tyrannei nicht dienen? Nicht über alles liebst du sie.« Brutus hat den Blödsinnigen gespielt – ich vermochte mehr als dieser.

[706] Seit vier Jahren lächle ich wie ein Schurke, stecke Gold ein wie ein Bube und schließe mit allen Kutten Brüderschaft. Wohl manchmal am Abend sinken mir die Knie von der Arbeit des Tages; dann lasse ich mich in das Meer hinausschiffen, erzähle den Wellen mein Geheimnis und kehre gestärkt nach Hause. Du fragst mich, warum ich mein Vaterland fliehe? Ich habe keines, ich habe die Fremde noch nicht gesehen. Wo Kerker sind, erkenne ich meine Heimat; wo ich Verfolgung finde, atme ich die Luft meiner Kindheit. Der Mond ist mir so nah wie Deutschland. Nur einmal, in einer unverwahrten Stunde, habe ich dieses umpanzerte Herz geöffnet, und da haben sie mich schnell und gut getroffen. Es geschieht nicht wieder.

Alles ist gerüstet, die Winde sind günstig, in wenigen Tagen wölbst sich ein schönerer Himmel über mir. Ich habe nicht Zeit, mehr zu sprechen, aber wisse, der Tag, an dem Du diesen Brief erhältst, war der glücklichste in dem Leben Deines Freundes.

[707]

[708] [740]Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden

Es gibt Menschen und Schriften, welche Anweisung geben, die lateinische, griechische, französische Sprache in drei Tagen, die Buchhalterei sogar in drei Stunden zu erlernen. Wie man aber in drei Tagen ein guter Originalschriftsteller werden könne, wurde noch nicht gezeigt. Und doch ist es so leicht! Man hat nichts dabei zu lernen, sondern nur vieles zu verlernen; nichts zu erfahren, sondern manches zu vergessen. Wie die Welt jetzt beschaffen, gleichen die Köpfe der Gelehrten und also auch ihre Werke den alten Handschriften, von welchen man die langweiligen Zänkereien eines Kirchenstiefvaters [740] oder die Faseleien eines Mönchs erst abkratzen muß, um zu einem römischen Klassiker zu kommen. Jedem menschlichen Geiste sind schöne Gedanken und, weil mit jedem Menschen die Welt neu geschaffen wird, auch neue angeboren; aber das Leben und der Unterricht schreiben ihre unnützen Sachen darauf und bedecken sie. Man bekommt eine ziemlich richtige Ansicht von dieser Lage der Dinge, wenn man etwa folgendes bedenkt. Ein Tier, eine Frucht, eine Blume erkennen wir in ihrer wahren Gestalt; was sie sind, erscheinen sie uns. Würde aber der von der Natur eines Rebhuhns, eines Himbeerstrauchs, einer Rose eine wahre Anschauung haben, der nur eine Rebhuhnpastete, Himbeersaft und Rosenöl kennen gelernt? So ist es aber mit den Wissenschaften, mit allen Dingen, die wir mit dem Geiste und nicht durch die Sinne auffassen: zubereitet und verwandelt werden sie uns vorgesetzt, und in ihrer rohen und nackten Gestalt lernen wir sie nicht kennen. Die Meinung ist die Küche, worin alle Wahrheiten abgeschlachtet, gerupft, zerhackt, geschmort und gewürzt werden. An nichts ist größerer Mangel als an Büchern ohne Verstand, an solchen nämlich, die Sachen enthalten und keine Meinungen. Es gibt nur eine kleine Zahl origineller Schriftsteller, und die besten unterscheiden sich von den minder guten viel weniger, als man nach einer oberflächlichen Vergleichung denken mag. Einer schleicht, einer läuft, einer hinkt, einer tanzt, einer fährt, einer reitet zu seinem Ziele; aber Ziel und Weg ist allen gemein. Große und neue Gedanken gewinnt man nur in der Einsamkeit; wie gewinnt man aber die Einsamkeit? Man kann die Menschen fliehen, dann steht man auf dem geräuschvollen Markte der Bücher; man kann die Bücher wegwerfen, wie entfernt man aber aus seinem Kopfe alle die herkömmlichen Kenntnisse, die der Unterricht hineingebracht? In der Kunst, sich unwissend [741] zu machen, ist die wahre Kunst der Selbsterziehung die nötigste, die schönste, aber die am seltensten und am stümperhaftesten geübt wird. Wie es unter einer Million Menschen nur tausend Denker gibt, so gibt es unter tausend Denkern nur einen Selbstdenker. Ein Volk ist jetzt wie ein Brei, dem nur der Topf Einheit gibt; etwas Kerniges und Festes findet sich nur an der Scharre, in der untersten Lage des Volks, und Brei bleibt Brei, und der goldene Löffel, der einen Mundvoll herausschöpft, hat, weil er die Verwandten getrennt, nicht darum auch die Verwandtschaft aufgehoben.

Das wahre wissenschaftliche Streben ist keine Columbische Entdeckungsreise, sondern eine Ulyssesfahrt. Der Mensch wird in der Fremde geboren, leben heißt die Heimat suchen, und denken heißt leben. Aber das Vaterland der Gedanken ist das Herz; an dieser Quelle muß schöpfen, wer frisch trinken will; der Geist ist nur Strom, Tausende sind daran gelagert und trüben das Wasser mit Waschen, mit Baden, mit Flachsrösten und andern schmutzigen Hantierungen. Der Geist ist der Arm, das Herz ist der Wille; Kraft kann man sich anbilden, man kann sie steigern, ausbilden; was nützt aber alle Kraft ohne den Mut, sie zu gebrauchen? Eine schimpfliche Feigheit, zu denken, hält uns alle zurück. Drückender als die Zensur der Regierungen ist die Zensur, welche die öffentliche Meinung über unsere Geisteswerke ausübt. Nicht an Geist, an Charakter mangelt es den meisten Schriftstellern, um besser zu sein, als sie sind. Aus Eitelkeit entspringt diese Schwäche. Der Künstler, der Schriftsteller will seine Genossen überragen, überholen; aber um einen zu überragen, muß man sich ihm zur Seite stellen; um einen zu überholen, muß man auf gleichem Wege wandern als er. Daher haben die guten Schriftsteller so vieles mit den schlechten [742] gemein: im guten steckt ganz der schlechte; nur ist er etwas mehr; der gute geht ganz den Weg des schlechten, nur geht er etwas weiter. Wer auf die Stimme seines Herzens hört statt auf das Marktgeschrei, und wer den Mut hat, lehrend zu verbreiten, was ihn das Herz gelehrt, der ist immer originell. Aufrichtigkeit ist die Quelle aller Genialität, und die Menschen wären geistreicher, wenn sie sittlicher wären. Und hier folgt die versprochene Nutzanwendung. Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euern Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozeß, vom Jüngsten Gerichte, von euern Vorgesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden!

Über den Umgang mit Menschen

Vieles kann der Mensch entbehren, nur den Menschen nicht. Ihm ist die Welt gegeben; was er nicht hat, ist er. Nichts ist herrnlos auf dieser Erde, nicht einmal der Herr; nichts ist frei, nicht einmal die Luft – man kann sie dir nehmen. Gelüstet dir nach einer Blume, nach einer Frucht: der Garten, in dem sie wachsen, ist einem Menschen eigen. Suchst du Weisheit: der Mensch lehrt sie dich, oder das Buch, das ihm gehört. Willst du in den Himmel: Petrus hat den Schlüssel. Bist du arm: brauchst du Menschen, die dir geben; bist du reich: brauchst du Menschen, [743] welchen du gibst. Denn ob du einsam auf einer wüsten Insel darbst, ob du einsam im wüsten Herzen genießest, du bist nicht glücklich, wenn du einsam bist. Dein Glück auch in der Einsamkeit zu finden, mußt du heilig sein, und das bist du nicht, wenn du willst; wenige sind auserkoren. Was dir Menschen geben, mußt du bezahlen mit dem, was du hast, oder teurer, mit dem, was du bist. Auch Freundschaft wird dir nicht unentgeltlich. Jeder hat in seinem Leben einen schönen Kindertag, wo er, wie die ersten Menschen im Paradiese, die Früchte des Feldes, so auch Liebe ohne Sorgen und Mühe findet. Ist dieser Tag aber vorüber, erwirbst du wie dein Brot so auch Liebe nur im Schweiße deines Angesichtes. Ihr müßt Herzen säen, wollt ihr Herzen ernten. Kann man den Menschen nicht gewinnen, wie verdient man ihn? Kann man ihn gewinnen, welchen Einsatz fordert das Glück für die Hoffnung des Gewinnes? Vieles lernen wir auf niedern und auf hohen Schulen: wie die Sterne am Himmel gehen, welche Tiere in fremden Weltteilen leben, wie die Städte beschaffen, die wir niemals sehen. Aber wie die Menschen beschaffen, die uns umgeben, und welche Wege sie wandeln, das lehrt man uns nicht. Wir lernen unter Früchten die guten wählen, die giftigen meiden; wir lernen Haustiere benutzen und wilde Tiere zähmen; wir lernen dem übermütigen Pferde schmeicheln und das träge anspornen, schwimmen und Brücken über reißende Ströme bauen. Aber wie wir gute Menschen gebrauchen und böse beschwichtigen; wie wir dem stolzen schmeicheln und den stillen antreiben; wie wir Brücken über Tyrannen bauen und durch ihre Leidenschaften schwimmen – das lernen wir nicht. Ihr sagt: das lehrt die Erfahrung dem Mann! Aber die Schule der Erfahrung wird auf dem Kirchhof gehalten, und der Tod fragt uns nicht, was wir im Leben gelernt; er hat andere Künste und andere Fragen. Doch soll man um den Menschen [744] dienen? Darf man ihn behandeln? Soll man ihn gebrauchen? Darf man ihn täuschen? Soll man ihm schmeicheln? Du kannst noch viele solche Dinge fragen und findest keine Antwort darauf. Und wärest du der klarste Geist und das tugendhafteste Gemüt: du wüßtest nicht, was recht ist. Glücklich auch hier, daß du nicht frei bist; daß dir die Natur, gütig oder hart, Kräfte, Neigungen, Leidenschaften gegeben oder versagt, die dich auf diesen oder jenen Weg führen und dir die Mühe der Wahl ersparen. Bist du aber der Glücklichern einer, Herr deines Willens und Meister, zu tun, was du willst: so wähle. Es gibt zwei Wege, die zu den Menschen führen: du mußt sie lieben oder hassen, hochschätzen oder verachten, sie als göttliche Wesen oder als Sachen ansehen. Es gibt noch einen dritten breiten Weg, auf den die verworrene Menge sich drängt und Staub macht; den meide.

Nicht wenn du liebenswürdig bist, wirst du geliebt; wenn man dich liebt, wirst du liebenswürdig gefunden. Andern gefallen ist leicht; schwer ist nur, daß uns andere gefallen. Hier ist die Kunst, mit Menschen umzugehen! Du sagst: »Ich verabscheue jenen Menschen, er ist schlecht.« Nein, er ist krank. Gewährst du nicht dem Kranken deine größte Sorgfalt, und sind nicht die Krankheiten des Herzens die gefährlichsten? »Aber er ist frei, er kann sich bessern.« Glaube an deine eigene Freiheit, wenn du den Mut hast, dein Tun zu verantworten; bürde aber keinem Schwachen diese Last auf. »Er ist ein Wüterich, ein Attila.« Er ist ein Blitz. Bewunderst du nicht die Güte Gottes noch in der Sündflut und die Weisheit der Natur im niedrigsten Gewürm? »Er ist dumm.« Er ist nur ein dummer Mensch, aber das klügste Schaf. Muß er Wolle tragen? »Er ist ungesellig.« Gebrauche ihn zu etwas anderm. Der Weinstock gibt dir seine Früchte, die Eiche ihren Schatten; hast du je Früchte von der Eiche und Schatten vom Weinstocke begehrt?

[745] »Er hat weder Geist noch Herz noch Tugend noch irgendeine Gabe, er ist ein Pferd.« So reite ihn; doch du irrst. Ein Riese ist nur zweimal so groß als ein Zwerg, und jeder Zwerg ist ein halber Riese. Ein gleiches Maß von Kraft hat die Natur den meisten Menschen gegeben. Hier bildet sie sich zum Geiste, dort zur Tugend, bei einem zur Schönheit, beim andern zur Gesundheit, beim dritten zu dem Sinne aus, der das tief vergrabene Glück wittert. Ohne alle Gabe ist selten einer. »Aber er ist einer dieser Seltenen; er hat weder Geist noch Herz noch Schönheit noch Reichtum.« So wird er wenigstens einen guten Magen haben, und es gibt Leute, die es gern hören, wenn man ihre Verdauung lobt. »Selbst diese ist schlecht.« Dann wird er wenig essen und trinken; lobe seine Mäßigkeit, mache aus seiner Not eine Tugend. »Aber ich will, ich darf ihm nicht schmeicheln; schmeicheln ist sündlich.« So liebe ihn! Liebe ist eine Schmeichelei, die allen gefällt, Hohen wie Niedern, Kindern wie Erwachsenen, Guten wie Bösen – und sie ist auch Gott gefällig.

Du hassest Könige, wenn sie rasen – rasest du nicht auch, wenn du getrunken? »Aber sie sollen nicht trinken, sie sollen Schmeichlern ihr Ohr nicht geben!« Aber sie sind im Keller geboren, Wein war ihre Ammenmilch, und man ist nur Herr, sich den ersten Becher zu versagen, nicht den zweiten. Du Liberaler hassest den Ultra – was hat er dir getan? »Er unterdrückt die Freiheit des Volks, er will alles für sich allein, er will Vorrechte haben.« Er liegt in den Banden der Gewohnheit, und wenn sein Recht auch nur ein Geschwür wäre, er stürbe daran, wenn man es öffnete. Doch sein Besitz ist edler, tausendjährig, und seine Vorfahren haben sich ihn durch ihre Tugenden erworben. »Doch er selbst hat kein Verdienst!« Bist du besser? Verschwelgst du nicht im Müßiggange den ererbten Reichtum, den dein Vater mit saurer Mühe erworben? Bist du geneigt, mit den Bedürftigen [746] deine Schätze zu teilen? Macht ist wie Reichtum ... Du Ultra verfolgst den Liberalen – warum verfolgst du ihn? »Er will mir meine Rechte rauben!« Er will sie nur mit dir teilen, er ist ein Mensch wie du. »Aber ich war Jahrhunderte im alleinigen Besitz.« Desto schlimmer für dich, du bist ihm auch die Zinsen schuldig. »Aber er ist ein Schwärmer, den man schrecken muß, und ich habe die Macht in der Hand, ich kann ihn zernichten.« Und wenn du den Körper zerstörst, was gewinnst du? Der Geist bleibt, der Geist hat keinen Hals; er fürchtet dich nicht, er spottet deiner. Wenn du zehn, wenn du hundert, wenn du tausend fanatische Menschen hinrichten lässt, hast du darum den Fanatismus zerstört? Glaubst du das, dann bist du ein Tor, ein Kind. Schwärmerei ist wie eine Tontine, der Anteil der Verstorbenen fällt den Überlebenden zu, und wenn du die Zahl der Toten vermehrst, hast du nichts getan als den Reichtum des Glaubens aus Vieler in Weniger Herzen gebracht, daß er mächtiger wirke. »Also« – sprecht ihr und ihr – »sollen wir die Hände in den Schoß legen und gelassen mit ansehen, wie uns unsere Feinde bedrohen, uns berauben, in unser Gebiet fallen?« Nein, das sollt ihr nicht. Verteidige du und du, was du als Recht erkannt – nicht dein Recht, das deiner Brüder; aber nur auf dem Schlachtfelde dürft ihr euch verwunden. Bist du ein Krieger, fechte; bist du ein Redner, rede gegen deine Feinde. Doch außer der Schlacht, außer dem Buche schone deinen Feind. Entweihe nicht den heiligen Altar der Menschenliebe, der auch den Mörder schützt, und breche nicht die Tage des Gottesfriedens.

»Wohl! Ich will alle Menschen lieben, ich will jedem zu gefallen suchen, dem Klugen wie dem Einfältigen, dem Hohen wie dem Niedern, dem Guten wie dem Bösen. Doch wie gefällt man der Gemeinheit?« Das mußt du einen andern fragen. Hast du einen hohen Geist, bückst [747] du dich vergebens; so dumm ist die Dummheit nie, daß sie nicht die krumme Linie zur geraden umzumessen wüßte. Du mußt klein sein, willst du kleinen Menschen gefallen. »Doch ich lebe unter Philistern, ich muß unter ihnen leben.« Das mußt du nicht; erhänge dich! Doch ist dir dein Leben gar zu lieb, vertrage dich mit ihnen. Willst du wissen, wie unglücklich man ist, wenn man mit den Menschen zerfallen, denke an Rousseau. Sein Staub ist nicht mehr, du kennst sein Leben und seine Werke und weißt, daß er edeln Herzens und hohen Geistes gewesen. Du weißt aber auch, hättest du zu seiner Zeit gelebt, du würdest ihn, wie es alle getan, für einen Bösewicht und für einen Narren gehalten haben. Rousseau war ein Sklave seiner Freiheitsliebe, und wer die Liebe zur Freiheit bis zum Wahnsinn steigert, daß er, um aller geselligen Bande los zu sein, wie ein Vogel in der Luft zu fliegen wagt, den trifft des Ikarus Geschick. Darum suche die Menschen zu erwerben; aber noch einmal, du mußt wählen. Du gewinnst den Menschen nicht, wenn du ihn nicht hochschätzest oder verachtest; und gibt es eine Kunst, in der zu stümpern lächerlich und verdammlich ist, so ist es die, mit Menschen umzugehen. Laß dich von meinem eigenen Beispiele warnen. Nur einmal in meinem Leben – doch es war für einen Freund – suchte ich von einem Großen etwas zu erschmeicheln. Es ist schon lange her, und es geschah noch in jenen guten Tagen, von welchen der Minister auf dem Blocksberg in Goethes »Faust« gesungen:


Jetzt ist man von dem Rechten allzu weit,
Ich lobe mir die guten Alten;
Denn freilich, da wir alles galten,
Da war die rechte goldne Zeit.

Ich ging zur Audienz. Aus dem, was mich Knigge und Chesterfield gelehrt, wählte ich das Schönste und Beste, band es zierlich zusammen und überreichte den Blumenstrauß. [748] Aber ich war falsch; mein Rücken war krumm, meine Seele war gerad'; ich hatte Zucker auf den Lippen und Salz im Herzen, und der Minister – warf mich zur Türe hinaus.

Über das Schmollen der Weiber

Meine ehemalige Braut nannte ich, wie es bei allen kultivierten Völkern Sitte ist, einen Engel; meine jetzige Frau nenne ich, wenn ich böse auf sie bin, einen gefallenen Engel, ist das Ehewetter aber heiter, einen gestutzten. »Warum gestutzter?« fragte mich Wilhelmine, als ich mich zum ersten Male dieses Ausdrucks bediente. Ich ward verlegen; denn ich hatte mich noch nicht zu verstellen gelernt, ich wußte noch nicht, wie gut in der Ehe oft das Lügen sei und wie ohne diesen Lichtschirm der Wahrheit rote Augen noch häufiger wären. »Teure Wilhelmine!« sagte ich, indem ich ihr ein Stückchen Zucker, den sie sehr liebt, in den Purpurmund steckte, »liebes Vögelchen, müßte ich nicht zittern für mein Glück, wenn deine Engelsflügel nicht etwas gestutzt wären? Müßte ich nicht fürchten, du entflattertest!« ... und flögest den Himmel hinauf, wo deine Heimat ist – wollte ich höchst poetischer Weise hinzusetzen. Aber meine gute Frau ließ mich nicht ausreden. »Du fürchtest also, ich könnte dir untreu werden?« fragte sie, wartete aber auf keine Antwort, sondern nahm ihr Gesicht zusammen, verschloß den Mund und schmollte. Vergebens war mein Flehen, mein Drohen, mein Reden, mein Schweigen sogar; sie schmollte fort. Ich ging mit starken Schritten das Zim mer auf und ab; in Engels »Mimik« ist keine Bewegung geschildert, die ich nicht mit der größten Naturtreue [749] darstellte: Liebe, Haß, Zorn, Wut, Verzweiflung; aber meine gute Wilhelmine sprach kein Wort. Bei dieser Gelegenheit lernte ich das berühmte Schmollen der Weiber kennen, und seitdem verlernte ich es nicht mehr. Es war der dreißigste Tag nach meiner Hochzeit, da mein Glück in den Wendepunkt des Krebses trat. Anfänglich hatte meine teure Wilhelmine nur einen Schmollstuhl, dann nahm sie einen Schmollwinkel ein, später verschloß sie sich in ein Schmollkämmerchen, bis sie endlich es durch Übung dahingebracht, im ganzen Hause zu schmollen.

Ich habe mich in der theoretischen wie in der praktischen Philosophie etwas umgesehen, Metaphysik, Logik, Anthropologie, empirische Psychologie sind mir nicht ganz fremd; aber mit der Theorie des weiblichen Schmollens konnte ich bis jetzt noch nicht ins reine kommen. Doch will ich die wenigen unstreitigen Grundsätze, die ich mir aus meinen Erfahrungen abgezogen, gern mitteilen; sie sind in der gegenwärtigen Lage von Europa vielleicht nicht ohne Nutzen. Staatspapier-Händler, oder Staats-Papierhändler (ich weiß nicht, welche Schreibart die richtigere ist) fragen sich und andere jetzt oft: »Welchen Ausgang wird der Krieg gegen Spanien haben?« O beneidenswerte Unwissenheit! Nur wer nicht verheiratet ist, kann zweifeln; jeder Ehemann aber weiß es bestimmt, daß die Franzosen verlieren werden. Das Schmollen der Weiber ist nichts als ein Guerillaskrieg, den sie gegen die konzentrierte Macht der Männer führen, ein Krieg, in dem sie immer siegen. Was nützt euch eure schwere Artillerie, wenn Mücke nach Mücke die Hände, welche die Lunten anlegen, stechen und verwirren? Was helfen euch dreimal hunderttausend gutbewaffnete Gründe? Die Weiber, als hätten sie mit dem Bösen ein Bündnis geschlossen, sind gründefest, es dringt keiner durch. Ihre gefährlichste Waffe ist der Mund, sie mögen ihn zum [750] Reden oder zum Schweigen gebrauchen. Reden sie, und ihr habt viel Verstand und Geduld, dann könnt ihr sie zuweilen zum Schweigen bringen; schweigen sie aber (welches in der häuslichen Kriegskunst Schmollen heißt), ist alle Mühe vergebens, sie zum Reden zu bringen, ihr müßt euch zurückziehen und schließt um jede Bedingung einen pyrenäischen Frieden.

Der zürnende Mann ragt wenigstens mit dem Kopfe über die Wolken seines Zornes hinaus, das eheliche Gewitter grollt nur unter seinen Füßen; die Frau aber steht mit dem Kopfe unter dem donnernden Gewölke, und kein Strahl des Friedens beleuchtet ihr finsteres Gesicht. Wenn ich mit meiner guten Wilhelmine zanke, weiß ich, daß ich in einer Viertelstunde wieder versöhnt sein werde. Mein schmollender Engel aber hat gar keine Vorstellung davon, daß sie mir je wieder gut werden könnte. Ein komisches Mißverständnis trägt gewöhnlich dazu bei, sie noch mehr aufzubringen. Ich pflege nämlich meine teure GattinWilhelmine zu nennen; aber so oft sie zankt, rufe ich sie Minchen. Dieses Wort macht sie nur unversöhnlicher; denn sie wähnt, ich bediene mich der liebkosenden Verkleinerung nur aus Spott, und die gute Seele wird aus dem Morgenblatt erfahren, daß ich sie, wenn sie schmollt, nur darum Minchen nenne, weil sie mir dann als ein kleiner Mina vorkömmt – so geschickt weiß sie den Guerillaskrieg zu führen.

Ich habe meiner lieben Frau schon oft vorgeschlagen, ich wollte mich auf ihr Schmollen monatlich abonnieren, indem ich ihr immer auf dreißig Tage voraus recht gäbe, und dabei, meinte ich, würden wir uns besser stehen; aber sie wollte von einem solchen Vertrage nichts hören. So habe ich denn viele trübe Schmolltage in meinem Hauskalender einzutragen, und beim Schlusse des Jahres fällt die meteorologische Bilanz nicht immer zu meinem Vorteile aus. Was aber meinem Kalender ein noch [751] seltsameres und traurigeres Ansehen gibt, ist, daß ich zwar Tag und Stunde bezeichnen kann, wo meine Wilhelmine zu schmollen angefangen, aber weder Stunde noch Tag, wo sie zu schmollen aufgehört. Sie vergrollt so leise und allmählich, daß nicht zu bestimmen ist, wann der letzte Laut ihrer Unzufriedenheit verschallte, und plötzlich befinde ich mich mitten in meinem gewohnten Glücke, ohne zu wissen, wie ich hineingekommen. Sie hat mir einmal anvertraut, daß es alle Weiber so machten, die, wenn sie ihr stillstehendes Herz wieder aufziehen, alle ganze, halbe und Viertelstunden, über welche der Zeiger rücke, schlagen ließen, bis der Zeiger auf der Stunde der Liebe stünde. Sie müßten das so machen, um die Uhr ihrer Seele nicht zu verderben.

Wenn mich meine gute Wilhelmine aus dem Paradiese, das sie mir selbst geschaffen, auf Stunden und Tage hinausschmollt, so ist das nur meine eigene Schuld. Ich habe unbesonnen meiner häuslichen Verfassung die Fehler der spanischen gegeben. Meine Frau und ich bilden nur eine Kammer, und so muß denn geschehen, was in solchen Fällen immer geschieht: das demokratische Prinzip gewinnt die Herrschaft über das aristokratische. Das weibliche Herz ist ein atheniensischer Markt – unter einem herrlichen blauen Himmel liebliche Blumensträuße, duftende Südfrüchte, holde Anmut, Geist, Witz, Empfindung; aber auch Tücke, Launen, Wankelmütigkeit und Undankbarkeit. Wo aber die häusliche Gesetzgebung weise in zwei Kammern getrennt ist, wo der Mann das Oberhaus und die Frau das Unterhaus bildet, da werden, wie ein bayrischer Pair unvergleichlich schön gesungen hat, die Wogen der Demokratie sich an den Felsen der Aristokratie brechen, auf welchen Felsen der Thron gebaut ist und der Frieden!

[752]

[753] [761]Die Karbonari und meine Ohren

Als ich nach Mailand kam, herrschte dort eine sichtbare Gärung. Man hatte Nachricht erhalten, daß in Turin eine Revolution ausgebrochen; die Behörden waren argwöhnisch, achtsam, streng; das Gesindel freute sich auf die kommende Verwirrung; und manche angesehene Bürger sahen wie vergnügte Erben aus, die aus Schuldigkeit ein betrübtes Gesicht machen. Ich hatte in Mailand italienische Sprache gefunden, aber keinen italienischen Himmel, Gegenwart, aber keine Vergangenheit, und ich eilte mich, über die Schwelle des Paradieses zu kommen. Nachdem ich mit einem Vetturino auf den folgenden Tag für die Fahrt nach Florenz Abrede getroffen, ging ich in das Theater Della Scala. Man gab die Oper Othello von Rossini. Da mir die abgöttische Verehrung bekannt war, die man in Mailand wie in ganz Italien vor Rossini hegte, mußte meine Verwunderung groß sein, zu bemerken, daß man im ganzen Saale der Darstellung nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Man lachte, schwatzte, ging in den geräumigen Logen auf und ab, nahm Erfrischungen, und der Himmel weiß, vor wem sich die Sänger und Sängerinnen eigentlich bemühten. Endlich trat Desdemona auf und ward mit Beifallklatschen empfangen. Sie verneigte sich drei mal, zuerst vor der leeren Hofloge, dann rechts, dann vor dem Parterre. Ich weiß nicht, war die Sängerin beliebt oder die Arie, die sie zu singen hatte; es trat, sobald sie erschien, die größte Stille ein. Sie sang eine tödliche Viertelstunde; der Hals war mir wie zugeschnürt, und es ward mir erst leichter, als ich an den Schnörkeln und schnelleren und heftigern Schritten der Melodie bemerkte, daß sich die Kavatine dem entscheidenden Augenblicke nahe. Signora [761] Desdemona legte auch bald die Sturmleiter an, um in die Bresche, die sie in das Herz der Zuhörer gesungen, einzudringen und den Beifall zu erobern. Ein tapfrer Triller drängte sich voraus – man hörte keinen Atemzug ... da fiel ein Kanonenschuß. Ich sprang erschrocken von meinem Sitze auf, ein dumpfes Gemurmel entstand im Saale, ich hörte, wie in einer etwas entfernten Loge man sich in das Ohr flüsterte: »Bis morgen sind sie hier.« Ich fühlte meine Wangen erglühen, meine Augen wurden naß, eine himmliche Freudigkeit durchfächelte meine Adern; und da mir armen Schelme immer das Herz bis am Munde steht und es nur eines Tropfens bedarf, es überfließen zu machen; da ich die jammervolle und lächerliche Gewohnheit habe, laut mit mir selbst zu sprechen – plagte mich der Teufel, und ich rief so vernehmlich, daß man es zwei Logen weit hören konnte: »Es leben die Karbonari! es lebe Italien!«

»Zitto!« quiekte ein Sopranstimmchen hinter mir; ein anderer feister Herr sah mich mit Verwunderung an; eine schöne Dame hielt das Schnupftuch vor dem Munde. Doch hatten meine aufrührerischen Reden weniger Eindruck gemacht, als man hätte erwarten sollen; wahrscheinlich, weil man den Sinn der deutschen Worte nicht verstanden. Ich selbst aber hatte sie nur zu gut verstanden, und als der Begeisterung Überlegung und Kopfschmerzen folgten, als ich des Ortes, der Zeit und der Verhältnisse gedachte, kam große Bangigkeit über mein Herz. Ich zitterte vor den ökonomischen Gerichten, schon fühlte ich den Scharfrichter das Maß von meinem Halse nehmen, und wollte ich noch so gnädig mit mir verfahren, konnte ich mir eine folternde Untersuchung und eine lange Gefangenschaft nicht erlassen, und meine verzagte Hoffnung schmeichelte sich nichts Größeres, als daß sie mich hier in Mailand behalten und nicht in dem abscheulichen Olmütz einsperren würden. »Ach«, seufzte [762] ich, »säßest du jetzt an einem Froschteiche in der Mark Brandenburg, wieviel wohler wäre dir dort als bei dem süßen Geleier der Signora Desdemona! Wehe, Unglücklicher! wenn der Akt zu Ende ist, kommt die Wache und holt dich! ...« Der Akt ging zu Ende, die Wache kam nicht, und als ich auch den zweiten Akt mit freien Ohren absingen hörte, fing ich an mich zu beruhigen.

Die Oper war geendigt, und ein Ballett sollte folgen. In der stillen Zwischenzeit trat ein junger Mensch in meine Loge, der zuerst mit diesem und jenem sich unterhielt und, da er mich endlich gewahrte, überrascht ausrief: »Ach, Sie hier!« Er nannte mich bei meinem Namen. Ich erinnerte mich seiner nicht, und da er mir erzählte, daß er mich in N. in verschiedenen Gesellschaften gesprochen, murrte ich zum tausendsten Male über mein schlechtes Gedächtnis für Namen und Gesichter. »Ich wundre mich«, sagte der junge Mensch, »daß mir Herr S. nichts von Ihrem Hiersein erzählt hat.« – »Wie!« rief ich, »S. ist hier?« – »Und das wissen Sie nicht? Dort in der Loge sitzt er. Ich will Sie hinführen.« Ich, sehr vergnügt, einem meiner ältesten Freunde so unerwartet zu begegnen, folgte meinem Führer. Kaum hatte ich die Logentüre hinter mir, als mein dienstwilliger Herr verschwand und acht Soldaten sarmatischen Ansehens mich in ihre Mitte nahmen. Sie führten mich in eine Wachstube des Opernhauses. Dort durchsuchte man mit vieler Höflichkeit und Genauigkeit meine Taschen, meine Papiere wurden mir abgenommen – »wenn es Ihnen gefällig ist«, sagte der Polizeikommissär; ich folgte ihm. Vor dem Hause hielt eine Kutsche; man hieß mich hineinsteigen, der Kommissär setzte sich neben mich, und – »Adieu Welt!« krächzte eine Rabenstimme mir nach. Ob ich in einer Schlacht zittern würde? Ehrlich gesprochen, ich bin des Gegenteils nicht ganz gewiß, aber das weiß ich, daß nur meine Nerven zittern würden, meine Seele bliebe ruhig.

[763] Doch selbst mein unsterbliches Ich ist voller Schauer, wenn es von einer Polizei bedroht wird. Mir war gar zu wehe. Der Wagen war so niedrig, eng und so fest verschlossen, daß ich zu ersticken glaubte. Er hatte auf beiden Seiten eine runde, mit einem Drahtgeflechte bedeckte Scheibe, die nicht viel größer war als das Glas eines Fernrohres. Der durchfallende Mondschein zeichnete ein Netz zu meinen Füßen ab, in dem meine Einbildungskraft angstvoll zappelte. Mein Wächter neben mir sprach kein Wort, er war vielleicht beschäftigt, meine Seufzer zu übersetzen; ich gab ihm Arbeit genug.

Nach einer viertelstündigen Fahrt hielt der Wagen still. Ich hörte ein schweres Tor hinter ihm zuschlagen. Die Kutsche wurde geöffnet, ich stieg heraus und sah mich in einem mit hohen Mauern umschlossenen und mit zahlreichen Wachen besetzten Hofe. Man ließ mich in das Zimmer des Gefängniswärters treten. Dort wurde ich in ein Buch eingezeichnet und abkonterfeit, wie es in einem Passe zu geschehen pflegt. Meine Namensunterschrift mußte ich auch hineinsetzen. »Numero vier« – sagte der Polizeikommissär dem Gefängniswärter. Dieser, ein alter Mann mit essigsauern Mienen, ward darauf plötzlich freundlich gegen mich, rückte seine Mütze und holte mir einen Stuhl, der Polizeikommissär wünschte mir gute Nacht und flüsterte mir zu: »Seien Sie guten Muts, es wird so schlimm nicht werden!« – »Ännchen, leuchte dem Herrn!« rief der Gefängniswärter in ein Nebenzimmer hinein. Ein junges Mädchen, in jeder Hand ein Licht, ging eine Treppe hinauf, ich folgte, der Gefängniswärter hinter mir. »Machen Sie sich's bequem«, sagte mir dieser, indem er ein Zimmer aufschloß: »wenn Sie das Nachtessen befehlen, belieben Sie nur zu klingeln!« Er und das Mädchen gingen fort, und ich war erstaunt, daß die Türe von außen nicht verschlossen wurde. Meine Verwunderung stieg, als ich mich im Zimmer umsah und [764] die bequemste und schönste Einrichtung fand. Sogar an einem Schreibzeuge und an Papier fehlte es nicht. Die eiserne Maske konnte es nicht besser gehabt haben. Nachdem ich mich von den Schrecken dieses Abends etwas erholt und mich auf mein Verhör so gut als möglich vorbereitet hatte, fing ich an, meine Geschichte von der romantischen Seite zu betrachten. Das heiterte mich auf. Ich zog die Schelle, um das Abendessen zu begehren. Ännchen kam, vom Alten begleitet, trug auf und schnitt mir die Speisen vor. Ich bekam nur einen Löffel; der Gefängniswärter entschuldigte sich mit der eingeführten Ordnung. Das Essen war gut, der Wein noch besser. Der Alte ging fort, Ännchen blieb noch einen Augenblick im Zimmer, legte die Hand mit einem bedeutenden Blicke auf eine zusammengefaltete Serviette, die auf einem Toilettentische lag, brachte dann die Finger an die Lippen und wünschte mir wohl zu schlafen. Als sie fort war, verschloß ich das Zimmer, legte die Serviette auseinander, fand aber nichts darin. Ich kleidete mich aus und schlief diese Nacht sanfter, als man in meinen Verhältnissen zu tun pflegt.

Als ich am andern Morgen erwachte, umging ich noch einmal die Festungswerke meiner Unschuld, untersuchte genau alle ihre Punkte, verteilte zweckmäßig meine Verteidigungskräfte und verstärkte die schwachen Seiten. Ännchen brachte mir das Frühstück, und sie kam ohne den Alten. War es meine wiedererlangte Gemütsruhe, war es das Tageslicht – aber ich entdeckte jetzt erst die wundervolle Schönheit des Mädchens, an der ich den Abend zuvor unachtsam vorübergegangen war. Ännchen stand in der Zauberstunde des weiblichen Lebens, wo die Jungfrau mit halbgeöffneten Lippen nach den Antworten hinhorcht, die ihr die Natur auf ihre Fragen gibt. Rosen und Lilien teilten den Thron ihrer Wangen, der blaue Himmel war nur der Abglanz ihrer Augen, [765] auf ihren Lippen war das Lächeln eines schlummernden Kindes, ihr goldnes Haar, müde seiner eignen Last, ruhte auf ihren Schultern aus, ehe es weiterwallte – Engel hätten sie als ihre Schwester geliebt, aber auch einen Teufel hätte das Mädchen verführen können. Als ich, in ihrem Anschauen verloren, sprachlos vor ihr stand, da zuckte etwas über ihr Gesicht, das sie plötzlich entgötterte und was ich bald klarer verstand. Ännchen durchsuchte alle Winkel des Zimmers; dann legte sie, wie den Abend vorher, die Hand auf die zugefaltete Serviette, dann entfaltete sie diese und schüttelte sie. Ich fragte sie, was sie suche? Sie trat mir näher und sprach schnell und ängstlich: »Mein Onkel ist ein harter Mann und viel zu streng. Neulich hatten wir einen Gefangenen, der unser Dienstmädchen gewonnen. Er legte jeden Morgen einen Brief in die Serviette, den das Mädchen, ungeachtet sie nur in Begleitung des Onkels in das Zimmer ging, auf diese Weise unbemerkt mitnahm und in der Stadt abgab. Seitdem muß ich selbst die Gefangenen bedienen und genau nachsehen, ob sie nirgends was Geschriebenes versteckt.« Ich fragte Ännchen, ob sie mich verraten würde, wenn ich ihr einen Brief anvertraute. Sie legte die Hand auf das Herz und sah mich mit ihren Himmelsaugen an. »Lamm!« sagte ich, »Mädchen, so jung, so schön ...« »Guter Landsmann«, lispelte sie und legte vertraulich ihre Hand auf meine Schulter ... »So schön, so jung und schon so schlecht! Schlange!« donnerte ich ihr zu – der Schmerz erwürgte meine Stimme, ich sank auf den Stuhl, und ein Strom von Tränen entstürzte meinen Augen. –

Als ich die Hände von meinen nassen Augen wegzog, war das Mädchen fortgegangen, und der Polizeikommissär, mein Begleiter des vorigen Abends, stand vor mir. Er sah meine Bewegung, und diese mißdeutend, sprach er mir abermals Mut ein. »Beruhigen Sie sich doch, es [766] kann ja nicht unsere Absicht sein, Sie unglücklich zu machen. Wir sind ja alle Deutsche ... Verführung ... Leichtsinn ... Schwärmerei ... Sagen Sie nur die reine Wahrheit! Sie können sich um die Regierung noch Verdienste erwerben ...« Ich schüttelte den Kopf – »Das ist es nicht«, sagte ich: »doch lassen Sie uns gehen!« – Ein Wagen wartete unserer, ich ward auf die Polizei geführt. Der Polizeidirektor, einen protokollführenden Sekretär zur Seite, saß da schon in Bereitschaft. Das Verhör begann. Man fragte mich um meinen Namen, mein Gewerbe, den Zweck meiner Reise, meine Bekanntschaften in Mailand ... Kurz, man kennt ja dieses Treibjagen einer grausamen Polizei, wo das Geständnis eines Angeschuldigten wie ein armes Wild in immer engere Kreise getrieben wird, bis es in die Schußweite gekommen. Man fragte mich eine Stunde lang und hatte von meinem eigentlichen Vergehen noch kein Wort gesprochen. Endlich kam die entscheidende Frage: »Was war Ihre Absicht, als Sie gestern im Theater 'es leben die Karbonari!' riefen?« »Und, es lebe Italien!« – setzte der Sekretär hinzu. Jetzt galt es um mein Leben vielleicht. Aber so rätselhaft ist die menschliche Natur, so mannigfaltig sind die Schwächen und Eitelkeiten des menschlichen Herzens, daß ich noch überlegen konnte, ob ich lügen und mich köpfen lassen oder die Wahrheit gestehen und mich lächerlich machen sollte. Da ich mit meiner Erklärung zauderte, wurde die Frage wiederholt. »Ich bin harthörig«, erwiderte ich. »Setzen Sie sich doch gefälligst!« sagte der Sekretär sehr leise und ohne mich anzusehen. Ich wollte dem schlauen Herrn seine Freude nicht verderben, nahm einen Stuhl und setzte mich. »Sie sind also harthörig?« – schrie der Polizeidirektor. – »Ich war es«, wollte ich sagen, »Ich war es bis gestern!« – »Nun?« – der Sekretär versammelte alles, was Pfiffiges und Boshaftes in ihm vorrätig war, um die Spitze [767] seiner Nase und paßte sehr auf. Ich fuhr fort ... »Als die Nachricht von der neapolitanischen Revolution nach Deutschland kam, eilte ich nach Italien zu kommen ...« Der Sekretär war wie ein Geier hinter diese Worte her und schrieb sie hurtig auf. Ich fühlte, daß ich dumm gesprochen; ich war aber einmal in den Hohlweg hinein und konnte nicht mehr umkehren. Ich setzte meine Rede fort: »Den Wunsch, Italien zu sehen, hatte ich schon längst, ihn auszuführen schien mir jetzt die gelegentlichste Zeit. Es hieß, die Monarchen würden, von Wien kommend, Rom und Neapel besuchen ... Festlichkeiten ... Sicherheit der Wege; kurz, ich beschloß die Reise zu machen. Aber unglücklicherweise verstand ich kein Wort Italienisch. Ich nahm mir vor, noch schnell in dieser Sprache einigen Unterricht zu nehmen und so viel zu lernen, als in wenigen Wochen möglich ist. Ich las von Morgen bis Abend italienische Bücher und Zeitschriften. Unter andern Werken kam mir auch ein Heft eines hier in Mailand erscheinenden Journals zu Augen. Ich fand darin ein Mittel gegen die Harthörigkeit empfohlen, ein Übel, woran ich schon viele Jahre litt. Das Mittel bestand darin, daß man beim Tabakrauchen den angezogenen Rauch, statt ihn gleich wegzublasen, eine Zeitlang im Munde behält und Mund und Nase dabei fest verschließt. Nach wenigen Wochen dieses Verfahrens kommt das Gehör zurück. Ein russischer Graf, der dieses Mittel empfohl[en], behauptet, daß sich dessen Wirksamkeit schon bei vielen völlig Tauben erprobt habe. Ich beschloß es anzuwenden. Drei Wochen lang befolgte ich die Vorschrift, ohne Besserung zu spüren. Gestern in der Oper schmerzten mich die Ohren sehr. Die Ursachen dieser Schmerzen wurden mir erst später klar, und ich konnte dann auch erst begreifen, warum mir der Gesang aller Mitspielenden so abscheulich vorgekommen. Während einer Bravour-Arie der Desdemona glaubte ich [768] einen Kanonenschuß zu hören. Ich erschrak, entdeckte aber bald zu meiner unaussprechlichen Freude, daß mit meinen Ohren eine Veränderung vorgegangen war. Das Land der Töne, das ich bis jetzt nur am fernen Horizonte dämmern sah, (›Sehr poetisch!‹ – brummte der Sekretär) lag jetzt nah und sonnenhell vor mir. Ich hörte das leiseste Geflüster in den entferntesten Teilen des Saales – ich war glücklich. Da fiel mir bei, wie sonderbar Großes und Kleines in der Welt zusammenhängt und daß ich eigentlich der Verschwörung von Neapel die Wiedererlangung meines Gehörs zu verdanken habe. Lebhaft bin ich ohnedies und in meiner Freudigkeit dachte ich lauter als gut war, und ich rief: ›Es leben die Karbonari!‹« – – Der Sekretär sprang wütend auf und sprach: »Herr, wollen Sie uns zum besten haben?« »Herr Direktor«, sagte ich, »die Wahrheit, die Sie gehört, ist lächerlich genug; als eine Erdichtung wäre meine Erklärung gar zu abgeschmackt. Sie werden mich nicht für so dumm halten, daß ich nicht fähig wäre, eine Lüge glaubhafter zu machen, und nicht für so unverschämt, daß ich es wagen sollte, Ihnen solch ein albernes Märchen aufzubinden.« – »Beharren Sie auf Ihre Erklärung?« – »Ja.« Damit war das Verhör zu Ende, man ließ mich das Protokoll unterzeichnen und brachte mich ins Gefängnis zurück.

Acht jammervolle Tage wartete ich die Entscheidung meines Schicksals ab. Ännchen ließ sich nicht wieder sehen, und der Alte, der am ersten Tage meiner Gefangenschaft mich freundlich behandelt hatte, betrug sich nach meinem Verhöre rauh und hart und ließ mich manches entbehren. Endlich ward ich abermals auf die Polizei geführt. Man gab mir dort meine abgenommenen Papiere und meinen Paß zurück und kündigte mir meine Freiheit an. Ob man sich von meiner Unschuld überzeugt hatte, ob sich Leute für mich verwendet hatten, ob man [769] mich glimpflich behandeln wollte, oder was sonst meiner Angelegenheit eine glücklichere Wendung gegeben, als ich erwarten durfte – das weiß ich heute noch nicht. Aber im ganzen lombardisch-venezianischen Königreiche war keiner froher als ich. Selbst meine erlittene Gefangenschaft schien mir ein Gewinst; denn ich sah sie als ein Gläschen Wermut an, das man vor dem Essen nimmt – und stand nicht ein herrlich gedeckter Tisch vor mir, duftete nicht Rom in goldener Schüssel, blinkte nicht das Meer in kristallener Flasche? – Als man mir nun bedeutete, ich hätte innerhalb vierundzwanzig Stunden Mailand zu verlassen, antwortete ich vergnügt »Morgen früh fahre ich nach; Florenz.« – »Zum Teufel fahren Sie« – schnaubte mich ein dicker Offizier an, den das Land unter der Enns gemästet – »Marsch! rechts um, kehrt euch! Sie gehen hin, wo Sie hergekommen. Mir wären Sie nicht so leicht entwischt.« – Bei diesen Worten machte der Wüterich eine fuchtelnde Bewegung mit der Hand, die mich mit Schau der erfüllte. Er hielt mir meinen Paß unter die Nase: »Da lesen Sie!« der Paß war nach Tirol und der bayrischen Grenze visiert, und stand darin: »Hat sich Signalisierter bei Vermeidung gefänglicher Haft nirgends länger als 12 Stunden aufzuhalten und von dem gezeichneten Wege nicht abzuweichen.« Gleich einem Blitzstrahle fuhr dieses Gebot durch mein Herz; entseelt stand ich da. Wie ich nach Hause gekommen, wie eingepackt, mich in den Wagen geworfen und fortgejagt über Berg und Tal, durch Tag und Nacht – ich weiß es nicht. Erst in München kam ich zur Besinnung.

So mußte ich auf dem Wege, den ich hergekommen, zurückkehren in das Philisterland! Italien, Wunderinsel meiner Träume, so habe ich dich gesehen – im Traume! Wer war es damals, der meine Schmerzen linderte, der Balsam goß in meine Wunden, der meine Tränen trocknete? [770] Du warst es, Phantasie, himmliche Trösterin, die den Hungrigen in der Wüste mit Manna speist, die aus Baumrinden Brot bäckt und Zucker aus Rüben bereitet. Ich danke dir, gnädige Göttin!

Über den kritischen Lakonismus

Es gereicht Rezensenten, sie mögen nun Bücher, Menschen oder Verhältnisse beurteilen, zum größten Ruhme, wenn sie wie die Spartaner leben, nur Kupfergeld besitzen und schwarze Suppen essen; denn wer Vertrauen braucht, erhält es nur, wenn er sonst nichts braucht, und nur wer die Menschen entbehren gelernt, darf sie belehren. Aber schreiben dürfen die Rezensenten nicht wie Spartaner. Sie sind Richter; sie müssen also freisprechend oder verdammend ihre Entscheidungsgründe angeben, und das klar und umständlich. Tun sie dieses nicht, begnügen sie sich zu sagen: das ist gut, das ist schlecht – so kann ihnen jeder Leser mit Recht bemerken: das weiß ich ohnedies, das sagt mir mein Gefühl; du aber sollst mir mein Gefühl deutlich machen und mir erklären, warum dieses gut, warum dieses schlecht sei. Gegen die Lakonismen mancher Kritiker wollen wir etwas eifern und bei dieser Gelegenheit noch einiges andere berühren, was auf unserm Wege liegt. Sie verdienen um so mehr Vorwürfe, da Schriftsteller in unsern Tagen gar nicht nötig haben, so ängstlich auf Kürze bedacht zu sein; für das Erforderliche hierin sorgen schon andere Leute.

Da sind zuerst die Kritiker der Büchertitel. Manchmal fehlt in einem Titel ein ablatives E, manchmal ein Komma, manchmal das multiplizierende N. Mikroskopische [771] Rezensenten bemerken diese Mängel und schieben das fehlende Komma hinein, und zwar behutsam in einem Parenthesenfutterale gesteckt, damit die kostbare Verbesserung nicht beschädigt werde. Wie kann ein Rezensent, der nur etwas menschliches Gefühl hat, so hart sein, den Titel eines Buches zu kritisieren? Ist er nicht selbst Mensch? Ist er nicht selbst Schriftsteller? Denkt er nicht mehr an jenen Tag, da er das Werk, woran er zehn Jahre gearbeitet, zu Ende gebracht und den Titel niedergeschrieben? War er nicht selig an diesem Tage? Hatte ihn nicht der Gedanke berauscht: heute habe ich auf meinen Todesfall gesorgt, heute habe ich meine Unsterblichkeit in die Witwenkasse gebracht? War er an jenem Tage fähig, auf ein Komma zu achten? Fürchtet aber der Rezensent, das fehlende Komma könne die Schuljugend verführen, so verbessere er es im stillen; der Schriftsteller wird dann den bescheidenen Vorwurf gerührt annehmen und dem Rezensenten bei nächster Gelegenheit die Hand drücken. Überhaupt ist es kleinlich, in einem Buche die Sprachfehler zu rügen. Man kann annehmen, daß in der Regel jeder Schriftsteller grammatisch richtig zu schreiben weiß und daß er Sprachfehler nur aus Übereilung begeht. Es sind aber nicht immer die schlechtesten Werke, die in der Eile geschrieben werden. Ich war einmal dabei, als der verstorbene berühmte Physiker Ritter eine ungeheure hohe galvanische Säule aufrichtete, mit der man ganz Deutschland hätte sanguinisieren können. Ritter brachte aber nur Krebse und Frösche in ihren Wirkungskreis und stellte Versuche an. Zu gleicher Zeit schrieb er seine Beobachtungen nieder, und indem er dies tat, stand ein kleiner untersetzter Druckerjunge ganz verdutzt am Fuße der Säule und wartete aufs Manuskript. Daß Ritter, wie es die Physiker manchmal tun, die Natur auf die Folter gespannt und ihr Bekenntnisse abgepeinigt, die sie oft wieder zurücknimmt – das gehört [772] nicht hierher. Nur so viel ist daraus zu entnehmen, dass unter solchen Umständen Ritter nicht an jedes Komma denken konnte.

Als kritische Lakonismen sind auch die Frage- und Ausrufungszeichen zu tadeln, welche Rezensenten und Redakteurs zuweilen in die ausgezogenen Stellen der beurteilten Schriften und in die Aufsätze ihrer Mitarbeiter hineinbringen. Wenn ein Rezensent oder ein Redakteur sich über etwas wundert oder etwas bezweifelt, dann soll er dieses deutlich heraussagen und es nicht bloß pantomimisch zu erkennen geben. Ein solches Ausrufungszeichen gleicht dann dem Spieße eines Dorfwächters, welcher die Dienste seines in die Schenke desertierten Herrn übernommen. Ein treuer Rezensent darf sich aber nicht auf seinen Spieß verlassen, sondern er muß selbst Wache halten und jeden Einpassierenden fragen: woher? wohin? in welchen Geschäften? oder was sonst ein Literaturwächter zu fragen hat. Das schlimmste hierbei ist, daß die Leser nicht immer merken, daß der Kritiker oder Redakteur das Ausrufungs- und Fragezeichen dazwischen gesetzt, sondern glauben, es gehöre zum Texte. Sie müssen sich dann sehr verwundern, daß der Verfasser sich über seine eignen Behauptungen wundert und einen Satz, den er eben erst mit Bestimmtheit ausgedrückt, wieder in Zweifel stellt. Diese Verwirrung kann aber einem Schriftsteller nicht gleichgültig sein. Welcher, der Weib und Kind hat, wird es wagen, drucken zu lassen: »Der korsische Tyrann hielt die Welt in Banden, sein Sturz befreite sie« – wenn er befürchten muß, daß ihm seine gute Gesinnung vergiftet werden könne, indem der Rezensent oder der Redakteur ein arsenikalisches Ausrufungszeichen in den Satz bringt? Kann der Redakteur seine Verwunderung oder seinen Zweifel nicht unterdrücken, so bringe er seine Hieroglyphen in das Unterhaus der Noten, wo sie als Opposition [773] hingehören. Er darf also nicht schreiben: »Der korsische Tyrann hielt die Welt in Banden, sein Sturz befreite(!) sie«, sondern er muß drucken lassen: »Der korsische Tyrann hielt die Welt in Banden, sein Sturz befreite 3 sie.«

»Ohe jam satis est!«... ich sage das nicht; bewahre der Himmel, denn ich bin noch nicht fertig. Und wäre ich fertig, würde ich dieses auf eine feinere Art zu verstehen geben, nämlich, indem ich aufhörte. Es gibt aber Rezensenten, die, wenn sie nichts mehr zu sagen wissen oder müde sind oder kein Papier mehr haben, ausrufen: »Ohe jam satis est!« oder »Eheu jam satis est!« Aber ohe und eheu und alle solche Interjektionen (oder Empfindungslaute, wie man sie während des Befreiungskriegs in den deutschen Frauenvereinen nannte) sind sehr, sehr häßlich. Es liegt eine Verachtung darin, die auch der schlechteste Schriftsteller nicht verdient. Man soll zwar einen schlechten Schriftsteller nicht schonen, man soll ihn töten – sotaner Schaden ist nicht groß; aber man soll ihn hinrichten, nicht zerfetzen. Ein solcher gefühlloser Empfindungslaut ist auch das sic, das, obzwar eine Konjunktion, doch oft in Rezensionen als Interjektion gebraucht wird. Was heißt sic? Wer den großen Scheller bei der Hand hätte, worin alle Farbenabstufungen dessic stehen, der kann sich freilich erklären lassen, was der Rezensent in jedem einzelnen Falle unter sic verstand; wer aber auf dem Rigi eine deutsche Renzension liest, wie soll der sich helfen? das sic ist oft rätselhaft. Also keine sic's, sondern frei heraus mit der Sprache, wie es einem deutschen Manne geziemt. Man kann wohl lateinisch beten, denn der liebe Gott versteht alle Sprachen; aber lateinisch kritisieren soll man nicht.

Endlich sind auch die kritischen Mottos zu rügen, die sibyllenartig in Versen ihre Meinung sagen. Es gibt nämlich [774] deutsche Tageblätter, die jeden Tag mit einem andern Motto erscheinen. Das Motto ist gleichsam die Aurora, die jeden Morgen und das Blatt verkündet, das der Morgen bringt. Die eigentliche Bestimmung dieser Mottos ist, mit den Aufsätzen, welche zuoberst im Blatte stehen, in Verbindung zu treten. Sie müssen also im Geiste dieser Aufsätze gewählt sein. Die Redaktionen aber vergessen dieses oft und erlauben sich in den Mottos Aufsätze zu kritisieren. Dieses mag lobend oder tadelnd geschehen, so ist es immer zu rügen. Das Motto soll nicht wie ein Portier sein, der den Eintretenden grob oder artig behandelt, je nachdem er bei dem Hausherrn mehr oder weniger beliebt ist. Der Redakteur darf seine Finger nicht zwischen den Baum und die Rinde stecken, das heißt: er darf sich nicht zwischen den Leser und den Mitarbeiter stellen. Freilich kann der Fall eintreten, daß die Redaktion mit den Ansichten eines ihrer verehrten Mitarbeiter nicht einverstanden ist; aber darum darf sie sich an dem verehrten Mitarbeiter nicht reiben, sie darf ihn nicht als Probierstein benutzen, die Goldhaltigkeit ihrer eignen Gesinnung darzutun; sie hat andere Gelegenheiten genug, ihre 24 Karate zu beweisen. Gibt es denn etwas Komischeres, als wenn das Motto gerade das Gegenteil sagt als der Aufsatz, zu dem es gehört – wenn es gleichsam vorausläuft und den Lesern zuruft; dahinten kömmt ein Herr, der will euch etwas erzählen, glaubt ihm nicht, er lügt! So habe ich neulich in einem solchen Blatte einen Aufsatz gelesen, dessen Verfasser sich die undankbare Mühe gab, den Deutschen über ihren lächerlichen Judenhaß etwas die Wahrheit zu sagen. Das Motto zu jenem Aufsatze lautete (in Versen) ungefähr: »Vernichtung nur ist euer Los. Frieden ist euch hienieden nicht beschieden.« Wäre ich der Verfasser jenes Aufsatzes, hätte ich der Redaktion gesagt: »Mit diesem Motto bin ich gar nicht zufrieden, und von nun an sind wir geschieden. [775] Ein gewissenhaftes Motto darf kein Gewissen haben; es muß heute demokratisch, morgen aristokratisch gesinnt sein. Ein weltkluges Motto muß sich zum Motto wählen: ›Vive le roi! Vive la ligue!‹«

Ankündigung der Zeitschwingen

Der Herr Verleger dieser Blätter, ein erfahrner Mann, lachte sehr, da ich traurig und besorgt wegen der versprochenen Ankündigung der Zeitschwingen, die voller Anpreisungen ihrer künftigen guten Eigenschaften sein mußte, vor ihm erschien. »Weiß es nicht jedermann«, sagte ich, »daß Oliven und Zeitungen nur beim anfänglichen Drucke reines Jungfernöl geben, nachher aber schmieriges? So wahr es auch ist, daß diese Blätter einem dringenden Bedürfnisse unserer Zeit abhelfen und ein großes Loch in der Literatur ausfüllen werden, wer glaubt es mir, wenn ich es versichere?« Jener aber meinte, die Deutschen wären es noch lange nicht müde, an Versprechungen zu glauben, und sie hätten dafür schon Werteres hingegeben als einige Gulden. Ich solle darum ganz kühn versichern, die Zeitschwingen würden sich über alles verbreiten, was nur Himmel und Erde bewahren; Politik, Literatur und Kunst würden auf das Anmutigste abgehandelt und alles auf das Gründlichste besprochen werden. Auch wären mit allen Hauptörtern Europas Korrespondenzen eingeleitet, und der neuesten und gewissesten Nachrichten könnten die Leser versichert sein.

Auch ist es vertragsmäßig festgesetzt, daß ich mich selbst loben soll. Mir fällt dieses leichter als jedem andern. Ich tue es hiermit. Nimmt man nicht allgemein an, daß derjenige nicht ohne Tugenden sein könne, der seine Fehler [776] offen eingesteht? Einige meiner schriftstellerischen Fehler, denke ich darum, werden mich empfehlen, wenn ich sie bekenne.

Sechs Monate lang habe ich die sogenannte Zeitung der freien Stadt Frankfurt (man sieht, daß es der deutschen Sprache an keiner Art Biegsamkeit fehlt und ich davon Gebrauch zu machen verstehe) teils geschrieben, teils abgeschrieben. Aber vor vierzehn Tagen wurde mir unerwartet von Staatswegen auf die Finger geschlagen und mir die Fortsetzung jenes Blattes untersagt. Nämlich nicht die Zeitung, sondern ich wurde unterdrückt. Diese wohlverdiente Strafe ward mir auferlegt erstens: weil ich mich als einen geschmacklosen Übersetzer aus dem Französischen gezeigt, und zweitens: weil ich dem »gemeinen Wesen« jener freien Stadt nicht hinreichend gehuldigt. Die Leser der Zeitschwingen können also leicht denken, daß ich durch diesen Vorfall zugleich gewitzigt und vom Witze abgeschreckt, mich künftig eines mäßigen, bescheidenen und ehrsamen Tones befleißigen werde. Mit dem »gemeinen Wesen« des deutschen Vaterlandes werde ich mich unaufhörlich beschäftigen und mich dem Vorbilde eines frommen, polizeiergebenen Bürgers immer mehr und mehr zu nähern suchen. Ich will zwischen freisinnigen und knechtischen, zwischen herrschaftlichen und untertänigen Meinungen die friedliche Mitte halten und mich nur zu mediatisierten Ansichten bekennen. Zu mediatisierten? Dieses Verhältnis, wird mancher sagen, gibt mir immer noch mehr Freiheiten, als gut ist. Ich sage es selbst.

Ich werde mich einigem Spaße ergeben, ob ich zwar recht gut weiß, daß die Deutschen keinen Spaß verstehen. Ich habe auf meiner kurzen literarischen Laufbahn merkwürdige Erfahrungen darüber gemacht. Wie manche Ironie hatte ich fein zugespitzt; wie werden diese lachen, wie jene sich ärgern, dachte ich. Aber was geschah? Jene lachten [777] nicht, und diese ärgerten sich nicht; und hatte ich behauptet: zweimal zwei sei fünf, so schalten mich die Klugen einen Dummkopf, und die Dummköpfe triumphierten, ihre eigene Meinung so verbreitet zu finden.

Die Zeitschwingen führten bis jetzt auch noch den Beinamen: des deutschen Volkes fliegende Blätter. Dieses Spottnamens geschieht künftig keine Erwähnung. Was wäre denn am deutschen Volke, das flöge? Es war niemals flügge, aber heftige Stürmen hatten es einige Minuten in die Höhe geworfen. Die wenigen fliegenden Blätter, die es noch besitzt, werden täglich enger zusammengeheftet. Die schöne schweinslederne Zeit der Foliobände kehrt mit starken Schritten zurück. Ein großer Gelehrter studierte seine ganze Lebenszeit, mit dem Bauche auf der Erde liegend. Ein anderer sagte seinem Diener, der ihm zu melden kam, daß das Haus über seinem Kopfe brenne, kalt und zerstreut: »Geh' Er zu meiner Frau! Ich bekümmere mich nicht um die Wirtschaft.« Der denkende Teil des deutschen Volkes wird sich bald wieder dem Studieren ergeben – auf dem Bauche liegt er schon; und wenn ihn Rauch und Flamme und Krieg umgibt, wenn die emsigen Spritzen ihm den warmen Kopf waschen, wenn Seelenhandelsverträge geschlossen und die deutschen Schafe an England verkauft werden, um sie abwechselnd zu scheren und einzuwollen – sagt er ganz gelassen: »Was geht's mich an? Ich bekümmere mich nicht um Wirtschaftsangelegenheiten; das ist die Sache meiner Regierung.« Darum fort mit fliegenden Blättern!

Gruß den Lesern!

Die großen Herren lieben es sehr, daß wir kleinen Knechte erhabene Betrachtungen anstellen und ihnen die niedrige Handarbeit überlassen; daß wir hoch über den Wolken den Lauf der Sterne berechnen und uns um [778] den Lauf der irdischen Dinge nicht bekümmern, daß wir algebraische Aufgaben lösen, während sie den geldbaren Vorteil einstreichen. Weil sie es wünschen, kann es nichts Gutes sein. Wie so viele wohldenkende und verständige Menschen lassen sich hierin zum besten haben. Die Gewaltigen im Lande donnern ihnen seit dreißig Jahren zu, sie möchten sich nicht mit Theorien abgeben, die in der Wirklichkeit keine Anwendung verstatteten, und unsere lieben Gelehrten werden darauf warm, verteidigen ihre Grundsätze und verwickeln sich um so enger in das Netz, das man über sie hergeworfen. Jene wollen es nicht anders, als daß wir hierin ihnen nicht gehorchen. Unterdessen gehen die Dinge ihren alten Gang. Sokrates wurde gepriesen, weil er die Philosophie vom Himmel herabgeholt, und so ward er ein Lehrer der Menschheit. Wenn wir beglücken wollen, müssen wir die Politik aus den Wolken erdwärts ziehen. Kein Hungriger wird gestillt mit einer Abhandlung über die freie Kornausfuhr, kein Kranker geheilt mit einem Handbuche der Therapie, keine Bürgerfreiheit durch Montesquieus geschaffen. Saatkorn für die Nachwelt, Brot für die Zeitgenossen. Nur der gute Heinrich konnte sich ohne Schwärmerei dem schönen Traume von einer europäischen Republik und einem ewigen Frieden hingeben, weil er den schönern hatte von dem sonntäglichen Huhne im Topfe.

Über Grundsätze läßt sich hadern, über Erfahrungen nicht. Den Verstand kann man betören, aber nicht die Sinne. Gegen ein System der Meteorologie läßt sich streiten, aber nicht gegen das Gefühl der Haut, wenn sie Kälte oder Wärme, Nässe und Trockenheit der Luft empfindet. Wollen wir Menschenglück verbreiten, dann müssen wir mehr des Lebens Erscheinungen als dessen Regel besprechen. Erst an toten Körpern wird der Bau der Lebenden erkannt. Laßt uns der atmenden Brust Erleichterung geben!

[779] Darum soll man (ich werde es) öfterer des Volkes Entbehrungen besprechen als seine Rechte, wärmer die Staatsverwaltungen als die Staatsverfassungen, mehr die täglichen Erscheinungen des Bürgerlebens, wie sie im häuslichen Kreise und auf dem Markte sich zeigen, als die Grundsätze der Gesetzgebungen und die großen politischen Verhältnisse.

Wie im Familienleben, wie in der stündlichen Not oder Lust des Menschen eine vollkommene oder fehlerhafte Regierung sich ausspreche; dieses setze ich mir vor, an einzelnen Wahrnehmungen so aufzuzeigen, daß es dem Verstande eines jeden faßlich werde. Das deutsche Volk hat noch zuwenig politische Aufklärung. Es kennt den Zusammenhang nicht zwischen einer repräsentativen Verfassung und seinem Magen. Es sieht die Gefahren einer Gewitterwolke nicht eher ein, bis der Blitz das Haus getroffen, und begreift die Wohltätigkeit eines befruchtenden Regens nicht früher, als bis es das in dem hundertsten Folgegliede entstandene Butterbrot in den Mund steckt. Man muß es von seinen sinnlichen Wahrnehmungen zu den obersten Grundsätzen hinaufleiten; der umgekehrte Weg führt zur Verwirrung, welche die Schlechten benutzen.

Und da auch ich, wie ich es schmerzlich fühle, noch in der Zwitterzeit erzogen bin, wo die Wissenschaft sich vom Leben schied und man eine doppelte Sprache für beide Welten erlernte und gebrauchte; da man in Büchern anders redete als mit dem Munde, so werde ich mich jener soviel als ausführbar enthalten. Ich will lieber nützen als gespriesen werden; Trost gibt der Himmel, von dem Menschen erwartet man Beistand.

›Ich habe geglaubt, dieses wenige sagen zu müssen, damit nicht der Herr Verleger, welcher aufpaßt, und die neuen Leser der Zeitschwingen den Kopf schütteln, wenn sie sehen, daß ich nicht mit etwas Wichtigem auftrete, mit [780] einer Übersicht der europäischen Verhältnisse, mit einer Betrachtung, ob zwei Kammern besser seien als die Hälfte davon, oder eine besser als gar keine: sondern nur mit folgendem:‹

Über die Nachteile der Schulversäumnisse

Einladungsschrift zu der öffentlichen Prüfung der Musterschule, von Dr. Seel, Direktor und Oberlehrer der Musterschule Frankfurt am Main, 1819


Europa hätte nichts Ausführliches davon erfahren ohne mich. Eine kleine Schrift von nur vierundzwanzig Seiten, aber voll Inhalt. Ich habe sie zweimal gelesen. Das erstemal lachte ich, und ich mache kein Geheimnis daraus, ich nahm mir vor, mich darüber lustig zu machen; das andere Mal aber lachte ich nicht; denn ich sah wieder eine Faser von des Lebensbaumes kranker Wurzel. Ich will Scherz und Ernst mit meinen Lesern redlich teilen.

Man kann nicht wissen, ob schon Adams Kinder in die Schule gegangen sind; aber wenn sie es taten, so kann man wissen, daß sie es ungern taten. Wir oberflächlichen Menschen, welche seit Jahrtausenden diese Erscheinung wahrnahmen, begnügten uns mit der Erklärung: das läge in der Natur des Kindes, und dagegen sei keine Hülfe möglich. Ich selbst habe erst vor einigen Tagen die schmerzliche Entdeckung gemacht, daß die diesjährige Wohlfeilheit der Kirschen der Frankfurter Jugend sehr schade, indem sie auf dem Wege zur Schule für ihre wenigen Kreuzer sehr viel Obst essen kann und hierüber auf der Straße kostbare Zeit verliert. Ich wollte den Vorschlag machen, von Polizei wegen für die Schulkinder eine hohe Taxe der Kirschen zu setzen, damit sie solche mit ihrem kleinen Vermögen nicht erstehen könnten.

[781] Herr Direktor Seel behandelt den Gegenstand von einer ganz neuen Seite mit ungemeiner Gründlichkeit und Menschenkenntnis. Im allgemeinen, sagte er, müsse man sich mehr darüber wundern, daß die Schulen noch so viel, als daß sie so wenig wirken. Wir wollen diese Behauptung hingehen lassen und durch keinen Widerspruch der Bescheidenheit des Verfassers, der selbst Schullehrer ist, zu nahe treten. Er teilt die Hindernisse, welche der Wirksamkeit der Schule entgegenstehen, in zwei Regimenter ein, in das unvermeidliche und das vermeidliche. Das unvermeidliche Regiment zerfällt in drei Bataillone, wovon das erste in dem Kinde haust, das zweite bei dem Lehrer liegt und das dritte in die elterliche Wohnung einquartiert ist. Das Kinderbataillon besteht aus folgenden Kompagnien Laster, 1. Trägheit, nicht das wohlbekannte deutsche Übel, sondern eine lateinische Krankheit, vis inertiae genannt. (Die drei übrigen übergehe ich.) Die Laster des Lehrerbataillons zählten: Beschränktheit des Verstandes (nicht die der Lehrer, sondern des menschlichen überhaupt), unvollkommene Einsicht (nicht die des Lehrers, sondern aller menschlichen). »Man denke nur«, sagt der Verfasser, »der Lehrer ist ein Mensch (nicht immer) und das Objekt seinerLehrtätigkeit (Harmonikaklänge) ein Geist! – Und: unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk!« – Das elterliche Sündenbataillon ist aus Mangel an Einklang mit der Schule (oft die einzige Rettung für das arme Kind) und aus vielen andern Unvollkommenheiten, welche bald von den Eltern, bald von den Geschwistern, bald von den Knechten und Mägden ausgehen, zusammengesetzt. »Diese Dinge alle vereinigt«, sagt der Verfasser, »sind die unvermeidlichen Übel, welche das gute Werk der Schule zerstören. Nun gibt es aber auch unvermeidliche Hindernisse, an deren Spitze die Schulversäumnisse stehen.«

[782] Herr Dr. Seel bittet nun die Eltern der Musterkinder, letztere zum fleißigeren Schulbesuch anzuhalten. Er bittet sie, »aber freilich mit dem Zusatze«, sagt der Verfasser, »zu dessen Anfügung ich von höherer Behörde beauftragt worden bin, daß, wenn diese Bitte den Erfolg nicht haben sollte, den ich mir davon verspreche, wir zu Anwendung von – den Eltern vielleicht unangenehmen und empfindlichen – Mitteln schreiten müssen.« Bei dieser Stelle muß ich verweilen, da sie etwas Gefährliches für die Rechte der persönlichen Freiheit zu enthalten scheint.

Bei der jetzigen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft, wo sich der Staat um die Kindererziehung nicht bekümmert (denn öffentliche Schulen sind nicht mehr als Marktanstalten, welche die Regierung mit Nahrungsmitteln für den Geist versehen läßt, damit jeder für sein Geld, soviel er für die Seinigen bedarf, dort finden möge), gibt es keine Zwangsmittel für Eltern, die dumm, leichtsinnig oder pflichtvergessen genug wären, den Unterricht ihrer Kinder zu vernachlässigen. Was könnten also das für unangenehme und empfindliche Mittel sein, auf welche Herr Direktor Seel anspielt? Da er von Aufträgen einer höheren Behörde spricht, so ist zwar nicht zu bezweifeln, daß ihm, um die Kinder von Schulversäumnissen und die Eltern von deren Verstattung abzuhalten, nur solche Verwaltungsbefugnisse eingeräumt worden sind, die innerhalb der Schranken der Gesetze liegen. Aber warum nennt Herr Dr. Seel seine unangenehmen Mittel nicht, und wie kann er je sich zu deren Anwendung berechtigt fühlen, solange er sie nicht bestimmt angedroht hat? Dem Herrn Dr. Seel sollte es nicht unbekannt sein, daß nach dem Geiste der jetzigen Regierungskunst kein Strafgesetz Gültigkeit hat, wenn die darin auf ein Vergehen gesetzte Buße nicht in Größe und Beschaffenheit bestimmt ausgedrückt ist. Der früher in manchen deutschen Staaten bestandene Mißbrauch, [783] wo sich die Regierungen zu sagen erlaubten: dieses und jenes zu tun sei verboten, und solle der Übertreter »nach Befinden angemessen« bestraft werden, um sich hierdurch die schöne breite Willkür vom Galgen bis zu dreißig Kreuzern hinab zu verwahren, findet nirgends mehr statt. Ich fordere daher Herrn Dr. Seel auf, und die Eltern der Musterkinder tun dieses gewiß auch in ihrem Sinne, sich gefällig darüber zu äußern, worin jene empfindlichen Mittel bestehen.

Eine herrliche, ganz nach der Natur getroffene Schilderung gibt der Herr Verfasser (Seite 7 und 8) von den Tücken, welche die Kinderchen anwenden, um ihre Eltern zu bewegen, daß sie ihnen den Besuch der Schule erlassen. Es wird keinen gereuen, diese malerische Stelle selbst nachgelesen zu haben.

»Die Eltern«, fährt der Herr Verfasser fort, »bringen gewöhnlich nur den negativen Schaden (lucrum cessans in der gerichtlichen Sprache genannt) der Schulversäumnisse in Anschlag; den positiven Schaden aber (damnum emergens) rechnen sie nicht.« Grade dieser aber sei die Hauptsache. Schulversäumnisse nämlich zerstören bei dem Kinde die so notwendige Achtung vor der Schule. Warum? Deswegen: »Man urteile nur einmal selbst: wenn die Schule zuweilen mit einem Spaziergange, mit einem Besuche, einem häuslichen Vergnügen, mit der Teilnahme an einer Mahlzeit in Kollision kömmt und die Schule ohne weiteres zum Zurückstehen verurteilt werde ...!« Diese Achtung sei das nötigste. »Wir Menschen alle, wir großen sowohl (es ist von körperlicher Größe die Rede) als die kleinen, bedürfen beständig, um uns immer mehr zu erheben (den Trieb, sich zu erheben, zeigt der Verfasser stark), etwas, das wir hoch über uns erblicken, zu dem wir mit ehrfurchtsvoller Scheu und Achtung emporsehen.« Die Kinder also sollten die Schule scheuen; (aber das tun sie ja auch!).

[784] »Daher« – es ist wundervoll, wie der geistreiche Verfasser ohne Brücke zu diesem Satze kommen konnte – »will es Gottes Wort und Gottes Gesetz, daß der Mensch alle Obrigkeit, Gesetz und weltliche Ordnung ehren soll ... Und wenn wir es einmal dahin gebracht haben werden, daß jeder Zeitungsschreiber und Tagblättler die Obrigkeit bekritteln, meistern und schmähen darf; so sind wir ebenso gut dran, als hätten wir keine Obrigkeit, denn sie ist ja alsdann nicht mehr Obrigkeit.« Wenn ich des Herrn Schuldirektors grammatikalischen Witz richtig aufgefaßt habe, so heißt ihm Obrigkeit, was über alles ist, also auch über das Urteil. Er gestatte mir, ihn hierüber zu belehren. Höher als die Obrigkeit steht das Gesetz. Ehrfurcht dem Gesetz und Achtung den Vollstreckern desselben! Wo aber das Gesetz aufhört: und wo die Willkür beginnt, da hört auch, zwar nicht der jeder Obrigkeit schuldige Gehorsam, aber die von ihr geforderte Achtung auf, und man wird alsdann nicht bloß berechtigt, sondern sogar verpflichtet, ihre Schritte zu beurteilen. Wenn die Folgerung des Verfassers wahr wäre, dann müßten Frankreich, England, Bayern und Württemberg ohne Obrigkeit sein, da dort täglich geschieht, was er Bekritteln der Obrigkeit nennt.

Also wie die Obrigkeit, so solle man auch die Eltern und Gott scheuen und fürchten. Der Liebe ist der Verfasser abhold, vielleicht sie auch ihm. Furcht ist ihm die Lenkerin der bürgerlichen Ordnung und jeder Pflicht, und da es sich von dem Herrn Muster-Schuldirektor wie von jedem braven Manne erwarten läßt, daß er die Regeln, die er gibt, selbst befolgt, so darf man annehmen, daß er sich gewaltig fürchtet.

Wenn Herr Dr. Seel durch diese Abhandlung hat zeigen wollen, warum die Kinder die Schule, deren Direktor er ist, so gern und oft versäumen, so muß man ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er die Wurzel [785] des Übels völlig aufgedeckt hat; sie ist ganz handgreiflich geworden.

Aber ihr armen geschreckten Kinder, weinet nicht! Die Natur ist stärker als die Unvernunft der Menschen. Und was die Toren und was die herrschsüchtigen Knechte auch immer sagen und tun mögen – euch bleibt ewig ein Mutterschoß, wohin ihr vor ihren Schmähungen und ihren Mißhandlungen flüchtet.

[786]

[787] [789]Denkrede auf Jean Paul
Vorgetragen im Museum zu Frankfurt,
am 2. Dezember 1825

Ein Stern ist untergegangen, und das Auge dieses Jahrhunderts wird sich schließen, bevor er wieder erscheint; denn in weiten Bahnen zieht der leuchtende Genius, und erst späte Enkel heißen freudig willkommen, von [789] dem trauernde Väter einst weinend geschieden. Und eine Krone ist gefallen von dem Haupte eines Königs! Und ein Schwert ist gebrochen in der Hand eines Feldherrn; und ein hoher Priester ist gestorben! Wohl mögen wir den beweinen, der uns Ersatz gewesen und uns nun unersetzlich geworden. Jedem Lande ward für jedes trübe Entbehren irgendeine freundliche Vergütung. Der Norden ohne Herz hat seine eiserne Kraft; der kränkelnde Süden seine goldene Sonne; das finstere Spanien seinen Glauben; die darbenden Franzosen erquickt der spendende Witz, und Englands Nebel verklärt die Freiheit. Wir hatten Jean Paul, und wir haben ihn nicht mehr, und in ihm verloren wir, was wir nur in ihm besaßen: Kraft und Milde und Glauben und heitern Scherz und entfesselte Rede. Das ist der Stern, der untergegangen: der himmlische Glaube, der in dem Erloschenen uns geleuchtet. Das ist die Krone, die herabgefallen: die Krone der Liebe, die den beherrschte, der sie getragen, wie alle, die ihm untertan gewesen. Das ist das Schwert, das gebrochen: der Spott in scharfer Hand, vor dem Könige zittern und der blutleere Höflinge erröten macht. Und das ist der hohe Priester, der für uns gebetet im Tempel der Natur – er ist dahingeschieden, und unsere Andacht hat keinen Dolmetscher mehr. Wir wollen trauern um ihn, den wir verloren, und um die andern, die ihn nicht verloren. Nicht allen hat er gelebt! Aber eine Zeit wird kommen, da wird er allen geboren, und alle werden ihn beweinen. Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme. Dann führt er die Müden und Hungrigen ein in die Stadt seiner Liebe; er führt sie unter ein wirtliches Dach: die Vornehmen, verzärtelten Geschmacks, in den Palast des hohen Albano; die Unverwöhnten aber in seines Siebenkäs enge Stube, wo die geschäftige Lenette am Herde [790] waltet und der heiße beißende Wirt mit Pfefferkörnern deutsche Schüsseln würzt.

Jahrhunderte ziehen hinab, die Jahreszeiten rollen vorüber, es wechselt die Witterung des Glücks; die Stufen des Alters steigen auf und steigen nieder. Nichts ist dauernd als der Wechsel, nichts beständig als der Tod. Jeder Schlag des Herzens schlägt uns eine Wunde, und das Leben wäre ein ewiges Verbluten, wenn nicht die Dichtkunst wäre. Sie gewährt uns, was uns die Natur versagt: eine goldene Zeit, die nicht rostet, einen Frühling, der nicht abblüht, wolkenloses Glück und ewige Jugend. Der Dichter ist der Tröster der Menschheit; er ist es, wenn der Himmel selbst ihn bevollmächtigt, wenn ihm Gott sein Siegel auf die Stirne gedrückt und wenn er nicht um schnöden Botenlohn die himmlische Botschaft bringt. So war Jean Paul. Er sang nicht in den Palästen der Großen, er scherzte nicht mit seiner Leier an den Tischen der Reichen. Er war der Dichter der Niedergebornen, er war der Sänger der Armen, und wo Betrübte weinten, da vernahm man die süßen Töne seiner Harfe. Mögen wir der stolzen Glocke, die an seltenen Festtagen majestätisch schallt, unsere Ehrfurcht zollen – unsere Liebe wird der vertrauten Uhr, die jeden Pulsschlag unsers Herzens begleitet, die jede Viertelstunde unserer Freude nachtönt und alle unsere Schmerzen Minute nach Minute von uns nimmt.

In den Ländern werden nur die Städte gezählt; in den Städten nur die Türme, Tempel und Paläste, in den Häusern ihre Herren; im Volke die Kameradschaften; in diesen ihre Anführer. Vor allen Jahreszeiten wird der Frühling geliebkost; der Wanderer staunt breite Wege und Ströme und Alpen an; und was die Menge bewundert, preisen die gefälligen Dichter. Jean Paul war kein Schmeichler der Menge, kein Diener der Gewohnheit. Durch enge, verwachsene Pfade suchte er das verschmähte [791] Dörfchen auf. Er zählte im Volke die Menschen, in den Städten die Dächer und unter jedem Dache jedes Herz. Alle Jahreszeiten blühten ihm, sie brachten ihm alle Früchte. Auch der ärmste Dichter, und schlotterte ihm nur eine Saite noch auf seiner kümmerlichen Leier, hat die Feiertage der ersten Liebe besungen. Jean Paul wartet diese heilige Flamme, bis sie mit dem Tode verlischt. Bei jeder goldenen Hochzeit ist er der trauende Priester, der die alten Herzen noch einmal aneinanderlegt und die zitternden Hände zum letzten Male paart, bevor der Tod sie trennt. Durch Nebel und Stürme und über gefrorne Bäche dringt er in das eingeschneite Häuschen eines Dorfschulmeisters, die Christnachtfreuden seiner Kinder zu teilen. Mit vollen Klängen besingt er die königliche Lust auf den Wonneinseln des Lago Maggiore; aber mit leisern und wärmern Tönen das enge Glück eines deutschen Jubelseniors und die Freuden eines schwedischen Pfarrers.

Für die Freiheit des Denkens kämpfte Jean Paul mit andern; im Kampfe für die Freiheit des Fühlens steht er allein. Seltsame, wunderliche Menschen, die wir sind! Fast sorglicher noch als unsern Haß suchen wir unsere Liebe zu verbergen, und wir fliehen so ängstlich den Schein der Güte, als wir unter Dieben den Schein des Reichtums meiden. Wie oft geschieht es, daß wir auf dem Markte des täglichen Treibens oder in den Sälen alltäglichen Geschwätzes all den wichtigen, volljährigen Dingen, die hier getrieben, dort besprochen werden, erlogene Aufmerksamkeit schenken! Wir scheinen gelassen und sind bewegt, scheinen ernst und sind weich, scheinen wach und sind von süßer Lust gewiegt, gehen bedächtigen Schrittes, und unser Herz taumelt von Erinnerung zu Erinnerung, und wir wandeln mit breitem Fuße zwischen den Blumenbeeten unserer Kindheit und erheben uns auf den Flügeln der Phantasie zu den roten Abendwolken [792] unsrer hinabgesunkenen Jugend. Wie ängstlich lauschest du dann umher, ob kein Auge dich ertappt, ob kein Ohr die stillen Seufzer deiner Brust vernommen! Dann tritt Jean Paul nahe an dich heran und sagt dir leise und lächelnd: »Ich kenne dich!« Du verbirgst deine Freuden, weil sie dir zu kindlich scheinen für die Teilnahme der Würdigen; du verheimlichst deine Schmerzen, weil sie dir zu klein dünken für das Mitleid. Jean Paul findet dich auf und deine verstohlene Lust und spricht: »Komm, spiele mit mir!« Er schleicht sich in die Kammer, wo du einsam weinest, wirft sich an dein Herz und sagt: »Ich komme, mit dir zu weinen!« Schlummert und träumt irgendeine kindliche Neigung in deiner Brust, und sie erwacht, steht Jean Paul vor ihrer Wiege, und viel leicht waren es nur seine Lieder, die dein Herz in solchen Schlaf und in solche Träume gelullt. Nicht wie andere es getan, spürt er nach den verborgenen Einöden im menschlichen Herzen, er sucht darin die versteckten Paradiese auf. Er löset die Rinde von der verhärteten Brust und zeigt den weichen Bast darunter; und in der Asche eines ausgebrannten Herzens findet er den letzten, halbtoten Funken und facht ihn zur hellen Liebesflamme an. Darin hat er seinem Volke wohlgetan, darin war er sein Retter! Es gab eine Zeit, wo kein deutscher Jüngling, wenn er liebte, zu sagen wagte: »Ich liebe dich«. Zünftig und bescheiden, wie er war, sagte er: »Wir lieben dich, Mädchen!« Hinangezogen am Spalier der Staatsmauer, hinaufgerankt an der Stange des Herkommens, hatte er verlernt, seinen eignen Wurzeln zu trauen. Jean Paul munterte die blöden Herzen auf; er zuerst wagte das jedem Deutschen so grause Wort Ich auszusprechen, und wenn die Freiheit nicht darin besteht, daß man ohne Gesetze lebe, sondern daß jeder sein eigner Gesetzgeber sei, so war es Jean Paul, der für unsere Enkel die Saat der deutschen Freiheit ausgestreut.

[793] Jean Paul war der Dichter der Liebe auf die schönste und erhabenste Weise, wie man dieses Wort nur deuten mag. Einst in seiner Jugend hatte er folgenden Eid geschworen: »Großer Genius der Liebe! ich achte dein heiliges Herz, in welcher toten oder lebenden Sprache, mit welcher Zunge, mit der feurigen Engelszunge oder mit einer schweren, es auch spreche, und will dich nie verkennen, du magst wohnen im engen Alpental oder in der Schottenhütte, mitten im Glanze der Welt; und du magst den Menschen Frühlinge schenken oder hohe Irrtümer oder einen kleinen Wunsch oder ihnen alles, alles nehmen!« Er hat den Eid geschworen, und er hat ihn gehalten bis in den Tod. Doch was ist Liebe ohne Gerechtigkeit? Die Milde des Räubers, der dem einen schenkt, was er dem andern genommen. Jean Paul war auch ein Priester des Rechts. Die Liebe war ihm eine heilige Flamme und das Recht der Altar, auf dem sie brannte, und nur reine Opfer brachte er ihr. Er war ein sittlicher Sänger. Nie schmückte er häßliche Sünde mit den Blumen seiner Worte aus; nie bedeckte er eine unedle Regung mit dem Golde seiner Reden. Er hätte es vermocht, wenn er gewollt; auch er hätte vermocht, mit seinem mächtigen Zauber dem frommen Tadler ein Lächeln abzuschmeicheln; aber er hat es nicht getan. Er stritt für Wahrheit, für Recht, für Freiheit und Glauben, und nie deckte bei ihm die Flagge eines mächtigen Namens sündlich-heilloses Gut, es den Ungläubigen zuzuführen.

Die Trostbedürftigen zu trösten und als befruchtender Himmel dürstende Seelen zu erquicken – dazu allein ward der Dichter nicht gesendet. Er soll auch der Richter der Menschheit sein und Blitz und Sturm, die eine Erde voll Dunst und Moder reinigen. Jean Paul war ein Donnergott, wenn er zürnte, eine blutige Geißel, wenn er strafte; wenn er verhöhnte, hatte er einen guten Zahn. Wer seinen Spott zu fürchten hatte, mochte ihn [794] fliehen; ihn zu verlachen, wenn er ihm begegnete, war keiner frech genug. Trat der Riese Hochmut ihm noch so keck entgegen, seine Schleuder traf ihn gewiß! Verkroch sich die Schlauheit in ihrer dunkelsten Höhle, er legte Feuer daran, und der betäubte Betrüger mußte sich selbst überliefern. Sein Geschoß war gut, sein Auge besser, seine Hand war sicher. Er übte sie gern, seinen Witz hinter Höfe und hinter Deutschland hetzend. Nicht nach der Beute der Jagd gelüstete ihm, er wollte nur fromm die Felder des Bürgers und des Landmanns Äcker vor Verwüstungen schützen. Von der Feder manches Raubvogels, von dem Geweihe und der Klaue manch erlegten Wildes könnten wir erzählen; doch lassen wir uns zu keinen Jagdgeschichtchen verlocken in dieser sehr guten Hegezeit, wo schon strafbar gefunden und bestraft wird, nur die Büchse von der Wand herabzuholen.

Freiheit und Gleichheit lehrt der Humor und das Christentum – beide vergebens. Auch Jean Paul hätte vergebens gelehrt und gesungen, wäre nicht das Recht ein liebes Bild des toten Besitzes und die Hoffnung eine Schmeichlerin des Mangels. Jean Paul hat gut gemalt, er hat uns zart geschmeichelt. Der Humor ist keine Gabe des Geistes, er ist eine Gabe des Herzens, er ist die Tugend selbst, wie ein reichbegabtes Herz sie lehrend übt, weil es sie nicht übend lehren darf. Der Humorist ist der Hofnarr des Königs der Tiere in einer schlechten Zeit, wo die Wahrheit nicht tönen darf wie eine heilige Glocke, wo man ihr nur ihr Schellengeläute vergibt, weil man es verachtet, weil man es belächelt. Der Humorist löst die Binde von den Füßen des Saturns, setzt dem Sklaven den Hut des Herrn auf und verkündigt das saturnalische Fest, wo der Geist das Herz bedient und das Herz den Geist verspottet. Einst war eine schönere Zeit, wo man den Humor nicht kannte, weil man nicht die Trauer und nicht die Sehnsucht kannte. Das Leben war [795] ein olympisches Spiel, wo jeder durfte seine Kraft und Hurtigkeit erproben. Der Schwäche war nur das Ziel versperrt, nicht der Weg; der Preis verweigert, nicht der Kampf. Jean Paul war der Jeremias seines gefangenen Volkes. Die Klage ist verstummt, das Leid ist geblieben. Denn jene falschen Propheten wollen wir nicht hören, die ihn begleitet und ihm nachgefolgt; und nur aus Liebe zu dem geliebten Toten wollen wir seiner kranken Nachahmer mit mehr nicht als mit wenigen Worten gedenken. Sie dünken sich frei, weil sie mit ihren Ketten rasseln; kühn, weil sie in ihrem Gefängnisse toben, und freimütig, weil sie ihre Kerkermeister schelten. Sie springen vom Kopfe zum Herzen, vom Herzen zum Kopfe – sie sind hier oder dort; aber der Abgrund ist geblieben; sie verstanden keine Brücke über die Trennungen des Lebens zu bauen. Verrenkung ist ihnen Gewandtheit der Glieder, Verzerrung Ausdruck des Gesichts, sie klappern prahlend mit Blechpfennigen, als wenn es Goldstücke wären, und wirft ihnen ja einmal der Schiffbruch des Zufalls irgendein Kleinod zu, wissen sie es nicht schicklich zu gebrauchen, und man sieht sie, gleich jenem Häuptling der Wilden, ein Ludwigskreuz am Ohrläppchen tragen.

Die Bewunderung preist, die Liebe ist stumm. Nicht preisen wollen wir Jean Paul, wir wollen ihn beweinen! Der lüsterne Gast vergißt über das Mahl den Wirt, der herzlose Kunstfreund den Künstler über sein Werk. Zwar wird als Dankbarer gelobt, wer von der genossenen Wohltat erzählt; aber der Dankbarste ist, der die Wohltat vergißt, sich nur des Wohltäters zu erinnern. So wollen wir des seligen Geistes liebend gedenken, nicht der Arbeiten und Werke, womit er unsere Bewunderung verdient. Und wollten wir anders, wir vermöchten es nicht. Man kann Jean Pauls Werke zählen, nicht sie schätzen. Die Schätze, die er hinterlassen, sind nicht alle gemünztes [796] Gold, das man nur einzurollen braucht. Wir finden Barren von Gold und Silber, Kleinodien, nackte Edelsteine, Schaumünzen, die der Gewürzkrämer als Bezahlung abweist; aufgespeicherte, ungemahlne Brotfrucht und Äcker genug, worauf noch die spätesten Enkel ernten werden. Solcher Reichtum hat manches Urteil arm gemacht. Fülle hat man Überladung gescholten, Freigebigkeit als Verschwendung! Weil er so viel Gold besaß als andere Zinn, hat man als Prunksucht getadelt, daß er täglich aus goldenen Gefäßen aß und trank. Hat aber Jean Paul doch hierin gefehlt, wer hat seinen Irrtum verschuldet? Wenn große Reichtümer durch viele Geschlechter einer Familie herab erben, dann führt die Gewohnheit zur Mäßigkeit des Genusses; die Fülle wird geordnet; alles an schickliche Orte gestellt und um jeden Glanz der Vorhang des Geschmacks geezogen. Der Arme aber, den das Glück überrascht, dem es die nackten Wände zauberschnell mit hohen Pfeilerspiegeln bedeckt, dem der Gott des Weins plötzlich die leeren Fässer füllt – der taumelt von Gemach zu Gemach, der berauscht sich im Becher der Freude, teilt unbesonnen mit vollen Händen aus und blendet, weil er ist geblendet. Ein solcher Emporkömmling war Jean Paul; er hatte von seinem Volke nicht geerbt. Der Himmel schenkte ihm seine Gunst; das Glück stürzte gutgelaunt sein Füllhorn um und überschüttete ihn mit Blumen und Früchten; die Erde gab ihm ihre verborgenen Schätze. Er sah und zeigte sie gerne! Doch was der Neid der Mitlebenden belächelt, darüber lachen froh die Erben. Gold bleibt Gold, auch in der Erzstufe, nur von wenigen erkannt, und die Fassung der Edelsteine erhöht ihren Preis, nicht ihren Wert.

So war Jean Paul! – Fragt ihr: wo er geboren, wo er gelebt, wo seine Asche ruhe? Vom Himmel ist er gekommen, auf der Erde hat er gewohnt, unser Herz ist [797] sein Grab. Wollt ihr hören von den Tagen seiner Kindheit, von den Träumen seiner Jugend, von seinen männlichen Jahren? Fragt den Knaben Gustav; fragt den Jüngling Albano und den wackern Schoppe. Sucht ihr seine Hoffnungen? Im Kampanertale findet ihr sie. Kein Held, kein Dichter hat von seinem Leben so treue Kunde aufgezeichnet, als Jean Paul es getan. Der Geist ist entschwunden, das Wort ist geblieben! Er ist zurückgekehrt in seine Heimat; und in welchem Himmel er auch wandere, auf welchem Sterne er auch wohne, er wird in seiner Verklärung seine traute Erde nicht vergessen, nicht seine lieben Menschen, die mit ihm gespielt und geweint und geliebt und geduldet wie er.

[798]

[799] [822]Die Freiheit der Presse in Bayern

In dem Gange der Natur und der Geschichte ist nicht zu unterscheiden, was Ausgang, Weg oder Ziel sei; alles kehret in einem ewigen Kreislaufe zu sich selbst zurück. Doch welcher Ring der unendlichen Kette in jeder Stunde der Beobachtung an dem Menschengeschlechte vorüberziehe, das mag man erkennen – es bildet den Geist der Zeit. Die unsere ist bemüht, die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft anders zu gestalten, und sie strebt vor allem, die ausübende Gewalt den Händen eines alleinigen Herrschers dadurch zu sichern, daß sie die Fürsten der beratenden und gesetzgebenden Macht der öffentlichen Meinung unterwirft. Man widersetzt sich vergebens dem starken Willen der Zeit. Die öffentliche Meinung bildet eine Volksbewaffnung, die unbesiegbar ist und welcher das stehende Heer der Regierungsgedanken früher oder später unterliegen muß.

Alleinherrschaft kann nur bestehen, solange das Volk in Stände zerfällt, welche, in einer unwandelbaren Ordnung übereinandergebaut, die festen Stufen bilden, welche gemächlich zum Throne führen. Diese dauern nur so lange, als Familien und Körperschaften sich an Macht und Reichtum einander überragen, und Macht und Reichtum, sei es als erworbener oder als ererbter Besitz, folgen allein der Geistestätigkeit. Sobald, wie in unserer Zeit, die Bildung des Geistes sich durch die ganze Gesellschaft ausgebreitet hat und hierdurch die Ansprüche auf den Genuß des Lebens höher und allgemeiner geworden sind – und ein Wunsch ist schon der halbe Besitz – sobald eine solche Gleichheit eingetreten ist, da kann auch die Vorherrschaft irgendeines Standes nicht länger mehr bestehen, und nur mit Unwillen duldet [822] man ihre Fortdauer. Das ist der Geist des Mißbehagens, der unter den Völkern wandelt, der nicht zu fürchten, aber zu achten ist. Ihn ableugnen, bedrohen oder schelten, das bannt ihn nicht. Man muß ihn begreifen und versöhnen. Das Mittel hierzu ist einfach und alleinig.

Reichtum und Macht sind beschränkt in ihrem Maße; es kann nicht jeder alles haben; das erkennt auch der einfältigste und eigensüchtigste Mensch. Aber es bedarf auch nicht des Besitzes eines Guts, um die lärmende Habgierde zu beschwichtigen, sondern nur der ungehinderten Freiheit, darnach zu streben. Es ist eine große Lehre der Regierungskunst der Menschen: hoffnungslose Bürger sind gefährlich, denn sie sind auch furchtlos. Die Ausbrüche der Unzufriedenheit, welche Thronen erschütterten, hatten wie Erdbeben in starken Trieben und Kräften ihren Ursprung, die aus den verborgenen und engen Räumen, in welchen sie eingeschlossen waren, sich zu befreien suchten. Es war ein Gebrechen der bürgerlichen Gesellschaft, daß jeder wie ein Baum festgewurzelt stand, von Geschlecht zu Geschlecht nur immer die nämlichen Früchte tragen und auf der Stelle, wo er zur Welt kam, auch sein Grab finden sollte. Dem Adlergeiste wurden die Flügel beschnitten, daß er sich nicht über den Boden, über Dürftigkeit und Geringschätzung erheben möge. Die Bahn war lang und eng; nur immereiner konnte nach dem Preise des Zieles rennen, der zufällig Vordere konnte durch Kraft und Schnelligkeit nicht mehr überholt werden. Der Wunsch nach Veränderung des Besitzes der Lebensgüter mußte alle beseelen, sobald, nachdem die Regierungen das Geheimnis ihrer Macht und Schwäche verraten hatten, die Erfüllung dieses Wunsches sich als möglich zeigte.

Um die Fürsten und ihre Völker vor dem Verderben zu bewahren, das aus jenem Geiste des Mißvergnügens und der Habsucht entspringt, muß in allen bürgerlichen [823] Ständen bedeutenden Menschen die lang verschlossene Laufbahn wieder geöffnet werden, die Freiheit nämlich, ihre vorwaltende Geisteskraft zu gebrauchen und geltend zu machen. Dieses kann nur geschehen durch Gewährung der Redefreiheit, der mündlichen in volksvertretenden Versammlungen und der schriftlichen durch die Presse. Auf diese Weise bildet sich eine sittliche Demokratie, wodurch die Entstehung der so gefährlichen, unheilbringenden numerären Demokratie allein verhindert werden kann. Eine unhaltbare Moral hält viele ab, diese Absicht zu bekennen, aber redliche Männer dürfen ihre Triebe eingestehen, während die Sünder, weil sie solche sind, heucheln müssen.

Die öffentliche Meinung ist der bestehenden Ordnung der bürgerlichen Dinge nicht hold, und das macht die Freiheit der Rede um so nötiger. Die öffentliche Meinung ist ein See, der, wenn man ihn dämmt und aufhält, so lange steigt, bis er schäumend über seine Schranken stürzt, das Land überschwemmt und alles mit sich fortreißt. Wo ihm aber ein ungehinderter Lauf gegeben ist, da zerteilt er sich in tausend Bäche mannigfaltiger Rede und Schrift, die, friedlich durch das Land strömend, es bewässern und befruchten. Die Regierungen, welche die Freiheit der Rede unterdrücken, weil die Wahrheiten, die sie verbreiten, ihnen lästig sind, machen es wie die Kinder, welche die Augen zuschließen, um nicht gesehen zu werden. Fruchtloses Bemühen! Wo das lebendige Wort gefürchtet wird, da bringt auch dessen Tod der unruhigen Seele keinen Frieden. Die Geister der ermordeten Gedanken ängstigen den argwöhnischen Verfolger, der sie erschlug, nicht minder, als diese selbst im Leben es getan.

Der freie Strom der öffentlichen Meinung, dessen Wellen die Tagesschriften sind, ist der deutsche Rubikon, an welchem die Herrschsucht weilen und sinnen mag, ob sie [824] ihn überschreiten und das teure Vaterland und mit ihm die Welt in blutige Verwirrung bringen, oder ob sie sich selbst besiegen und abstehen soll. Cäsars Schatten zeigt warnend nach der Bildsäule des Pompejus.

Die Abgeordneten der deutschen Bundesfürsten, man weiß es, sind jetzt ernst darauf bedacht, ein gemeinschaftliches Preßgesetz für alle deutschen Staaten auszusinnen. Der Tag, der es uns bringt, wird ein großer Tag der Weltgeschichte sein; denn an ihm wird kund werden, ob Mirabeau wahr gesagt oder ob der wegen seiner Blutschuld wild umhergetriebene Geist endlich um der Tugenden seiner Enkel willen den Frieden und die Ruhe seiner Asche fand.

Gleichförmig soll dieses Gesetz sein, und das ist wohlgetan. Wie könnten die Herzen der Völker sich befreunden, solange ihre Köpfe auseinander stehen? Zur Erhebung gehört eine Geisteskraft, welche die Gunst der blinden Natur verteilt; aber die Tugend der Herablassung vermag sich jeder anzueignen. Östreich und Weimar, Württemberg und Bayern, Nassau und Frankfurt haben verschieden gestaltete Preßgesetze. Diese sollen alle in dem Bette des Prokrustes sich gleichgemacht werden. Welche Art der Einrichtung man hierbei für die schmerzlichste achte, ob die Verkürzung oder die Ausdehnung, dieses hat Bayern kundgetan, indem es in seinem neuen Preßgesetze nur Schutz gegen die Gefahr der Verstümmelung gesucht hat.

Man kann sich die traurige Betrachtung nicht aus dem Sinne schlagen, daß Bayern wohl unterrichtet gewesen sein müsse von den schon im stillen gereiften Beschlüssen, welche die Bundesversammlung über die Freiheit der Presse fassen werde, und daß es in seine eigne Gesetzgebung nichts werde aufgenommen haben, was mit der bevorstehenden allgemeinen Anordnung im Widerspruche stünde. Darum eile jeder, der sein Vaterland [825] liebt, auszusprechen, was er für die Freiheit der Presse wünscht und fürchtet. In wenigen Wochen ist vielleicht jede Klage straffällig und fruchtlos. Wir müssen denken, es stünde unserem Wohnorte eine Belagerung bevor, und wir wollten schnell, ehe die Tore geschlossen werden, noch einmal im freien Felde frische Luft einatmen.

Das bayrische Edikt über die Freiheit der Presse verleugnet standhaft seinen eignen Namen; denn vonFreiheit ist darin nirgends, sondern überall nur vonBeschränkung die Rede. Es ist, was in der württembergischen Verordnung geschehen, durchaus nicht bestimmt worden, wie und über welche Gegenstände man frei seine Meinung äußern dürfe, so daß es ganz der Willkür überlassen bleibt, abzuurteilen, was in einer Schrift Erlaubtes oder Verbotenes enthalten sei. Die für Bücher bewilligte Zensurfreiheit kann nicht als eine ernste Huldigung unserer Zeit angesehen werden; denn diese hat, Östreich ausgenommen, schon früher in ganz Deutschland bestanden. Aber auch über der einzigen freundlichen Stelle des Edikts schwebt etwas Schwüles, das uns ängstlich macht, nämlich die Bemerkung, daß Verfasser, Buchhändler und Drucker ihre Schriften keiner Zensur zu unterwerfen hätten, »wenn sie nicht allenfalls bei kostbaren Werken, zur Sicherung ihrer bedeutenden Auslagen, selbst darum nachsuchen wollen.« Es ist so leicht, furchtsame Menschen zu ängstigen, daß solche Einladungen zu einer freiwilligen Zensur von Erfolg sein müssen, vorzüglich bei Buchhändlern und Druckern, welche, den Ruhm und den Eifer des Schriftstellers nicht teilend, nur den Vorteil ihres Gewerbes im Auge haben. Auf diese Art könnte eine freiwillige Sklaverei der Presse herbeigeführt werden, die, weil sie verdient, um so verderblicher wäre. Ist endlich diese für Bücher bewilligte Zensurfreiheit etwas mehr als ein[826] Blendwerk, da alle Buchhandlungen, Antiquarien, Lesebibliothekinhaber und Vorsteher der Leseinstitute bei einer großen Geldstrafe verpflichtet sind, ihre Katalogen der Polizeiobrigkeit, unter deren Aufsicht sie im allgemeinen gesetzt sind, zu übergeben, welches nur eine Zensur unter einer andern Form ist? Die Vorschrift, daß Schriften auch noch in den Händen ihrer Käufer einer Polizeiaufsicht untergeordnet sind, ist an Strenge ohne Beispiel in Deutschland.

Und selbst von dieser trügerischen Freiheit sind alle politische Zeitungen und periodische Schriften politischen oder statistischen Inhalts ausgenommen. Diese sollen einer dafür angeordneten Zensur unterworfen bleiben.

Wenn die Zensur der Zeitschriften sich darauf beschränkte, nur solche Äußerungen zu unterdrücken, die, würden sie verbreitet, den Verfasser nach dem Gesetze strafbar machten, dann wäre sie vielleicht zu dulden. Aber sie begnügt sich damit nicht; sie schreitet stundenlang vor dem Gesetze her und macht Staub, um ihm Platz zu machen. Also ist sie verdammlich; denn sie verbietet, was, ist es einmal geschehen, die Gesetze nicht bestrafen dürften.

Wo die Rede in den Tagesblättern nicht freigegeben ist, da beraubt sich die Regierung des einzigen Mittels, die Gebrechen des Staates zu erfahren und Aufklärung über die Verwaltungsmißbräuche zu erlangen, welche die Beamten verschulden. Sie beraubt sich des Vorteils, den sie aus dem Anhange der öffentlichen Meinung ziehen könnte. Denn es mögen unter solchen Verhältnissen in den Zeitschriften noch so viele freie, unabhängige und dem Vaterlande ergebene Stimmen die Sachen der Regierung aus eignem Antriebe verfechten, so wird sich das Volk dennoch niemals von ihnen leiten lassen, sondern überall die Bauchrednerei der Minister zu hören glauben, [827] welche ihre eigne Meinung mit verschiedenen nachgeahmten fremden Stimmen aussprechen.

Preßfreiheit ist ein bedeutungsloser Schall, wenn die Zeitschriften von ihr ausgenommen sind. Will man der öffentlichen Meinung ernstlich eine Teilnahme an der Staatsregierung gönnen, so muß ein freies Urteil über Gesetzgebung und Gesetzgeber, das sich ausspricht, ehe noch die Gesetze unabänderlich geworden sind, verstattet werden. Dieses stets geharnischte Wort muß aber täglich die Runde machen und alle Posten und Schildwachen der Staatsverwaltung untersuchen. Wenn es nur alle Jahre einmal in einem schwerfälligen Buche langsam umherreist, dann kömmt es zu spät, und sein Tun ist fruchtlos.

Die Bestimmung des bayrischen Edikts, daß periodische Schriften, selbst bloß statistischen Inhalts, einer Zensur unterworfen sind, enthält einen Zusatz von Beschränkung der Preßfreiheit, der über den guten Willen, den die Gesetzgeber auch nur gehabt haben könnten, durchaus irreführt. Eine Regierung mag ihre Gründe haben, die öffentliche Meinung so zu regeln, daß sie mit ihren Anordnungen im Einklang stehe, es liegt dieses im Begriffe der Alleinherrschaft; sie mag daher den Tadel bestehender Einrichtungen untersagen und darum die Urteile über öffentliche Angelegenheiten vor ihrer Bekanntmachung durch die Presse einer Prüfung unterwerfen. Wenn aber auch statistische Nachrichten ohne Zensur nicht gedruckt werden dürfen und dem Volke nicht bloß das Recht, seine Meinung über Tatsachen zu äußern, sondern auch die Kenntnis dieser Tatsachen selbst entzogen werden und alle Staatsverhältnisse zu Kabinettsgeheimnissen gemacht werden sollen, so bedauert man schmerzlich die unabänderlichen Verhältnisse, welche die sonst so freisinnige bayrische Regierung abgehalten haben mochten, das milde Verfahren, das[828] sie in der Ausübung wegen der Preßfreiheit beobachtet, nicht auch zu einem Gesetze zu erheben und der Nachkommenschaft als ein schönes Recht zu überliefern.

In dem württembergischen Gesetze über die Preßfreiheit sind die von den Landständen veranstalteten und mit ihrer Genehmigung herausgegebenen Druckschriften aller Zensur ausdrücklich entzogen worden. Das bayrische Edikt hat diese Bestimmung nicht aufgenommen. In den öffentlichen Sitzungen der bayrischen Stände wird man, es ist dafür gesorgt, die ausgesuchteste Gesellschaft finden, kühne und freie Reden werden vielleicht darin gehalten werden, aber deren Stimme wird in den Sälen verhallen und nicht zu Ohren des Volkes kommen.

Gegen die Vorschrift, daß Staatsdiener nichts von dem, was ihr Geschäftskreis sie Bemerkenswertes erfahren läßt, weder ihren Mitbürgern noch Ausländern durch den Druck mitteilen dürfen, ist nichts einzuwenden. Es ist dieses ganz folgerecht und dem übrigen angemessen. Nur sollten Männer, denen solche Pflichten aufliegen, nicht Staatsdiener sondern Hofdiener genannt werden.

Überflüssig wäre eine Rüge dessen, was in dem bayrischen Gesetze wegen der Untersuchung und Bestrafung der Preßvergehen bestimmt worden ist. Diese seine Schwäche ist nur die notwendige Begleiterin der größern Gebrechen, mit welchen die neue Staatsverfassung zur Welt kam. Das öffentliche gerichtliche Verfahren, die feste Säule der bürgerlichen Freiheit, das Geschwornengericht, diese einzige Bürgschaft eines über Leidenschaften und Schwachsinn erhabenen Richterspruchs, ist im allgemeinen versagt geblieben; wie hätte man es in einzelnen Fällen verstatten können? In der Untersuchung der Preßvergehen ist der Polizei und den andern verwaltenden Behörden ein unheilbringender Spielraum gegeben. Die Eigensucht des Klägers findet an der Gerechtigkeit [829] des Richters keinen Einhalt; denn Kläger und Richter sind die nämlichen. Die Beamten, welche, zwischen Fürst und Volk in der Mitte stehend, ihren Vorteil dabei finden, kein aus Liebe, Tugend und Gerechtigkeit geflochtenes Band zwischen beiden entstehen zu lassen, und darum die öffentliche Meinung, diese erhabene Sonne und unbestochene Wächterin, die alles an den Tag bringt, hassen und verfolgen, diese nämlichen Beamten klagen die Preßvergehen an und richten und strafen sie zugleich.

So wäre denn das deutsche Volk abermals in seinen Hoffnungen getäuscht worden, und dessen biedere Fürsten hätten ihren schwer erworbenen Gewinst aus dieser geschäftigen Zeit dem Vorteile ihrer Amtmänner von neuem hingegeben.

[830]

[831] [871]Für die Juden
1.

Für Recht und Freiheit sollte ich sagen; aber verstünden das die Menschen, dann wäre keine Not, und es bedürfte der Rede nicht.

Weil sie keinen Schwerpunkt haben, weder im Geiste, welches das Recht, noch im Herzen, welches die Liebe ist, straucheln und fallen sie bei jeder Bewegung, führt sie jeder Schritt weiter vom Ziele, macht sie jede Erfahrung unerfahrner, ist ihnen jede Erscheinung fremd und erwachen sie jeden Morgen neugeboren. Weil sie den Bau der Menschheit nicht kennen, erscheint sie ihnen nur als ein Gemenge von einzelnen, weil sie den Bau des Staates nicht kennen, ist ihnen dieser nur ein Haufen von mannigfaltigen Ansprüchen und Gelüsten, die alle nach Vorherrschaft streben und sich befeinden. Darum verwirrt so vieles die Sinne dieser armen Menschen, und fast zu grausam ist die Vorsehung, daß sie die Buße für Jahrhunderte der Schuld einem einzelnen Geschlechte aufbürdet.

Unser Vaterland liegt krank darnieder. Es zu heilen, darauf kömmt es an; aber so groß ist die Verworrenheit der Machthaber, daß man wünschen muß, es gäbe nur Übelwollende, denn die Gutgesinnten verderben am meisten. Jene sehen schadenfroh dem Übel zu und tun oft nichts Schlimmeres, als daß sie dessen Verlauf der Natur überlassen. Diese aber, mitleidig, hülfsbegierig [871] und unwissend, greifen handelnd ein. Alle Glieder leiden, und da üben sie für jedes und für jeden Schmerz eine besondere Heilungsart. Sie sind so toll, daß sie auf den fieberhaften Puls ein Pflaster legen, ihn zu besänftigen, als säße da der Grund des Übels. Oder wäre es nicht so? Kennet ihr den Blutlauf des Volkslebens, und hätte ich nicht erst um Verzeihung zu bitten, wenn ich von so weitaussehenden Grundsätzen zu den Juden – hinabsteige, wie ihr sagen werdet? Von den Hassern jener unglücklichen Menschen rede ich nicht; sondern von den Billigen, von den Gleichgültigen. Diese Judenverfolgung, mögen sie denken, das sei keine vaterländische Sache, eine Kleinigkeit. Freilich, eine häßliche beblatterte Lippe mag jungen Mädchen nur nicht küssenswert dünken; aber Heilkünstler sollten wissen, daß sie von bösen Säften zeuget.

Will man reden von dem unversöhnlichen Hasse, der schon achtzehn Jahrhunderte die Juden verfolgt, so darf man nicht von dem Geschehenen reden, sondern von dem, was geschieht und geschehen soll. In der vollbrachten Tat war Notwendigkeit, Freiheit ist nur in der zu vollbringenden. Was die Menschen verschulden, nicht was die Menschheit verschuldet, kann gerichtet werden; ein Irrtum, der fast zweitausend Jahre gedauert, steht höher als jeder Tadel. Doch wenn der betrachtende Geist hoch und ruhig schwebt über Nebel und tobende Gewässer, über Leidenschaften, über verwirrende Verhältnisse und jede Sünde und jeden Irrtum ausgleicht, so dürfen die niederstehenden, gemeinen, ruchlosen und wahnsinnigen Menschen dort oben keine Rechtfertigung suchen für all ihr Treiben. Denn wie die Erde sich um ihre Achse dreht, indem sie die Sonnenbahn durchwandelt, so hat auch der Mensch eine doppelte Bewegung, eine besondere und eine allgemeine. Diese reißt ihn unaufhaltsam fort; es ist sein Schicksal.

[872] Jene wird von seinem Willen bestimmt; es ist die Freiheit.

Worin das böse Verhängnis der Juden besteht, ist schwer zu erfassen, weil es seine Laufbahn noch nicht vollendet hat und erst im Tode der Dinge ihre Lebensbedeutung sich offenbart. Es scheint aus einem dunkeln unerklärlichen Grauen zu entspringen, welches das Judentum einflößt, das, wie ein Gespenst, wie der Geist einer erschlagenen Mutter, das Christentum von seiner Wiege an höhnend und drohend begleitete.

Aber wir wollen hinabsteigen zu den freien Handlungen der Menschen, tief hinab zu der sumpfigen Gegend, wo all das häßliche, giftige Schlangengezücht wohnt, das bösen Dunst verbreitet, so vielen unschuldigen Geschlechtern das Dasein verpestet und sie um den Preis ihres Lebens prellt.

Vormals hatte man aus Glaubenswut Juden und Ketzer verbrannt; aber weil dieses unmenschlich war, kann es nicht menschlich gerichtet werden. Man beraubte die Gemordeten; denn das Fett der Schlachtopfer war stets der Lohn der priesterlichen Dienste. Aber jetzt, da auch der ruchloseste Heuchler nicht zu sagen wagt, daß er die Juden wegen ihres Glaubens verfolge, womit wird jetzt die Bosheit beschönigt? Sonst dachte man, die Juden kämen nicht in den Himmel, und darum wollte man sie auch nicht auf Erden dulden; aber jetzt, da man ihnen den Himmel gönnt, warum möchte man sie immer noch von der Erde vertilgen?

Es wird mit der schamlosesten Heuchelei gegen die Juden zu Werke gegangen, es werden lügnerische Behauptungen mit solcher Keckheit geführt, daß selbst Gutgesinnte dadurch getäuscht werden, weil sie nicht glauben können, daß man sie so plump betrügen wolle. Darum will ich die Toren entlarven und den Bösewichtern ins Angesicht leuchten. Sie werden lärmen [873] und schwirren wie die aufgeschreckten Nachteulen. Die hochweisen regierenden Knechte werden sagen: man solle die Gemüter nicht aufreizen durch Reden. Sie meinen, wenn alles hübsch dunkel bliebe, dann sähen sich die Feinde nicht, und sie müßten Ruhe halten. Aber besser ist's, daß die Fackel der Wahrheit als die der Mordbrennerei die Nacht erhelle. Die Wahrheit reizt, ja; denn sie ist reizend; aber sie erbittert nicht. Das Gefühl der Beschämung schmerzt, aber es führt die Schuldigen zur Reue, nicht zur Wiederholung des Verbrechens. Das aufgeklärte Volk wird einsehen lernen, daß es das Schlechte nicht einmal zu seinem eignen Vorteile beging, sondern daß es das unredlich Erworbene einigen unersättlichen Aristokraten überlassen muß. Es wird begreifen lernen, daß man es zum Mißbrauche der Freiheit verleitete, um sagen zu können, daß sie keiner Freiheit würdig seien, und daß man sie zum Gefängniswärter der Juden bestellt, weil die Gefängniswärter wie die Gefangenen den Kerker nicht verlassen dürfen. Daß eine Türe mehr den Ausgang versperre, eine weniger, das ist der Unterschied; unfrei sind sie beide.

2.

In dem letzten Jahrzehen vor der Französischen Revolution wurden von deutschen Staatsgelehrten, wie für die Gesetzgebung überhaupt, so auch für die bürgerlichen Verhältnisse der Juden menschlichere und verständigere Grundsätze aufgestellt, und die Franzosen begannen ihre Staatsumwälzung damit, daß sie diese Grundsätze ins Leben einführten. In Westfalen, dem Großherzogtum Frankfurt und in andern deutschen Ländern, wo zur Zeit der Napoleonschen Herrschaft französische Regierungsart sich geltend gemacht, wurde die Rechtsgleichheit der Juden mit den übrigen Bürgern [874] verfassungsmäßig aufgenommen. Es geschah dieses ohne Widersetzlichkeit, ja ohne Murren des Volkes. Napoleon fiel, und Deutschland wurde frei. Alsobald erhoben sich im nördlichen Deutschland einige Schriftsteller, die gegen die Juden eiferten, und die freien Städte, das siebenschläferige Frankfurt besonders, suchten das alte Recht der Juden, oder vielmehr ihren ehemaligen rechtlosen Zustand, aus dem Staube der Archive wieder hervor. Es ist zu untersuchen, aus welcher Quelle das eine und das andere entsprang.

Bei den Deutschen, welche alle Tyrannei, unter der sie litten, dem Napoleon allein auf den Hals geworfen (denn es ist ein verführerischer Traum, an der Tyrannei nur einen Hals zu sehen), schmolz Freiheitstrieb und Franzosenhaß in ein Gefühl zusammen. Und wie man selbst das Gute verkennt oder verschmäht, was Feindeshände darbieten, so verkannte oder verschmähte man auch das Achtungswürdige, das mit der französischen Gesetzgebung ins deutsche Vaterland gekommen. So begann man nach Vertreibung der Franzosen hier und dort die bürgerliche Freiheit der Juden, die ihnen jene geschenkt, als etwas Verderbliches zu betrachten. Dazu kam, daß man die Juden für Freunde der französischen Herrschaft hielt, weil sie, wenn auch nicht weniger als die übrigen Deutschen gedrückt, doch sie allein für die Not einigen Ersatz gefunden. Es ist verzeihlich, wenn ein unbehagliches Gefühl uns gegen diejenigen anwandelt, die aus der Quelle unserer Leiden Vorteil schöpfen – ich meine, es ist eine verzeihliche Schwäche.

Die ruhmvollen öffentlichen Redner, welche das deutsche Volk entflammten und bewaffneten, wollten lehren, was sie gelernt, nämlich daß das Vaterland nur darum unterjocht werden konnte, weil es zerstückelt war. Die Einheit der Herrschaft konnten sie nicht herstellen, [875] so wollten sie wenigstens die Einheit des Volkes bewirken durch gleichen Geist, gleiches Herz und gleiche Nahrung für beide. Diese Nahrung aber, urteilten sie, müsse der kindlichen Natur und Schwäche der deutschen Freiheit angemessen sein, einfach und leicht aufzulösen. Die Juden mit ihrem Fremdartigen, mit ihrer abgeschlossenen Bildung erschienen ihnen zu selbständig, um mit der allgemeinen Freiheit assimiliert werden zu können, sie dünkten ihnen eine harte unverdauliche Speise. Dazu kam noch allerlei theatralischer Spuk. Man wollte wie in einer Oper ein unisones und uniformes Chor; man wollte nur Deutsche, wie sie aus den Wäldern des Tacitus gekommen, mit roten Haaren und hellblauen Augen. Die schwarzen Juden stachen häßlich ab. Endlich war es der zur Zeit des Befreiungskrieges noch dunkle Trieb, der erst jetzt zur Klarheit gekommen, daß nämlich alle das Streben und Kämpfen des deutschen Volks gegen die Aristokratie gerichtet sein müsse, dieser war es auch, welcher die Schriftsteller gegen die Juden feindlich stimmte. Denn die Juden und der Adel, das heißt Geld und Vorherrschaft, das heißt dingliche und persönliche Aristokratie, bilden die zwei letzten Stützen des Feudalsystems. Sie halten fest zusammen. Denn die Juden, von dem Volke bedroht, suchen Schutz bei den vornehmen Herrn, und diese, von der Gleichheit geschreckt, suchen Waffen und Mauern im Gelde. Man trenne sie, indem man den Juden die Beschützung von seiten der Großen entbehrlich mache, damit letztere zu keinen jüdischen Anleihen ihre Zuflucht nehmen können und unter Vormundschaft der bewilligenden oder versagenden Volksvertreter gestellt werden.

Seitdem es keines Symboles, keines Feldgeschreies, keines allen kenntlichen, allen sichtlichen Paniers mehr bedarf, und seit alle Deutsche wissen, um was sie kämpfen [876] und um was sie sich zu versammeln haben, hat der Franzosenhaß und haben die dazu entflammenden Predigten aufgehört. Ja, freundlich sind wir dem französischen Volke zugewendet; denn es hat für uns gekämpft, für uns geblutet, für uns gebüßt und gesündigt, und mit reinem Herzen dürfen wir ernten, was mehr als eine verbrecherische Hand säen half. Es lehrt uns, was wahre Freiheit sei und wie man sie verdient und wie man ihr nachgeht auf unblutigem Wege. Seitdem sind auch die Lehren des Judenhasses verstummt, und die Schriftsteller, die jene schädlichen Lehren zu verbreiten suchten, schweigen jetzt. Ihr Irrtum ist ihnen zu verzeihen, da sie von ihm zurückgekehrt. Sie haben es redlich gemeint, und die Wahrheit ist nie zu teuer erkauft, auch wenn man sie mit einem vorübergehenden Wahne bezahlte.

[877]

[878] [920]Der Eßkünstler
Ein artistischer Versuch

Nur acht Tage wurde ich in Wien verkannt; daher ich mich glücklicher schätzen darf als viele andere. Nämlich der heiligen Allianz meiner Tischgenossenschaft, welche ihren Zweck, gemeinschaftlich zu verschlingen, gar nicht zu beschönigen suchte, drohte Zwietracht: denn sie konnte nicht einig darüber werden, ob ich verliebt sei oder ein tiefsinniger Gelehrter oder ein Narr oder taubstumm oder ein langweiliger und trockener Mensch. Allerdings hatte jede dieser Meinungen Gründe für sich.

[920] Ich aß wenig, sprach nichts, hörte auf keine Anrede ... bald war ich düster, bald lachte ich laut auf ... ich schnitt mehrere Gesichter, mein Blick war starr auf diesen oder jenen Punkt gerichtet und nicht selten fuhr ich mit der Hand über die Stirne, gleich unsern artigen jungen Herren, die, wenn plötzlich Frauenzimmer in die Stube treten, sich aus dem Stegreife frisieren und ihre Locken in eine liebliche Verwirrung bringen. Aber nach einer Woche klärte sich alles auf, und meine gewöhnliche Liebenswürdigkeit, das heißt meine sehr gewöhnliche, kehrte zurück. Die Sache verhält sich wie folgt.

Mir gegenüber saß ein Mann, an dessen Rocke von unaussprechlicher Farbe eine seltene Seltenheit der Knöpfe meine Aufmerksamkeit anzog. Auf drei Quadratschuh' Tuch kam nicht mehr als ein einziger Knopf – eine Bevölkerung, die zwar, wenn von den Menschen die Rede wäre, zu den großen gehörte, denn sie überträfe selbst die von Malta, die aber, da es sich von Knöpfen handelt, von einer Sparsamkeit ohne Beispiel ist. Ich schloß aus Gründen der Anthropologie, daß ein Mann von so eigentümlicher Physiognomie ein ausgezeichneter Mensch sein müsse, und ich irrte mich nicht. Ich entdeckte bald in ihm einen höchst vortrefflichen Eßkünstler, der mit seinen herrlichen Gaben auch die Tugend der Uneigennützigkeit verband, indem er acht Tage hintereinander in seiner Kunst unentgeltlich öffentliche Vorstellungen gab.

Man wird mir beistimmen, wenn ich behaupte, daß die meisten Menschen wie das Vieh essen, ohne klares Bewußtsein, ohne Überlegung, ohne Regel und ohne jene Anmut, welche nur die verschönernde Kunst über die Natur haucht. Was ich nur immer dunkel geahnet hatte, daß das Essen etwas viel Erhabeners bezwecke als die Befriedigung eines bloß tierischen Triebes, wurde mir klar durch die Anschauung der Meisterschaft, welche [921] der würdige Künstler, von dem ich reden will, vor meinen Augen entfaltete.

Andere Konzertgeber warten gewöhnlich, bis sich das Orchester versammelt hat und das Stimmen zu Ende ist; dann erst treten sie hervor. Unser Künstler aber verschmähte den kleinlichen Kunstgriff, durch Überraschung zu wirken. Im Gegenteile, er war eine halbe Stunde früher als die übrigen Gäste im Speisesaal, so daß die Kellner oft irre wurden und ihn fragten, was er befehle; denn sie glaubten, er suche ein Gabelfrühstück. Diese Einsamkeit benutzte er als ein Mann, dem seine Kunst heilig ist, und der sie nicht bloß zum schnöden Zeitvertreibe der Menge übt. Er unterwarf sein Gedeck einer höchst genauen Musterung; die Teller und das Glas wurden nachgesäubert; er untersuchte das Messer, ob es keine Scharten habe, in welchem Falle er es mit einem andern vertauschte. Am meisten aber war er auf die Elastizität des Stuhles bedacht, wohl erwägend, wie viel auf diesen Resonanzboden des Eßinstruments ankäme. Darauf maß er sich mit seinen Ellenbogen einen freien Umkreis ab, indem er die Stühle auf beiden Seiten zusammenrückte, so daß man sich später wunderte, wie ein Mann, der für sechs essen mochte, doch nur für zwei Personen saß. War dieses alles geschehen, und es blieb ihm noch Zeit übrig, so präludierte er, indem er sich ein Glas Wein aus den gemeinschaftlichen Beiträgen der benachbarten Flaschen sammelte und dazu ein Milchbrot mit etwas Gurkensalat genoß. So konnte er von seinem sichern Hafen aus mit Ruhe auf den Sturm der heranwogenden Gäste schauen und durfte sich, während die andern verwirrt ihre Plätze suchten und hungrig der Suppe entgegenseufzten, der Früchte seiner weisen Vorsicht erfreuen.

Man kann sich nicht gnug darüber wundern, wie es so viel tausend Menschen, die seit undenklichen Zeiten [922] täglich in Gasthöfen speisen, entgehen konnte, daß der Gebrauch der Gabel einer der Gebräuche sei, welche die Wirte aus Spitzbüberei eingeführt haben. Bei nur einiger Aufmerksamkeit hätte man entdeckt, daß jenes Werkzeug weniger geeignet ist, die Speisen zu halten, als herab- und durchfallen zu lassen. Einen so hellsehenden Eßkünstler wie den unsrigen konnte die heuchlerische Hülfsleistung der Gabel nicht betören, und er bediente sich ihrer nie, sondern gebrauchte bei allen Speisen den sichern und weitumfassenden Löffel, den er vor den räuberischen Händen der Kellner, die nach der Suppe alle Löffel wegräumten, dadurch sicherte, daß er Exerzitien und gymnastische Übungen mit ihm anstellte, so daß er nicht zu erhaschen war.

Die Völker germanischen Ursprungs leben alle in dem Wahne, als wären die verschiedenen Beiessen, von welchen das Rindfleisch begleitet zu werden pflegt, rote Rüben, Gurkensalat usw., nur zur Auswahl da: aber unser großer Künstler ging von dem Standpunkte aus, daß jene Beiessen Simultanspeisen wären, und die glückliche Anwendung seines Grundsatzes zeugte von dessen Richtigkeit. Merretich, geröstete Kartoffeln, die gewöhnliche braune Brühe, eingemachte Bohnen, Gurkensalat, Radieschen, rote Rüben, Rettichscheiben, Senf und Salz brachte er sämtlich auf seinen Teller und wußte sie durch eine weise Benutzung des Raumes dergestalt im Kreise zu ordnen, daß keines das andere berührte. Nur ein einziger Platz blieb leer, wie an Arthurs Tafelrunde, und war für das Beiessen bestimmt, welches er etwa übersehen haben und das noch kommen könnte.

Das Vorurteil, daß die Künste in monarchischen Staaten größere Aufmunterung fänden als in republikanischen, hat jenes andere Vorurteil veranlaßt, daß die meisten Künstler aristokratisch gesinnt wären. Bedarf [923] es noch eines Beweises, daß diese Ansicht falsch sei, so hat ihn unser Eßkünstler gegeben. Seine Neigung für Freiheit und Gleichheit war so heftig, daß ihn der Vorzug, welchen er Frauenzimmer genießen sah, bei Tische mit Übergehen der Herren zuerst bedient zu werden, in die größte Wut versetzte, und er schwatzte nicht bloß für die Freiheit gleich den deutschen Liberalen, sondern er kämpfte auch für sie, indem er jeden Kellner, der ihn überspringen wollte, um die Schüssel einer Dame zu reichen, gewaltsam am Ärmel zurückhielt und ihn Achtung der Menschenrechte lehrte. Den Kellnern selbst kam diese Freiheitsliebe unseres Künstlers am meisten zustatten; denn da der Wirt die geringste Nachlässigkeit, welche jene sich gegen die Gäste zuschulden kommen ließen, streng bestrafte, so arbeitete der Eßkünstler solcher Tyrannei dadurch entgegen, daß er den Kellnern unaufhörlich zurief und zuwinkte, sie sollten ihn nicht vernachlässigen und an ihn denken.

Gemüse sind die Freuden des Eßpöbels und der Wirte: sie befriedigen das rohe Bedürfnis auf eine wohlfeile Art. Unser Künstler offenbarte seine Geringschätzung gegen dieselben hinlänglich, indem er bei keinem Gemüse lange verweilte, sondern, von einem zum andern eilend, sich unter das Gefolge, die sogenannten Beilagen, mischte, wo er, wie dieses oft der Fall ist, größere Bildung fand als bei der Herrschaft. Einen neuen Hering, der noch sehr schüchtern war und dem man die Verlegenheit, vor so vielen Gästen zu erscheinen, ansah, munterte er auf und unterhielt sich so zutraulich mit ihm, daß dieser ein Leib und eine Seele mit ihm ward. Freilich murrten die Tischgenossen über diese Vernachlässigung des sogenannten Anstandes, aber unser Künstler lachte dazu und fragte einen östreichischen Grafen, ob nicht der älteste Hering auch einmal neu gewesen wäre? »Vorzüge adeln, nicht Jahre« – setzte er hinzu.

[924] Tutti aß zwar unser Künstler auch mit, sich von andern Künstlern unterscheidend, die hierin eine lächer lich-vornehme Zurückhaltung zu beobachten pflegen; doch wie natürlich versparte er seine meiste Kraft auf die Solos. Wenn er nach einem Halte in Kadenzen, die gewöhnlich eine große Schüssel Apfelkompott als langatmiger Triller schloß, sich ganz seiner freien Phantasie überlassen durfte, dann wurde auch der kälteste Mensch zur Bewunderung hingerissen. Wie aber die Zeit, die während des Tellerwechselns und Auf-und Abtragens der Gerichte verloren geht, benutzt werden könnte, zeigte unser Eßkünstler zur Beschämung aller Tischgenossen.

Ich weiß nicht, ob es ein passendes Gleichnis ist, wenn ich sage: Mehlspeisen sind die Adagios der Tischsymphonien; aber passend oder nicht, unser Künstler war hierin unerreichbar. Sobald die süße Schüssel auf der Schwelle der Saaltüre erschien, machte er ganz kleine Augen, um seine Sehkraft zu verstärken. Er hatte dieses optische Verfahren nicht aus Hallers Physiologie gelernt, sondern an mehrern europäischen Höfen, wo die Fürsten ihre Augen und Ohren bis auf eine kleine Öffnung verschließen, oder, was in der Berechnung auf eins herauskommt, wo sie nur wenige Höflinge sehen und anhören, um deutlicher zu vernehmen, was das Volk braucht und wünscht. Er machte also solche Hofaugen. Bis die Schüssel an seine Person kam, sprach er laut und viel, um gleich Frauenzimmern während eines Donnerwetters seine Angst zu betäuben. Er lachte mit sichtbarer Anstrengung. Endlich kam sie, und seine Brust ward frei. Er schnitt sich ein Stück von mittlerer Größe ab, das er, ehe er es aus der Schüssel nahm, einige Male darin herumdrehte, angeblich, es von allen Seiten zu beschauen, im Grunde aber, um es recht innig mit Sauce zu durchtränken. Dann überschüttete er es völlig, [925] und wenn beim Schöpfen der Sauce noch etwas Solides im Löffel blieb, so war das schwer zu vermeiden.

Freilich fiel ihm dann immer bei, die anwesenden Engländer möchten seine Anhänglichkeit an das Kontinentalsystem übelnehmen, und um diese zu täuschen, goß er so lange Sauce in den Teller, bis kein Land mehr zu sehen war. Doch gelang ihm dieses nicht immer, und mehrere Male ragte ein Berg Ararat von Mandeln und Rosinen über der Flut empor. Während des Essens der Mehlspeise war er nachdenkend und in sich gekehrt, und man sah ihn nicht selten schmerzhaft lächeln. War das erste Dritteil der Puddingportion verzehrt (denn er teilte seine Speiseportionen von allen Gerichten in drei Teile ab, weil die Teller zu klein waren, die ganze Portion auf einmal zu fassen), dann ließ er sich zum zweitenmal die Schüssel reichen, was gerade nichts Besonderes war. Beim drittenmal aber gebrauchte er List und rief dem Kellner zu, er wolle nur noch ein bißchen Sauce. Hatte er ihn aber herbeigelockt, dann lachte er ihn aus und griff auch zum übrigen.

Nur deutsche Philister sind imstande, einen großen Mann zu bewundern, ohne ihn zu lieben. Daß große Männer auch immer gut sind, offenbarte unser Künstler in mehrern schönen Zügen. Nie schlug er eine Bitte unbedingt ab; konnte er sie nicht gewähren, so gab er wenigstens Hoffnung. Trug ihm der Kellner eine Schüssel vor, die er zurückweisen mußte, weil er zu beschäftigt war, sagte er: »Jetzt nicht, aber später, mein Freund!« Ein rührender Zug seines sanften Herzens war folgender: Eines Mittags wurde ihm zwischen dem Braten und dem Dessert noch einmal Suppe vorgesetzt, weil ihn der Kellner von hinten mit einem Gaste verwechselte, der eben erst in den Saal getreten und sich an den Tisch gesetzt hatte. Unser edler Künstler, um dem Kellner die Beschämung und die Vorwürfe des Wirts [926] zu ersparen, hatte die Großmut, die Suppe zu essen, als wäre sie für ihn bestimmt gewesen. In allen Dingen war er ausgezeichnet. So teilte er die Unart der meisten Gäste nicht, welche die großen Krebse auswählten und die kleinen in der Schüssel liegen ließen – er nahm die kleinen auch ... Der eingeführten lächerlichen Sitte, in eine Pastete von oben einzudringen und so gleichsam in ein Haus durch das Dach zu steigen, trotzte er mutig. Er machte zweckmäßiger zwei Seitenöffnungen gegeneinander über. Durch die Vordertüre steckte er den Löffel und trieb das Wild und Geflügel nach der Hintertüre, wo er es mit Leichtigkeit auffing ... Die Geschicklichkeit, mit welcher er einen Rebhuhnkopf trepanierte, hatte ihresgleichen nicht ... Einen Prachthecht von seltener Größe nahm er ungeteilt vor sich, so daß der Fisch nur mit dem Leibe seinen eigenen Teller bedeckte, mit dem Kopfe aber über den Teller seines rechten, und mit dem Schwanze über den seines linken Nachbarn hinausreichte, welches ein imposanter Anblick war.

Man wird sich wundern zu hören, daß unser Künstler von den verschiedenen Bratensorten nur gewöhnlich viel aß, da allgemein bekannt ist, daß gerade diese Art Speisen bei wahren Kennern in großem Ansehen stellen. Aber der Meister betrat überall eine neue Bahn, und wie er selbst unnachahmlich war, so ahmte er auch niemals andere nach. Wie gesagt, er aß die Braten als Dilettant und benutzte die Muße, die er dadurch gewann, um sich auf das Dessert würdig vorzubereiten. Von diesem stellte er eine ganz neue Theorie auf, wodurch das bisherige System ganz über den Haufen geworfen wird. Ich werde mich bemühen, die neue Theorie unseres Künstlers in das klarste Licht zu setzen, und man wird erstaunen, daß die falsche Ansicht vom Dessert sich so viele Jahrhunderte hat behaupten können.

Joseph in Ägypten, den meine Leser, wenn auch nicht [927] aus der Bibel, doch gewiß aus Méhuls Oper kennen, war in den Jahren der Fruchtbarkeit auf die künftigen Jahre der Hungersnot bedacht und ließ, als guter Staatsverwalter, Vorratskammern anlegen. Ich weiß nicht, ob sich unser Künstler gegen eine Frau Potiphar so streng benommen hätte als der keusche Joseph, aber in der Nationalökonomie blieb er hinter dem Sohne der Rahel nicht zurück. Auch ihn machte der Überfluß bei Tische nicht sorglos, er gedachte der sieben magern Nachmittagsstunden und traf seine Maßregeln. Ein glücklicher Umstand, der Brand von Moskau, trug viel dazu bei, ihn auf den Weg der Weisheit zu führen. Der Künstler hatte in den ewig denkwürdigen Jahren 1814 und 1815 für die gute Sache gefochten und aus dem glorreichen Freiheitskampfe die wahre Ansicht vom Dom zu Köln, das Hep Hep und die Sprachreinigkeit als Beute des Sieges mit in die Heimat gebracht. Er war es, der den Vorschlag gemacht, der Bundestag solle sich nicht eher versammeln, als bis der Dom zu Köln ausgebaut wäre, um dann darin Platz zu nehmen, und jeder wahre Freund des deutschen Vaterlandes muß bedauern, daß dieser Vorschlag nicht zur Ausführung kam und daß sich der Bundestag früher versammelte. Er war es, der die Judenverfolgungen in den Gang brachte, um Freiheit und Gleichheit einzuführen, und ihm hat man zu verdanken, daß die Sekte der Puristen sich so allgemein verbreitet hat. Er jagte alle französischen Wörter über den Rhein zurück, und selbst das sanfteDessert konnte seinem Hasse nicht entgehen; er sagte dafür Nachtisch. Nachtisch! Möchte man doch immer der ursprünglichen Bedeutung der Worte nachforschen, dann wäre es leicht, sich über die wahre Beschaffenheit aller Dinge zu verständigen! Was heißtNachtisch? Nachtisch heißt dasjenige Essen, welches nicht bei Tische, sondern nach Tische verzehrt wird. Unser Künstler war nun nach [928] dem zweiten Pariser Frieden gar nicht mehr zweifelhaft über das, was ihm als deutschem Manne zu tun oblag, er aß den Nachtisch nach Tische. Um aber die neue Institution so fester zu begründen, gab er ihr eine historische Basis. Er aß daher, gleich den übrigen Gästen, sein Dessert noch bei Tische; war dieses aber geschehen, so häufte er seinen Teller zum zweiten Male mit Kuchen und Früchten an und ließ dieses durch den Kellner auf sein Zimmer tragen, um es in den Nachmittagsstunden zu verspeisen.

Fehler wie Vorzüge, Laster wie Tugenden, Wahrheiten wie Irrtümer hangen unter sich zusammen und ziehen sich nach. Unser Künstler gab einen neuen Beweis hievon. Kaum war ihm über die wahre Bestimmung des Nachtisches ein Licht aufgegangen, so schritt er auf der Bahn der neuen Entdeckung weiter, bildete das System aus und wandte es noch auf andere Verhältnisse des Lebens an. Daß er, sich unterscheidend von den übrigen Gästen, seine Serviette unter das Kinn fest band, konnte mich nicht überraschen; denn von einem solchen Mann ließ sich nicht anders erwarten, als daß er die alte Sitte, Weste und Beinkleider zu schonen, beibehalten werde. Daß er aber genannte Serviette, die während dem Gedränge des Essens herabfiel, zur Zeit, wenn das Dessert kam und die anderen Gäste ihre Serviette zulegten, von neuem unter dem Kinn befestigte, mußte mir auffallen. Ich dachte gleich: dahinter steckt was – und es stak wirklich etwas dahinter, wie sich zeigen wird. Er spielte nämlich während der ganzen Mahlzeit, sooft es ihm seine Geschäfte erlaubten, mit der rechten Hand hinter der Serviette, zog sie aber häufig hervor und zeigte, daß sie hohl war. Hierdurch gewöhnte er die Zuschauer an diesen Anblick, so daß sie zuletzt gar nicht mehr darauf sahen. Kam nun das Dessert, dann nahm er ein großes Stück Brot vor sich, wovon er aber [929] nur wenige Brosamen zu der Torte aß. Er ließ das Brotstück auf dem Tischtuche artige Purzelbäume machen, dann zog er das Schnupftuch aus der Tasche und bediente sich dessen mit vielem Geräusche. Er ahmte hierin glücklich den Taschenspielern nach, die, wenn sie einen großen Streich vorhaben, die Ohren der Zuschauer zu beschäftigen suchen. Ich paßte auf. Husch, hatte er die rechte Hand mit dem Brote hinter der Serviette, und von da brachte er es unbemerkt in die Tasche, worauf er dann das Schnupftuch wieder einsteckte. Auf dieselbe Art praktizierte er einige Birnen in die Tasche; jedoch hat man dieses letztere Stück schon von Pinetti gesehen. So wendete unser Künstler die Theorie des Nachtisches auch auf andere Lebensmittel an.

Ach, die menschliche Natur ist nie vollkommen! Die größten Männer haben ihre Schwächen, und auch unser Künstler war nicht frei davon. Ich hatte gestern in einem Anfalle von übler Laune in mein Tagebuch geschrieben: »Und sei eine Frau noch so kluge Wirtschafterin, sie versteht nur die Küche; der Keller ist – um mich artig und architektonisch auszudrücken – unter ihrem Verstande.« Diese Bemerkung galt der Frau von Staël; aber treffender hätte ich sie auf unsern Eßkünstler anwenden können. Vom Weine hatte er gar keine Kenntnisse, und er trank nur wenige Gläser. Doch hielt er für diese einzige Schwäche durch seine Herzensgüte wieder schadlos, indem er, um zu verbergen, daß ihm der Wein nicht schmecke, was den Wirt hätte kränken können, den übriggelassenen zugleich mit dem Dessert auf sein Zimmer tragen ließ, wo er ihn wahrscheinlich heimlich ausschüttete.

Napoleon sagte nach seinem Rückzuge aus Rußland: »Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt.« Die Kellner, welche unsern Eßkünstler bedienten, machten [930] diesen Schritt und fanden dessen Kunstansichten lächerlich. Sie waren nicht allein wegen dieser ihrer Unwissenheit zu bedauern, sondern noch mehr darum, daß sie etwas lächerlich fanden und doch nicht lachen durften. Ich konnte ohne das innigste Mitleid nicht sehen, wie diese armen Menschen sich quälen mußten, um die Konvulsionen ihres Gesichtes zu verbergen und denjenigen Anstand zu beobachten, den jeder Gast von einem loyalen Kellner fordern kann.

Fußnoten

1 ›Der Turnpepinierist urteilt falsch. Die Orientalen, die immer despotisch regiert wurden, tragen den Hals nackt.‹

2 ›Damit sich die Leser überzeugen können, daß ich mir keine größere poetische Freiheit genommen, als billig ist, will ich eine genaue Berechnung der Zeit, die wir uns zwischen Frankfurt und Stuttgart aufgehalten, nebst Benennung der Orte, wo dieses geschah, folgen lassen. Aus dieser Statistik (Stillstandslehre) des Postwagens wird sich ergeben, daß ich noch nicht zwei Prozent gelogen, indem auf 15 Stunden die Übertreibungen nur 16 Minuten beträgt.‹

3 (!) Anmerkung des Redakteurs.


Notes
Die wiedergegebenen Aufsätze und Erzählungen Börnes erschienen zuerst in den von ihm selbst herausgegebenen Zeitschriften »Die Waage« und »Die Zeitschwingen«, in Cottas »Morgenblatt«, in der »Iris«, in der Ausgabe seiner »Gesammelten Schriften«, Hamburg (Hoffmann & Campe) 1828–1832, oder in der Ausgabe seiner »Nachgelassenen Schriften«, Mannheim 1844–1850. – Die in Winkelklammern ›...‹ eingeschlossenen Passagen wurden von Börne nicht in die Ausgabe der »Schriften« übernommen.
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TextGrid Repository (2012). Börne, Ludwig. Aufsätze und Erzählungen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3CC8-4