Clemens Brentano
Godwi
oder
Das steinerne Bild der Mutter
Ein verwilderter Roman
von Maria

[Widmung]

[9] Den schönen Launen

der lieblichen Minna,

dem

guten Geiste Juliens

und

dem stillen heitern Sinne

Henriettens

weihe ich dies Buch ohne Tendenz

[9][11]

Erster Band

Vorrede

Dies Buch hat keine Tendenz, ist nicht ganz gehalten, fällt hie und da in eine falsche Sentimentalität. Ich fühlte es itzt. Da ich es schrieb, kannte ich alles das noch nicht, ich wollte damals ein Buch machen, und itzt erscheint es nur noch, weil ich mir in ihm die erste Stufe, die freilich sehr niedrig ist, gelegt habe. Ich vollendete es zu Anfang des Jahres 99, hatte mich damals der Kunst noch nicht geweiht, und war unschuldig in ihrem Dienste. Ich werde sie an diesem Buche rächen, oder untergehen. Diese Blätter gebe ich nicht wie ein Opfer hin, nein, sie sollen die Flamme nähren, in der ich ihr einst mein reines Opfer bringen will. Du wirst mir darum wohlwollen, lieber Leser, daß ich mich mit diesem Buche, das nur zu sehr mehr von mir als sich selbst durchdrungen ist, gleichsam selbst vernichte, um schneller zur Macht der Objektivität zu gelangen, und von meinem Punkte aus zu tun, was ich vermag. Es ist mir schon itzt ein inniger Genuß, alle Mängel, die ich vor zwei Jahren hatte, zu übersehen; sie alle zu verbessern, dazu müßte ich auf der letzten Höhe stehen, die ewig vor uns flieht. Doch will ich schneller, kunstreicher und begeisterter immer vorwärts schreiten, damit der Raum, der mich vom Ziele trennt, stets kleiner wird, und endlich nur dem Seher sichtbar bleibt.


1800. Juni.

Maria


[15][17]
Erster Brief

Godwi an Römer


Schloß Eichenwehen


Hu! es ist hier gar nicht heimisch, ein jeder Federstrich hallt wider, wenn der Sturm eine Pause macht. Es ist kühl, mein Licht flackert auf einem Leuchter, der aus einem in Silber gefaßten Hirschhorne besteht. In dem Gemache, in dem ich sitze, herrscht eine eigene altfränkische Natur; es ist, als sei ein Stück des funfzehnten Jahrhunderts bei Erbauung des Schlosses Eichenwehen eingemauert worden, und die Welt sei draußen einstweilen weitergegangen. Alles, was mich umgiebt, mißhandelt mich, und greift so derb zu wie ein Fehde-Handschuh. Die Fenster klirren und rasseln, und der Wind macht ein so sonderbares Geheule durch die Winkel des Hofes, daß ich schon einigemal hinaussah und glaubte, es führen ein halb Dutzend Rüstwagen im Galopp das Burgtor herein.

Diesem äußern Sturme hast du meinen Brief zu danken, er stürzt sich zwischen mir und meiner Umgebung wie ein brausender Waldstrom hin, und alle Betrachtungen liegen am jenseitigen Ufer. So muß ich dann meine Zuflucht in mich zurück, in mein Herz nehmen, wo du noch immer in der Stellung der Abschiedsstunde gegen mir über in unserm Garten sitzest und mir gute Lehren giebst.

Es ist oft so, wie in diesem Augenblicke, und ich glaube, daß der Sturm in der Natur und dem Glücke, ja daß alles Harte und Rauhe da ist, um unsern unsteten Sinn, der ewig nach der Fremde strebt, zur Rückkehr in die Heimat zu bewegen. Wenn draußen der wilde Sturm in vollen Wogen braust, dann habe ich nie meinen so oft beklagten Drang nach Reisen empfunden. Mein Ideal – kennst du es noch? – verschwindet in der Nacht. Ich wünsche nicht, zwischen hohen schwarzbewachsnen Bergwänden, ein liebliches leichtsinniges Weib an meiner Seite, auf weißer mondbeglänzter Bahn, im leichten Wagen hinzurollen; daß mir die schönste Heimat in dem Arme ruht, die mich nie mit trägen Fesseln bindet, wo, Ring an Ring gereiht, höchstens ein bewegliches Einerlei entsteht; daß vor mir laut das muntre [17] Horn des Schwagers die lockenden Töne nach der Fremde glänzend durch die Büsche ruft, und Echo von allen Felsen niederspringt, und alles frei und froh die verbotenen Worte durch die Nacht ruft:


So weit als die Welt,
So mächtig der Sinn,
So viel Fremde er umfangen hält,
So viel Heimat ist ihm Gewinn.

Nein, alles dieses nicht; ich empfinde dann fast die Zulänglichkeit von guten Familiengemälden, wo es ohne Zugluft hergeht, und keiner in die Hitze trinkt, und jeder Husten oder Schnupfen von gutem Adel ist und viele Ahnen zählt.

Wenn die Katzen vor den Türen Minnelieder singen, und ein Käuzchen vor dem Fenster das Sterbelied von ehrlichen Bürgern singt, die ohne die Anlage des Schwans, das letzte Leben in Melodien auszuhauchen, doch ohne Singen nicht sterben mögen, dann drängt sich wohl das Weib zu dem Manne furchtsam hin, es wird die Furcht zur Liebe, in der sich alles löst, und alles bindet sich in dieser schönen Minute; die Sinne, die in Träumen wie in fremden Feenländern schwebten, sie kehren in sich selbst in die eigentlichste Heimat zurück, und in dem Traum, der das höchste Wachen unter sich sieht, ersteht nun hier das Denkmal jener schönen Mythe, wo Gott sich mit dem ersten Menschen im Schlafe dicht verband, und sich seinem Herzen das Schöne, die Poesie, das Weib entwand. Wie hier Furcht zwischen der Ehe und ihrer Pflicht stand, so steht sie hier zwischen der Freundschaft und diesem Briefe.

Das Blatt Postpapier vor mir und ich, wir sind wohl die leichtesten Wesen in dem ganzen Umkreise, den ich überschielen kann, denn um mich sehen könnte ich um alles in der Welt nicht; von allen Seiten bin ich eingeschlossen, die Ahnherren schließen ein Bataillon carré um mich. Vor mir vereinigt sich die Linie mit Anfang und Ende. Rechts hängt der bärtige Herr Kunz von Eichenwehen, vom Kopfe bis zum Fuße in Eisen gehüllt, er hat im eisernen Zeitalter dieses Schloß erbaut, zur Linken kommt Frau von Eichenwehen mit bloßer Brustman schoß in ihrem Zeitalter nicht mehr mit eisernen Pfeilen; [18] dann kommt ein Hirschkopf, der in die Wand eingemauert ist, und ach! wer kommt nun? – das liebe schöne Mädchen, das mich hier verließ, sie hat eine Rose in der Hand, neben mir auf meinem Tische liegt auch eine – wenn ich der Maler gewesen wäre, so hätte ich der Mutter eine Spindel in die Hand gegeben, und der Tochter ein Buch, um anzuzeigen, wie Flachs Leinewand, Leinewand Lumpen, und Lumpen Bücher werden.

Sie hat ein weißes Kleid an – das war der letzte freundliche Lichtstrahl, den ich heute erblickte. Mein Blick stand auf der räucherigen Wand, als sie verschwunden war, und das Ächzen der ungeheuren Türe verschlang ihre freundliche gute Nacht und meinen Seufzer. Die Rose vor mir sieht mich so freundlich an, – o du verfluchtes Tischbein! Der Tisch hat Beine, die sich mit meinen leichten Füßen gar nicht vertragen. – Sonderbar, kaum spreche ich dieses Wort mit Schmerz und Unwillen aus, so bin ich auch schon wieder mit ihm versöhnt. Unter dem Gemälde des freundlichen Mädchens steht: Tischbein pinxit. Doch was soll das!

Ich bin in der Burg irgend eines Landedelmannes, das merkst du wohl, und fühle nur zu sehr, wie viel langweiliger es hier ohne ein gewisses Etwas wäre als bei den himmlischen Einfällen in den geschmackvollen Gemächern der einzigen Molly in B.: aber das gewisse Etwas wird in der unangenehmen Atmosphäre, wie die Rose vor mir in diesem ungeheuren Saale, wie ein einziger kleiner Stern in der dunkelsten Gewitternacht, so reizend, so freundlich, daß ich es lieber anschaue als die Sonne im Glanze des Mittags. Die Rose, der Stern tröstet mich, indes die Sonne mich nur blendete. Pfui! keine Ungerechtigkeit, sie erwärmte mich.

Dir zulieb, kalter Freund, steig ich wieder von den Stelzen herab, auf denen ich das gewisse Etwas anredete, das du am Ende dieses langen langweiligen Briefes kennen lernen sollst. Geduld!

Dein letzter Brief machte mir Vorwürfe, daß ein Weib wie Molly (du kennst sie aber gar nicht) meinen Aufenthalt in B. vierzehn Tage verlängern konnte, machte mir Vorwürfe, daß ich ein Weib bis zu den Sternen erhöbe, die frei und ohne Fesseln des Geistes, oder irgend eines Verhältnisses mit andern, [19] die verlassene Bahn der Menschlichkeit wieder betritt; die allein da steht, wo alle stehen sollten, und wo auch ich bei ihr gestanden habe. Sich selbst genug, und den meisten zuviel, lebt sie glücklich und wahr, obschon ihre Geschlechtsgenossen sie einseitig beurteilen, weil ihrem kurzsichtigen Blicke die Übersicht einer so großen, so ganzen, so harmonischen Oberfläche zu unermeßlich ist. Du sprachst als ein Freund mit mir, du wolltest retten, aus Gefahren retten, die es nur dem Schwachen werden können. Du glaubtest, ich hätte mich in die Arme der zügelloseren Liebe gestürzt – o dann hätte ich bei Molly nicht um alles bitten müssen, die nur giebt, wo sie liebt, und nur liebt, wo ihre Liebe im vollen Verstande Belohnung ist. Molly befriedigt nie Leidenschaften, wo ihre Befriedigung Menschen schaden kann. »Godwi!« sagte sie an einem Abende, an dem ich, durch ihre Freundlichkeit, durch die trauliche Anschmiegung ihrer Ideen an die meinigen und meiner Sinnlichkeit an die ihrige kühner, sehr verwegne Hoffnungen wagte: »Sie sind hier um meinetwillen, Sie sind hier ohne Zweck, erwarten Sie mehr? Ich kann Ihnen nicht mehr geben, als ich Ihnen gab, ich gab Ihnen mein Herz – nur dem, der es fassen kann, der es ganz kennt, bin ich alles, bin ich ein Weib; Sie sind weit, sehr weit davon entfernt.« Hier ward sie ruhig, und reichte mir ihre Hand, die in der meinigen bebte, in ihrem Auge glühte eine reine Flamme, die in der Träne, ach! in der Träne des Abschieds erlosch. »Sie reisen morgen, ich befehl es Ihnen«, sprach sie ernst, und stand vor mir wie mein Herr. – »Ich bitte Sie um meinet- und Ihrentwillen, folgen Sie meinen Befehlen«, fuhr sie mit einer unwiderstehlichen Anmut fort; sie hatte sich, wie die Liebe, sanft über mich herabgebogen, und nun konnte ich ohne Kühnheit die Träne des Abschieds von ihrer Wange küssen – seltsam süßer Widerspruch von Gefühlen, ihr Befehl macht mich zum Sklaven, ich muß gehen, ihre Bitte umarmt mich, hält mich fest an sie gefesselt, und indem sie mich zum Gehen bittet, wird es so süß, ihren Willen zu tun, und ich möchte doch nicht gehen.

Der Kuß des Abschieds, er war so inhaltreich, es lag das Bleiben so deutlich darin, er hatte ja die Scheideträne weggeküßt, denn was ist Scheiden anders als eine Träne, und [20] Wiedersehen anders als ein Kuß. Ach hätte ein Kuß kein Ende, Molly hätte mich gerne behalten, und vertrocknete eine Träne nicht, so könnte ich sie nicht vergessen. Es lag viel Wahrheit in dem Kusse, und da er offenbar ganz anderer Meinung als Molly war, so mußte wohl ein anderer Umstand sie zwingen, vielleicht gar die Furcht, bald durch die sinnliche Wahrheit der Küsse im Rausche der Leidenschaft die geistreiche Heuchelei ihrer Enthaltsamkeit im Rausche der Eitelkeit enthüllt zu sehen. – Süß waren ihre Lippen, es schwamm ein stilles liebendes Hingeben auf ihnen, und im Gefühle des Übergehens eines andern Wesens und seines Genusses in mich und den meinigen lag der entzückende Traum einer Ewigkeit der Wollust des Kusses. – Doch auf dem Gipfel des Rausches entsinkt uns der Becher, kalt strömt die Wirklichkeit zwischen unserer glühenden Lippe und seinem Freuden-Rande durch, reißt den letzten Tropfen los, und wir erwachen. So löste sich die Raserei des ersten und letzten Kusses. Stumm stand Molly, um sie her die Trümmer ihres stolzen Befehls, Scham färbte ihre Wange, Blässe folgte. Der Kuß hatte die Scheideträne und nicht die Scheidestunde weggenommen. Sie richtete sich auf, und so wie etwa Ludwig der Achtzehnte aussieht, wenn er in Reval über Frankreich regiert, erschien sie mir in ihrer Armut, in diesem kleinen Schiffbruche ihres Plans, der mir nicht entging bei folgenden Worten: »Godwi! Sie gehen morgen, ich bin dem Jünglinge gut, aber ihm darf nie werden, was Belohnung des handelnden Mannes ist, gekrönte Liebe. Es ist Verdienst, im Arme des Weibes ruhen zu dürfen; es ist Elend, vom Arme des Weibes ruhen zu müssen. Müssen Sie nie um zu dürfen.«

Ach wie klangen diese Sentenzen so kalt und gezwungen nach einem Kusse, der ihr Verräter war. Mir war dabei zu Mute wie dem Gaste eines geizigen Wirts, der seinen Gast berauscht glaubt, und die spätere Weinflasche, die also nach ihrer Herkunft aus dem Keller die jüngere ist, auch immer die jüngere nach ihrer Herkunft aus dem Weinberge, das heißt, ein bißchen saurer sein läßt; er denkt, der Rausch der älteren mag die jüngere betten; sehr weislich – der Chirurg betäubt uns erst die Ohrläppchen, ehe er uns die Ohrlöcher sticht; wer gern Ohrringe [21] trägt, wer gern zu Gaste geht, und wer gern küßt, muß sich das alles gefallen lassen.

Ich teile gern mit dir, sehr gern, aber nur meine Freuden. Laß mich deswegen von der Nacht schweigen, die ich gepeinigt durchwachte. Du kennst mein Talent, alles von allen Seiten anzusehen, die lachenden und weinenden Seiten jedes Gefühls und jeder Geschichte hervorzuziehen, so daß ich nie ganz glücklich und nie ganz unglücklich werden kann. Auch diese Nacht zerriß mich ein steter Gefühlswechsel. Den freundlichen Traum, der meinen Morgenschlummer umgaukelte, kann ich nicht beschreiben; wer kann das süße Licht der ersten Sonnenstrahlen nach dem Gewitter, wer den lächelnden Frieden und die holde Versöhnung malen? Ich selbst fühle nur noch unbestimmt und verwischt die rosigten Fußtapfen dieses Traums in meiner Erinnerung.

Ich saß auf meinem Pferde, die Regentropfen schlugen mir um die Nase, und der wache Donner weckte mich aus dem Seelenschlummer, in den ich versunken war. Wir können uns durch innen von außen verhüllen; eine vollfühlende Seele bedeckt den Körper mit Gefühllosigkeit. Ich kenne kalte Gesichter, ruhige Oberflächen, unter denen ein warmes Herz pocht. Stille Wasser gründen tief. Wohl dem, der kalt von außen ist, weil alle seine Flammen im Innern brennen; er ist Feuer unter der Asche, und wird keinen entzünden, sicher ruht er auf dem häuslichen Herde des Lebens. Weh dem, dessen Oberfläche kalt ist, weil Jammer und Elend eine Eisrinde um ihn gezogen haben. Scheint die Sonne, so wird leicht die Eisbahn zum Grab, und wird der Winter kälter, so stirbt das Leben auf dem Grunde des Stroms.

Mein Tiefsinn hatte mich dichter umhüllt als mein Mantel. Dieser hing über meine Schulter und ich ward über und über naß. »Was weckst du mich nicht, Conrad!« rief ich meinem Purschen zu; »da es so stürmt, und da es dir doch selbst lieb sein muß, bald in eine Herberge zu kommen.«

»Nun, Herr Junker, unsereiner tut selten, was ihm selbst lieb ist, ich habe nun einmal meinen Willen vermietet, und der Unterschied zwischen Herrn und Diener besteht darin, daß der eine seinen Willen aus Armut versetzt, und der andere ihm auf [22] dieses Pfand geliehen hat; darüber dachte ich nun so nach und lobte Gott den Herrn, daß Sie nicht immer so große Intressen von dem Pfande nehmen als jetzt.«

»Und deswegen wecktest du mich nicht?«

»Nichts vor ungut, Junker, ich dachte, wen dies liebe Wetter nicht wecken kann, der schläft nicht zum Wecken; wer von der schönsten Frau von der Welt wegreitet, der reitet nicht schnell; wer dabei einen Kuß von einer so charmanten Dame auf den Weg hat, ach! der ist so beladen, daß sein Pferd den Schritt kaum aushält.«

»Von einem Kusse weiß ich nichts.«

»Wenn Sie was davon wüßten, so hätten Sie ihn nicht gekriegt, so wüßte ich nichts davon, und hätte auch nichts gekriegt.«

»Conrad, sprich deutlich, oder ich werde Intressen von meinem Pfande nehmen.«

»Sie drohen ein Geheimnis heraus, das Sie heraus locken sollten. So will ich denn sprechen, um auch einmal großmütig gewesen zu sein. Ich war heute nacht immer um Sie her und packte ein, und konnte nicht recht begreifen, wie Sie nun so auf einmal fortwollten. Sie wälzten sich im Bette und konnten nicht schlafen, und ich dachte, wohl eben deswegen, weil Sie reisen müßten. Heute morgen überfiel Sie endlich der Schlummer, und Sie waren so freundlich dabei, daß ich mich mitfreute über den verliebten Traum, den Sie wohl haben mochten.«

»Du vergißt die Intressen; keine Bemerkung. Ja, ich träumte.«

»Nu, Herr, ich träumte fast dasselbe, nur mit halb offnen Augen. Die Türe geht leise auf, und, nun kömmts, es kommt Milady auf den Fußspitzen hereingetrippelt, in der Hand hatte sie einen Brief, den steckte sie in Ihre Brieftasche, die auf dem Nachttische lag, und, ach! nun« –

»Du kannst dir denken, lieber Römer, mit welcher Eile ich den Brief aus der Tasche zog. Welche sonderbare Adresse! »Ich beschwöre meinen lieben Godwi, diesen Brief nicht eher zu öffnen, als bis ichs ihm selbst erlaube.« Schwer, sehr schwer ward meinem Gehorsam der Sieg. Nur ihrem Befehle kann man bei dem Reize, den sie selbst gegeben, gehorchen. Nun weiter!

[23] »Nun schlief ich fest, bis alles vorbei war, dann wacht ich auf, weil ich eben nicht dumm bin; und weil die Zeit zu kurz war, als daß die reifen Äpfel hätten von selbst fallen sollen, so fing ich an zu schütteln.«

»Laß dich weg aus der Geschichte, oder die Geduld geht mir aus. Was tat sie, der Engel?«

»Nun ich habe keinen gesehen, und wollte bei Gott mit Milady zufrieden sein, und alle Engel entbehren, denn sie machte mir sehr warm, als sie Sie so umarmte und küßte. Herr, wenn Sie gewacht hätten, hätten Sie ihn, den Kuß, so nicht gekriegt, das Glück kam Ihnen im Schlafe. Hier tat ich, was ich vorhin das Schütteln nannte, das heißt, ich dachte, nun ist es Zeit zu wachen und ein Lebenszeichen von sich zu geben. Ich gähnte und Milady seufzte, beide sehr laut; ich streckte mich und Milady beugte sich über Sie hin; ich wischte mir den Schlaf und Milady sich eine Träne aus den Augen. Ei, schon auf, gnädge Frau? Gott! schweig Er, Conrad! sie drückte mir ein Goldstück in die Hände; schweig Er wenigstens bis Sein Herr weg ist. Die Äpfel waren gefallen, und nun schlüpfte sie wie ein Lüftchen davon.«

»Nie mehr ein Wort hiervon. Das Geld wirst du dem Weibe wohl wiedergeben müssen, und wenn du noch einmal schüttelst, so sollen dir Stockschläge fallen.«

Ich gab meinem Pferde die Sporen, und so schnell bin ich lange nicht geritten, außer mir flogen die Gegenstände wie Augenblicke vorbei, in mir drehten sich langsam die Begriffe, Coquetterie, Betrug, Liebe, geheimnisvoller Brief. – Ach glückliche Stunde, wenn ich ihn erbrechen darf, wann wirst du erscheinen? war der einzige Zusammenhang, dessen ich mich erinnere, und ich jagte, als könnte ich die Stunde im Raume ereilen. – Ganz verschiedene Dinge treten sich in den Weg – ein Fluß, der durch den Regen so angeschwollen war, daß wir nicht durchreiten konnten, hob meine ganze Liebesqual einstweilen auf; ich ritt also links einen andern Weg, und meine Sorge schien mir wie die Straße durch den Fluß zerschnitten, und blieb rechts liegen. Reite ich nicht in die Welt, lebe ich nicht in der Welt? Soll ich etwa am Flusse harren, bis die letzte Welle vorübereilt, und soll ich etwa auf die Stunde passen, bis sie der [24] Strom der Zeit vorüberwälzt? Über unerklärbare Dinge will ich mich nicht quälen. Ich und mein Leichtsinn wurden stark genug, die ganze Geschichte einem Ausschusse, wie die Herren zu Paris, zu übergeben. Der Ausschuß bist du. – Lieber Freund, sage deine Meinung.

Der Fluß zwang uns nach einem Dorfe, das an einem Berg lag, zu reiten. Über dem Dorfe lag ein altes gotisches Schloß, das bewohnt zu sein schien, und ich träumte gar nicht mehr, weil mich die Hoffnung, bald unter ein Dach zu kommen, von aller Empfindsamkeit heilte.

Wir waren kaum einige Minuten weiter geritten, als wir einen Trupp Jäger aus dem Walde, der an der Seite der Landstraße lag, hervorspringen sahen, die ebenso sehr als wir eilten. Die Hauptperson war ein etwas bejahrter Mann, er hatte einen grünen Tressenrock, ähnlichen Jagdhut und Haarbeutel an. Er ritt immer mit einer gewissen Grandezza in kurzem Galopp an der Spitze, und wenn einer mit ihm sprechen wollte, mußte er auf die Seite reiten, nach welcher der gnädge Herr seinen Kopf drehte. Hinter ihm ritt noch ein Grünrock, der dem alten im verjüngten Maßstabe alles nachmachte, er schien mir der Herr Sohn zu sein, ein derber gesunder Landjunker mit ungeheuren Stiefeln, einem preußischen Zopfe und Tressenhut; den Zug beschlossen mehrere reitende Jäger und eine Kuppel Hunde. Die Herren ritten schnell, und wir ritten schnell, und waren kurz hinter einander, als aus der Tasche der Hauptperson eine Brieftasche fiel. Ich rief, allein das Geplätscher des häufig herabfallenden Regens und das Geräusch der Reitenden machten es ihm unhörbar. Mein Pursche hob die Brieftasche auf, und da wir mit unsern müden Pferden den Besitzer nicht mehr einholen konnten, und uns eine Schenke am Wege ein Obdach anbot, so warteten wir den Sturm ab. Der Wirt sagte mir, daß der Jäger der Besitzer des nahe liegenden Schlosses und Dorfes sei. Ich eilte nun, die Brieftasche zu überbringen und zugleich um Herberge für eine Nacht zu bitten.

Es war Abend, der Himmel hatte sich erheitert, und die Natur um uns her atmete mit vollen Zügen die Ruhe, die alles Leben nach einem heftigen Sturme so leise und so liebend umweht. Auch dein Freund war ruhig, dachte an dich, wie dir [25] diese Stunde auch Ruhe giebt, nach deinen vielen Arbeiten des Tages, und war in der Erinnerung froh bei dir.

Unsere müden Rosse arbeiteten sich mit Mühe den steilen Burgweg hinan; ein offnes Tor empfing uns, ein halb Dutzend hungrige Hofhunde bleckten uns die Zähne, und der Herr Kastellan, Kammerdiener, Minister der auswärtigen Geschäfte und Torschließer brachte diese Störer meiner Gefühle von der Ruhe in der großen Natur zur Ruhe, indem er sein Phlegma und seine tönernen Pfeifen ihnen zuwarf. Nachdem er ein bißchen geflucht hatte, und mit den Füßen auf der Erde herumgestampft, kam er auf einmal in die dritte Position, und sprach: »Herr Jost Freiherr von Eichenwehen, und Herr Jost, Stammherr von Eichenwehen, zu welchen Sie vermutlich hinzugelassen zu werden wünschten, sind soeben wieder weggeritten, weil seine Exzellenz, der Herr Freiherr, seine Brieftasche verloren, die das ganze Glück der Hochadelichen Familie, seiner Exzellenz Stammbaum, enthält, seine Exzellenz« – »Die Brieftasche habe ich gefunden, schicken Sie Herrn von Eichenwehen nach, bringen Sie die Pferde in den Stall, und zeigen Sie mir eine Stube, in der ich mich ein bißchen umkleiden kann.« Das Umkleiden mußte der Herr Kastellan nicht für nötig halten. Er führte mich etliche Wendeltreppen hinauf – unmutig und träge tappte ich seinen schwerfälligen Fußtritten nach – ach! so dreht sich die Wendeltreppe meiner Laune aus dem traulichen wollustdüstern Boudoir meines Herzens hinauf zu dem wüsten toten Leben in meinem Kopfe, dachte ich, und kaum hatte ich es gedacht, so entstand eine sonderbare Generation in mir. Ich sah mich im Durchschnitt wie den Riß eines Gebäudes, in meinem Kopfe war ein großer Redoutensaal, aber alles war vorbei, den letzten Ton des Kehraus sah ich dicht bei der Orchesterbühne meiner Ohren mit sterbendem verschossenen Gewande gähnend zur Türe hinausschleichen. Eine Menge meiner jugendlichen Plane standen verstört und mißmutig da, der Tanz war vorbei, sie hatten die Masken in den Händen, weinten aus den trüben erhitzten Augen Abspannungstränen, und guckten sich an, und gebärdeten sich wie Phöbe, Diane und Proserpina in Wielands Göttergesprächen, sie konnten nicht glauben, daß sie alle dieselben seien. Unten in meinem Herzen, [26] da war das düstere Kabinett, Molly stand da wie eine Zauberin, sie kam von dem Maskenballe herab, meine Zufriedenheit saß bei ihr, sie suchten ihre krausen Gewänder auseinander zu wickeln, die sich auf der Wendeltreppe verwickelt hatten, und zeigten beide ziemlich unziemliche Blößen. Gut, daß vor die Fenster Gardinen, aus rosenroten Träumen gewebt, gezogen waren, und der Luxus der Sinnlichkeit in dicken wohlriechenden Rauchwolken den kleinen Raum mit Nebel erfüllt hatte, man konnte sich nicht recht erkennen. Ja räuchert nur, dachte ich, Goethe sagt doch, der Herr vom Hause weiß wohl, wo es stinkt. Nun ward es ganz dunkel, das letzte Lichtstümpfchen auf dem Kronleuchter im Ballsaale war erloschen, es schimmerte kein Fünkchen mehr die Treppe herunter. – »Nun, nun, Herr Baron, wo bleiben Sie denn?« donnerte mich eine Stimme von oben herunter an, ich war aus der Wendeltreppe des Schlosses auf die meiner Laune geraten, und hatte vergessen, auf der ersten weiterzugehen, nun schlich ich vorwärts. Die breite schöne Treppe in Mollys Landhaus, wo führte die mich hin, ach! in das Amphitheater ihrer Arme, das schöne Schauspiel ihres Geistes in ihren Augen zu sehen, und diese verdammte Wendeltreppe, wo führt sie mich wohl hin? »Ich brauche Sie nicht zu melden,« sagte der Kastellan, als wir an eine kleine gotische Türe kamen, »das Fräulein hält nicht viel davon.« Das Wort Fräulein lasse ich mir nicht zweimal sagen. Schnell tröstete ich mich, daß ein Fräulein, welches dem Unangemeldeten verzeiht, wohl auch dem im Reisehabit durch die Finger sieht. Ich klopfe. »Herein!« Ein niedliches Mädchen von achtzehn Jahren hüpft mir entgegen, sie entschuldigt die Abwesenheit ihres Vaters, ich meinen Anzug. Sie setzt sich in den Erker, ich mich ihr gegenüber, auf kleine steinerne Bänke, die in der Mauer angebracht waren.

Sie: Wollen Sie Licht, es ist schon Abend.

Ich: Es ist nicht Abend in uns, wenn es Abend außer uns ist.

Sie: Was meinen Sie damit – doch Ihr Name?

Ich: Godwi.

Sie: Godwi? Dies ist ein schöner Name, ach! das ist ein schönerer Name als Eichenwehen, ich möchte wohl auch so heißen. Doch ich will Licht holen.

[27] Ich: Nein, Fräulein, lassen Sie es, es wäre eine Sünde gegen die Natur und die Stunde, die ich bei dem Untergang der Sonne mit Ihnen durchleben kann.

Sie: Nun, so lassen Sie uns denn so sitzen bleiben.

Ich: Und uns unserer Freunde erinnern, die vielleicht jetzt ebenso glücklich sind als ich und Sie – Sie verzeihen, ich meine nur durch diese schöne Naturszene. Sie haben doch auch Freunde?

Sie: O ja, aber doch nicht viele – Otilien, Sophien, und nein, das sind sie alle. – Es ist mir recht lieb, daß Sie kein Licht wollen, denn Sie hätten mir sonst meine Lieblingsstunde verdorben. Sehn Sie, so sitze ich alle Abende hier, und sehe wie ein Nönnchen in der Klause nach der untergehenden Sonne, manchmal werde ich ganz traurig; da drüben, wo Sie sitzen, da saß sonst meine gute Mutter, die war so freundlich, und wir spannen dann immer in die Wette; jetzt bin ich immer allein, und wenn die Langeweile, ach! die Langeweile – der Vater ist gut, aber er ist immer auf der Jagd, und Jost, mein Bruder – nu, der ist gar nicht freundlich. Doch Sie werden bald sehen, daß hier nur ein Jäger froh sein kann – Doch was plaudere ich – verzeihen Sie, Ihre Ankunft hat mich so überrascht, daß ich ganz verwirrt spreche.

Ich: Nein, gnädiges Fräulein, Sie sprechen nicht verwirrt. Sie sprechen eine schöne seltene Sprache, die Sprache der Wahrheit, der Unschuld und der Natur. Ich habe lange keinen Menschen, am wenigsten ein Weib, so sprechen hören, und zwar in einer Minute, wo fast alles heuchelt, in der Minute des ersten Zusammentreffens.

Sie: Es ist sonderbar – in einer andern Stunde würde ich nicht so gesprochen haben – aber hier darf ich nicht mit Fremden sitzen, und nicht in dieser Stunde, daß ich nicht so sprechen sollte, denn hier habe ich immer alles gesagt, was ich fühlte, hier hörte mir immer die Mutter zu. – Wir waren aufgestanden, ich hatte ihre Hand gefaßt, Joduno weinte ihrer Mutter eine stille Träne, sie sah in die letzten Strahlen der sinkenden Sonne, wie wir dem fliegenden Gewande eines scheidenden Freundes, der nun unserm Nachsehen verschwindet, mit nassem Blicke folgen, und drückte mir dennoch die Hand, wie einem Freunde[28] beim Wiedersehn. Mein Herz, Römer, war verloren. Die Sonne ging unter, und Herr von Eichenwehen, Vater und Sohn, kamen herauf. Joduno machte geschwind Licht, wir setzten uns in eine ehrerbietige Entfernung, indes unsere Blicke und unsere Herzen ganz dicht beisammen steckten, so dicht, daß sie seufzten. Alles dieses geschah ohne die mindeste Verabredung, wir verstanden uns, und obschon es dich wundern mag, so wunderte es mich doch nicht. Unser Zusammentreffen war ein Wiederfinden. Die Sonne war unter, und als der Vater mich bewillkommte, und der Sohn mit offnem Munde vor mir stand, waren wir schon so vertraut, daß ich mit ihr lachte, schäkerte oder seufzte, wenn der Vater den Rücken wandte. Man dankte mir beim Abendessen für meinen Fund, und bat mich mit vielen Worten, einige Tage zu bleiben; ich entschuldigte mich mit vielen Worten, daß ich morgen wieder reisen müßte. Joduno sah mich an, und ich sprach: »Recht gerne will ich bleiben, wenn ich Ihnen nicht beschwerlich falle.« Von dem Tischgespräche weiß ich nichts mehr, als daß ich mehr von meinen Ahnen erzählte, als wahr ist, daß mir der Herr Sohn nochmals für meinen Fund danken sollte, aber schon schlief, und daß sich meine Schuhspitzen mit den Fußspitzen Jodunos unterhielten.

Joduno war etwas früher vom Tische aufgestanden als ich, sie kam wieder. »Leuchte den Herrn Baron in seine Stube, Joduno« – Sonderbare Sitte – Unbefangen und ohne ein Wort zu sagen, geht sie vor mir her, eine große ungeheure Türe eröffnet sich, das Licht steht auf dem Tische, eine süße freundliche Stimme sagt: »Gute Nacht!« – das übrige weißt du. Ich hatte bei Tische gesagt, daß ich noch schreiben wollte, Joduno hatte einstweilen alles dazu auf den Tisch gelegt, selbst den Stuhl hingerückt. Neben das Papier hatte sie die schöne Rose hingelegt – hat sie den Tisch wohl auch vor ihr Bild hingerückt?

Ach die Wendeltreppe führte mich doch auch zu einer schönen Aussicht. Molly, deine Worte »Gekrönte Liebe gehört nur dem Manne« haben einen sonderbaren Doppelsinn für mich erhalten, seit ich den Hirschkopf gegen mir über habe – das Bild der lieben Joduno sieht mich so freundlich an, daß ich jetzt fast schon vor der Dunkelheit erschrecke, wenn ich das Licht auslöschen [29] werde. Gute Nacht, ich steige ins ungeheure Riesenbette, in dem vielleicht alle Herrn von Eichenwehen, und wohl auch die liebe Joduno, geboren sind, um heute abend zu sterben, und morgen früh wieder neu geboren zu sein.

Dein Godwi

Römer an Godwi

Wo die Herren im Nationalkonvent zu Paris zuviel Arbeit sehen, bei Arbeiten, deren Erfolg kritisch ist, bei denen sie sich in ihren oder in des Publikums Augen durch den Erfolg beschämt finden könnten, muß ein Ausschuß dran. Bei der Verwirrung, bei der Abenteuerlichkeit seiner Streiche stößt mein lieber Karl auf einen Punkt, der ihm nicht so ganz hell in die Augen leuchtet, und er ernennt mich zum untersuchenden Ausschuß. O lieber Karl, wann wirst du die gerade Menschenstraße wählen und nicht mehr aus dem Hundertsten ins Tausendste denken, handeln und plaudern; ich kann mir ihn ganz denken, den incroyablen Karl, vis-à-vis, oder in den Armen – denn ich weiß, du bist kein Freund von Entfernung – einer andern Merveilleuse. Es ist ein Unglück, daß du auch immer in die Hände der Extreme fallen mußt. Wo wohnt das gute bürgerliche Mädchen, das tugendhaft und häuslich dir einst den verwirrten Kopf aufräumen und deine Hände zu nützlicher und zweckmäßiger Arbeit geschickt machen wird? War es nicht der Aufgang der nämlichen Sonne, der dir das Bild weniger Tage vorher neben der rätselhaften Molly so rosenfarben malte, nicht der Untergang der nämlichen Sonne, die mit den letzten Strahlen gleich darauf dein wächsernes Herz in eine andere Form goß? Du nanntest Molly ein göttliches Weib, das heißt: du bedientest dich zur Bezeichnung ihres Wertes des Namens der höchsten dir denkbaren Vollkommenheit und schon haben diese Göttin ein paar Hirschgeweihe und ein lustiges sonderbares Geschöpf gestürzt. Du hast ein Geschöpf kennengelernt, das du noch höher stellen könntest. Wie heißt denn die Stufe über deinem Götzen? Oder, lieber Karl, willst du wohl eingestehen, daß der die Menschen und all ihr Streben und Ringen nach irgend einem Zwecke für die Caprice Gottes halten muß, [30] der ein Weib göttlich nennt, das mit den Herzen, Gefühlen und Worten ihrer armen Anbeter spielt? Sie hat nicht genug, dich zu ihren Füßen zu sehen, sie berauscht sich in den Gefühlen ihres Stolzes, und stößt deine Begierden zurück; sich hätte sie ganz befriedigt, sie will nur ihrem Betragen noch das Gewand der schönen Tugend, Enthaltsamkeit und Abenteuerlichkeit umhängen; ernst und streng weiset sie deine feurige Liebe in die Schranken des Wohlstandes zurück, vergißt nicht, dir mit der feinsten Coquetterie die Mühe zu zeigen, die ihr es kostet, läßt sich einen Kuß von dir rauben, wo du ihn rauben solltest, um ihr den Schwur der Ehrerbietung gegen ihre strengen Grundsätze zu besiegeln, und fordert durch das Feuer eben dieses Kusses dich auf, das Gebäude ihrer ganzen Weisheit zu zertrümmern.

Es mag der feinste sinnliche Genuß, das bezauberndste Spiel der Gefühle sein, allein es ist nichtsdestoweniger das gefährlichste und gewagteste, denn wer es verliert, hat sich selbst verloren. Molly weiß auf die geschmackvollste Weise die äußersten letzten Fäden der Sinnlichkeit durch affektierte Menschlichkeit in die Grenzen einer edlen, empfindungsvollen Sittlichkeit hinüberzuweben, so daß ihr Betragen zwar ihren Geist, ihren Geschmack, und durch augenblickliche, liebenswürdige Geistesgegenwart ihre Erfahrung, aber nichts weniger als ihr Herz, ihre Tugend vor der Verdammnis der Moralität retten kann.

Danke Gott, mein Lieber, daß du so glücklich aus den Schlingen dieser liebenswürdigen Verderberin entkommen bist; aber entgehe zugleich dem Gefühle der Eitelkeit dieses Entgehens. Du selbst warst nicht stark genug, sie hat dich in den Plan ihres Siegs zurückgestoßen, und in der Beendigung der Geschichte mit dem Morgenbesuche und dem Kusse sehe ich wohl, daß du ihren Waffen nur ein Spiel, kein Kampf warst. Die Geschichte am Morgen scheint mir das, was den Mozart ausgezeichnet hätte, der aus Laune, oder auf Bitte eines mächtgen Geschmacklosen, ein elendes Lied auf seiner Violine hinzauberte. Es war in Rücksicht auf den moralischen Wert der ganzen Sache das Selbstgefühl eines Bierfiedlers, der, hat er in seinem Gassenhauer die Beine seines Pöbels genug zum Tanzen gezwungen, an das Ende des letzten Takts noch einen Ohrenzwang [31] gratis anhängt. In jedem gefälligen Landschaftsgemälde ist Ferne, und die abgestufte Verkleinerung und Verundeutlichung reizender Natur im letzten Grade, in eine Morgenröte überschwebend, giebt uns in gleich nahen Gegenständen das Täuschende der Perspektive. Hier hat der Künstler den Raum behandelt; Molly, die Künstlerin, endigte ihre Szene durch eine versprechende Anspielung in die Zukunft, sie behandelte die Zeit.

Ich halte sie für bewunderungswert in ihrer Art. Es ist der feinste Egoismus, den Sieg, der wegen der Schwachheit des Gefesselten ohne Lorbeer war, seinem Selbstgefühle durch die Kraft und Zierlichkeit, mit der man das Schlachtfeld verläßt, zur Schmeichelei zu erschaffen.

Über dein zweites Abenteuer zu urteilen, habe ich keinen Beruf erhalten, und überhaupt liebe ich nicht, dir, lieber Freund, Lehren zu geben, denn du willst durch die Zeit und ihren Inhalt geheilet sein.

Dein Vater ist seit deiner Abreise trauriger und sonderbarer als je geworden. Er will nicht wissen, was du mir schreibst; »denn«, sagt er, »es ist unedel, wenn ein Mensch durch die Benutzung zufälliger Rechte im mindesten die Heiligkeit der Herzensergießung zweier Freunde stört. Ist ihm wohl, liebt er mich?« fragt er nur ängstlich, und als er mir diese Fragen bei deinem letzten Briefe tat, ging er weinend in seine Stube zurück, noch eher als ich ihm antwortete. Es ist mir unbegreiflich, Karl, daß er dich so unnütze Reisen tun läßt, da er dich so liebt, und deiner fröhlichen Laune so sehr bedarf. Ich stellte ihm dieses neulich abends vor, da er sehr heiter war, und mir sagte: »In diesem Augenblicke, Römer, könnten Sie mich fragen, was Sie wollten; ich würde nichts übel nehmen.« Er ward sehr betroffen und sprach: »Sie hätten diese Saite dennoch nicht berühren sollen, Römer; doch Sie sind unschuldig, ich halte Wort, es liegt ein Geheimnis über Karls Kindheit, das mich töten würde, wenn ich ihn noch lange um mich gesehen hätte.« Dann entfernte er sich und schloß sich ein. Ich werde nie mehr hiervon mit ihm sprechen, aber dir mußte ich es sagen, damit du deinen guten Vater nie falsch beurteilen mögest.

An dem Abende, lieber Freund, an dem unvergeßlichen [32] Abende, der uns zum erstenmal trennte, und uns dennoch durch den erneuerten Bund unserer Freundschaft um vieles näher brachte, habe ich dir versprochen, aufrichtig und redlich an dir zu handeln; ich beschwöre dich, Karl, werde ein Mann, der unveränderlich nach Recht und Billigkeit handelt, denn mir ahndet, du wirst unglücklich genug werden, ein schweres Urteil über Menschen fällen zu müssen, denen du unendlich viel, denen du alles verdankst. Die Geschäfte deines Vaters werden mich bald nötigen, eine Reise machen zu müssen. Ich habe diesen Augenblick so lange als möglich verschoben, denn es ist mir ein ängstlicher Gedanke, ihn sich ganz selbst überlassen zu müssen; zwar kann ich seinen geheimen Kummer nicht heben, allein ich kann ihn doch zerstreuen.

Vielleicht komme ich nach B., vielleicht höre ich bei Molly ein Kollegium ihrer praktischen Kriegskunst, das du hoffentlich wie diesen langweiligen Brief in der Hoffnung eines baldigen Vergessens absolviert hast. Lebe wohl, in F. werde ich die Messe zubringen. Adressiere deine Briefe an die Herren Gebrüder Buttlar, bei denen ich wohl absteigen werde.

Joduno von Eichenwehen an Otilie Senne

Meine Otilie, ich schicke dir hier eine alte Flasche Wein für deinen lieben Vater, dessen Geburtstag heute ist. Gieb ihm alle meine guten Wünsche und die Versicherung meiner Achtung mit der deinen hin, und suche, wenn du kannst, ihm einen recht fröhlichen Tag zu verschaffen. Es ist recht schön, daß ich dir zugleich schreiben kann, obschon ich lieber etwas anders tun möchte. Ich möchte lieber mit dem jungen Manne sprechen von dem ich dir schreiben will.

Du würdest die eine Lügnerin nennen, die dir sagte, Fräulein Joduno von Eichenwehen sitzt, seit drei Tagen, alle Morgen um fünf Uhr mit einem schönen Manne unter der großen Eiche, streicht seit drei Tagen mit einem zweiundzwanzigjährigen schlanken Manne durch alle Schlupfwinkel und Wildbahnen im Holze, und sie tun vertrauter als Bruder und Schwester. Es ist nun nicht anders, man mag treiben, was man will, man wird [33] verleumdet, aber immer gut ist es doch, daß alles dies wahr ist, und daß dazu noch viel, viel mehr könnte gesagt werden. Denn wenn einer unter dem Tische stäke, wo wir uns einander auf die Füße treten, und wenn einer das blaue Mal sehen könnte, das ich ihm in den Arm gekneipt habe, als er mir die Locke über dem Auge wegschnitt, die dein Vater, ich weiß nicht warum, immer die Locke der Erinnerung nannte, so würde er wunder was für eine alte Bekanntschaft vermuten.

Ich kann nun nicht anders, ich glaube nicht, daß ich ihn liebe, ich würde mich schämen, in einer Stunde mein Herz verloren zu haben. Ich vermute, daß vieles von dem Eindrucke, den er auf mich machte, dem Moment gehört, in dem er mich sah. Wenn man so wie ich von der Welt abgeschnitten lebt, und von Gestalten umringt ist, die uns nur durch angeborne Rechte beherrschen, so ist es sehr verführerisch, aus freier Wahl einem edlen Menschen gut zu sein. Ja man legt selbst Vorzüge in jeden Bessern, die ihn zum Besten erheben können. Doch verzeihe, ich spreche über einen Zustand, ohne dich erst mit seinem Entstehen bekannt gemacht zu haben, und beweise grade so, indem ich eine vermutliche Leidenschaft entschuldigen will, daß ich ganz von ihr beherrscht werde. Ach, ist es denn wahr, daß es nur die Liebe ist, die uns ganz und gar verändert, gäbe ich dir wirklich einen Beweis von meiner Schwachheit, indem ich dir einen längern Brief schreibe als je? Und wenn ich aufrichtig sein soll, so muß ich noch mehr sagen, sagen, daß ich nicht einmal wegen dir schreibe. Ich schreibe wegen ihm; der Vater ist auf der Jagd, und er hat ihm, um ihm zu gefallen, folgen müssen. Er ging mit mir im Garten, wir waren so freundlich mit einander gewesen, er hatte mir von seinem Freunde erzählt, den er über alles liebt, und ich erzählte ihm von dir, wie ich dich liebe, von meiner Mutter; ich hatte ihm gesagt, daß wir nicht so schnell bekannt geworden wären, wenn er nicht auf dem Sitze meiner Mutter gesessen und meine Erinnerung an sie so teilnehmend angehöret hätte; ich hatte ihm noch vieles, vieles zu sagen, da kam der Vater, und er ging mit ihm weg. Ich sah ihm bis zur Gartentüre nach, und glaubte, er würde gewiß noch einmal nach mir umsehen, aber er tat es nicht, das machte mich sehr traurig, warum? das weiß ich nicht. Nun ist er auf der Jagd, [34] und ich schreibe an dich von ihm, weil ich mich nicht anders mit ihm unterhalten kann, als wenn ich von ihm spreche. An ihn denken, so ganz allein an ihn denken, das kann ich nicht, es wird mir dann ganz bange. Wenn ich allein an ihn denke, so sehe ich lauter Dinge, die man nicht beschreiben und die ich nicht verstehen kann, und da wird mir so ängstlich, als guckten mich eine Menge weltfremder Menschen an und flüsterten sich in die Ohren. Aber mit dir will ich über ihn sprechen, da muß ich alles wieder erzählen, wie er kam, und wie es mir zu Mute wurde; das wird mir sehr wohltun.

Doch nun auch kein Wort mehr, bis du weißt, wer der Glückliche ist, und wie sich denn endlich einmal eine heitere Seele außer mir in die prachtvolle Residenz meiner Ahnen und vieler Uhus und Eulen hat verschlagen lassen.

Du weißt, Otilie, vor drei Tagen war ein schreckliches Gewitter, und der Vater war mit Josten auf die Jagd geritten. Er kam zurück und hatte seine Brieftasche verloren, in der unser Stammbaum ist; er kehrte also mit Josten schnell wieder um, um dies Kleinod zu suchen. Ich bedauerte ihn sehr, daß er in dem Wetter reiten wollte, und sagte ihm, er möchte den Kastellan wegschicken, und wenn der ihn nicht fände, so könne er sich ja vom Amtmann, der doch nicht wisse, was er vor Langeweile treiben soll, einen andern machen lassen. Ich glaubte nun wunder, was ich Gescheites gesagt hätte, und der Vater machte große Augen, hob die Hand in die Höh, und ich glaubte, nun würde er mich in die Wangen kneipen, und da wollte ich meine Bitte, dich zu besuchen, vorbringen. Aber, denke nur, er gab mir eine Ohrfeige. »Gänschen, einen andern machen; nein, dich und deine Mutter ausstreichen lassen.« Jost sagte: »Und so ists recht, Fräulein Claudia.« Und nun gings mit ihnen zur Türe hinaus. Ich setzte mich auf das Plätzchen im Erker, wo sonst meine Mutter saß, wie sie noch lebte und weinte. Ich dachte an sie und weinte auch. Nun ging die Sonne unter, und das Wetter zog vorüber, und ich konnte auch nicht mehr weinen. Danke doch deinem Vater, der mich die Natur lieben lehrte, der mir sagte, so wie die Sonne jeden Abend untergeht und jeden Morgen wiederkömmt, so kömmt und geht auch jeder Mensch. Man sieht ihm entgegen, man sieht ihm nach, und freut sich, [35] wenn er gut war. Ich sehe ihr nach, der lieben Mutter; o könnte ich werden wie sie, und möge man mir nachsehen wie der Sonne, die einen schönen glücklichen Tag erleuchtet hat. So stand die Szene, und ich armes beohrfeigtes Mädchen saß mitten drinne.

Der Vorhang ging auf, es pochte an und es trat ein junger Mann herein, neigte sich schnell mit dem Kopfe, nicht etwa, um eine Verbeugung zu machen, nein, um mir die Hand zu küssen. Er behielt meine Hand in der seinigen, führte mich in den Erker, setzte sich mir gegenüber, nun antwortete er mir erst auf alle meine Entschuldigungen, daß der Vater nicht dasei, und nun sollte ich kein Licht holen, er wollte die Sonne untergehen sehen, bis der Vater käme. Ich armes Mädchen tat alles, was er wollte, und wenn ich dachte, es ist doch ganz sonderbar, wie dieser Mensch sich beträgt, und sah ihn an, so mußte ich doch heimlich wünschen, ach wenn doch der Vater, wenn doch Jost, der Amtmann, ach wenn doch alle Menschen so sonderbar wären. Kaum hatte er schweigend ein paar Minuten die Gegend durchsehen und ich kein Aug von dem seinigen verwandt, so kam er mir gar nicht mehr sonderbar, er kam mir sanft, heiter und schön vor. Er entschuldigte die Eigenheit seiner Ankunft und seines Benehmens auf eine äußerst feine Weise, und ich schämte mich, als er mich hierdurch erinnerte, daß ich eigentlich hätte ungehalten sein müssen. Ach! nie ist mir eine Stunde so schnell verschwunden als die zwischen seiner Ankunft und der Rückkunft des Vaters; selbst wenn ich bei dir bin, Otilie, du mußt aber nicht böse werden, selbst bei dir flieht die Zeit nicht so. Der Vater hatte vor Freude über seinen wiedergefundenen Stammbaum ganz vergessen, was ich für nasenweise Reden geführt hatte, und sagte zu Godwi: er bedaure sehr, daß er sich so lange mit mir habe unterhalten müssen, und er müsse ihn entschuldigen, denn er könne wegen seiner Standesgeschäfte sich wenig mit meiner Erziehung abgeben. Godwi entschuldigte mich auf eine äußerst verbindliche Art; dies gehörte meinem Vater, aber ich beneidete ihn nicht, denn der Blick, den er mir zuschickte, wollte mir doch nichts anders sagen, als daß er sich lieber mit mir in Kamschatka unterhalten als mit meinem Vater in Italien langweilen möchte. Bei Tische unterhielt er meinen Vater von [36] seinen Ahnen, und sagte wohl mehr davon, als er wußte. Jost stichelte auf des Fremden Kleidung und leichtes Betragen, doch du weißt ja, wie mein Bruder ist; aber dem Vater gefällt er sehr, denn er stammt von einer alten Familie her und hat sehr viel edle Männer unter seinen Voreltern. Er wollte den andern Morgen schon wieder weg, aber sein Pferd wurde krank, und wir haben ihm schon zugestanden, daß wohl nie ein Pferd zu gelegnerer Zeit krank wurde.

Der junge Mensch ist aber bei aller seiner Leichtfertigkeit äußerst gut, und oft, wenn er neben mir geht, leicht wie ein Schmetterling, spricht aus ihm der Ernst und die Erfahrung eines Greises, so daß man glauben sollte, er heuchelte; aber dazu sind nun seine Augen wieder zu aufrichtig. Nun sieh nur, da habe ich mir es doch wieder merken lassen, daß ich ihm nicht allein hineingesehen, sondern daß ich auch darinne gelesen habe. Auch kannst du dir nicht denken, wie leutselig er ist; unsere Bauern, die ihn kaum einigemal gesehen haben, grüßen ihn schon viel lieber als Josten, der immer so grob durch sie durchreitet, als seien sie eine Herde Vieh.

Gestern abend, als ich mit ihm unter der großen Eiche saß, erzählte er mir von seinen Reisen manche rührende Begebenheit, und manchen lustigen Scherz. Und da ich ihn fragte, warum er denn immer so die Kreuz und Quer herumreite, sagte er mir mit einer Wärme, die bis in mich herüberdrang denn meine Hand lag in der seinigen, so ruhig, so aufmerksam daß ich jeden seiner Pulsschläge fühlte: »Ich liebe den Zufall überlasse mich ihm mit Sorglosigkeit; habe ich ihm nicht vieles zu danken, hat er mich nicht unter die Eiche, neben Sie, schönes Fräulein, gesetzt? Sorgenlose Freude soll mich immer begleiten, kein einförmiges Lied, nein, wie der Gesang der Vögel über uns, in den Schlupfwinkeln der Eiche, frei und ohne Fessel natürlich und genügsam. Soll ich grübeln, sinnen, kalkulieren spekulieren, solang ich froh und gut bin, solange Freude in jedem meiner Blutstropfen pocht und jede meiner Handlungen ihr Gepräge trägt? Und gut bin ich, wahrlich gut; Sie glauben mir doch, Fräulein?« Er sagte dies so rasch, und sein Blick war so sonderbar, begehrend und doch so sanft, daß ich hätte schwören sollen, er sei der nämliche, der mir meine Locke der [37] Erinnerung raubte. Ob ich aus Angst oder aus Freude und Zutrauen zu ihm sagte: ich würde nimmer froh werden, wenn ichs nicht glauben könnte, weiß ich nicht. Meine Hand konnte ich nicht mehr in der seinigen lassen. Ich glaube, ich sprach aus Zutrauen, und zog meine Hand aus Bangigkeit zurück. Wir sahen beide ein paar Minuten auf ein Fleckchen, er wurde ernst und sagte feierlich: »Fräulein! lassen Sie uns jetzt nach Hause gehen und dem Zufalle überlassen, was wir uns morgen sagen sollen; der Mensch, der vorgreift, tut vergebliche Arbeit, solange die Welt noch von selbst geht.« Wie edel war es von ihm, daß er abbrach, denn ich glaube doch, ich hatte zuviel gesagt; was meinst du, Otilie?

Mit Josten hat ers verdorben, deswegen will er fort, er soll aber erst mit deinem Vater und dir bekannt werden; dir ist er wohl nicht gefährlich, denn er ist viel zu kindisch lustig. Lebe wohl und freue dich, bald wirst du mich sehen.

Joduno

Godwis Antwort auf Römers ersten Brief

Ihr Menschen hinter euren Pulten nennt doch alles, was außer der Poststraße liegt, Abenteuer. Ich kam in das Schloß eines Landedelmanns; bin ich deswegen ein Abenteurer? Ich finde seine Tochter, ein gutes natürliches Mädchen, liebenswürdig, ich fand Molly, ein schönes, kluges und freies Weib, bezaubernd: was tue ich denn mehr als meinen Gefühlen, meinen gerechten Gefühlen, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Ich liebe das Schöne um meinet- und seinetwillen, bin froh und heiter; soll, muß das nicht jeder gute Mensch ganz sein? Du bist ein listiger Feind, du weißt meine Stimmung zu benutzen, und forderst mich zu einem Kampfe auf, indem du meine Günstlinge angreifst, und weißt, daß ich in diesem Augenblicke nur mit den Waffen der Liebe streiten kann. Ich bin mit Rosen gefesselt, meine Arme können sich noch sanft zur Umarmung ausbreiten, und meine Seele sucht, im Blicke über die sanften Gesichtsbeugungen Jodunos hingleitend, den Umriß ihrer Seele, und tändelt schüchtern um die Falten ihres Gewandes, die noch üppigere Formen verraten.

[38] O Römer! in welchem Auserwählten wohnt die Seele, die das Sinnliche in eben dem schönen Geiste vergißt; es tut mir weh, es vernichtet mich, wenn ich fühle, daß ich die Majestät, den Schatten und die Kühlung der Eiche nicht genießen kann, ohne ihren Stamm, ihre Äste und ihre Blätter zu denken; ich fühle mich trotz meiner sogenannten Bildung so wenig mehr als die Tiere, und alles, was ich tue, so wenig wert, so wenig davon gehört nur mir allein. O mein Stolz, mein armer Stolz! Nun sieh doch, Römer, sieh, welchen Kampf, ich zeige dir alle meine Blößen, entdecke dir mein Mißtrauen in mich selbst, und wage es dennoch, dir manches meiner sogenannten Philosophie hinzustellen, die freilich nicht fest, aber rasch, glänzend und lockend ist. Mit allen den schönen Sachen pfleg ich mich zu trösten, wenn der Gedanke an dich mir in den Weg kömmt – mein Stolz wird rege, du lächelst so unerträglich, alles, was ich sage, nennst du Phantasien, Brausen des gärenden Mostes.

Bleibe nur immer auf deiner geehrten Mittelstraße, schneckenförmig und schneckenlangsam windet sie sich, wie die Langeweile durch eure Freundschaft, um die Berge und Täler eurer Laufbahn. Menschen, die sie wanderten, haben nie die Adern erzhaltiger Gebirge, nie das heilsame Kraut der Täler gefunden. Sie hören das Geschrei der Krähen am Rabenstein, der an diesem Weg seiner Genossen steht, den Gesang der bürgerlichen Gerechtigkeit. Philomele nistet nicht an den Heerstraßen, sie hören das Gewimmer des Posthorns, Warnung dem Beschränkten im Hohlwege. Sehr bequem. Hast du je auf der Mittelstraße die Vortrefflichen gefunden, die nur Revolutionen und Originalität aufstellten? – Großes Schauspiel des Vesuvs, der glühende Felsen auswirft, um die fruchtbaren Felder seines Fußes zu erleuchten; er vernichtet Städte und Dörfer, die Jahrhunderte ängstlich zusammengestoppelt haben, aber erweckt in Momenten eine Welt von schlafender Größe in unserm Busen in unserer Seele erwacht im Widerscheine seiner Glut das Erhabene, emsig regen sich unsere Hände zur tätigen Sorge der Erhaltung, und durch das Gefühl des Ungeheuren und seinen Begriff sinken eine große Menge von Schrecken für uns zur Kleinigkeit herab, die Wichtigkeiten außer uns sterben, und so wird der Mut geboren und so flieht der Schlaf, der Tod im [39] Leben, das ihr andern Menschen schlaft. Laß mir, lieber Junge, das, was mir vielleicht gerade angemessen ist, weil du es weder auf den Rheinischen Fuß noch auf Toisen, weder auf den vierundzwanzig noch auf den zweiundzwanzig Gulden-Fuß reduzieren kannst. Du kennst mich schon lange, und wenn du mich messen willst, so siehst du nach dem an den Türpfosten unserer Familienstube eingeschnittenen Maße. Jetzt siehst du mich nicht mehr, und kannst nur meinen Schatten messen; täusche dich nicht, mein Schatten wird noch oft wechseln, weil noch oft die Sonne des Lebens in einer andern Richtung über mir stehen wird. Ich bin noch immer ein sehr vorzüglicher Mensch und möchte des Wortspiels halber sagen, daß ich ebenso wenig reduziert bin, als du mich reduzieren kannst.

Du glaubst mich wohl so recht in meiner Sphäre, in wohltätiger Ruhe und Trägheit versunken, die du bedauerst, weil du zu gut bist, mir sie zu beneiden, und zu mutwillig, mir sie zu gönnen. Nein, schläfrig war ich nie, ich will fort über die Alpen des Lebens glimmen, wo grenzenlose Aussichten die gebundene Allgemeinheit in meinem Busen lösen, wo mir euer Sonnenadler zur Schwalbe wird, die mit ihrer silbernen Brust an der Erde streift – später sehe ich die Sonne am Abend und früher am Morgen, ich kann dann euren bürgerlichen Kalendertag weit mit dem Tage meines Geistes überreichen, und wenn ihr glaubt, ich lebe aus dem Stegreif, so werde ich euer metrisches Leben, ohne daß ihr es merkt, und noch viel mehr gelebt haben. Ich will durch die Täler des Lebens wandeln, wo die Schönheit in der Spiegelfläche meiner Phantasie scherzt, wo die Wollust von mir errungen wird, wo ich ihr Meister bin und sie mir mehr als sich selbst, mir auch die Ruhe und den Genuß des Genusses giebt. Laß mich immer die Blumen meines Weges pflücken, Braut- und Trauer- und Dichter-Kronen draus winden, meinen Becher mit ihnen kränzen, sie über das Lager der Liebe streuen, und endlich sie mit dem Salze der Erfahrung zu einem Potpourri umschaffen, um sie, wenn die Kunst eintritt und ich auf Rollwagen meine mangelhafte Natur als Greis in der Familienstube herumbewege, in der Urne meiner begrabenen Jugend auf den Schrank zu stellen, in dem die Sparbüchsen meiner Kinder stehen – Laß mich sie pflücken, die Blumen meines [40] Wegs, wer weiß, ob ich sie nicht einst auch zu Heuhaufen mähen und wie die heutigen Ökonomen zur häuslichen Stallfütterung anwenden muß. Ich lebe nun einmal in einer Traumwelt, und tue ich nicht recht, wenn ich darin lebe, wie man es kann? Du hast mir so oft geklagt, daß doch alles, was wir wissen, alles, was wir tun, Schatten sei; nun sieh, ich lebe dein Schattenleben, drum bin ich so glücklich an Jodunos Seite im Schatten der Eichen, drum lernte ich sie kennen in der Sterbestunde des Tages, in der Abendröte, in der die Schatten alle geboren werden. Können wir das Glück nicht doppelt genießen, bei dessen Geburt wir zugegen sind und das wir uns selbst erziehen? Zweck ist doch ein Donnerwort in deinem Munde; Zweck des Daseins, des Nützlichseins, den versäume ich? Mit deinem Zwecke hat es wenig auf sich, durchlaufe dein System, du kömmst nicht weiter, du stehst im Zirkel, und zwar in dem kleinsten – Arbeit um Geld, Geld um Brot, Brot um Nahrung, Nahrung um Stärke zur Arbeit; hier ist Arbeit Mittel und Zweck, indes du der Zweck und nie das Mittel sein müßtest, und dein Donnerwort ist ein bloßer Schreckenberger gewesen. So lebt, so raisonniert ihr Herrn Bürger, und wer ein Kaufmann obendrein ist, der geht ab von der Wiege unter Gottes Geleite wie ein Frachtballn, gut oder schlecht conditioniert, wird unter Gottes Geleite von den Spediteurs gemißhandelt, von den Fuhrleuten bestohlen oder verfälscht, und kömmt unter Gottes Geleite an dem Grabe an. Eure Tätigkeit gleicht der eines bigotten Schmiedes, der sich täglich einen goldnen Nagel zu seinem goldnen Sarge erarbeitet, um sich einstens in diesen Kasten zu legen und sich in die Schatzkammer einer reichen Abtei beisetzen zu lassen. Glück und Genuß ist der Zweck unsers Lebens und muß in uns selbst liegen, indem wir die Umstände so auffassen, so behandeln und so in uns tragen, daß sie in uns Glück und Genuß erschaffen können, und dann geben wir uns selbst wieder hin und werden zum Zwecke alles Lebens. Du fühlst das auch wie ich, aber du findest nur Genuß in deinem stoischen Stolze. Ich kann nichts als gut, froh und vorsichtig sein, um ein Mensch zu sein; das Rätsel der höhern Moralität kann mir nur der auflösen, der selbst das größte Rätsel ist, also so gut als niemand. Ich kann nur Ahndungen folgen; ihr folgt auch Ahndungen, aber ihr nennt [41] sie nicht so, ihr glaubt an sie und nennt sie Pflicht. Ich nehme kein Rätsel zum Richter an. Wer will, daß ich ihm trauen oder meine Handlungen auf seine Waagschale legen soll, der lehre mich im Dunkeln sehen, oder ist er das Licht, so nehme er seine Maske ab.

Ich will gerne helfen, wo ich kann; aber Leben ist eine Freikunst, ich treibe sie, wo und wie ich will. Bleibe du bei deinem Handwerke, das du von deinem Vater ererbt hast, bleibe in deiner Zunft, du sollst meinen Namen nie in einer Sklavenliste lesen, solange jede Gemeinnützlings-Stelle mit Supernumerairs versehen ist, die dem noch lebenden Besitzer einen Fluch mit den Augen und einen Segen mit dem Munde bringen.

Ich will der Welt nützen, ich will besser werden in ihr, indes ihr, in eine bürgerliche Ordnung zusammengezwängt, nichts kennt, als euch selbst und einer des andern Ehrgeiz zu Tode ärgern. Kommt ihr weiter mit all eurem Ringen nach dem Mittel, Geld, da ihr nicht den Zweck, Genuß, habt? Werdet ihr besser mit eurem Verbessern eurer Umstände, wenn ihr nicht eure verbesserten Umstände in euch selbst zurückbringt, um euch selbst zu verbessern? Ihr sorgt für eure Kinder und lehrt eure Kinder für ihre Kinder sorgen; und wer genießt, wer verschlingt endlich alle die Früchte? Ein allgemeines Phantom, eine Nebelgestalt, die aus den Gräbern der aufgeopferten Wirklichkeit eurer Einzelnheit verpestend emporwallt und oft zur gewitterschwangern Wolke zusammengetürmt euch eure Freuden in der Verheerung des Blitzes und dem Brüllen des Donners zurücksendet – Ein Bauch in der Monarchie, mehrere Bäuche im Freistaat, und diese Bäuche heißen das allgemeine Beste.

Ich lebe in der Welt, und die Ordnung der Welt geht nach ewigen unabänderlichen Gesetzen, sie ist die weiteste Schranke und ich der ausdehnbarste Tropfen in diesem Meere. Ich leihe mein Ohr gerne den Harmonien der andern, gebe ihnen gerne meine Töne hin; ob sie ihnen nun behagen oder nicht, der große Einklang kömmt doch heraus. Wenn meinesgleichen nicht da wäre, würde dieser Einklang ein Einerleiklang werden; und wer giebt das Konzert, der, der das Solo spielt, oder die, welche akkompagnieren? Das Allgemeine würde ohne meinesgleichen [42] über dem alten Adagio, das ihr von Ewigkeit zu Ewigkeit zum allgemeinen Besten aufspielet, vor Langeweile einschlafen, und überhaupt müßt ihr mir erst das allgemein Ähnliche vorzeigen, wenn ich an ein allgemein Bestes glauben soll, von dem ich eben die Vortrefflichen nicht soviel Lärmens machen hörte.

Soll ich mein Leben vielleicht auf einen Karren packen lassen und es auf Rädern, die sich immer um sich selbst drehen und keiner Pfütze ausweichen, hinleiern? Nein, auf einem unbändigen Rosse ein mächtiger Reuter, will ich meine Bahn durch eilen, um auf vielen Umwegen mit euch Langsamen zugleich anzukommen und doch von manchem goldnen Rande einen Tropfen, von mancher Purpurlippe einen Kuß gesaugt zu haben. Leben heißt nicht hundert Jahre alt werden, Leben heißt Fühlen und Fühlenmachen, daß man dasei, durch Genuß, den man nimmt und mit sich wiedergiebt.

Für zwei Pfennige Gift tötet mehr Fliegen in einer Stunde, als ihr Herrn Praktiker mit all euren Pantoffeln in einer Woche wegklatscht, und ein Ankertau von einer halben Elle derb gefaßt, rettet einen braven Purschen eher im Sturme als ein ganzes Knaul Bindfaden.

Die Folgen! höre ich dich sagen. Die Folgen verfolgen nur den Unmäßigen. Die Leidenschaften des weisen Menschen nach meinem Systeme können ihn zwar in die Arme der Wollust, aber nie in die des Lasters führen; sein geübter, sein geschmeidiger Geist leitet ihn, nie führt er ihn zu Ausschweifungen. Denn wie mag sich der Tropfen einfallen lassen, im Meere auszuschweifen. Betrachte alle die Unglücklichen, gegen die die Gerechtigkeit Rache erheben muß; du wirst Feuergeister oder begrenzte Menschen, aber nur Dummköpfe und Abergläubische finden.

Ich hoffe, ich fürchte nichts nach meinem Tode. Ich habe kaum Kräfte genug, mich und meine Sphäre auszufüllen; soll ich mir meinen Raum erweitern, da dieser schon unermeßlich ist? Wer sich ins Unendliche verdünnt, dessen Umfang muß man mit Mikroskopen suchen, dessen Inhalt muß man mit Säuren finden, und ich mag gerade nicht allein für einen Optiker oder Chemiker leben. Kleinigkeitsgeister, verkrüppelte Menschen, Versteinerungen und die liquidesten Solutionen hoffen [43] auf ein Jenseits, weil sie sich hier in einem Puppenschranke wähnen, oder an einer Krücke, oder der Stein des allgemeinen Anstoßes sind, oder als unschuldig leidende, verkannte junge Herren herumseufzen. Der erste hofft, Bebe beim heiligen Christophel zu werden; der andere erwartet ein Hospital, in dem seine kranke Seele die Hauptrolle spielen wird; der dritte erwartet, daß der Patron des Steinschleifer Meyer aus Carlsruhe im Himmel sitze und aus ihm eine Garnitur Knöpfe für den Sonntagsrock des lieben Herrgotts schleifen werde; und der vierte endlich glänzt schon in seiner Idee als Tauperle an der Keuschheits-Lilie des heiligen Aloysius, träufelt schon als Jupiters goldner Regen in den Schoß der Danae oder wird gar aus Landwein zum heiligen Blute. – Doch ich wäre bald bitter geworden.

Ich hoffe nichts nach meinem Tode; dies ist mir eine Ursache mehr, gut zu sein. Ich befestige, ich ermuntere mich so in der Maxime, die mich handeln macht, weil sie dadurch ganz menschlich, ganz natürlich, ganz mein Eigentum wird. Sie heißt Genugtuung, die ich empfinde, mit mir selbst zufrieden zu sein. Nie will ich über meine Menschlichkeit erröten, ich will meine Leidenschaften, statt sie zu unterdrücken, benutzen; sie verbinden die Menschen unter einander, und diese Verbindung ist mir alles.

Geistreiche Freundschaft, geistreiche Liebe, geistreicher Wein und ein Lied an die Freude von Schiller, an deiner Hand, in Jodunos Arm, in meinem Glase, von Molly gesungen, schöne Natur um mich her, und der Eichbaum über uns. Wo ist euer Jenseits? Dein Händedruck hört auf, du mußt Geld zählen; Jodunos Kuß fällt von meinen Lippen, sie muß husten; das Glas entsinkt mir, ich habe zuviel; Molly schweigt, sie hat zu hoch angefangen; der Winter legt die Natur zur Ruhe und den Eichbaum, und ich schlafe mein Räuschchen aus; das ist mein Jenseits.

Du stellst Molly und Joduno zusammen; zwei sehr vollkommene, aber sehr verschiedene Wesen. Du wirst vielleicht Molly sehen, und dann wird auch gewiß dein Herz für deine Zunge büßen; sie geht ihren Weg nach Grundsätzen wie der Mond, den weder das Anseufzen der Hasenfüße noch das Anbellen [44] der Hunde irre macht. Deine Auseinandersetzung ihrer Coquetterie ist recht gut geraten. Aber du hast gar nicht auf den rechten Fleck getroffen. Der Brief, den ich in der Tasche trage, wird die Sache wohl ausmachen. Übrigens habe innigen Dank für deine Freundschaft. Unter das Geheimnisvolle in Mollys Betragen gehört noch, daß ich nie erfahren konnte, wohin sie sonnabends fuhr, sie wollte immer allein sein. Der Wagen hielt in einem Holze, und sie stieg ab, um in einer Stunde wiederzukommen. Der Ort, wo der Wagen anhält, ist drei Meilen von B. hieher zu. Sie soll einigemal Bücher, Knabenkleidung und Musik mitgenommen haben. Alles dieses hat mir ihr Kutscher erzählt. Sollte sie etwa ein Kind der Liebe im Verborgenen erziehen lassen? Ich muß auf meiner weitern Reise in dem Walde mich ein bißchen umsehen, vielleicht daß ich das Geheimnis erfahre.

Die Traurigkeit meines Vaters ist wohl nur durch Entwickelung zu heben, die die Zeit und nicht wir durch unsern Trost herbeibringen können. Ich liebe ihn und er liebt mich, und doch war ihm meine Gegenwart Qual, und nun bin ich weg und er ist noch nicht getröstet. Ein Geheimnis liegt über meiner Geburt – über meinem Leben soll keines liegen. Ach! es liegen Geheimnisse über dem Menschen, die keiner aufdecken möge. Kein Sturmwind in dem Aschenhaufen des häuslichen Herdes damit die zerstäubte Glut nicht die Säulen des Hauses verzehre. Störe nie die Geheimnisse der Wiegen, damit Reue nicht durch Verzweiflung zur Schande werde. Störe nicht in den Geheimnissen der Grüfte, und decke den Inhalt verlebter Stunden, die wie Särge in dem Gewölbe der Vergangenheit ruhen, nicht auf, daß Verwesung dir den Glauben an die Freuden des Daseins nicht raube. Ich werde nie ein Urteil über Handlungen fällen die außer meiner Erinnerung und außer meinem Stolze liegen.

In einigen Tagen reise ich ab von dem Sohne und dem Vater aber Joduno wird noch zuvor mich zu einem Greise bringen, der mit seiner Tochter in dieser Gegend als Einsiedler lebt. Lebe wohl, sage dem Vater, daß ich ihn liebe, und daß es mir wohl ist, und sei nicht böse auf diesen Brief, denn ich liebe dich sehr.

[45]
Otilie Senne an Joduno von Eichenwehen

Herzlichen Dank, meine Liebe, für deinen Brief, in dem du wieder meine liebe heitere Freundin warst. Deine Worte sehen ganz aus wie du, du glaubst nicht, wie sie mir wohltun. Wenn meine Worte so aussähen wie ich, so würdest du gewiß bald herüberkommen, denn ich fühle mich seit einiger Zeit einsamer als je, und nie war mir das Leiden meines Vaters und sein geheimnisvolles Benehmen trauriger. Ich weiß nicht, wer von uns beiden sich verändert hat, er oder ich! Bin ich anders geworden, und bemerke ich jetzt erst, daß unerklärbare Dinge, die immer um uns her wandeln, unsere Neugierde und unsere Teilnahme nie ganz einschläfern können, wenn wir denken und selbst fühlen? Oder ist mein Vater so anders geworden, so viel trauriger, daß durch ihn mir sein Kummer jetzt so sehr auffällt? Ich wünschte es nicht, sonst wäre er unglücklicher geworden, und dann müßte mich die Sorge plagen, daß er durch irgend etwas in mir leide, denn er sieht ja keinen andern Menschen. Du glaubst nicht, wie sorgfältig ich mich und mein ganzes Betragen beobachte, wie ich meine augenblickliche Freude erdrücke, um ihm näherzustehen, und wie sehr ich mich bemühe, mein ganzes Dasein, das ihn so sehr liebt, an ihn zu schmiegen, ihn ganz zu umfassen, damit ich die Wunde bedecken muß, die in ihm blutet. Aber auch dies hilft ihm nicht; es scheint mir, als verdopple sich ihm sein Schmerz, wenn er fühlt, daß er in zwei Herzen wohnt. Ich bitte dich deswegen umso mehr, bald herüberzukommen, denn über dir ruht jener freundliche und milde Schimmer der Freude, der auch weinenden Augen wohl tut. Bringe ein paar freundliche Lieder mit, wir wollen sie zur Zither spielen. Mein Vater, dessen Freund und Tröster immer seine Harfe war, und dessen traurige Lieder so gern auf den Wogen der Musik hinwegschweben, ist vielleicht fähig, auf demselben Wege die Ruhe wieder in seinen Busen aufzunehmen. Ich liebe dich herzlich, und will auch deinem sonderbaren Freunde gut sein, wenn er so gut ist, wie du ihn malst. Du hast eine ganz eigne Empfindung für ihn, die ich gar nicht kenne, und wenn ich in deinem Briefe lese, wie du an ihn denkst und von ihm sprichst, so ist mir immer, als müßte er ein Weib sein, [46] und müßte dich schon einmal gekannt oder mit dir gespielt haben, und dies sonderbare Gefühl, daß er ein Mann ist und du doch so von ihm sprichst, macht mich sehr neugierig auf ihn. Vielleicht wird er meinem Vater gefallen und ihn zerstreuen. Er dankt dir für den Wein. Froh ist uns nicht dabei geworden; er ist so des Kummers gewohnt, daß selbst seine festlichen Tage durch ihn gefeiert werden. Den Abend vor seinem Geburtstage war er ganz sonderbar heiter, er erzählte mir viel von meiner Mutter, von seiner Liebe zu ihr, von seinem glücklichen, eintrachtsvollen Leben; und da er mir erzählte, daß sie bei meiner Geburt starb, und mich weinen sah, so kniete er vor mir nieder und sprach, indem er seine gefaltenen Hände auf meine Knie stützte, in der heftigsten Bewegung: »Liebes, gutes Mädchen, ich habe viel mit dir verloren, und du hast mir viel gegeben, du bist ein sehr gutes Kind, und doch muß ich ewig beweinen, was ich ewig vermisse, und was ich nicht lange besessen habe. Es tut mir weh, sehr weh, daß ich dich immer mit mir leiden sehe aber es ist gut, denn so werde ich früher sterben, so werde ich eher Ruhe finden. Wenn ich auch tot bin, so wird es dir nicht fehlen, denn ich habe manches Gute getan, damit du von meiner Ernte, die ich kaum mehr reif sehen werde, glücklich leben könnest. Verzeihe mir, es ist nicht recht, daß ich dir in deine Jugend traurige Gestalten sende, vielleicht wirst du dich später, aber wahrer freuen als die andern Menschen. Ich kann nicht heiter sein, mein Leben war Verlust, mein Tod wird mein erster Gewinn sein, ihn werden meine Freuden begleiten, sie gehören ganz dir, und ich werde nur die mit dir teilen, daß ich dir ein solches Erbteil erschaffen habe. Heute sind es – Jahre, daß der Schauspieler zu einer großen traurigen Rolle der Schicksale geboren wurde. Ich habe mehr getan als sie gespielet, ich habe sie gefühlt, sie hat mich vernichtet, der Vorhang ist gefallen, und ich weine hinter der Szene. Du bist zu früh geboren, du mußtest ohne Schuld noch mit aus dem Tränenbecher trinken, den ich gern, sehr gern allein in der Lebenslinie, die der Funke der Allmacht, der in mir wohnt, zu durchlaufen hat, ausgeleert hätte, damit dir die reine ungestörte Freude übrig bleibe. Ich werde bald deine Mutter, mein treues, edles Weib, wiedersehen, ich werde auch Jene wiedersehen, die [47] mein Wiedersehn tötete. Ach! wenn ich es nicht glaubte, so wäre ich ganz elend, so hätte ich keinen Wunsch mehr und nicht einmal den Wunsch zu sterben.« Hier verbarg er sich in meinen Schoß, ich umklammerte ihn fest, sein Schmerz wütete in mir, und ich rief aus: »So sterben, ach! so sterben!« Ich weiß nicht, was nachher geschehen ist; ich weiß nicht, wie er aus meinen Armen gekommen ist. Als ich erwachte, fühlte ich kalte Tropfen auf meiner Stirne, und eine tiefe schwarze Nacht hatte mich bedeckt. Plötzlich goß sich das Licht des Mondes durch die Halle, zu meinen Füßen saß Werdo, ich sah in seine Augen, die mich lange nicht so himmlisch, so voll Vaterliebe angeblickt hatten. Kaum blickte das Auge, das freundliche Auge der Nacht so wehmütig und so vertraut in unsere Wohnung, als mein Vater die Harfe zu spielen und zu singen anfing. Es war mir, als habe er sein Lied an dem Monde angezündet, es war so rein, so hell, und doch so mild, was er sang, daß ich nie von ihm so etwas gehört habe; er sang mit einer festern Stimme als je, und der Inhalt des Liedes brachte in mir die nämliche Empfindung hervor, erfüllte mich ebenso mit Ahndungen, wie es der Mond tut, wenn ich allein oder mit Eusebio am Abende am Turme sitze. Es ist dann alles so klar um mich, und doch kann ich die Ferne hinter mir und die vor mir nicht beschreiben, es verwebt sich der Himmel mit der Erde; Wolken und Berge, Höhe und Tiefe fließt in ein Meer von unergründlich tiefem stillen Leben zusammen, das auf seinem Scheiden und Kommen ruhig meinen Blick fortbewegt und ihn dem freundlichen Monde entgegenträgt. Ich nenne den Mond, wenn ich ihn denke, immer, wie Eusebio, la luna, denn es ist mir lieber, und ich kann mir ihn besser wie ein Weib denken. Da mein Vater so sang und es wieder dunkel ward, steckte ich unser Lämpchen an, und hörte ihm wieder zu; sein Lied ward immer tröstender und ging dann in eine sanfte Freude über. Er stand auf, küßte mich und sagte: »Nun ist uns beiden wieder wohl; nicht wahr, meine Liebe, so mußte ich endigen, damit du ruhig von mir gehen kannst, und damit ich heute nacht denken kann, daß du nicht um mich weinst und sanft schläfst?« Er gab mir die Hand, und ich ging auf meine Stube. Ich setzte mich hin, um deinen Brief nochmals zu lesen, und da ich ihn [48] auseinanderlegte, fand ich einen Ring an meinem Finger, den ich nie gesehen habe. Ich wußte nicht, wie er an meine Hand gekommen war, zog ihn ängstlich ab, betrachtete ihn von allen Seiten, und konnte mir es gar nicht erklären. Er ist aus zwei Armen gebildet, die einen schönen Diamant halten, und in dem Reif war der Name Marie *** eingeschnitten. Der Ring machte mir ganz bange; meinen Vater konnte ich doch nicht mehr wecken, um ihn zu fragen. Ich legte ihn sorgfältig eingewickelt in meinen Schrank, sahe einigemal wieder nach ihm, denn es war mir, als könnte er wieder verschwinden, da er so sonderbar angekommen war. Nun las ich deinen Brief, dachte an dich auf alle Weise, wie du ihn schriebst, wie du dabei ausgesehen, gesessen, und angekleidest warst; ach! es ist so lange, daß ich nichts von dir gehört habe, ich sehnte mich so nach dir, es war so leer in meinen Armen, du warst nicht drinne, um die viele Liebe lesen zu können, die in meinem Herzen erwachte. Ich verschränkte die Arme und umarmte dich in meinem eignen Herzen. Es ward mir so ruhig; ernsthaft war ich nicht, denn vor meinen Augen tanzten leichte Gestalten, die alle aussahen wie du, auf einer großen Blumenfläche, sie schwebten höher und höher, und wiegten sich wie Sonnenstrahlen auf den Blüten der Bäume, ich saß unten allein, sie grüßten mich freundlich und winkten mir, aber ich konnte nicht kommen, die Schwermut liegt auf mir und drückt meine heiße Wange an die kühle Erde; ach! ich mochte nicht kommen, denn ich war so glücklich, und fühlte mich so gut, so frei, so wohl, ich konnte nie ein beßres Mädchen sein; ich glaubte die Freundin, dich, verdienen zu können, ich glaubte die Wunde im Herzen meines Vaters ganz auszufüllen und liebte mich selber recht sehr. Es wird mir lange nicht mehr traurig sein, ich habe heute abend Stoff gefunden, mich lange Zeit zu freuen, und dann bin ich beneidenswert.

Wenn du zu mir kömmst, so will ich eine Stunde mit dir scherzen, die andere wollen wir miteinander darüber nachdenken, was doch die sonderbaren Bilder, die ich immer um mich sehe, bedeuten, und die dritte wollen wir uns neben deinen Freund setzen, er soll uns von seinen Reisen erzählen, und da will ich immer raten, was dies oder jenes bedeute, wenn er mir [49] von der Welt erzählt. Meine Kinder sind alle recht freundlich, und du wirst dich an ihren schönen Augen recht erfreuen, das sind meine vielen Blumen, so und meine Geschwister nennt sie Eusebio. Unsere Liebe, dein sonderbarer Freund und unsere Lieder werden uns die Zeit beflügeln; beflügle deine Schritte gegen Werdos Halle.

Deine Otilie

Römer an Godwi [1]
Römer an Godwi

Zwanzig Meilen bin ich gereiset, und nichts als meine Geldbörse hat gelebt, recht in den Tag hinein gelebt. Der Anfang meines Traums war ein großes Konzert und die allmächtige Stimme eines allmächtigen Weibes, und mein Erwachen ist die süße Stimme eines liebenswürdigen Mädchens, die mit ihren kleinen niedlichen Fingerchen auf einer Pariser Guitarre spielt. Sie ist einzig wie ihr Auge, in dem die Macht von zweien wohnt, denn sie hat nur ein Auge, aber ein Herz und einen Geist. – Du wirst sagen, mit dem Römer muß sonderbar gespielt worden sein, daß er so launig geworden ist; sieh noch einmal nach der Unterschrift, überzeuge dich. Ja, ich bin es; und wie das alles? Dein Vater hat mich vor vierzehn Tagen meiner Arbeit entlassen, und mir erlaubt, meine Geschäftsreise anzutreten. Meine Stelle ersetzt ein Fremder, ein Freund deines Vaters, den er die Woche vor meiner Abreise ins Haus brachte. Er hat, wie er mir sagt, schon einen Monat auf unserm Landhause gelebt, und ich kenne ihn nur als einen fleißigen, sanften Mann, der in seinem Alter von zweiunddreißig Jahren viel muß erfahren haben. Seine Züge sind durch Leiden verwischt; wenn er lächelt, so rührt er, und wenn er blickt, so sucht er. In Handlungsgeschäften hat er sehr viel Kenntnisse, was den Geist und den ganzen Umfang betrifft; doch muß er oft bei Kleinigkeiten sich sehr anstrengen und besinnen, um das Resultat zu finden. Er ist überhaupt eine von den zarten großen Seelen, die sehr viel verzeihen, und doch von sehr wenigen gekränkt werden können. Ich hätte ihn gern näher kennen gelernt, wenn es nicht schwer wäre, ihm in kurzer Zeit näherzukommen, weil seine Oberfläche, mit der man sich zuerst berühren muß, um sie [50] ans Herz zu drücken, zerrüttet ist. Es ist mir, als habe ihm das Schicksal die Hand gelähmt und so den Freundschaftsdruck ermordet. Er muß den Menschen, den er lieben soll, gleich umarmen können, sonst kommt er ihm nimmer nahe. Dein Vater ist innig mit ihm verbunden, denn er ist oft allein mit ihm in seinem Kabinette, in das noch keiner außer ihm gekommen ist, und dennoch zeigt er auch im Umgange mit deinem Vater, daß er nur noch die Tiefe des Lebens besitzt und das Nächste verlor. Er geht mit ihm um wie ein schüchterner Anbeter mit einem coquetten Weibe, wie der bigotte Katholik mit seiner Religion, er ist der unermüdliche, stumme, ängstliche Befolger aller Winke, die dein Vater giebt, oder die er sich von deinem Vater einbildet. Wenn er ruhig vor sich hinsieht, und ich wollte dir ihn schildern, so müßte ich dich auf die Anlage des Kolorits eines Bildes des tiefsten Schmerzes, den das Bewußtsein verläßt und die Ahndung des Wahnsinns bewohnt, verweisen.

Froh, deinen Vater in den Armen eines Freundes zurückzulassen, der ihn sehr beschäftigt, weil er bedarf, stieg ich in unsern freundlichen englischen Wagen, und dein Vater war so ungewöhnlich munter, daß er mir zurief: »Nehmen Sie sich in acht, mein lieber Römer! Sie sitzen mitten in der Caprise einer Huldin meiner Vorzeit, einer Furie meiner Gegenwart.« Ich grüßte ihn, fand ihn sonderbar und rollte in der Caprise recht bequem weiter. Pläne, dein Bild und das Bild einer Caprise meines zukünftgen Weibchens setzten sich zu meiner Seite und wurden meine unterhaltenden Gesellschafter. Die Epochen meiner Reise mit offnen Augen waren mein Wohlbehagen, als ich durch die reizenden Fassaden von D. fuhr, hinter denen schlechte Häuser stecken. Chodowiekis und Jurys Titelkupfer zu den Romanen des Feldpredigers, den spasmodischen Produkten des, Gott sei Dank! im Herrn selig entschlafenen Vaters der zwölf schlafenden Jungfrauen, fielen mir dabei ein; – weiter meine Langeweile bei der schlechten Geburtshülfe, die in H. den Musen geleistet wird, denn ihre Söhne sehn an diesem Orte fürchterlich aus; weiter die unermüdliche Polizei in –, die den Baum vor dem Walde nicht sieht, das heißt: den Sparren im Kopf, den Balken im Auge, vor dem Splitterwalde in den Augen der andern, und gern jeden zum Spitzbuben machte, um allen [51] ihren Häschern und Polizeiknechten Beschäftigung zu geben. Durch diese Stadt geht der Transito der gesunden Vernunft, von wackern Marktknechten zu Ballen geschnürt und den Beschauern der Landesaccise durchwühlt.

Ich konnte nirgends unterkommen als im Goldnen X. Nicht einmal eine Stube für mich allein konnte ich haben, und mußte, da ich zu Bette ging, das Gespräch zweier mit mir einquartierten Studenten hören. Der eine von H. kam sehr zerstört und traurig nach Hause, und schrieb seinen Kummer in das Freudendebet eines unglücklichen Frauenzimmers, deren Bilanz er heute gezogen und ein großes Deficit gefunden habe. Der andere, ein ziemlich trockner Geselle von J., wollte den Kummer gar in keine Rechnung gebracht wissen, und ärgerte den ersten durch seinen Trost, F. behaupte, alles läge im Capital-Conto des Ichs, fast bis zu Tränen. Ich reiste vor Tages-Anbruch ab, und konnte dennoch den hebräischen Morgengebeten der polnischen Juden nicht entgehen, sie verdarben mir den Gesang der Nachtigalllieder, die mir durch die Stadt nachhallten. Weiter schlief ich bis nach B., wo – nun, du kennst den Wert des Ortes schon – nach einem zweideutigen Aufenthalt der geträumte Teil meiner Reise anfing. Ich rollte durch die schönen breiten Straßen, ein kalter, toter Wind strich mir um jede Ecke entgegen, alles, was ich sah, waren Leute, die durch Gehorsam grade, und Leute, die durch Stolz krumm gehen gelernt hatten, Soldaten und Höflinge. Einige Flüche und das Schallen der Stockschläge der Kinder des Landes, die die Kreide aus ihren Hosen, den einzigen Überfluß in ihrer Existenz, zur Parade ihrer Arbeit und die Gastfreunde aus ihren Bettdecken, die ebenso sehr zu den zehrenden Capitalien als der fürstliche Stall gehören, zur Parade ihrer Ruhe ausklopften, unterbrachen mich in meiner Angst, die mich jeden Augenblick vor dem Zauberpalast deiner Calypso vorbeiführte. Jeder zierliche Nachttopf vor einem großen breiten Fenster machte mich vor ihrer Schlafstube zittern, jeder rotseidne Vorhang schien mir das erste Prinzip der Morgenröte ihres heutigen Tages, jedes Kammerzöfchen, das mit weißem Arme ein silbernes Waschbecken vom Fenster herausgoß, schien mir ihren Schlaf und ihre süßen Träume von dir zu vergießen. Ich stieg in einem Wirtshause ab, das am militairischen Übungsplatze[52] liegt, und sah, wie sich einige Landes-Junker ihres Lebens freuten, da sie ein Landeskind mit Spitzruten überzeugen konnten, daß es ihm ein leichtes sei, das verbotne Volkslied »Freut euch des Lebens« ebenso wenig zu singen und zu denken als sein Herz Anteil an dem Sinne des »Herr Gott, dich loben wir« bei der Geburt eines neuen Rutenpflanzers nehmen zu lassen.

Morgen werden alle Wasser in dem Lustgarten seiner Durchlaucht springen, weil sich ein neuer Segensstrom in der Geburt des zukünftigen Volksvaters über das Land ergossen hat, das Wasser in seinem Kopfe und die Tränen seiner Untertanen abgerechnet, welche sich in ihrer wechselseitigen Austrocknung wie die Pontinischen Sümpfe zum Schweiße der römischen Päbste verhalten. Doch sein Kopf und seine Untertanen gehören nicht zu jenen Fontainen 1, die wie eine gewisse Fontaine Wasser und immer Wasser in tausend lang- und kurzwährenden und –weiligen Strahlen zur Freude großer Damen und ihrer Kinderstuben und einer Menge litterarischen Pöbels und seiner Spinnstuben ausspeiet. Sie haben ihre Stelle im Jammertal.

Den 22ten. Ich sitze mitten in einer wollenen Schäferei, die gewirkten Tapeten meiner Stube sind voll von Schafen und Schäferinnen, aus den Zeiten der arkadischen Schafzucht unsers Geschmacks, aus den Zeiten Geßners. Hinter meinem Bette ist eine hingewebt, die immer recht mit mir harmoniert, wenn ich einschlummernd das Ritardando, Decrescendo und Diminuendo meines heutigen Lebens ertönen lasse. Ihre lange langweilige Taille verträgt sich gar nicht mit unserm jetzigen kurzgebundnen Geschmack – la pointe de sa taille est encore au bas ventre et celle d'à présent se finit au cœur. – Da ich, wie du weißt, gewohnt bin, seit mehrern Jahren vor dem Schlafengehen Geßners Idyllen zu lesen, so sind mir diese Surrogate sehr willkommen, weil ich, obschon ich sehr aufpag. 5 der kleinen Taschenausgabe gespannt bin, sie vergessen habe, mitzunehmen. Doch so wie die Kriegskunst von jeher ein Feind und Zerstörer der hirtlichen Ruhe war, so verhindert seit zwei Abenden auch die lärmende Taille eines in der angrenzenden Stube an dem Pharotische eines Bürgers aus F., der seine Bierbank; zu einer Goldbank [53] exaltiert hat, spielenden Kriegers, den Einfluß der langen Taille der Schäferin. Dieser Krieger gäbe sein Herz gern zum Karten-Sinnbild hin, hätte seine ganze Kompagnie je an einem andern Flecke Herz gehabt als unter dem Ellnbogen, das heißt herzförmige Tuchflecken, damit sie ihre Montur und die Ellnbogen derselben drei Jahre lang durchbringen könne, denn diese Pursche sind alle wie Simson und haben die Eselskinnbacke stets in den Händen.

Es ist Zeit, daß ich in die Caprise steige und mich nach dem Lustschlosse fahren lasse, wohin heut alles lustwandelt, und ich mir die Leute ansehen will. Ich bin bei meiner jetzigen Freiheit ein ganz anderer Mensch geworden, und freue mich über die neuen Seiten, die ich an mir entdecke. Ich glaube fast, könnte ich mich nur so wenig über meine Sphäre erheben, daß ich die dummen Streiche von Individuen alle bemerkte, ich wäre fähig, einen satyrischen Almanach wie F. zu schreiben.

Hat der, welcher, in einförmigen Arbeiten eingeschlossen, aus langer Weile gerne moralisiert und guten Freunden gern mit gutem Rate an die Hand geht, wohl Anlage, in der Freiheit hie und da Bemerkungen zu machen, die unter die launigen und satyrischen gehören? Können die Umstände aus dem Kothurn eines vortrefflichen Iflandischen Hofrats wohl den Stiefel eines bissigen Katers erschaffen – mir geht es fast so, ich habe mir durch den einförmigen Gang meiner Geschäfte einen einförmigen, systematischen Gang meiner Ideen und Grundsätze erschaffen, die mich selbst am Ende mehr langweilten als Hermann Lange, wenn der seltene Zufall mir schneller die Bilder vor den Augen vorüberjagte, weil ich viel gesehen und so wenig bemerkt hatte, als Nikolai in seiner zwölfbändigen Reisebeschreibung; wenn man umgekehrt geärgert wird, so hat man wenig gesehen und so viel bemerkt, wie der Verfasser des Romans Godwi, und da kommen nun deine Briefe hinterdrein und sprechen von Kaufleuten und praktischen Menschen etc. – Doch die Caprise will fort, sie gefällt allen Leuten wohl, sie ist gewaschen und geputzt, und erregt allgemeinen Neid. Bis aufs Wiedersehn. Es geht mir bei dieser Fahrt wie einem Menschen, der immer witzelt, und deswegen manchmal treffen muß. Er ist zu Menschen von Stande zu Tische gebeten, und will nun [54] recht witzig sein, weiß aber noch gar nicht, ob er bemerkt werden wird, und es bangt ihm vor dem Ausfalle der Schlacht, da noch alles im tiefen Frieden liegt. Da bin ich wieder, und wie blaß, zerstört, ängstlich. Haben deine Bemerkungen nicht getroffen, armer Römer? O! ich wollte gern nicht bemerken, wenn die verdammte Caprise nicht wäre bemerkt worden. Ich kann dir nicht sagen, Karl, wie mir zu Mute ist, verliebt bin ich wahrlich nicht, hundert Menschen habe ich umgerennt, hundert Flegels habe ich erhalten, Xenien habe ich gemacht, Straßen bin ich durchlaufen, wer weiß, wie viele stille Liebende gestört, wie viele argwöhnische Alte erweckt, wie vielen Podagristen auf die Zehen getreten, und wie vielen Laufern zwischen die Beine gekommen. Da ich, um nach Hause zu kommen, über die Fulda setzen mußte, bekam ich fast Händel mit dem Schiffer, dem Übersetzer der kleinen italienischen Gondel, der gerade auch ein paar Damen mit schwarz und weißen Federn übersetzte. Merkur soll diesen Charon etwas verdorben haben.

Gott sei Dank, daß alles dies vorbei ist, ich habe dies alles von B. bis nach F. ausgeschlafen; aber doch ist es mir sonderbarer und wilder dabei zu Mute, als es dir sein mochte, als du mir deine sanftern Abenteuer an eben diesem Orte erzähltest. Ich saß also in der Caprise, und fuhr durch die Leute durch, die alle geputzt nach W. fuhren, ritten und gingen. Man zog vor meinem Wagen alle Augenblicke den Hut ab, und ich mußte diesem Gruß unaufhörlich antworten; man ist nun einmal hier gewöhnt, sich vor Caprisen zu beugen. Die Leute, die um meinen Wagen herum spazierten, hatten alle ihre fette Seite zu Tage gelegt, und suchten sich gegenseitig in der Beurteilung ihrer Glücksumstände zu übertölpeln. So sind nun die Menschen, statt ihre Tage der Ruhe und Erholung, wie Beckers Erholungen, zur Mitteilung ihrer Armut und langen Weile anzuwenden, so wenden sie sie an, um zu heucheln, und erliegen der Arbeit an ihrer Ruhe. Wie wenig brauchen doch diese Menschen, um glücklich zu scheinen, und der Schein in fremden Augen ist ihnen alles, weil sie zu ermüdet und zu geistlos sind, sich selbst zu genießen; sie kennen nur den Genuß im Neide des Nachbars, umgekehrt wie ermüdende und geistlose deutsche Produkte allein im Lobe des Nachbars leben. – Sonderbar, daß die Engländer [55] uns die guten Arbeiten ihrer Hände so teuer bezahlen lassen und die schlechten Arbeiten unserer Geister so teuer bezahlen – Wer ist der angeführte Teil?

Der ganze Schwarm mit seiner Stimmung war mir unerklärbar; so ist der Pöbel über die Krone auf dem Haupte und die Krone auf dem Castrum doloris gleich verwundert; so ißt man Brezeln beim Leichen-und beim Hochzeitsschmaus; so lacht und tanzt der Dummkopf mit dem lustigen Bruder und dem Patienten an der Chorea sancti Viti; so geht der Marseillaner Marsch vor den Scharen der bekannten Halsabschneider her, und ist in Deutschen gesellschaftlichen Zirkeln ein sehr beliebtes Gesellschaftslied. – Ich sitze in der Caprise, und kann nicht mitlächeln mit dem Lächeln des Schlafenden, dem ein Vampir Kühlung und Ruhe zufächelt, während er ihm das Blut aussaugt. Viel hübsche Gesichter hab ich gesehen, aber fast alle gehaltlos, am gehaltlosesten waren immer die, die im fürstlichen Gehalt standen, und am ausgezeichnetsten und schärfsten waren die gezeichnet, die pfennigweise ihren Unterhalt bettelten, und sie hatten doch ein Eigentum, das ihnen der Staat nicht nehmen konnte oder wollte, ihre Armut. Überhaupt ist jeder Sonntag und jeder Tag der Freude eine wahre Seelen-Masquerade; mit dem Sonntagsrocke zieht der Bürger auch seinen Sonntags-Charakter an, und nur der Arme wird nicht oder wenig verändert, weil er entweder kein Sonntagswams oder ein zerrissenes hat, so daß sein Werkeltags-Charakter entweder ganz erscheint oder durchsieht. Ich glaube, daß der Fürst daher ebenso wenig vom Glück des Volks aus seinem Jubeln auf Tanzböden und eine vernünftige Hostie, die im Hochamt emporgehalten wird, ebenso wenig von der Andacht der Christen überzeugt werden kann, als das Volk von der Huld und Güte seines Fürsten aus seinem Grüßen im Schauspiel-Haus, und seinem huldreichen Lächeln bei der offnen Tafel, und die betende Kirche von der Höhe und Heiligkeit ihres Gottes aus der Länge und Kürze der Arme des emporhebenden Priesters. Auf den Tanzböden wird durch Gläsergeklirre und Geigengequieke der Verdruß, der sich nur in der Ruhe über den Niveau unsers Inhalts verbreitet, niedergeschlagen, so wie in der Kirche die reine Tätigkeit, die nur in der Ruhe aus unsrer Tiefe emporwallet, [56] exaltiert wird, so wie der Fürst, wie der Götzendienst nie bei einer öffentlichen Ausstellung beurteilt werden können, wo alle Sedative der Sklaven- und Herrscherkunst in voller Arbeit sind.

Ich war angekommen und lief durch die Menge durch, und es ward mir nicht schwer, mich allein zu denken; denn wir sind nie mehr allein als bei einer Menge von Umständen, die ganz und gar verschieden von uns sind. In den Eindrücken der Anlagen liegt Pracht, Reiz, Rührung und Beruhigung abwechselnd, und der Fehler nach meiner Meinung liegt in der zu großen Ähnlichkeit dieser Eindrücke mit dem Augenblicke und seinen Freuden, die nur einen Augenblick brauchen, es nicht mehr zu sein. Jedes Einzelne ist nur Einzelnes, indem es das vergangene Einzelne verschluckt. Man kann hier nichts als dem Tode der Vergangenheit nachweinen, durch die Geburt der Gegenwart überrascht werden, und kommt man zu sich selbst, so ist ihr Leben höchstens noch das Nachundnach des Verschwindens. So ist auch hier durch die Zusammenstellung aller dieser Verschiedenheiten keine Gegenwart, man sieht nicht, man sieht nur nach und entgegen. Den schweigenden Geist der Musik, den mir ein marmorner Faun, der in der größten Vollkommenheit auf einem hohen Felsen zwischen Gebüschen ausgehauen ist, zu ahnden giebt, zerstört der Körper der Musik, der mir aus den Glöckchen am chinesischen Hause sinnlich entgegengaukelt. Der Reiz einer mediceischen Venus, dessen Zauberlicht durch die Schatten kosender Zweige hervorbricht erfüllt mich mit den Schauern der Kunst und der Natur. Die Lüge der Kunst ist so unausstehlich wahrscheinlich, daß die reizendste, seltenste Möglichkeit durch die Verführung der Unmöglichkeit mich in Begierden durchzittert; ich möchte mich in diese steinerne Flut stürzen, daß die Wogen des Genusses über mir zusammenschlügen, und kann doch nichts fühlen, nichts sehen als den Satyr meiner getäuschten Sinnlichkeit, der allmächtig meine Vernunft wie eine weinende zarte Nymphe davonschleppt. Lüstern folgen meine Blicke meiner Begierde, die trunken über die Wellenlinie der Grazie hintaumelt und an der gefährlichsten Stelle hinter dem Aste einer Zypresse entweicht: so hängt die Angst der Nachwehen um die Schläfe des[57] Genusses – O warum muß der Trank der Freude ein heller Trank sein, daß man bei dem kleinen Maße, das uns gereicht ist, immer den Boden sieht? Sollte man nicht, wie Diogenes, den Becher wegwerfen, und lieber aus seiner Hand trinken, die selbst vom Rausche zittert; nicht lieber den Rausch aus dem Becher trinken, der selbst berauscht ist, da wir nicht schwimmen können, um uns in der allgemeinen Masse zu erfreuen, deren Tiefe uns keinen Boden sehn läßt? Weg mit dir, Freudenstörer! schrie ich den Zypressenast an, und dies ist wahrlich das Zweckmäßigste, was ich in meinem Leben gesagt habe, sowie das Zweckmäßigste, wo nicht das Mäßigste, was ich in meinem Leben gelesen habe, die Worte sind: Weg mit dem dummen Halstuch, was soll das dumme Halstuch! Weg mit dir, Freudenstörer! Wer über dem Zählen der Falten auf der Stirne der Zukunft die Küsse der Gegenwart unzählig zu machen vergißt, der wird alt und blind, ehe er die Fülle seiner Jugend erblickte. Wer nicht nehmen will, weil er befürchtet, eine Lücke zu machen, der wird auch nie hingeben, um eine Wunde auszufüllen. Wohl dem, der in dem Leben durch seinen Genuß eine so tiefe Spur zurückläßt, als die Lücke ist, die er im Grabe ausfüllen muß. Der Zweig ist weg, eine Hütte steht vor mir, ich schreite träumend zu, trete hinein, und stehe unter einem halben Dutzend alter Männer, die sich sehr ernsthaft ansehen; ich entschuldige mich, ziehe den Hut ab, sie sperren die Mäuler auf und sprechen nicht – Husch, fliegt dem einen ein Vogel aus dem Munde; ich schaue auf und finde mich unter einem halben Dutzend hölzerner Philosophen der Vorzeit, die zur Dauer mit Ölfarbe angestrichen sind. Platon, der den Männern mit Baßstimmen die Gefühle der lebendigen Orgelpfeifen in Rom unterschieben wollte, hatte sich ein Sperling mit allen Freuden seines Ehebetts in den offnen Mund einquartiert. Nie habe ich einen stummern Lehrer gesehen, nie ist einem Lehrer Stoff der Selbstverleugnung und die Wahrheit so in den Mund gelegt worden. Meine verfolgte Begierde war mit dem Sperling davongeflogen, und ich nahm mir vor, mich hier keiner Laune mehr zu überlassen, weil das Ganze für Menschen erschaffen ist, die weder froh noch traurig, sondern amüsiert und zerstreut werden sollen. Ich setzte mich auf eine Bank an einer Einsiedelei, und sah die ungeheure [58] Menge von Menschen um mich her wandeln, die mich in die ödeste Einsamkeit versetzten, weil sie mich alle nichts angingen. Plötzlich geschahen einige Schüsse. »Es lebe der Fürst! es lebe Casimir, der Fürst!« hallte die ganze Wüste wieder, und strömte dem andern Ende des Gartens zu. Es war mir wie einem ehrlichen Muselmann zu Mute, der die Wüste Arabiens hinter sich hat, und der Moschee des großen Propheten schon entgegensieht. Ich ging ruhig den Pfad gegen die Moschee hinauf. Chinesische Brücken trugen mich über tosende Katarakte. Das ewige Stürzen, Wogen und Schäumen flieht und kömmt wie die unendliche Zeit. Ich hänge mitten darin, auf das schwache Geländer der Treppe gestützt, Tropfen spritzen mir in das Gesicht, und erwecken mich aus meinem dumpfen Dahinbrüten, ach! nur so wenige Tropfen, nur Tropfen mir! – Ich weiß nicht, was ich gefühlt habe, bis (mich) eine Gestalt, die durch die Säulengänge der prächtigen Moschee, wie die süße Trunkenheit der Andacht und der allmächtige Zauber des Traums einer Religion, hinwallte, mich durch ihre fast handgreifliche Wahrscheinlichkeit aus meinen sonderbaren Reflexionen über die schreckliche Zeit erweckte. Ich war bis unter die langen Arkaden gekommen, da ein leiser Fußtritt an dem gegenüberstehenden Gange neben mir vorüberhallte. Nie habe ich so viel Stolz aus Selbstgefühl, so viel Demut aus Mitgefühl in der gebildetsten Hoheit eines weiblichen Umrisses, in der heiligsten Tiefe einer weiblichen Fülle vereint gesehen. Die Moschee, der Turban der Dame, ihr Schleier versetzten mich in die Feerei des Auslands, schüchtern eilte ich ihr durch alle die zierlichen Irrgänge nach, oft sah ich eine reizende Falte ihres wallenden Gewandes um eine Säule herumschweben. Mitleidig bedauerte ich jede Falte ihres Gewandes, die an den Säulen des Tempels der Religion anstreifte, um einer Schwester Platz zu machen, die nun innig die Säulen des Tempels der Liebe umschloß. Ich scheute mich, meine Schritte zu verdoppeln, und sie schien mich zu vermeiden. Ich ging einen entgegengesetzten Weg, trat in die Moschee, und die Gottheit stand mitten in dem erhabenen einfachen Betehaus. Nie war ich verwirrter, ich habe nie mitten im Gebet eine Gottheit vor mir niederschweben sehen. Eine junge Nonne, deren heilige Jungfräulichkeit sich mit ihrer menschlichen Jungfräulichkeit verwirrt [59] hat, die die Pfeile im Busen des heiligen Sebastians nicht mehr von denen der Liebe trennen kann, kann nicht verlegner sein – ich dachte an dich und wünschte mir deine Kühnheit; hätte ich diese nicht entbehrt, so würde ich gar nicht an dich gedacht haben.

Ich grüßte das Weib aus sittlicher Lüge, und sah sie nicht an aus dem menschlichen Gefühl des Wagstücks der innigsten natürlichsten Vertraulichkeit mit ihr. Ich glühte und war frei, hingestoßen, mich in ihre Arme zu werfen; ich zitterte und war gefesselt, mit Gewalt zurückgehalten, an ihren Hals zu fallen. Wir drehten uns den Rücken. Ich sah an die Decke des Gewölbes, weil ich gen Himmel blickte, und las unter vielen Sprüchen, die mit goldnen Buchstaben an die Wände geschrieben waren: Hier sei keine Furcht als die Furcht des Herrn. Dies erfüllte mich mit einem unerwarteten Mut, ich drehte mich um, um die Dame an zureden, aber sie kam mir zuvor und bat mich mit vieler Anmut um mein Augenglas, um eine weiter entfernte Sentenz zu lesen. Ich gab es ihr zitternd, indem ich die äußerst gemeine Bemerkung machte: »So schöne Augen, und ein Augenglas!« Sie sah mich lächelnd an und sprach mit einer wehmütigen Stimme: »Die Tränen.« Ich schämte mich und hörte sie die Worte laut lesen: »Lege hier nicht dein Leiden, lege dein Handeln in die Waagschale«. Hier gab sie mir das Augenglas zurück, sah tiefgerührt zur Erde, und schien ganz von dem hohen Sinn der Wahrheit getroffen zu sein. Die Hände nachlässig zur Erde herabsenkend sah sie nieder, als suche sie ihre Handlungen und fände verlorne Freuden. Ach! ich wäre gern vor ihr niedergesunken, hätte ich nur die mindeste Hoffnung gehabt, zu ihren verlornen Freuden zu gehören. Ich seufzte etwas laut, das hohle Gewölbe ertönte und weckte sie auf. »Sie scheinen ein Fremder zu sein, mein Herr!« redete mich die Dame an. Ich bejahte die Frage. »Nun so können wir«, fuhr sie fort, »miteinander nach der Stelle gehen, wo die Wagen die Spaziergänger erwarten, ohne daß der eine in Gefahr ist, morgen zu hören, was der andere Böses von ihm gesprochen hat.« Ich konnte sie nicht begreifen und ihr nicht antworten; ich bot ihr meinen Arm, und wir verließen die Moschee schweigend. Ich wagte es, sie zu fragen, wie sie zu so einsamen Spaziergängen verführt[60] würde; auch hierauf erhielt ich eine eigne sonderbare Antwort. »Ich habe diese Frage schon so oft beantworten müssen,« erwiderte sie lächelnd, »daß es mir schwer wird, zu antworten, ohne mir den Vorwurf machen zu müssen, ich hätte die Antwort auswendig gelernt. Doch ich will es versuchen, mich mit der Vielseitigkeit meiner Sprachgewalt selbst zu übertreffen: es ist, weil ich nichts an der Welt zu fodern und ihr nichts zu geben habe. Man hat mir so viel genommen, daß man bei der Harmonie meines Daseins das zerstümmelt hat, was mir noch zugehört; mehr kann ich nicht sagen, und Sie werden so gütig sein, Ihre Neugierde zu unterdrücken und mir die Freude zu lassen, Ihre Frage befriedigend beantwortet und dennoch mich Ihnen nicht anvertraut zu haben.« »Madam!« erwiderte ich, »ein Mann, der an Ihrer Seite geht, müßte der undankbarste Mensch sein, wenn er noch einen andern Wunsch in seinem Busen hegen könnte als den, zu wissen, ob er Ihnen nicht mißfällt.« »Lassen Sie das, mein Herr!« erwiderte sie, »das sind Zierereien, die Sie nicht hierherbringen müssen, wohin ich den Zierereien des bürgerlichen Lebens entfloh. Wundern Sie sich nicht über alles, was ich von Ihnen fodern will; wenn Sie können, so freuen Sie sich darüber. Wir werden uns wohl nicht mehr sehen; lassen Sie uns das Stückchen Weg, das wir miteinander zu gehen haben, einstens zu den wenigen Minuten zählen können, die wir Menschen waren. Wie heißt du?« – »Karl; und du?« – »Molly.« Unsere Arme verschlangen sich. »Wo bist du her?« – »Aus B.« – »Aus B.«, sagte sie mit gedämpfter Stimme und ließ ihren Arm aus dem meinigen sinken. Der Ton ihres letzten Worts und das ganze sonderbare, allein dastehende Impromptu in meinem Leben benahm mir den Mut, weiterzusprechen. Schweigend, wie auf den Wink eines Geistes, der mich Schätze zu heben führt, ging ich mit ihr. Der Mond hatte sein Licht über die Gegend gegossen. Ich glaubte den Schritten Glyzerens auf den Pfaden des Lohns ins Elysium zu folgen. Fern hörte ich das Geräusch des Volks vor den Toren der Unterwelt. Bald huschte wie ein Geist der Schatten eines wankenden Wipfels durch die milde Verklärung der Gestalten, bald sahen kalt und weiß Marmorbilder durch den regellosen zitternden Umriß der Bäume, kleine Vögel schwirrten wie der Flügelschlag meines[61] ahndenen Genius um mich her. Anspruchslos wankte die kleine Gondel im Spiegel des Teichs, und das Glöckchen der Eremitage ertönte wehmütig in dem Wehen des Abendwindes, als wolle es meiner scheidenden Freiheit Lebewohl sagen. Neben mir schwebte stumm die Zauberin mit leisen Tritten, ihre Locken wallten glänzend und zügellos durch die himmlischen Lichter. Hieroglyphisch sprachen flatternd die Wellen ihres Graziengewandes zu meiner Seele, sie schwebte in den Schatten und Lichtern der Mondnacht, als habe jemand die Allmacht der Liebe unter die Sternbilder versetzt – und ich, ich war im Zustand eines hungrigen Dichters, der der Phantasie eines Genies nachläuft.

Die Abendlieder der Nachtigall verhallten mehr und mehr unter dem sich nähernden Geräusch der Menschen, und das freundliche Mondlicht ermattete bei dem Glanze des erleuchteten Schlosses und der mit Fackeln um die Wagen herlaufenden Bedienten; das Rufen der Kutscher, das Rollen der Wagen, das Pfeifen und Singen und Plappern der Menge weckte mich unsanft aus meinem Himmel. Umgekehrt, wie ich oft nach dem Geräusche eines Balls in meiner einsamen Stube weinte, ergriff mich hier ein Unmut, dessen ich mich jetzt freilich schäme. Alle die Leute, die fröhlich und munter durcheinanderströmten, hielt ich für gefühllose und tierische Menschen, und ich wäre gewiß aus mitleidiger Neugierde keine Salzsäule geworden, wenn Sodoms Feuerregen über sie herabgefallen wäre. Die Dame wurde von einem jungen Sansfaçon empfangen, der sie nach ihrem Wagen bringen wollte. Sie drückte mir die Hand und bat mich, wenn ich noch einige Tage in B. bliebe, sie doch zu besuchen. Ich beteuerte es, und stieg in meinen Wagen. Er war durch die herumgezogenen Vorhänge verdunkelt, ich setzte mich in die Ecke und fühlte nichts als den Händedruck der Dame; sehr beschäftigt, auch die kleinste ihrer Handlungen zu meinem Vorteil auszulegen, kam ich mehr tot als lebend in die Nähe von B. Das Trommeln in der Stadt erweckte mich, und eine Stimme erschallte in meinem Wagen: »Madam, lassen Sie mich doch bei meiner Mutter aussteigen.« Ich wurde wie vom Donner gerührt. »Wer sind Sie? Herr Jesus! ein Mann! ein Mann!« schrie die andere Stimme; »Kutscher, halt!« Die [62] Kutsche hielt, und die Sache kam zur Auflösung. Vor allen bat ich Mademoisell zu schweigen, damit der Lärm nicht eine Menge Menschen herbeilockte, und mir dann zu sagen, wie ich zu der sonderbaren Ehre ihrer Gesellschaft käme. Aber sie fing nur desto stärker an zu lärmen: »Was? wie ich hierherkomme? Wie kömmt Er hierher? Wo ist die Lady, wo ist sie? Dieb! Räuber!« – »So schweigen Sie doch!« sagte ich, »ich kenne keine Lady, und wie ich in meinen Wagen komme, brauche ich keinem Menschen zu sagen.« – »Aber, mein Herr, das ist ja Ihr Wagen nicht,« erwiderte sie, als sie bei dem Anblick meiner Person, beim Schein einer vorübergetragenen Fackel, etwas höflicher wurde; »es ist der Wagen der Lady Hodefield, die so gut war, mich in die Stadt mitnehmen zu wollen.« – »Meinen eignen Wagen muß ich besser kennen, als Sie der Lady ihren. Lärmen Sie nur nicht so, ich will Sie ebenso gern nach Hause bringen als die Lady. Es kann ja wohl sein, daß unsere Wagen einander sehr ähnlich sehen; damit Sie sich überzeugen, so lassen Sie uns den Kutscher fragen.« Der Kutscher war eben derselbe, der mich herausgebracht hatte, und bestätigte meine Behauptung. Meine Gesellschafterin aber war nicht zu beruhigen und stieg aus, weil sie mir nicht zu trauen schien. Sie weinte. Das arme Mädchen dauerte mich recht herzlich, ich bot ihr an, sie zu Fuße zu begleiten; sie sagte: »Nein, mein Herr! gute Nacht,« und weinte immer dabei, »das geht auch nicht, denn ich bin mehr, als Sie von mir zu denken scheinen, ich bin ein ehrliches Mädchen«, und verlor sich unter der Menge. Ich mochte nicht mehr einsteigen, und da wir nicht mehr weit von einem Gasthofe in der Vorstadt waren, hielt ich still, um ein kleines Abendbrot zu mir zu nehmen. Ich ließ meinen Wagen beleuchten, um mich völlig zu überzeugen, daß ich meinem Gaste nicht unrecht getan. Aber Himmel, das ist ja die Caprise nicht, auf der Tür steht ja kein M.H., sonst ganz dieselbe Gestalt. Der Wirt sagte mir, dies sei der Wagen der Lady Hodefield, die gleich hier in der Gegend ein Gartenhaus bewohne. Ich entschloß mich also, zu Fuße nach Hause zu gehen, und befahl dem Kutscher, nach dem Gartenhause hinzufahren und meinen Wagen wieder zurückzubringen.

Verdrüßlich, den Tag, an dem ich so transparent war, an [63] dem ich zum erstenmal, da ich in meinen Busen schaute, so fremde und warme Bilder sich bewegen sah, auf eine so prosaische Weise zu endigen, entschloß ich mich, in ein Konzert zu gehen, um zu sehen, ob die Harmonie meine süßen Schwärmereien wieder ins Leben rufen könnte. Dies Konzert, mein Lieber! war der Anfang meines Traums und des schlafenden Teils meiner Reise. Es sollte meine durch die Szene in dem Wagen erstarrten Gefühle wieder erwecken, und machte sie so wach, daß ich der Anstrengung unterlag, und nun wirklich geistig matt einschlief.

Ich eröffne die Türe; »st! st! st!« lispelte man mir entgegen; ich schleiche mich durch die Menge durch, allein ich konnte die Sängerin nicht sehen, die den Saal und die schlechte Begleitung der Instrumente mit dem Himmel ihrer Stimme durchgoß. Ich steckte mich in eine Ecke und tröstete mich mit dem Unglück der katholischen Kinder, die vor der Taufe sterben und die Last der Erbsünde noch nicht abgewaschen haben; sie müssen daher linkerhand neben der Vorhölle eine kleine Kinderstube beziehen, wo sie die Freuden der getauften Kinder zwar hören, aber nicht mit ansehen und genießen können. Ich hatte so ziemlich meinen Endzweck erreicht, meine Gefühle kamen wieder, so zart als sie uns an der Hand der Erinnerung zugeführt werden; sie haben dann das Überraschende, das Ungestüme nicht, das uns immer ihre ersten Küsse raubt, man kämpft nicht mit ihnen, sie kommen uns sanft und schüchtern entgegen, wie die Umarmungen eines züchtigen Mädchens, die uns die bürgerliche Ehe ihren von den Sitten aufgedrungenen Zierereien entrissen hat.

Die volle gediegene Stimme des Weibes entlief durch unendliche Wendungen meinem geizenden Ohre, wie meinem suchenden Blicke die hohe Gestalt der Türkin durch die Irrgänge der Moschee, dann tönte plötzlich ihre Stimme ernst und doch voll liebender Wärme durch den Saal; alles schwieg; auf der heitern Stirne manchen Greises las ich die Weisheit und in manchem nassen Blicke eines sanften Mädchens die warme tröstende Wahrheit der Sprüche im Tempel. Die Göttin stand in ihrem Werke, in ihrem Lied noch einmal vor mir. Hagestolze und Witzlinge fühlten ein Herz und konnten es nicht [64] finden, hier fand ich beschämt mich wieder. Mein Augenglas ist hundertfach in den Händen der umhergaffenden Stutzer, sie drehen es verwirrt zwischen den Fingern und flüstern mit halboffnem Munde: »Quelle volubilité de gosier!« und ich machte in der Moschee die schlechte Bemerkung: »So schöne Augen, und ein Augenglas!«

Ihre Stimme eilte noch einige Minuten mit leichtem Wechsel durch wehmütig belebte und sanft ersterbende Akkorde, und verschwand dann in dem allgemeinen Einstürmen einer unerträglichen Menge Instrumente; ich hörte noch einmal das Kutschengerassel, eine leichtfertige Pleyelsche Sinfonie beschloß das Konzert, ich sah in ihr den jungen Sansfaçon noch einmal, wir wurden noch einmal geschieden.

Meine Erwartung, die Sängerin zu sehen, war äußerst gespannt, ich dachte mir eine Gestalt wie die Türkin, als ich plötzlich den nämlichen Windbeutel neben mich hintreten sah, der die Dame in W. in den Wagen gehoben hatte. Ich hätte ihn gerne gefragt, wer die Sängerin sei, wenn ich diese Klasse Menschen nicht ebenso sehr haßte, als ich erschrecke, wenn ich eine Grazie schnell und viel essen, sich jucken oder kratzen sehe. »Madame vient«, flüsterte ihm ein anderer seinesgleichen zu, und er empfing ein Weib aus der Menge, die keine andere als meine Türkin war. Sie sah blaß und zerstört aus, und da sie an mir vorbeiging, durchfuhr sie wie ein Blitz jenes Nichtbemerken, das bei Weibern in Augenblicken, wenn sie sich ganz mit sich selbst schon beschäftigen und dieses Zurücktreten in sich selbst dennoch sehr merklich wird, ebenso sehr der Beweis des schärfsten Bemerkens als eine doppelte Verneinung eine Bejahung wird. Ich beneidete den jungen Herrn, der mit ihr sprach gar nicht, denn er erhielt auf seine Bitte, sie begleiten zu dürfen, die einfachste Verneinung, eine kaltes Nein. Ich konnte nicht mehr bleiben, und das Ausrufungszeichen, das der Stutzer an seinen verzweifelnden Abschied aus der Orthographie seines Tanzmeisters mit seinen Füßen sehr kühn anhängte, konnte mich nicht aufhalten, obschon es sich in meine Schritte, die, so wie die langen Gedankenstriche in den »Ruinen des Schwarzwaldes« den guten Einfällen des Verfassers und seiner Tendenz nachlaufen, die Dame verfolgten, verwickelt hatte. Auf der [65] Treppe erreichte ich sie und ihren Namen. Sie sagte mir ihn freundlich, damit ich sie besuchen könne, und hätte sie mir einen andern als Hodefield genannt, so würde ich ihn gewiß verhört haben, denn ihr Vortrag war so lieblich, daß er auf den Genuß des Inhalts gar nicht gierig machte. »Madam! so sind Sie wohl die Dame, deren Wagen ich aus Versehen genommen habe? Ich muß Sie wegen einer großen Ähnlichkeit um Vergebung bitten.« – »Sie sind aus B., der Wagen, in dem ich fuhr, ist der Ihrige?« fragte sie bestürzt. »Nein, es ist der Wagen des Banquier Godwi, in dessen Geschäfte ich reise.« – Es stieg ihr eine Röte in die Wangen, sie wurde verlegen und drückte mir die Hand. »O daß ich dies gestern nicht wußte!« sagte sie; »Sie können mich nicht sehen, bemühen Sie mich nicht umsonst, und wenn Sie einige Achtung für mich haben, so entfernen Sie sich, und trösten Sie sich mit dem Schwur, daß ich Ihnen ein großes Opfer gebracht habe, ein Opfer, das die Natur nur selten ohne Unnatur bringt.« Sie beschleunigte ihre Schritte, ich stand, auf die Treppe hingebannt, bis mich der Schwall der Menschen heruntertrug. Da ich auf die Straße kam, sah ich ihren Wagen wegrollen, in dem ich kurz vorher noch so ruhig saß und mich erkühnte, ihren Eindruck auf mich aus ihrer Coquetterie herzuleiten. Ich streckte die Arme in die Luft dem Wagen nach; ach! welchem sind alle seine Grundsätze auf vier Rädern so weggerollt. So streckt der Alchymist seine Arme dem Vermögen nach, das ihm durch den Rauchfang entwischt, und dennoch sieht er nach seinem Stein der Weisen zurück, und hofft, aber auch dieser ist zumCaput mortuum geworden. Ich rannte durch die Straßen und glaubte mich in einer Wüste, denn Lady Hodefield schien mir die ganze menschliche Gesellschaft. Ich spazierte durch die große Promenade, störte manche höchste Verindividualisierung, schaute nicht auf bei dem »Aufgeschaut!« der Sänftenträger, um die Unsanftheit ihrer Rippenstöße zu fühlen, die der Etymologie des Namens dieser Affenkasten gar nicht parallel liefen, rannte wie der Jalousieladen, erweckte die Eifersucht, störte manches langerwartete stille Rendezvous in der Abendstunde und kam so nach Haus, wie ich dir geschrieben habe. Ich kann nicht mehr bleiben, die wollenen Szenen aus Geßners Idyllen schienen mir unausstehlich langweilige [66] Tapeten, ich nahm Abschied von ihnen wie der zärtlichste, durch die Langeweile der Liebe unglücklichste Schäfer. Man bringt mir ein Billet, es enthält folgende Zeilen: »Wenn Sie an den jungen Godwi schreiben, so melden Sie ihm folgende Worte: Seine Standhaftigkeit würde bald durch die Erlaubnis, den bewußten Brief zu erbrechen, belohnt werden. Molly.«

Nun – du hast gesiegt, deine Molly und meine Engländerin, sind sie nicht beide, wie Phöbe und Proserpina, Hekate? Hier hast du das Billet, mich brennt es zwischen den Fingern und dir ist es ein Kleinod. Ich stieg in meinen Wagen und war also auch ein Träumer in B. geworden. Verbrenne meinen ersten Brief, ohne den dieser nicht eine Sünde gegen meinen so sehr angepriesenen Charakter wäre. Ich kann die Handlung nicht aufheben, um jene Predigt zu erretten, und könnte ich es, so würde ich es doch nicht tun, denn die Sünde, durch die ich zur Selbsterkenntnis gekommen bin, ist mir lieb.

Dieser ganze Brief besteht aus einzelnen Bruchstücken, die ich nach und während der Geschichte in B. für dich niedergeschrieben habe. Die liebliche Stimme, die mich aus dem Traume weckte, die mich wie ein Sirenengesang aus meinem trüben Leben in mir selbst in das fremde Element des hiesigen leichten Lebens rief, ist die Stimme der geistreichen, witzigen Mademoiselle Budlar. Ich hänge mich an die bunte Reihe ihrer Anbeter, wie oft ein kleines beinernes Totenköpfchen das Ende der Aves und Paternoster im Rosenkranze macht. Ave und Vale.

Werdo Senne an Lady Hodefield

Madam! ich schreibe Ihnen im Namen Eusebios, der krank geworden ist und mit Sehnsucht nach Ihnen verlangt. Er sitzt auf seinem Stühlchen, das er sich aus Weiden selbst geflochten hat, und weint sehr heftig; er bat mich, Ihnen zu schreiben, und an das Ende des Briefs will er einige Zeilen von sich anhängen, die er mir in die Feder sagen will. Jetzt ist er ruhig und denkt nach, was er Ihnen alles zu sagen hat. Ich bin froh, daß dies ein Mittel ist, ihn etwas zu zerstreuen; ich werde es noch oft anwenden, er lernt dadurch seine Gedanken ordnen, und tröstet [67] sich, wenn es anders möglich ist, daß bei der Schnelligkeit des Wechsels in allen seinen Freuden und Beschäftigungen dies ihm lange unterhaltend sein könnte. Ich kann ihm wenig Hülfe geben. Meine Otilie allein hat durch Erzählung von Märchen, die sich in ihrer zarten Phantasie entwickeln, und durch ihre Lieder das Mittel gefunden, seine mit außerordentlicher Wärme auflebende Einbildungskraft zu beschäftigen. Der Arme dauert mich sehr, er scheint ein mächtiger Beweis für die Glut der Empfindung der Unseligen zu werden, die ihr Dasein der Glut der Empfindung ihrer Eltern verdanken.

Überhaupt, Madam! haben Sie mir keinen Dank für die Bildung Ihres Lieblings. Nur meiner Otilie gehört er. Und sollte ich ein Verdienst um ihn haben, so ist es mittelbar, so ist es dadurch, daß Otilie so gut durch mich und die Natur ist. Ich liebe dieses Mädchen unendlich, sie ist eine holde Blume, die sich aus den Trümmern meines Lebens emporwindet. Sie ist eine liebliche Sprache der Versöhnung, die aus meinem Grabe zu den Menschen, die mich erdrückt haben, spricht: Ich verzeihe und liebe euch. O! ich freue mich dieses freundlichen Nachhalls meines Lebens. Ich habe zuviel gelitten, und hänge noch viel zu innig an meinen Tränen, den einzigen, die mir treu blieben, als daß ich mehr als selten zum Bildner taugte. Unter meinen Händen können sich nur in jammervollen Zügen die still und traurig wandelnden Gestalten meines Lebens entfalten. Ich wage nichts mehr. – Einen einzigen Weg habe ich Eusebion geführt, den Weg meines Trostes und meiner Dankbarkeit, den Weg zur Natur und zu Ihnen, edles Weib. Ich habe ihn schweigend beten gelehrt, aber sein Dank ist laut, wie der meinige schweigend, weil für das Gefühl meines Dankes die Worte eines Greises zu leise sind. – Eusebio ist gut und wird tätig werden, ich habe manche Stunde seiner horchenden Seele meine Wahrheiten hingereicht, die nur, welche ihm so nahe lagen, wie die Natur den Greis an das Kind gestellt hat. Einigemal sprang er heftig auf, stürzte in meine Arme und weinte zitternd. Otilie fragte ihn neulich bei einem ähnlichen Falle, was ihn so bewege. Er erwiderte: »Bei euch kann ich nicht bleiben; du Vater bist gut, und du Otilie, ach wie gut bist du! bringst du den Armen das Brot nicht entgegen, und batst du nicht für [68] meinen Freund das Reh, als es der böse Jost totschießen wollte? Euch beiden kann ich nichts helfen, ich will zu den andern armen Menschen, von denen der Vater mir sagt, daß sie nicht gut seien, die will ich lieben, so lieben, so freundlich mit ihnen sprechen, daß sie alle werden müssen, wie ihr seid. Ach! und meine Mutter, meine Mutter, die große freundliche Frau, will ich sehen – wie sie meiner denken wird, und wenn sie mich sieht, dann wird sie erst meiner gedenken.«

Madam, ich hoffe Sie bald zu sehen, denn ich werde nicht lange mehr hier wandeln; was soll ein Toter hier im Leben? Meine Augen können das Licht der Sonne nicht mehr ertragen. Der West erstarret meine Glieder, und das Lied meiner Harfe hallt nicht mehr so laut aus den Gewölben meiner Wohnung, und ich leide zu viel, um Otilien mitleiden zu sehen. Meine Hülle vermag die Glut meines Herzens nicht mehr zu umfassen, ich werde bald ein Aschenhaufen in mich selbst zusammensinken.


Weste säuseln; silbern wallen
Locken um den Scheitel mir.
Meiner Harfe Töne hallen
Sanfter durch die Felsen hier.
Aus der ewgen Ferne winken
Tröstend mir die Sterne zu.
Meine müden Augen sinken
Hin zur Erde, suchen Ruh.
Bald, ach bald wird beßres Leben
Dieses müde Herz erfreun,
Und der Seele banges Streben
Ewig dann gestillet sein.
Schwarzer Grabesschatten dringet
Um den Tränenblick empor,
Aus des Todes Asche ringet
Schönre Hoffnung sich hervor.
Meines Kindes Klage hallet
Durchs Gewölbe dumpf und hohl,
Idolmios Zunge lallet
Jammernd mir das Lebewohl
Zu der lang ersehnten Reise.
Senkt mich in der Toten Reihn.
[69]
Klaget nicht, denn sanft und leise
Wird des Müden Schlummer sein.
Und du Gute nimmst die Beiden
Mütterlich in deinen Arm,
Linderst meiner Tochter Leiden,
Lächelst weg des Knaben Harm.
Aus des Äthers lichter Ferne
Blickt dann Trost der Geist euch zu.
Es umarmen sich zwei Sterne
Und ihr Kuß giebt allen Ruh.
Schwermut glänzt des Mondes Helle
In mein tränenloses Aug,
Schatten schweben durch die Zelle,
Seufzer lispeln, Geisterhauch
Rauschet bang durch meine Saiten,
Horchend heb ich nun die Hand,
Und es pochen, Trost im Leiden,
Totenuhren in der Wand.

Sie werden meine Tochter lieben, und werden bald ein glückliches Weib sein. Es ahndet mir eine große, große Freude. Dürfte ich ihn wählen, den süßen Tropfen, in dessen Rausche ich das große Maß meines Kummers vergessen möchte, so wäre es das Bild der Versöhnung durch Reue und der Erkenntnis gegenseitigen Werts, so wäre es meine Seligkeit, das Kind meiner Marie in einem edlen Manne zu sehen. Der ist kein edler Mensch, der sich nicht freut der Liebe im Arme seines Nebenbuhlers, und der ist ein niedriger Mensch, der sich nicht freut des Werts der Kinder, deren Vater er hätte sein können. Wir beide waren die Betrognen, wir beide werden verzeihen können, und ich werde fröhlich sterben, vor Freude werde ich sterben; der einzige Plan meines Lebens, der mir gelingen sollte, sollte der meines Todes sein. Sonderbar steht dieser ungeheure Gedanke vor mir. Ach! alle meine Tränen sind geweint. Wo soll ich Tränen der Freude hernehmen? Ich werde in die Nacht meines Grabes sinken über dem Tage, der an seinem Rande aufgehen wird.

Sonderbar ist das Gewebe meines Lebens gewesen, ein Geheimnis [70] liegt über ihm, keine Staaten-Verhältnisse, keine sogenannten Wichtigkeiten, Menschenliebe und Duldung haben ihm das Siegel eiserner Verschwiegenheit aufgedrückt. Und das alles wird sich um uns drehen, diese Freudensphäre wird auf meinem Grabe stehen wie der Fuß des Regenbogens, unter dem in meinem Vaterlande ein freundlicher Aberglaube Schätze wähnt. Trösten Sie sich, edles Weib, Sie werden hier und ich dort belohnt sein. Ich breche ab, ein Fremder tritt herein, es ist mir leid um die Zeilen, die Eusebio Ihnen schreiben wollte.

Werdo Senne

Godwi an Römer

Wenn du bei mir wärest, mein Lieber! und ich könnte die Lampe auslöschen, und beim großen freundlichen Sternenlicht und dem ehrlichen Monde traulich Hand in Hand mit dir sitzen und plaudern, ich würde dir dann wahrer und wärmer alle die Freuden und Empfindungen ans Herz legen können, die mich seit unserer letzten Unterredung umarmen. Ich wandle nicht mehr in den finstern Gängen und düstern Gemächern ehemaliger Verdienste um das Vorurteil. Verdamme mich nicht mehr, daß ich vom äußersten aufs äußerste falle; du kannst sehen, daß ich den Weg der Zeit gegangen bin. Aus einem freundlichen Landhause in eine alte Burg und von da gar auf eine Ruine, an die der Einsiedler seine Wohnung gebaut hat. Ist dies nicht der Weg der Zeit? –

Ich lebe und liebe – denn was bleibt dem Leben ohne Liebe? – der Tod – in der Wohnung des Einsiedlers, von dem ich dir schrieb. Er hat sie in die Trümmer des Reinhardsteins, eines alten Schlosses, gebaut, um dort, wie er sagt, die Menschen seine Klagen nicht hören zu lassen, und ihre Lügen nicht zu hören. Die Großen in der Materie, die Ritterschaft, drängte sich in die Städte, um die Kleinen, die in der Zeit des Geistes mächtiger wurden, in den Schatten zu stellen; Raubvögel, die das Licht der hellern Sonne nicht mehr ertragen konnten, drangen sich der brütenden Henne als Gehülfen auf, und so wurde manches bürgerliche Küchelchen verbrütet, und so entstand das Motto: Sub umbra alarum tuarum. Faulenzer und Blödsichtige lieben sub [71] umbra. Das war ein großer Mann, der nicht sub umbra alarum Alexanders ruhen wollte, und ihn bat, er möge ihm aus der Sonne gehen. Werdos Glück haben sie auch verbrütet, und, da sie ihm nicht aus der Sonne gehen wollten, so hat er sich auf diesen hohen Berg geflüchtet, und sieht sie so aus der ersten Hand. Er sagte mir neulich: »Hierhin in die Trümmer des Faustrechts habe ich die Trümmer der Freiheit meines Geistes gerettet, denn, mein Herr, der Kuckuck jagt die Nachtigall aus ihrem Neste; die Menschen finden es grausam, weil sie es nicht taten, fangen sie sehr naiv in Schlingen, sperren sie in einen Käfig, schreiben die Geschichte der Stubenvögel und nennen sie Naturgeschichte, da sie doch gewiß eine Kunstgeschichte ist, blenden der Nachtigall die Augen, damit sie immer singt, schreiben ihren Gesang in Worten nieder, füttern sie mit gestohlnen Ameiseneiern, und lassen ihre Kinder etwa auch mit hölzernen Kuckucken aus Nürnberg dazwischenschreien.« – In dieser ganzen Rede lag eine seltsame Darstellung seiner Leiden.

Es ist mir sonderbar zu Mute hier, ich habe nie so gesellig eine Nacht so einsam zugebracht, es regt sich alles in mir nach Mitteilung, und doch ist mir die mittelbare des Schreibens etwas unangenehm.

Die Lampe verdirbt mir den Mond, er sieht über die Erde herab, wie der Trost über den Jammer, wie das platonsche Auge eines zwanzigjährigen Mädchens über ihren wallenden Busen. Er steht über dem Harem des Großsultans von Goldblech, wie der Orden Pour le mérite über dem Herzen der – und heißt doch ein Brotdieb der außerordentlichen Liebe und Diebe im Kleinen. So macht der Stern kein Herz, und der Mond über dem schlechten Wirtshause in J. hat noch keinem Ermüdeten eine freundliche Nacht gewährt. – Sieh, so stört mich die Lampe, daß ich den Mond lästere. Unten im Tale möchte ich auch etwas hemmen, das mir in meine Ruhe hineinlärmt. Eine Pulvermühle klappt durch die sanfte liebliche Nacht, wie der Puls der Kunst durch die Natur, wie der taktstampfende Fuß eines Musikers durch seine Melodien, wie der Pantoffel der Ehe durch die Liebe.

Senne heißt der Bewohner dieser sonderbaren Wohnung, deren Ganzes mich in eine schauerliche gerührte Stimmung versetzt. [72] Ich möchte auch hier wohnen, wenn ich alles verloren hätte, um das ganz genießen zu können, was jedem Edlen übrig bleibt, Natur, Ruhe, Erinnerung und innerer Friede.

Oben auf der Spitze eines großen Bergs liegt in einem Amphitheater, das ein dichter Eichenwald bildet, die Burg Reinhardstein, und in einem hohen großen Gewölbe, das in der Mitte des Gebäudes unter einer verfallnen Terrasse steht, hat sich Werdo Senne einige niedliche Gemächer anlegen lassen, die alle einer vollkommen reinen Luft und einer sehr schönen Aussicht genießen. Über sich auf der Terrasse hat er einen kleinen Gemüsgarten angelegt und einzelne Hügel um seine Wohnung her mit Weinreben bepflanzt. Vor dem Eingange des Gewölbes, der mit Epheu und Geisblatt umzogen ist, steht eine ewige Eiche; an sie hat er sich die Rasenbank hingebaut, auf der er seinen Schwärmereien nachhängt. Hier sitzt er oft halbe Tage lang, und singt Lieder zu seiner Harfe, die er meistens selbst dichtet. Er hat es auf diesem Instrument zu einer seltnen Fertigkeit und einem seltsamen Vortrage gebracht, denn seine eigne, durch gewisse Zufälle bestimmte Ansicht der Dinge und seine heftige Sehnsucht nach etwas, das er allein kennt, giebt seinem Spiel eine ganz eigene Modulation, die alles um ihn her zur Teilnahme bewegt. Ich habe mir eins seiner Lieder gemerkt, er singt es sehr oft, und es scheint mir, als läge viel Aufschluß über seinen Kummer darin.


Die Seufzer des Abendwinds wehen
So jammernd und bittend im Turm;
Wohl hör ich um Rettung dich flehen,
Du ringst mit den Wogen, versinkest im Sturm.
Ich seh dich am Ufer; es wallet
Ein traurendes Irrlicht einher.
Mein liebendes Rufen erschallet,
Du hörest, du liebest, du stürzest ins Meer.
Ich lieb und ich stürze verwegen
Dir nach in die Wogen hinab,
Ich komme dir sterbend entgegen,
Ich ringe, du sinkest, ich teile dein Grab.
[73]
Doch stürzt man den Stürmen des Lebens
Von neuem mich Armen nun zu.
Ich sinke; ich ringe vergebens,
Ach nur in dem Abgrund des Todes ist Ruh.
Da schwinden die ewigen Fernen,
Da endet kein Leben mit dir.
Ich kenn deinen Blick in den Sternen,
Ach sieh nicht so traurig, hab Mitleid mit mir.

Bis jetzt hab ich wenig mit ihm gesprochen, denn er spricht nicht gerne, und ohne zurückzuschrecken hat er durch sein Betragen die Macht, alle Lippen zu verschließen. Die Ruhe um ihn her gleicht jener Ruhe, die jeden Gefühlvollen nach den Arbeiten eines reichlich verlebten Tages am stillen Feierabende ergreift. Ähnliches Schweigen ergriff mich, als ich die Opfer ihrer Meinungen, alte aus Frankreich vertriebene Priester, in unsern Promenaden mit Tränen im Auge ihr trocknes Brot essen sah, als ich den Greis Broglio, als ich den silberlockigen Condé, den Hut in der Hand, mit zur Erde gesenktem Kopfe auf Zeitungen warten sah. Ähnliche Ruhe wird mich ergreifen, wenn ich über die Berge von kalter fester Lava um den Vesuv herum wallen werde. – Er ruht und träumt nach dem Rausche, den wir uns zu trinken noch beschäftigt sind, und bang sehe ich nach seiner Ruhe und belausche seine lauteren Träume und passe sie meinem Rausche an. Spärlich spielen einige Silberlocken um seine Schläfe, wie ein paar freundliche Augenblicke seines Lebens um sein Gedenken, seine schwarzen Augen haben eine schauerliche Mischung von Liebe, Verleugnung und Stärke im Blick, sein Mund ist selten in einen freundlichen Ernst, oft in ein wehmütiges Lächeln gezogen. Wenn er steht oder sitzt, so vermißt man etwas in seiner Lage, und weiß nicht was fehlt, bis er die Harfe an seine Brust und seine Stirn an die Harfe lehnt. An diese Stellung scheint er so gewohnt zu sein, daß, wenn er die Harfe nicht im Arme hat, man ihn sonderbar findet. Mit der Harfe aber ist er mir ganz das Sinnbild der wechselseitigen Freundschaft und des Zutrauens. Er lehnt seine Stirn an sie, wie auf den Arm eines tröstenden Freundes, und klagt ihr seine Leiden. Sie ruht wie die Teilnahme und das Mitleid an seinem [74] Herzen, und scheint unter seinen leisen Griffen freiwillig ihm zuzuhören, und dann und wann in traulichen Worten ihm Trost zuzuflüstern. Er hängt schwärmerisch an ihr, wie die verwelkten Blumenkränze um ihre Saiten, und wenn durch eine rasche Erbebung des Instruments ein Blättchen von den Kränzen herabfällt, so schweigt er, und letzt, da ich ihn belauschte, rollte eine Träne über seine bleichen Wangen, und er sagte: »Wenn alle diese welken Blumen herabgefallen sind, so will ich nicht mehr weinen und nicht mehr singen, so will ich sterben.« Dann sang er:


Um die Harfe sind Kränze geschlungen,
Schwebte Lieb in der Saiten Klang:
Oft wohl hab ich mir einsam gesungen,
Und wenn einsam und still ich sang,
Rauschten die Saiten im tönenden Spiel,
Bis aus dem Kranze, vom Klange durchschüttert,
Und von der Klage der Liebe durchzittert,
Sinkend die Blume herniederfiel.
Weinend sah ich zur Erde dann nieder,
Liegt die Blüte so still und tot;
Seh die Kränz an der Harfe nun wieder, –
Auch verschwunden des Lebens Not,
Winken mir traurig wie schattiges Grab,
Wehen so kalt in den tönenden Saiten,
Wehen so bang und so traurig: es gleiten
Brennende Tränen die Wang herab.
Nie ertönt meine Stimme nun wieder,
Wenn nicht freundlich die Blüte winkt;
Ewig sterben und schweigen die Lieder,
Wenn die Blume mir nicht mehr sinkt.
Schon sind die meisten der holden entflohn;
Ach! wenn die Kränze die Harfe verlassen,
Dann will ich sterben; die Wangen erblassen,
Stumm ist die Lippe, verhallt der Ton.
Aber Wonn, es entsprosset zum Leben
Meiner Asche, so hell und schön,
Eine Blume. – Mit freudigem Beben
[75]
Seh ich Tilie so freundlich stehn.
Und vor dem Bilde verschwindet mein Leid.
Herrlicher wird aus der Gruft sie ergehen –
Schöner und lieblicher seh ich sie stehen,
Wie meinen Feinden sie mild verzeiht.

Der Gram, unzulänglicher Trost und Täuschungen in seinen Erwartungen von der Wirklichkeit und ihrer Zeit haben den Kampf und die Niederlage seiner Seele in seine Gesichtszüge hingezeichnet. Er hat sich mit all seinen Kräften des Selbstglücks und der Beglückung zur Aschenurne seiner Freuden erschaffen gesehen, und die Inschrift auf dem Male, das auf seinen Trümmern steht, liest man in seinem irren Blick, dessen Sprache durch den Jammer, wie die Sprache der Gräber durch den Zahn der Zeit, verwittert ist. Sein Verlust muß unendlich sein, denn er sucht noch immer über der Erde mit seinen Augen hin, als habe er noch Kraft, diesseits eine Blume zu pflücken. Ach Römer! wie werde ich verglühen, da ich die Flamme noch nicht kenne, die mich durchlodert; o! es ist mehr als Lebenswärme, was mich ergreift, wenn ich begehre, was mir fehlt. Ich sehe die Natur um mich her ewig und unermeßlich, und wenn ich sie ganz verschlinge, wie sehr ich es kann, so bleibt es doch öde in meiner Brust, und mein Herz pocht so eintönig, so allein in meinem Busen. Alles ist Harmonie und Melodie, und verschwistert sieht sich alles in den Armen eines andern zum zweitenmal gelebt, zum zweitenmal beseelt; kein Spiegel meinem Bilde, kein Echo dem lauten verlaßnen Rufe aus meinem Herzen, kein Strahl aus der Seele eines Geschöpfs, der nur mir gehöre, kein Sinn für mich durch das Gepräge der Einzigkeit nur für mich belebt. Die Natur hat mich nicht gestimmt, daß jeder Künstler meine Töne mit dem großen allgemeinen Klang in Akkorde vereinigen kann. Freilich sprach ich anders in meinem vorigen Briefe, da war mir das Leben noch leicht, – jetzt ist es anders. Nur einer wird mehr als leichtfertige, tanzende Töne aus mir in das große Meer von Gesang hinüberweben.

Sonderbar ist es, lieber Römer, wenn ich alles dieses fühle, daß es mich ganz vernichtet, zu sehen, daß ich nur mich beglücken, nur mich befriedigen will, daß dieser Drang nach Liebe ein Bedürfnis ist, daß auch mit dem Bedürfnisse Liebe [76] und Freundschaft schwindet und wächst. Ist der Wunsch, seiner Liebe alles aufzuopfern, nur zur Selbsttäuschung in unsere Verbindungen gelegt? Ist mir denn das Gefühl, mich dem Ideale meiner kühnen Hoffnung uneigennützig, ohne Selbstliebe, nur ganz ihm hinzugeben, nur zur augenblicklichen Schmeichelei erschaffen, und sucht man uns den Egoismus nur wegzuraisonnieren, damit wir ihn uns zur Qual sich wieder in unsere lieblichsten Bilder von Menschenglück als einzig feststehenden Beweggrund eindrängen sehen?

Ich habe gesündigt. Die Natur spricht aus, was ich beklagt habe. Der Mond tritt hinter eine Wolke. Es ist dunkel und schwarz in der Nacht, und meine Lampe schimmert etwas heller durch das Stübchen. Da ist nun die Außenwelt, die Hoffnung und die Sehnsucht, die Tiefe des Himmels und die kleinen Sterne von meiner innern getrennt. Heller leuchtet das Lämpchen, aber nie hell. In meiner Brust ist eine weite Welt gewölbet, mein Egoism kann sie nicht erleuchten. O die Nacht! Ist der Mond für die Welt da und nur diese Lampe für mich? Im Dunkel herrschet Ruhe und Vollendung. Die Dämmerung erzeugt das Handeln und verdirbt den Raum, ich will ihr Licht nicht. Der Mond schwimmt leise auf dem ewig tiefen Meere der ewig hohen Welt über die Wolkenburg, wie die Natur über den Worten und Werken von mir Kind hervor. Stirb, Erdenlichtchen. Gute Nacht! Die Lampe verlischt.

Es ist schon wieder Tag geworden. Könnte ich dir das Erwachen eines Seligen im Elysium malen, den kein Freund, keine Liebe, den nur die Mühe im Leben begleitete, dem ein einsamer Tod die Augen zudrückte, dessen letzter Blick voll des sterbenden Lebewohls sich in keiner Träne eines Trauernden brach, und in ihn selbst zurück einen Trost sich senkte, dessen letzter Kampf mit der Liebe zum Leben wie Fesselgeräusche von kalten Kerkerwänden wiederhallt. Könnte ich dir ihn malen, wie er ausruft: »Ich war zu spät geboren!« wenn er in den Garten tritt, in dem alle seine Erdenfreuden als himmlische Blumen blühn, so hätte ich dir meine Empfindung, da ich an diesem Morgen in die Welt sah, in einem Bild zusammengedrängt, hingereicht. Mir selbst zu wenig, und der Welt zu viel, und umgekehrt, legte ich mich gestern abend nie der; mein Lager war ein mit Moos [77] ausgestopftes Ruhebett; und die Gastfreundschaft hatte durch ein liebliches Mädchen wohlriechende Kräuter drüber hingestreut. Die Handlung beschäftigte freundlich meine Sinne, und die Wirkung berauschte sie zum Schlafe. Guter, freundlicher Wirt, wußtest du, daß hier ein Schwärmer ruhen sollte, der deine Hütte entweihen konnte, weil du Kräuter und Blumen wie Hieroglyphen der Liebe und Unschuld um ihn streutest? Indem ich mit den Bildern spielte, spielten sie wieder mit mir, und ich schlief. Ein sonderbarer Ton weckte mich auf. Es war mir leid, daß es die Sonnenstrahlen nicht taten. Ich hätte mich dann eines höheren, einigeren Lebens freuen können. Die Morgenröte kämpfte spielend mit dem Grün der Weinblätter, die an dem kleinen Fenster, vom Morgenwinde bewegt, mir um die Wangen schmeichelten, als wollten sie mich mit meinen Wünschen versöhnen. Die Liebe hatte den Schmetterling geweckt. Die Sonne stieg leise hinter dem Gesichtskreise empor, und küßte die Scheidetränen der Nacht von den Blumen. Sie drang aus sich selbst empor, wie die Glut der Leidenschaft, und das Leben erwachte in steigendem Glanze, während die unbestimmte Trauer im Schleier des Nebels feierlich und verheißend in die Erde stieg. So werden die Seufzer der trauernden Witwe Seufzer der Liebe, und der Kranz schwebender Lichter blühet in Irrlichtern und Feuerwürmchen über Gräbern und Blumen. Die Tränen der Sehnsucht und der Hoffnung haben die Erinnerung umfaßt. Den Schleier des Kummers hebt die tröstende Liebe. Ihr Blick dringt in Mitleid in das Herz. Die zitternde Hand ordnet die vernachlässigte Locke. Man erkennt das Leben im Spiegel. Das Grab ist hinabgesunken, der Trost ist hingewandelt. Die Freude dreht sich wie Liebesneckerei um uns, und der Hochzeitstanz, der seine jubelnden Kreise durch unsere Sinne zieht, ertrinkt mit uns in Lebensallegorien, um die die Bürgerlichkeit mystische Vorhänge gezogen hat.

Unter meinem Fenster entwickelte sich ein freundliches Schauspiel. Ein junges Reh hüpfte durch den kleinen Garten bis an das Fenster unter dem meinigen, und raschelte blökend im Weinlaube, als erwarte es etwas. Dann eilte es gegen die Türe, durch die ein Knabe von etwa dreizehn Jahren trat. Der Knabe ging an einen verschloßnen Behälter, holte einen Bündel[78] Kräuter hervor, womit er das Reh fütterte. Alles das tat er mit einer heftigen Eile, und doch schien zwischen ihm und seiner Handlung eine traurige Ruhe zu liegen. Seine schwarzen Augen und die Züge seines bleichen Gesichts bewegten sich schnell, wie Takt ohne Ton, indes seine Haare kraus in dem Winde wehten. Er pflückte eine große Sonnenblume ab, und einige Buchszweige, steckte Taxus dazu, ging langsam nach einer alten Mauer an dem Turme dicht neben meinem Fenster, schwang sich mit einer unglaublichen Behendigkeit hinauf, setzte sich nieder, sang mit durchdringender Stimme ein Lied, das mit wenig Melodie in schnelle kurze Takte gedrängt war. Das Reh war zu ihm hinaufgesprungen, und legte ihm vertraut den Kopf in den Schoß. Dann und wann sah er mit Sehnsucht in die Ferne, indem er in einer kühnen Stellung auf der Fußspitze auf dem engen Rande der Mauer stand. Er schaute gespannt in die Weite, indem er die Hand gegen die Sonnenstrahlen vor seine Augen hielt; dann winkte er, sprang herab, und sein Begleiter ihm nach. Die Gartentüre ging auf, und so trat der Engel, von Gott zum erstenmale auf die Erde gesandt, durch die Türe des Paradieses. Ich stand mit meiner Unzufriedenheit hinter den Weinblättern meines Fensters so schamhaft wie der erste Mensch hinter seinem ersten Kleide. Ein Mädchen, weiß wie der Schnee, mit schwarzen Augen und Locken, wurde von dem Knaben heftig umarmt. Ich verschlang die schöne Gruppe. Das Reh hatte den Blumenstrauß im Maule, und drängte sich an das Mädchen, um ihr denselben zu reichen. Es schien mir, als hätten sich die Geschöpfe Gottes noch nicht veruneinigt und die Sünde die Gewalt noch nicht hervorgerufen. Das Ganze war so unwillkürlich, war so durch sich selbst entstanden, daß es so schön werden konnte. Meine Seele war in meinen Augen. Eine flüchtige Erinnerung meines Unmuts beschämte mich. Die ganze Szene lebte in mir, und doch sah ich nur das Mädchen. Der Knabe hing an ihrem Halse, wie ein kleiner Reiz der Schönheit, den wir nur bemerken, weil er unserm Auge erträglicher ist. In diesem einzigen Geschöpfe, in dieser Gestalt und der augenblicklichen Zusammenstellung ihrer Umgebung ward ich mit der ganzen Ordnung der Dinge versöhnt. Die ganze Welt wird uns lieb, wenn sie uns mit dem [79] Blick der Liebe ansieht; und wer die Sonne für das Auge der Welt ansehen kann, der muß glücklich sein, wenn sie scheint. Ich habe hier gesehen, daß Schönheit in der Welt wohnt, und daß diese Welt auch in meiner Brust eine Heimat hat. Das Ganze war zu überraschend, und meine Seele zum Empfangen solcher Bilder zu wenig vorbereitet, als daß ich sie ruhig in mir hätte bewirten können. In meiner Seele wechselten alle Gefühle in der kommenden und fliehenden Eile der Leidenschaft. Scham und Stärke, Liebe und Demut, kühne Hoffnung und kleinmütige Furcht eilten mit schmerzlichen Tritten durch mein Herz. Sehnsucht löste sie alle. Die Stimme des Mädchens zündete sie in mir an; ich sahe nicht mehr, ich hörte nur; oder ich sah, was ich hörte, denn ihre Töne waren freundliche helle Gestalten, sie trugen ein fremdes Gewand; es war eine fremde Sprache – ich konnte sie nicht verstehen. Wenn ich in Molly und Joduno etwas geliebt habe, und nicht alles, so finde ich in diesem Bilde gewiß beides. Es ist keine Kühnheit, daß ich dir sage, wie dies Mädchen ist, da ich sie nur sahe; aber ihre Erscheinung ist ein reines Wort für ihren Inhalt. Sie könnte nur schlechter sein, als sie scheint, und dann wäre sie schlechter als alle Schönheit. Molly, durch Erfahrung gewarnt, durch Umstände gezwungen, zwar kein Produkt der Kunst, aus eigenem Bewußtsein, ist dennoch durch fremde Einflüsse bestimmt worden. Sie ist gewiß vieles nie geworden, was sie hätte werden können, wenn die Natur an ihrer Wiege gestanden und sie als Jungfrau begleitet hätte. Sie ist kein Wesen, das die Mitgabe der Schöpfung ruhig zu einer eigenen schönen Wohnung erbaut hat. Sie lief nicht glücklich auf dem Meere des Lebens aus. Sie ist zurückgekehrt, und hat sich aus den Trümmern ihres Charakters und ihrer Meinungen mit ihren Erfahrungen ein Dasein gebildet, das ihr gerade deswegen angemessen ist, weil es allen andern auffällt. Sie hat nicht, was das Weib allein bezeichnen soll, das Schöne allein; sie hat nur das Große, das Erhabene, das uns aus dem Kampfe zurückbegleitet. Huldigung und Bewunderung ersteht und beugt sich in jedem, der vor sie hintritt, aber keiner wird es wagen, das Schöne in ihr zu suchen, das wir in dem Weibe suchen sollen, insofern es edel ist und uns angehört. Sie wird jeden erschüttern, ihn richtig [80] beurteilen und lieben, insofern es ihm gut sei. Ein Starker kann sie nicht lieben, denn er findet seine Größe nur in sich und wollte seine Schönheit in ihr suchen, wo er aber nichts finden kann als eine bisarre Erhöhung seines Wesens. Eigenliebe kann zu ihr hinreißen; man staunt und freut sich, wenn man geschmacklos ist, sich in so bunten und grellen Farben gekleidet zu sehen. Man liebt aber nicht, weil man sich nicht verschönert wiederfindet. Sie hat es durch die Kunst weit gebracht. Alle ihre Handlungen sind mit äußerer Anmut angetan, und tragen das Gepräge einer freien, vorurteillosen Moralität. Dieses ist auch der stete Ausdruck ihres Gesichts, in der Ruhe und Erregung. Aber jeder natürliche Mensch wird gerade durch diese Freiheit, durch diese öffentliche Entblößung von allen Vorurteilen zurückgeschreckt. Er ist gewohnt, daß die Natur in ihm leise und verschämt die Wahrheit entwickele, zu der er dann wieder das durchsichtige Gewand wird; – er erschrickt, wenn die Form von dem Geiste plötzlich wie der Schleier von der Nacktheit herabgerissen wird. Es giebt eine Ansicht der nackten Schönheit, die uns zur Demut niederzwingt. Das bürgerliche Leben ist zu sehr Kerkerdunkel, als daß wir es wagen könnten, plötzliches Licht hereinbrechen zu lassen – was uns demütiget, können wir nicht lieben. – Joduno, das gute, muntere Mädchen, konnte mich nur reizen, weil ich von jener kam. Die Welt spielte damals mit mir, und es war in mir eine unwillkürliche Erwiderung dieses Spiels, daß ich mit Joduno auch spielte. Sie war die erste, in der die Welt vor mich trat, und so kindisch, so zum Spielen geneigt. Mein Umgang mit ihr verschwindet in seinen Ursprung, in ein undeutliches Gefühl, das über meinem Herzen wie der Hauch auf dem Spiegel lag. Die seltsamen Zauberspiele Mollys und alle ihre Rätsel schliefen einen künstlichen Schlaf in mir, und meine ganze Aussicht war in einen düsteren, undurchdringlichen magischen Mantel gehüllt.

Lady Hodefield an Werdo Senne

Friede und Ruhe mit Ihnen, treuer, einziger Freund. Ihr Brief hat mich in einer der wichtigeren Minuten meines Lebens sanft [81] überrascht; er ist wie ein sanfter Schlaf lösend über meinen Rausch, wie ein winkender bedeutender Traum über den Zweifel meiner Handlung herabgesunken. Ich habe zweimal der eisernen Notwendigkeit den süßesten Genuß geopfert. Die Versuchung, der Zeit einen Possen zu spielen, und selbst mit unendlicher Wollust aufzudecken, was sie in ihrer stillen, folgenden Gesetzlichkeit entwicklen wird, war für ein tollkühnes Weib wie ich nicht klein; so nannten Sie mich einst, aber ich darf es ja nicht mehr sein. Nur die Blüte darf üppig wagen, darf der Frucht wie ein jauchzender Bote vorausgehen, und ich darf nichts, gar nichts mehr, das ist alles vorbei, die Zeit bereitet mir nun meine Freuden, damit ich hübsch genügsam sei. Ich habe sonst zuviel genossen, nun ist die Zeit da, daß ich den Genuß andrer genug ehre, um ihn nicht zu stören. Und diese Macht danke ich Ihnen allein; Sie lehrten mich, daß die meisten Unfälle Folgen unserer Voreiligkeit sind, mit der wir der Zeit in ihrer Konsequenz vorgreifen. Ich war in dem Kampfe gegen meine schimmerndsten Gelüsten ermüdet; auf meinem Sopha hingestreckt, blickte ich nicht ohne Neid nach dem Besiegten. Das Bild der Freude, die ich von mir in die Ferne gewiesen hatte, stand flehend und drohend vor mir, ich war so allein, so empfänglich, die Freude so reizend in ihrem Schmerz und Unwillen; »ich komme nicht wieder«, sprach sie, und schien mich zu dem zudringlichsten Besuch der verwegensten Reue zubereiten zu wollen, falscher Stolz, falsche Scham, waren ihre Vorwürfe. Doppelt einsam, indem ich die Gesellschaft des einzigen, der außer Ihnen Ansprüche auf meine Liebe hat, von mir gewiesen hatte, war ich, als ich Ihren Brief erhielt. Sie sind ganz gegenwärtig in ihm für mich, obschon Sie schon leise dem Leben drinne entschweben, denn ich kann Ihnen nachsehen. Alle meine Leidenschaften, alle meine Wünsche haben sie nun wieder zu jenem anspruchslosen Frieden gebracht, in den Sie sich Ihren Gram und so freundlich mir meine Schuld zu verschleiern wissen. –

Ich habe Karln gesehen – ich wußte nicht, daß er es war, und doch bewies die Natur ihre geheime Macht, unwiderstehlich zogen mich ihre Bande zu ihm hin, obgleich Zeit und Ferne sie versteckt hatten. Ich fühlte, daß er mir angehört, der geistvolle [82] schöne Sohn, auch er war im Innersten seines Herzens gerührt, und neigte sich gewaltsam zu mir hin, ohne es erklären zu können. Ich erkannte ihn durch die Erzählung seines Aufenthalts bei Godwi und seines Geschäfts. Ich er kannte ihn in der Trennung, und es war die höchste Wonne und der bitterste Schmerz in die nämliche Minute gelegt. Nur die Überraschung und die Menge der Menschen um uns machten mir es möglich, den sanft von meinen Blicken zurückzuweisen, den ich in meinem Herzen trage, und den ich umso fester in meine Arme schließen mochte, da ich ihn als einen edlen ausgebildeten Menschen wiedersah. Ach ich war nicht standhaft, die Entdeckung zu verhindern, es war bloßer Zufall, daß ich mich und sie nicht verriet!

Alles was Sie mir überhaupt von Eusebio und insbesondere von seiner Krankheit schrieben, scheint mir ebenso richtig, als Ihre Bescheidenheit falsch. Sie wollen gar nichts von dem wenigen, womit ich Ihnen Ihre Existenz erleichtere, verdient haben, und ich soll Ihre ewige Schuldnerin bleiben.

Die Trauer Eusebios ist mir sehr verständlich. Wäre er unter dem glücklichen Himmel seines Vaterlandes, wo sein Herz und der Himmel in einem Gleichgewichte der Glut ständen, so würde er froh sein. Er erwacht vor der Zeit, weil seine Umgebung auf seine Anlage einen zu großen Reiz ausübt. Obschon er keinen Druck und keine Geschichte zu bedenken hat, so kann er dennoch nicht mehr Kind sein. Das Mißverhältnis seines Temperaments zu seinem Leben, und zum Lande, in dem er lebt, zwingt ihn zu reflektieren; da er nun keinen bestimmten Gegenstand haben kann, so entsteht aus seiner Reflexion über das bloße Bedürfnis die Sehnsucht in ihm. Er schmerzt mich; wehe dem, der kein Kind sein konnte, er kann nicht Jüngling, nicht Mann werden – die Jahreszeiten fließen ihm in eines zusammen in seinem Verlangen – und bedarf in jedem Genusse jeden andern. Eusebio hätte noch lange Knospe sein müssen, an der der Tautropfen und die Träne hinabrollt, nun hat sich sein Busen erschlossen, und die Träne liegt still in seiner Kindheit, ein Bote innerer Trauer für sein ganzes Leben. Die Außenwelt hat ihn nicht auf der Stufe, die er einnimmt, gefesselt, es spielte kein Kind mit ihm, und so treibt ihn seine innere Glut [83] aufwärts, die ihn hätte ausbreiten sollen. Ich fühle deutlich seine Zukunft, er wird nie die Formen kennen lernen, in denen er lebt, nur in den zusammengesetztern, reichern länger verweilen, jedem halben Tone wird er entgehen, und leicht viele Stufen des Lebens übereilen. Das Verlangen ist früher und begehrender in ihm ausgebildet, als er sich die Welt gewürdiget hat, er öffnet die Arme mit Sehnsucht, und nimmer kann er mehr umarmen als sich selbst; so entsteht bei immer neuen Versuchen und einem steten Zurückkehren ohne Erfolg diese entsagende Trauer in ihm.

Sein heftiges Begehren nach mir erklärt sich leicht hieraus. Wenn er mit seiner mächtigen frühreifen Phantasie den kleinen spärlichen Kreis seiner Erfahrungen durchläuft, so ist ihm sein Aufenthalt bei mir der reichhaltigste Punkt. Das Einfache reizt ihn nicht mehr, weil es zu innig und zu schmerzlich mit ihm verwebt ist. Schmerzlich sage ich, weil er an ihm ermüdet ist. Je einfacher das Leben eines phantastischen Gemüts ist, je drückender wird ihm seine Umgebung; seine Anlage zu erfinden wird vielfältiger gereizt, und weil die Sache, an der er bildet, ihm nie entgegenkömmt, sondern er ewig an seinem Zusatze zusetzen muß, um weiterzukommen, ermüdet er eher. Um eine grade Linie können mehrere Wellenlinien gezogen werden als um die Wellenlinie. Eusebio hat sich sein Dasein schon so sehr mit den Gewinden seiner Phantasie umschlungen, daß er die einfache Linie nicht mehr kennt, und gleichsam in den selbstgesponnenen Netzen seiner Einbildungskraft gefangen liegt.

Ich würde schon zu Ihnen und dem kleinen Insassen meines Herzens gekommen sein, wenn ich Godwi, Ihren Gast, nicht vermeiden müßte, denn wir sind uns beide gleich gefährlich.

Sie haben mich gelehrt, meine Handlungen nach allgemeinen Gesetzen um der Ruhe und Gesetze willen zu beschränken, ohne deswegen meine Art zu fühlen, welche die Eigentümlichkeit meines Zusammenhangs mit der Natur bestimmt, zu erdrücken – und auch ohne dies ist es mir nie möglich gewesen, mich wie eine Bürgerin in die freie Welt hinein zu heucheln, das Gepräge meiner Seele ist zu tief, es konnte nicht erlöschen, und ich bin schon insoweit vor der Verfolgung der Bürgertugend [84] geschützt, als man von mir, als einer reichen Engländerin, sonderbare Streiche prätendiert. Doch dies hat mich nicht bestimmt, Godwin zu lieben, nicht, ihn von mir zu weisen. Ich habe das erste gemußt und das zweite gewollt. Er ist einer der wenigen, die, bei großer Macht in sich, dennoch nichts von ihrer Kraft entbehren können, weil ihnen ein ebenso großes Leben entgegenliegt. Das Leben liegt vor solchen Menschen wie ein erzhaltiges Gebirg, sie müssen hindurch, und alles gewinnen, aber die Kunst des Bergmanns und des Scheidekünstlers ist ihnen versagt, sie müssen die Strahlen des Lebens in dem Brennpunkte ihres Herzens vereinigen, um, eine einzige Glut vor sich herwerfend, sich eine Bahn durch die Goldadern zu glühen, wo andre mit tausend Hammerschlägen sich kaum den Schacht eines Grabes erarbeiten zwischen emporgeworfenem Schutte, der Pyramide ihrer Endlichkeit. Hier im Lande klettern die Kinder an diesem Denkmale des Vaters in die Höhe, um sich in der Kunst des Sturmlaufens im Dienste des Vaterlandes zu üben.

Ich habe ihn von mir gedrängt aus Liebe zu ihm. Er ist zu sehr für das Ganze, und mit zuviel Kraft ausgerüstet, als daß ich ihn hätte unterstützen dürfen, sich im Einzelnsten, in mir zu verlieren. Er ist nicht für mich gewesen; wo hätte ihn sein Engel besser hinführen können als in Ihre Arme, wo alle meine Unruhen entschlummert sind?

Lieben sie Ihren Gast, wie Abraham den Engel liebte, der ihm verkündigte, daß ihm ein Sohn auf der Schwelle des Lebens stehe.

O ich bin sehr stark geworden, ich werde der Zeit nicht vorgreifen, auch nicht für Sie. Es wäre zuviel, wenn ich vor Ihnen entwickelte, was ich ahnde, beinah versichert bin. Die lose entwurzelte Eiche würde mit allen den einsamen Reben, die sich innig an ihr hinaufschlingen, hinabstürzen über den Berg Gethsemane ihres Lebens, und von neuem in den Gräbern ihrer Freude wurzeln. Ich glaube fast ganz, daß die Ahndungen Ihrer Freuden eintreffen werden, aber dann werden Sie nicht vor Freuden sterben, Sie werden leben und Jahre mit unendlich tiefen Stunden.

Groß und reichlich ist der Tisch des Herrn, und jeglicher hat seinen freudigen Wein neben sich stehen, und wie er trinkt, so [85] genießt er. Später, früher und zu früh ergreifen die Gäste den Becher. Viele nippen sparsam vom Rande, und wahrlich ihre Höflichkeit ist dem Wirte und seinem Reichtum ein Schimpf, scheinen sie doch aus der Provinz, aus irgend einer Marktflecken-Welt des Universums hier zu Tische, und wollen fast genötigt sein. Dies sind die determiniertesten Herren, in jedem Augenblicke bereit und ge schickt, nach einer kurzen kräftigen Rede für die Tugend auf der Henkerbühne zu sterben, und träfe jeden seine Geschichte nach seiner Anlage, so wären diese Leutchen ein ausgesuchtes Chor von Revolutionsopfern, und an ihnen allein würden alle Exempel statuiert. Sie treten mit beiden Füßen auf dem Laster herum, und tragen auch die haltbarste Moral so ab, daß man die Fäden zählen kann. Ohne allen Begriff für eine edle Natur, kämpfen sie sich an der Tugend zu Tode. Ihre Herzensgüte sieht ihnen zu den Augen heraus, wie ein fauler Hausherr, der immer in der Schlafmütze am Fenster liegt. Andere Gäste fassen zu derb zu, sie leeren den Kelch zu schnell, und trinken sich krank in Gesundheiten, übersättigt sitzen sie am Mahle, wie ein nüchternes Übelbefinden nach einem tollkühnen Rausche; es sind genialische Renommisten, Sklaven der Freigeisterei, und meistens Parvenus im Leben. Sie wollten das Mahl begeistern, und fressen die Begeisterung, und viele unter ihnen, die sich Philosophen nennen, haben keinen andern Wunsch, als ihren eignen Magen zu verschlingen; sie gehen stolz in so weiten Schuhen, daß sie in den Schuhen gehen, mit denen sie gehen; zu gar nichts können sie gelangen, weil sie alles sind, ohne irgend etwas zu haben, und sollten nur sich selbst umarmen lernen. Viele sitzen noch mit zu Tische, auch wohl welche, die den Spargel verkehrt essen, oder witzige Devisen zum Munde führen, und so alle Arten. Doch unten am Tische, wer hat die stillen Kinder vergessen, die Lieblinge des Wirtes, die ruhig harren, und mit dem Vorwurfe des Unrechts das Mahl nicht stören wollen, und seine Freude? Man gebe ihnen den wohlschmeckenden Kuchen, und den süßen freundlichen Wein des Nachtisches, daß sie fröhlich von dannen gehen. Die Gäste verlassen den Tisch, sie gehen nach Hause, oder werden nach Hause geführt, so wie jeglicher getrunken hat. Wenige und auch Sie, freundlicher Greis, stehen am Ausgange, [86] sie haben das Ihrige nicht genossen, und teilen es fröhlich dem Übermäßigen und Unmäßigen mit, daß jener nicht hungernd von dannen gehe, und dieser nicht leer. – O! Ihre Freuden, Werdo, haben Sie sich selbst gepflanzt, wie die Reben um Ihre Hütte. Sie haben sie auf einen Boden gepflanzt, den Sie selbst erst urbar machten, Sie haben sie erzogen. Dankbar werden sie sich um Ihre wankenden Kniee schmiegen, Sie werden Ihre zitternden Schritte nicht mehr fühlen, wenn Sie durch diesen Frühling wandeln. Grüne blühende Lorbeern schlingen sich durch die silbernen Locken des größten Helden des Friedens, sanft umschatten sie Ihren nackten Scheitel, und leise sinkt dann die Abendsonne Ihres Lebens in das stille ruhige Meer befriedigter Hoffnung hinab.

Doch wieder auf Ihren Gast zu kommen: wie gefällt er Ihnen, hat er Sie nicht erheitert? Sprechen Sie mit ihm über mich; doch nicht eher, als Sie merken, daß sein Umgang mit Tilien bedeutender wird, denn ich bin versichert, daß er sie schon liebt, oder doch lieben wird. Sie werden ihn dann sehr überraschen, und gewiß eine Seite ganz an ihm kennen lernen. Es ist schwer, diesen jungen Menschen ganz zu beurteilen, denn sein ganzes Wesen wird durch Eindrücke beherrscht, und der, welcher vor ihm steht, muß nur zu oft falsch über ihn denken, wenn er ihn und nicht sich zu sehen glaubt. Nur das reinste und einfachste Wesen, nur ein Weib ohne Träne und ohne Flitter wird ihn begreifen, und lieben. Er ist der Spiegel der trübbarsten und beweglichsten Flut, und nichts als ein Spiegel. Wie die Welt vor ihm liegt, so sieht sie ihm aus den Augen, das grüne Blatt, das auf ihm schwimmt, ruht auf seinem eigenen Abbilde, und der unendlich hohe Himmel, der auf ihn herniederblickt, sinkt seinem Bilde entgegen, das aus seiner Tiefe heraufschwebt. Stehen Sie ruhig vor ihm, und Sie werden sich selbst verschönert sehen, und fällt eine Träne in den Spiegel, so werden Sie Ihr Bild in den Kreisen der Fläche zerrissen sehen. Er kann nur durch Liebe, die heftigste, ruhigste Liebe, in der ihm die schönste Menschlichkeit göttlich dünkt, ruhig und unendlich viel werden. –

Ich bin während vierzehn Tagen mit ihm zusammen gewesen, und habe nicht mehr getan als ihn geliebt und mich [87] von ihm lieben lassen. Seine Schmeicheleien habe ich sanft zurückgewiesen, seine Offenherzigkeit in schwachen Stunden ohne Neugierde freundlich angehört, und mich mit den Schwingen seiner Hoffnungen gefächelt, wenn die Glut seiner bilderreichen Phantasie mich erhitzte. –

Vierzehn Tage habe ich ihm gestohlen, und meine weibliche Eitelkeit glaubte ihm noch ein großes Geschenk gemacht zu haben.

Als ich einstens, unruhig über sein langes Außenbleiben, abends nach Tische mich an meinen Schreibtisch setzte, und in meinen älteren Papieren herumsuchte, fand ich mich wieder in jenen Zauberstrudel von Eitelkeit und Torheit zurückgezogen, aus dem Sie mich in England wie ein guter Geist herausführten. Sie hatten damals alle meine Papiere in Päcktchen zusammen gebunden, und ich die Überschrift gemacht. Ich habe heute aber erst bemerkt, daß auch Sie die Päcktchen damals überschrieben haben. Nun fing ich an, meine und Ihre Überschrift zu lesen:

»Briefe voll wahrer Liebe, voll Uneigennützigkeit des Lords Wallmuth, der meine Gesinnungen und mein Herz schätzte.« Ihre Überschrift – »dessen Bekanntschaft also itzt von Ihnen erst gesucht werden sollte, weil Sie itzt erst den Entschluß fassen, ein Herz und Gesinnungen zu haben.«

Ich schämte mich, und las weiter:

»Bemerkungen über einzelne Tage in einem Umgange mit Lord Derby und Chevalier Rosier, Beweise meiner innigen Freude über die untadelhafte Reinheit und den Geschmack meines Umgangs mit diesen beiden reizenden Männern.« – »Freude eines phantastischen Kindes über Schneeflocken, Seifenblasen und Tagtierchen, denen man keine Minute stehlen darf, weil es ihre Jahrzehnde sind.« Wehe mir, mein Freund bleibt lange aus! »Süße Stunden des Trostes in meiner mühsamen Arbeit, keine eitle Törin mehr zu sein, Resultate meines Umgangs mit Karl von Felsen.« – »Sonnenfleckchen, Minutenlichter, die ich, mit dem Spiegel meiner Toilette, einer Sonne und der Welt, die sie erwärmen sollte, gestohlen habe, um sie durch die langweilige Nacht meiner Moralität hüpfen zu lassen.« –

[88] O! das war zuviel, lieber Werdo, müssen Sie mich noch einmal mit Ihrem kalten Ernste beschämen – so tief hat die Torheit in mir gewurzelt, daß ihre Narbe noch zeichnen muß. Karl von Felsen und Godwi, steht ihr nach Jahren noch in der Parallele? Ich erwachte aus meinem Traum, tief rührte mich die Entheiligung Ihres Angedenkens, ganze vierzehn Tage hatte ich Sie und Ihre Lehren vergessen. – Ich konnte ihn nun kaum mehr erwarten, den Armen, den ich betrogen hatte, und so sehr beschämend mir es war, ihn mit solcher Sehnsucht erwartet zu haben, so süß war mir es jetzt, die Minuten zu zählen, bis ich seinen leisen Tritt vernehmen würde.

Es ist eine sonderbare Empfindung, in der nämlichen Handlung rückwärts Reue und vorwärts Freude zu empfinden.

Ich gab mir alle Mühe, mich bei meinem guten Vorsatze fest zu erhalten, ich verließ meine Stube, die nur zu viele Bequemlichkeiten zur Liebe hat, seufzend blickte ich nach dem wunderheimlichen Sopha, der Wiege so mancher süßen Annäherung, trat in die Bibliothek, verhüllte meinen Busen, damit mein Herz nicht zutage liege, setzte mich auf einen unbequemen Stuhl, und legte das letzte Päcktchen Briefe vor mich auf den kalten Marmortisch. Es war Nacht geworden, ich sah auf die Bildsäule der Pallas, der ernste spröde Umriß der Hohen stach schwarz von der letzten Dämmrung des Tages ab, und ich hatte mich schon so ziemlich mit der Idee beruhigt, daß ich auch so eine Pallas wäre. Der leise Schritt meines Freundes gleitete durch den Hof, er trillerte ein italienisches Liedchen, und ich erwachte aus meiner Metamorphose. Einen großen Sprung mußten meine Gedanken machen, wie Sie wohl meinen, um ihn zu erreichen? – O der Schwachheit! nein, nicht einen Schritt, ich hatte die ganze Zeit an seine liebenswürdige Gestalt, sein süßes Geschwätze gedacht, und recht mitleidig überlegt, ob ich dem armen Jungen denn gar nichts erlauben sollte.

Ich hatte alles vergessen, Sie und mich – der Kuß, den er mir raubte, hatte den ganzen stolzen Tempel meiner Weisheit zusammengestürzt. Der Kontrast war so groß, daß er mich stärkte. Ich nahm alle meine Gewalt zusammen, und bat ihn, gleich den andern Tag wegzureisen. Er kniete vor mir, und bat auch; nun mußte ich befehlen, und er reiste.

[89] Ich weiß nicht, wie ich es anfing, daß er mich nicht verstand. O er hätte ohne vielen Scharfsinn bemerken können, daß mir mein Befehl soviel Mühe kostete als einem jungen Fürsten sein erstes Todesurteil. Ich bemerkte sehr deutlich an seinem stummen Erstaunen, daß er von mir so etwas gar nicht erwartet hätte. Er konnte mich nicht begreifen und meine Kälte an diesem Abende noch weniger zu seiner größern Kühnheit passen. Mit einem rührenden Ernste fragte er mich: »Habe ich Ihre Liebe verscherzt?« und ich antwortete ihm mit einer Lebhaftigkeit, die mich zur Lügnerin und Heldin machte: »Nein, ich habe sie Ihnen genommen.« Er verließ die Stube.

– Er wohnte in meinem Hause, das hätte ich früher schreiben sollen, und warum ich es so spät als möglich sagte, ist, weil ich die Falten auf Ihrer Stirne fürchtete. Ich will mich nicht entschuldigen, er ist bei Ihnen, Sie werden den Reiz und die Empfänglichkeit, die Mäßigkeit und die Entsagung gerecht zusammen stellen.

Er war nach seiner Stube gegangen, es war zehn Uhr, und ich bemerkte, daß ich zu lange ohne Licht mit ihm zusammen gewesen war. Und war dies nicht noch mein Glück? Hätte ich ihn gesehen, hätte ich gesehen, wie alles an ihm Bitte, mächtiges Bitten gewesen, o ich hätte ihm nicht widerstanden.

Wer ist der große Mensch? der auftreten kann und sagen: »Ich habe eine Handlung mit meiner Kraft vollendet, die mir Mühe und Überwindung kostete. Ich habe alle meine Leidenschaften bekämpft, und habe mir den süßesten Genuß geraubt, der sich mir aufdrang, kein Zufall hat mich begünstigt, der Zufall, die Umstände waren meine Gegner, und doch habe ich gesiegt. Hier seht mein Auge, ich habe es ausgerissen, um nicht zu sehen, was vor mir stand.«

O du großer Mensch, ich bin nicht im äußersten Grade mit dir verwandt. Und du magst wohl einsam und allein ohne deinesgleichen in der Welt stehn, denn du kannst alle entbehren und alle benutzen. Du bist kein Glied des Ganzen, und unnütz. Unglücklich kannst du nicht sein; was soll dir denn deine Macht? Aber groß kannst du allein sein. Wenn du Gutes tust, so tust du es frei und unabhängig, selbst gegen deinen Genuß – Wo ist denn nun hier wieder das Verdienst; ist es dir nicht [90] leicht, nicht schmeichelhaft, so zu handeln, o wo ist irgend ein Verdienst? Keine Größe ohne Selbstüberwindung – auch du kannst nicht fortdaurend groß sein, du bist es nur bis zur Tat, und diese tötet deinen ganzen Ruhm – Wo soll ich sie denn finden, die Größe? sie ist ja nie da.

Ich saß so verlassen, so trostlos auf meiner Stube, ich wollte ihn bitten lassen, wiederzukommen. Ich greife im Finstern nach der Klingel, die vor mir auf dem Tische stand, und ergreife das Päcktchen Briefe. Ihre Aufschrift brannte mir unter den Fingern, und ich hätte fast einen Schrei getan, wie der Geizhals, dem ein Schalk im Gewande eines Geistes statt des versprochenen Hecketalers eine glühende Münze in die Hand drückt. Ich klingelte, man brachte Licht, und ich setzte mich nieder, an meinen unglücklichen Liebhaber zu schreiben.

Ich schrieb, und las nachher meinen Brief, der mir ein Meisterstück von Überwindung schien. Ich entdeckte ihm versteckt unsre Verwandtschaft, rechtfertigte mein Betragen, bat ihn wegen meiner Liebe um Verzeihung, schilderte ihm meine Gründe nochmals so dringend, als ich konnte, und sah am Ende des Briefs wohl ein, daß ich ihn ihm nicht geben konnte, weil er unsern Plan, meine Geschichte verborgen zu halten, augenblicklich zunichte gemacht haben würde. Aber der schöne durchdachte Brief voll Selbstüberwindung sollte umsonst geschrieben sein? – Nein – ich oder vielmehr meine Eitelkeit, (wenn man uns trennen kann!) machten die Sache noch viel reizender.

Die Liebe sagte mir: »Giebst du ihm den Brief, so mußt du ihn nochmals sehen, und dann ist dies keine Schwachheit, dann ist es Notwendigkeit;« aber die kalte Vernunft drohte mit Ihrem Unwillen, lieber Werdo! – ich wollte einen andern schreiben, da schlug es drei Uhr des Morgens, um sechs Uhr reist er ab, es ist zu spät – ich sann, und eine alte etwas vernachlässigte Freundin benutzte meine Verwirrung, sich wieder ihrer Rechte zu bemeistern, die Abenteuerlichkeit mischte sich ins Spiel, sie entschied. Ich entschloß mich, in seine Stube zu schleichen und den Brief in seine Brieftasche zu stecken. Die Adresse wurde abgeändert in: »Ich bitte meinen lieben Freund, diesen Brief nicht eher zu eröffnen, bis ich es ihm melde. Molly.«

[91] Ihn nochmals zu sehen, und das Heimliche bei der Sache, spannte meine Neugierde bis zur Angst. Es war alles so stille, ich hörte mein Herz doppelt schneller pochen, als das Pendul der Uhr. Die Zeit eilte in mir, und außer mir wollte es gar nicht vier Uhr werden.

Ich schlich so leise, so bange mit meinem Briefe über den Hof nach dem Gartenhause, wie Emma mit ihrem Eginhard durch den Schnee; wenn meine Diener mich bemerkten – wie die Hähne schon krähen – die Rosse stampfen – es ist früh und duftig – der Hofhund, o wenn er nur keine unzeitigen Anstalten zur Wachsamkeit macht – so, nun bin ich vorüber. Seine Vorhänge sind noch vorgezogen. Ich wurde von meiner Bangigkeit gleichsam schwebend die Treppe hinaufgetragen, alles war mir so leicht und schwer, so nachgebend und widerstrebend, so dumpf elastisch, wie die Handlungen im Traum. Ich trat vor die Türe der Stube, zitterte, wankte hinein, und wollte, ohne mich nach ihm umzusehen, wieder wegschleichen, wenn ich den Brief in die Brieftasche gesteckt hätte, aber dabei blieb es nicht. Ich stand vor dem Schlafenden, und schämte mich vor ihm, ich war hingewurzelt, er seufzte, meine Träne fiel auf seine Wange, und mein leiser Kuß schwebte über den sanft geöffneten Lippen. Es war die schwächste Minute meines Lebens, und nichts wollte mir den letzten kleinen Stoß geben, daß ich hinab in die tollkühnste und süßeste Umarmung gesunken wäre. O ich hätte weinen können vor Unwillen, daß die Schwäche so schwach ist, daß sie mich nicht in seine Arme werfen konnte, und nicht zurück von der Stelle bewegen. Wie ein Schwindelnder am Rande der Tiefe, der nimmer fällt und nimmer zurückweicht, stand ich da. Nun krachte ein Stuhl, ich sehe um mich, der Bediente saß auf dem Stuhle, er erwachte, rieb sich die Augen, öffnete sie etwas unmäßig, und grüßte mich etwas überlaut. Ich gab ihm Geld, und bat ihn zu schweigen, wenigstens bis sein Herr weg sei. Ich weiß nicht, was ich nachher dachte und tat, als ich wieder glücklich unten war; um zehn Uhr fand ich mich in meinem Wagen, es regnete stark, und mein Kutscher bat mich, wieder nach Hause zu fahren.

Ich habe gesiegt, und daß ich so unwillig auf diesen Sieg bin, ist mir sein Wert, es ist das Gefühl der Größe meines Kampfs. [92] Er ist weg, nicht ohne Tränen, ich bin zurückgeblieben mit dem Bedürfnisse nach einem Menschen wie er. Der Abschied war in der Dämmerung, und das ist mir Stärke gewesen. Hätte ich lesen können, was in seinen Zügen geschrieben stand, ich hätte nicht widersprechen können. Seine Gestalt zerrann in der Scheidestunde aller Gestalten, er schied in der Dämmrung des Abends, und so ist ihm ein Übergang gewesen von meinem deutlichen Besitze zum Vermissen. Ich schied in der Dämmerung des Morgens, und nun scheint mir der leere Tag in die Augen. Ich bin nicht mehr zu bewegen, so erregt bin ich, ich träume auf meinem Sopha, das ich so spröde abends verlassen hatte, und das sich mit allen Erinnerungen bitter an mir rächt. Auf das eine Kissen hat er mit Stecknadeln meinen und seinen Namen verschlungen gesteckt. Ich mag mich gar nicht mehr ankleiden. Es verbreitet sich eine allgemeine Nachlässigkeit über mich, und meine Umstände scheinen mir wie Grenzen, die ihren Inhalt suchen, und sich ewig selbst durchkreuzen. Immer will sich noch kein Genuß aus mir heraus über diese Welt verbreiten, das gewöhnliche Leben ist mir wie ein ewiges Halbdunkel, es reizt zur Handlung und zerstört den Raum dazu. Nacht! Nacht! du undurchdringliche, ewige, du liebende Geliebte, du Gipfel der unendlichen Tiefe, du Ruhe der Vollendung. –

Meine Liebe zu diesem Menschen war kunstlos, und mehr als die Kunst, denn die Kunst kann mich nicht trösten. Allgemeine Träumereien über die Kunst sind mir am zulänglichsten, ich bringe dann mit, was ihr fehlt zum Leben, die Liebe, aber sie endigen sich leider meistens mit Sehnsucht nach ihm und sind der Weg meiner Pflicht zu meiner Sünde. Wer mit einer solchen Tätigkeit in dem Herzen der Natur liegen kann wie ich, dem genügen ihre einzelnen Sinne nicht, die in das Leben wie winkende Denkmale hingestellt sind. Und was ist das Herz der Natur anders als die Minute, wo sich die Arme umschlingen und alle Trennung ein Einziges wird, und was ist die Umarmung der Liebe anders als der geistigste und körperlichste Gedanke des Lebens, wo alles nur die Kraft wird, zu bilden, ohne zu reflektieren, das Objektivste ohne Bewußtsein, das Kunstwerk der Genialität? Wenn wir die Kunst nur kennen, so werden [93] wir auch Künstler werden können –! Ja es giebt auch gesunde Kinder der Ehe, aber die Kinder der Liebe sind genialischer, und schöner, und fähiger.

Ich will umarmt sein, indem ich mich selbst umarme. Ewig kehre ich an den Ähnlichkeiten der sogenannten Kunst im Einzelnen zu jener Sehnsucht eines Umgangs mit einem Höheren, wie an dem Anblick schöner Zerstörung in verfloßne Zeit der Jugend und Fülle des Werks, zurück. Dort scheint mir der Sinn des Wortes zu liegen, das nur noch silbenweise um mich tönt, als wäre nur noch eine Silbe der Zeit da, die es ausspricht. Das Element ist in dem ganzen Raume verbreitet, aber tief unter den Bergen rauscht die kristallene Woge, in einsamen Klüften dringt sie noch im Quelle rein aus dem Grabe der Jahrtausende. O ihr werdet sie nimmer zwingen, in den häuslichen Brunnen zu dringen, ihr werdet sie nicht durch die Fontainen eures Marktes künstlich dem Himmel entgegentreiben, höchstens zum Schauspiele könntet ihr sie gebrauchen, wenn ihr sie leiten könntet, denn das Geschlecht ist wahrlich zu krank, um das Reine zu ertragen.

Mir steht die Musik, die Malerei und Bildnerei und die Poesie itzt da wie eine Relique des Ganzen, das die Liebe ist, und das mir auch die meinige immer war. Ich habe das alles umfaßt in Einem, der das alles im Einzelnen nicht war.

Der Tempel ist über mir zusammengestürzt, und mein Gebet, das so frei und unwillkürlich an dem Gewölbe der Kuppel sich in Worte ründete, durch die Räume der erhabenen Säulenordnung in Takte zerklang und in ihren Kronen liebliche Tonspiele umarmte, ist mit dem Echo zertrümmert. Am freien Himmel hallt es nicht wider, und mein Dienst trauert wortlos und ewig in sich selbst zurückesinnend an den schönen Trümmern, die alle zu Altären geworden sind. Soll ich Opfer bringen? Ein Opfer ist keine Liebe, es müßte sich sonst selbst entzünden. O dieses Nachsehen, und dieses Nachhallen!

Wenn ich Musik mache, so ist mir jeder einzelne Teil so traurig wie ein Brief an eine ferne vertraute Welt, die mich mißversteht, weil sie den Takt meines Herzens, meinen Blick, das Bild des Vorgetragenen in meiner Phantasie, die Schwäche der Maschine und die Tyrannei des Hebels nicht sieht, den mein [94] Körper so ungeschickt zwischen mich und meine Äußerung hinlegt; und doch ist dieses Stammeln, dieser Kampf zwischen Wollen und Können ein Muß, dem der Vorzug einzelner Töne vor einer weiten stillen Öde wenig Reiz giebt, denn der Starke ist lieber tot, als er tändelt.

Doch spiele ich, ich spielte anfangs fremde Erfindung. Das dauerte nicht lange, es war mir, als schriebe ich an die ferne Welt, um an der Unzulänglichkeit schuldlos zu sein, aus einem Briefbuche ab, und schämte mich. Als mich mein Freund begleitete, fand ich in dem Einstimmen seiner Flöte in meine Akkorde wenigstens das scheinbare freie Schaffen der Liebe zu ähnlichen Gegengenüssen, wie das Schachspiel ein geistreiches Gespräch scheinen kann. Wer seine Flötenuhr akkompagniert, oder mit sich selbst Schach spielen mag, der muß mehr Kraft als Stoff haben, und das habe ich nicht. – Ich phantasierte, und sprach mich ganz aus, aber bald hemmte mich die sonderbare Empfindung, ich würde selbst ein wildes gestaltloses Lied, das ewig aus sich selbst ringt, und nie wieder in sich zurückkehrt: dies war mir schrecklich, ich erschien mir wie eine kalte Bildsäule, die in der fortstrebendsten Leidenschaft ewig ruht, ohne Ruhe zu sein, und auch dies war fürchterlich. – Habe ich denn nichts, wenn man mir nichts giebt, und bin ich denn nichts, wenn ich nicht durch die Augen eines andern gesehen werde? Kein Genuß ohne Auswechselung; ich hatte gesungen, und niemand hatte mich gehört. Der Ton, der nicht gehört wird, ist nicht da, ich hörte mich nicht mehr, denn ich sang mich.

Ich sang dann in öffentlichen Konzerten und berauschte mich in der allgemeinen Stille. Es war keine Eitelkeit, es war das Gefühl, als breite ich mich über alle aus, mit weiten tausendfachen Armen, indem ich mich aus mir selbst in eine große Höhe verfolgte, und wenn ich mich in diesem Zustande in einem Bilde aussprechen sollte, so war ich der Strahl eines Springbrunnens, der aus der Mitte eines Bassins emporsteigt, sich in den Sonnenstrahlen spiegelt, und wieder zurückfällt. Es freute mich, daß ich Reize genug besitze, mir selbst alles geben zu wollen, und doch noch die Menge zu rühren. Da aber ihr Beifall im Händeklatschen über mich herfiel, war der schöne Traum geweckt. Sie schienen mit Gewalt aus sich herauspochen zu wollen, was [95] ich in sie hineingesungen hatte. Die Männer hatten allein geklatscht, ich verachte die Galanterie wie gemachte Blumen, und will keinem mehr gefallen. Der scheinbare Umriß der Musik, sein ewiger Wechsel, und dabei doch die Sklaverei gewisser Verwandtschaften, Fesseln, denen man nie entgeht, und die, wegen ihres Spielraums, doch solchen Reiz der Freiheit hinbieten, ihre bildlose Fülle, die ich zu tausend Bildern schaffen kann, diese unerschöpfliche Menge, die nie das erreichen kann, dessen Teil sie nur ist, alle Liebe und die meine, die ich doch so ganz umfaßte, ängstigte mich zuletzt, als hätte ich ein Spiel in Händen, das sich kühn über den Meister erhebt und mit ihm selbst spielt, oder zu dem ich selbst würde.

Ich bestehe selbst, und so im Kampfe, mit dem Ganzen eins zu sein, daß mir nur das schnelle Umfassen des Ganzen mit einem Blicke ein Genuß werden kann. In seinem Blicke sprach sich mir alles Licht, alle Farbe, alle Malerei meiner Welt deutlich aus. Wenn er an meinem Arme im Garten auf und ab ging, waren mir die Töne der Natur nicht mehr roher und ungebildeter als die Töne der Kunst. Er war mir der Mittler; indem ich mich mit ihm verbunden fühlte, war in ihm alle Kunst, ohne die Härte des Alleinstehens, leise aus der Natur weggeleitet, und so leise, daß keine Verwunderung, keine Unerklärbarkeit mehr zwischen ihr und mir lag. Ich war zum Selbstbewußtsein gekommen, daß ich vom Äußern und das Äußere von mir unzertrennlich sei, und daß wir in einer freundlichen lebendigen Abhängigkeit voneinander leben.

Es ist mir nur immer, als hätten die Menschen, da die Liebe die Erde verließ und mit dem süßesten, tätigsten Nichtstun, mit dem Bestehen durch aus sich selbst würkende unendliche Kraft die schreckliche Mühe und die Maschinerie ohne Perpetuum mobile abwechselte, als hätten damals die Menschen in schneller Eile das Deutlichste und Reinste aus dem herrlichen Haushalte der Welt stückweise errettet und in künstlichen Kisten und Kasten verschlossen. Das sind nun die einzelnen Künste, deren Zusammenhang sie ängstlich zusammensuchen, und sie mit den Resten des allmächtigen Verstandes zusammenkleben und beschreiben wollen. Mir stehen sie itzt nur da, wie ich Ihnen schon sagte, wie traurige Denksäulen verlorner Göttlichkeit, die uns [96] ewig winken; wir sollen hin zu jener Welt, die vor uns geflohen ist, und die wir mit unendlicher Sehnsucht erwarten.

Wir liegen halb aufgerichtet vor diesen göttlichen Aposteln, die in alle Welt versandt sind, und werden von den göttlichen Trümmern eines Ganzen gerührt, das wir selbst mitbildeten. Wir knieen vor der Reine unsrer eignen Schönheit in weinender Rührung – und die beste Theorie der Kunst scheint mir immer antiquarisch und unzuverlässig. Obschon es ein schönes Beginnen ist, die göttlichen Trümmer mit Mühe zu ergänzen und zu erläutern, so bleibt mir doch der Gedanke traurig, daß wir uns dann selbst mit zerlegen und zusammensetzen müssen, um in unserm Einzelnen die wenigen Strahlen, die das Verlorne zurückgelassen hat, aufzufinden, und so aus uns verderbten und verkehrten Wesen die entarteten Gliedmaßen herzustellen, die den Torso ergänzen sollen.

Wenige Schöne sind mehr in der Welt, die durch Unwissenheit sich schuldlos fühlen, die das Verlorne nicht suchen, weil sie es nicht vermissen, indem die freie Liebe, die Mutter aller Kunst, in ihnen wohnt. Wie reine Wesen erblicken sie den Spiegel, in dem sie sich spiegeln, und tragen aus der Welt mit ihrem eignen Bilde die Welt in sich zurück. Sie durchströmt das Leben, das sie selbst durchströmen, und das Schaffen, das sie mit dem Ganzen in sich aufnahmen, schafft unwillkürlich wieder in ihnen. Wie alle mit der süßen Gewalt der Geschlechtsliebe im Innern auf die rege Bahn treten, so treten nur wenige mit der Allmacht der freien Liebe ins Leben. Denn das Schaffen liegt im Geschaffenen. So wie die Materie aus ihrem allgemeinen Dasein in der Geschlechtsliebe in die Vereinzlung und Ähnlichkeit des Liebenden tritt, so spricht auch die freie Liebe den Geist, oder die Gottheit, in schönen Kunstwerken aus, indem sie das Unendliche in die Form ihrer Ähnlichkeit trägt und dieser Form ein Leben im Einzelnen giebt. Durch eben diese Vereinzlung werden wir sonderbar gerührt, weil die Mannichfaltigkeit bis zur Unkenntlichkeit in ihr gebunden ist, das Einzelne ungeheurer und seltsamer vor uns steht, und wir erregt werden, indem wir das vor uns und mit uns leben sehen, worin und wodurch wir leben. – Über ein schönes Kind kann ich mich ebenso sehr freuen als über ein schönes Kunstwerk, weil diese zwei Arten sehr in mir zusammenhängen [97] und ich zu der ersten eine größere Fähigkeit habe. Je mehr der einzelne Teil der Göttlichkeit in dem Werke in sich selbst geründet ist, je weniger schmerzhaft dem Blicke der Übergang von dem Alleinstehen des Einzelnen in die volle Verbindung des Lebens ist, je schöner ist das Werk, je reiner, je vollkommner ist ein Sinn hingestellt, ohne uns an das traurige Vermissen des Ganzen zu mahnen.

Die meisten Verbindungen der Künste zu einem Einzelnen werden mir daher gräßlich und erhalten etwas sonderbar Totes und Ekelhaftes. Masken und Wachsfiguren können mir nie schön werden. Unsre Stümperei erscheint hier verbunden mit unsrer Unwissenheit. Die Farbe darf nie mit der greiflichen toten Form zusammenkommen, denn sie begleitet nur den Wechsel, indem sie sich selbst nicht angehört, sondern dem Lichte. – Deswegen sind Augäpfel an der Bildsäule so unerträglich. Denn eine Bildsäule soll nur die Oberfläche aussprechen, sie erscheint mir wie ein umgekehrtes erdichtetes Leben, in dem die Seelenäußerung von außen nach innen geht. –

Ich habe Ihnen geschrieben, wie es mir mit dem Singen erging, mit dem Zeichnen und Malen wird es mir nie anders ergehen. Ja hätte ich das reizende Bild in mir, das mich in süßer Bewunderung auflösen kann, bestimmt mit allen seinen feinsten Umrissen, wie es in meinen Glauben, meine Liebe, in mich selbst hinüberschwebt, ohne Grenze ewig und vollkommen, und könnte ich es fest, wie es nur die Allmacht kann, auf eine Stelle hinbannen, ohne ängstlich die Linie an die Linie, den Punkt an den Punkt zu reihen – o des Mechanismus im Lebendigsten! – so würde ich malen. Wo ist der Künstler, der sich erreichte, und wer kann im Staube nachbilden, was seine Seele ahndet? Die großen angestaunten Bildner geben mir nichts als das Gefühl ihres Übergewichts. Wir stehen in Staunen hingerissen vor Bildern, die wir nicht begreifen können, wir schreiben dicke Bände über Gefühle bei einzelnen Kunstwerken, die uns unerklärbar sind. Sein Gemälde, das er in der Seele trug, hat der Künstler nur hingestümpert, und das Gemälde unsrer Seele bei weitem übertroffen; ihm selbst wird kein reiner Genuß, denn es ist unedel, im Gefühle des Schwächeren den Strahl seiner Stärke brechen zu lassen. Darum muß man weit über mich[98] erhaben sein, um in seinem stets mißlungenen Werke mein gelungenstes Ideal hinzustellen, und ich selbst kann mich also nicht damit trösten. Ja es ist mir mehr Genuß, mich, durch den leisen schwimmenden Nebel der Ahndung von meinem Geiste getragen, bescheiden dem größten Bilde meiner Phantasie zu nähern, als es schändend zum Spotte meiner Augen in Handgreiflichkeit vor mein Erröten herabzuzerren. Übrigens ist in meinen Idealen der Übergang, der Wechsel, die Beweglichkeit zu reißend, um sie je in den stillen bildenden Künsten zu suchen; nicht der Blick, nein der Augenblick des Blicks, ist meine Sehnsucht, nicht die Bildung der Glieder, nein der Tanz, reißt mich fort.

Wenn ich vortreffliche Kupferstiche oder Gemälde betrachte, überfällt mich eine Bangigkeit, eine Unruhe, die oft in Schwermut übergeht, wenn gleich diese Gemälde diese Empfindung nicht schildern. Ich glaube diesen Eindruck durch das Gesagte hergeleitet zu haben.

So ergeht es mir, lieber Freund, in den einzelnen Künsten; wie sollte es mir besser gelingen in der Seele aller, in der Poesie? Bin ich doch selbst ein Gedicht, und meine ganze Poesie. Aber ich lebe in einer Zeit, wo die schöne Form verloren ging, und so fühle ich mich geängstet, und unglücklich, weil ich nicht in meiner eigentlichen Gestalt lebe. Nimmer werde ich der Welt ein Lied hingeben, denn sie giebt mir nichts hin. Die Gedichte der Natur, sie gehen stille vor mir auf und nieder, und ich traure, wenn ich in das Morgenrot sehe, und in das Abendrot, in den heißen treibenden Tag, und die tiefe volle Nacht. Sie rühren mich, als träten sie vor mich und sagten flehend zu mir: O, gieb uns eine Seele und ein Leben, daß wir deinesgleichen seien, daß wir mit dir sein können und mit dir lieben. Ich stehe vor ihnen wie ein Spiegel, sie sehen in mich und ich in sie, und sie sinken vor mir hinab, denn ich kann sie nicht befestigen. Im Leben muß ich sie sehen, um sie freudig zu erblicken. Nichts kann ich umarmen, denn mir ist die freie Liebe versagt. Zwischen mir und dem Geliebten muß die Poesie stehen, die von mir selbst ausgeht. Wenn er mich umarmt, und ich mich in ihm umfasse, so ist die Gestalt in mir und ihm, und ich habe gedichtet.

[99] So wie mir das einzige Talent des Bildens in der Geschlechtsliebe liegt, so ist wohl durch die Stummheit mancher Sänger verstummt, so wie der größte Maler blind, und der größte Tonkünstler taub geblieben sein mag. Aber diesen letztern bleibt ein Ausweg, die Poesie ist und bleibt die Seele ihres Drangs zu bilden, und sie sind Maler, Sänger oder Tonkünstler geworden durch die größere Macht eines einzelnen Organs in ihnen. So kann denn aus den Gemälden des Blinden eine Musik oder ein Gedicht werden, und aus der Musik des Tauben ein Gemälde. – Nur der Größte und Gesundeste und Freudigste kann ein großer Dichter werden, der alles dichtet, denn wem die Macht der Ausübung und des Stoffs, das Leben und der Genuß im vollen blühenden Gleichgewichte stehen, der wird und muß ein Dichter werden.

Menschen mit voller Lebensfähigkeit, und so auch ich, stehen immer im Kampfe mit dem geregelten Leben. Sie sind bloß für das Dasein, und nicht für den Staat gebildet. Schmerzhaft schlägt sie die bürgerliche Gesellschaft in das eiserne Silbenmaß der Tagesordnung, und sie kämpfen, und verderben, weil die Liebe in ihr in das Handwerk des Ehestands gewaltsam eingezünftet ist. Häusliches Glück und gesellige Freude trägt man ihnen auf, die nur weltliches Glück und Freude des Universums erkennen. Viele, die frühe schon in diesem Kerker eingefangen sind, ja die in ihm die Augen eröffnen, siechen mit ihrer größern oder geringern Anlage fort, oder brechen durch übergroßen Reiz einseitig hervor, und der geringste muß wenigstens in einem Fieber, in einem Rausche, und oft schrecklich im Wahnsinn, der ewigen Poesie ihren Tribut bezahlen. Solche heftige Reize sind Einsamkeit, Freundeslosigkeit, und Eitelkeit. –

Nimmer werde ich das wunderbare Mädchen vergessen, die ein junges Opfer des Lebens fiel. Kordelia war innig an mich gefesselt, und glücklich, da ich noch unfähiger meine Glut in unbestimmte Sehnsucht ergoß, und doch wendete ich mich schon leise zur Sinnlichkeit, und konnte keine weite Aussicht ertragen. Sie war eine Schottländerin, und ihren Eltern entflohen. Sie ward dem Prediger, der mich erzog, zugeführt, man hatte sie bettelnd in den Straßen aufgefangen und meinem Pflegevater überbracht. Sie sagte ihren Namen nie, so sehr man [100] sich darum bemühte, denn sie fürchtete sich, zurückgebracht zu werden. Nach dem Tode meines Pflegevaters, der bald darauf erfolgte, blieb sie bei mir, und war enge mit mir verbunden. Sie arbeitete nie, ja sie hatte einen seltsamen Abscheu vor der Arbeit, was sie auch bewogen hatte, ihre Eltern zu verlassen, für die sie nicht ohne Zärtlichkeit war; aber auch diese Liebe war ihren Eltern nicht begreiflich gewesen, wie ihr Abscheu vor der Arbeit, wegen dem sie von ihnen öfters hart behandelt worden war. Ich fand sie einstens abends im Garten auf dem Angesichte liegen, und erschrak, weil ich glaubte, es müsse ihr etwas zugestoßen sein. Ich rief sie, da sprang sie auf, nahm mich bei der Hand, und lief mit mir den Garten hinaus, nach unsrer Wohnstube. Ich war heftig erschrocken, und da ich sie dringend bat, mir die Ursache ihres Zustandes zu erklären, sagte sie mir: »Sieh, ich saß im Garten, und sah die Abendsonne, ich war froh und glücklich, denn es war alles schön; aber plötzlich zerriß sich der Himmel, und es war alles noch herrlicher, und immer anders, und wieder und wieder, da konnte ich es nicht allein ansehen, es war zu viel und zu schnell. Mir fiel ein, daß meine Mutter einstens sagte, wie der Abend so schön sei, und mir die Tränen dabei in die Augen traten, weil ich nicht draußen am Walde sein könnte; da nahm mich meine Mutter hinaus in den Wald, setzte sich zu mir, und ich liebte sie unendlich, aber sie lief wieder zurück an die Arbeit, und war traurig, daß sie nicht dableiben durfte. Wie ich nun itzt im Garten saß, und den schönen Wechsel der Farben ansah, fühlte ich, daß meine Mutter itzt an der Arbeit sitze, und dies nicht sehe, und dies nicht; so warf ich mich denn auf das Angesicht, um es auch nicht zu sehen, denn es zerriß mir das Herz, daß die Farben so schnelle verschwanden, und nicht warteten, bis wohl die Arbeit meiner Mutter vorüber sei.«

So war ihre Liebe, die Vorstellung des Todes war ihr nur fürchterlich, insofern sie fürchtete, die Sonne nicht wieder zu finden, und den Mond; ob ein andrer stürbe oder lebte, das rührte sie wenig. Nie waren wohl verschiednere Menschen verbunden als wir beide. Zwischen ihr und der toten Natur war kein Mittler nötig, so wie ich kein Interesse für die tote Natur habe, wenn sie sich mir nicht im Auge eines andern reflektiert. [101] Der Abend- oder Morgenschimmer an den Bergen bestimmte ihre ganze Glückseligkeit. Jeder schöne Morgen war ihr ein freudiges Geburtsfest, jeder Tag ein glücklicher oder unglücklicher Freund, und jeder Abend ein Tod. Sie stiftete einzelnen Tagen, die ihr besonders lieb gewesen waren, Denkmäler, indem sie einzelne Blumen pflanzte, oder mehrere in eine bestimmte Ordnung stellte. An einem ähnlichen Tage erinnerte sie sich immer des verflossenen, und lebte mit der Zeit und ihren Gliedern in einer wunderbaren Verwandtschaft. Bei mondhellen Nächten war sie voll freudiger Wehmut, und sie saß dann oft in einer wunderbaren Begeisterung im Garten. Sie nannte die Nacht die enthüllte Zukunft und Vorzeit, jeder Stern war ihr das Bild eines Tages in weiter Entfernung, der vorbei sei oder komme, es ergriff sie dann eine heftige Sehnsucht, und sie schien sich selbst nicht gegenwärtig; »ich eile nach und eile entgegen«, so drückte sie ihren Zustand aus. Sie liebte am Tage, und betete in der Nacht, dies war ihr Leben. Ich lehrte sie mit vieler Mühe schreiben, und sie schrieb dann die Geschichte ihrer verstorbenen Freunde, der Tage, auf, schrieb Briefe an sie, und dichtete im Winter elegisch. Sie entwickelte meine Anlage zur Schwärmerei, aber meine Schwärmerei war die der Sinnlichkeit. Wenn sie in den weiten Himmel sah, so berührte ich ängstlich, mit wunderbarem Entzücken, die Blätter und Blumen der Pflanzen, ich saß oder lag immer in mich selbst verschlungen im Garten, wenn wir solche Nächte zubrachten, und sie stand aufrecht und frei, mit gehobenem Gesichte. So trennten wir uns im Innern schon bestimmt, wie wir uns nachher ganz trennten. So wie ich geschloßne heimliche Gegenden liebte, so war es ihr höchstes Entzücken, von Bergen oder Türmen weit hinaus zu sehen. Auch hatte sie das Bedürfnis nicht, sich mir zu nähern, wenn sie mit mir sprechen wollte; jede Entfernung, die die Stimme bequem erfüllen konnte, war ihr schon hinlänglich und lieber als Annäherung, und jede Umarmung war ihr unerträglich. Sie erschrak leicht, wenn sie von ungefähr meine Hand oder irgend etwas Lebendes berührte, und war, bei einem hohen Grade von Schönheit, mit wunderbar durchsichtigen Bewegungen und Mienen, das keuscheste Weib durch Anlage. –

[102] Sie liebte mich, weil ich sie duldete, sonst empfand sie keine Neigung zu mir, noch zu irgend einem andern Menschen. Als Godwi mich kennen lernte, als er mir immer näher kam, und endlich am nächsten, war sie in ein kleines Gartenhäuschen gezogen, und in der Nacht, in der ich Karln gebar, verschwand sie. Vier Jahre nachher fand ich zufällig eine Sammlung von Gedichten in London, die ich für die ihrigen erkannte. In der Vorrede fand ich die Anzeige der Herausgeberin, daß die Verfasserin tot sei. Ich konnte nie erfahren, wer die Herausgeberin war.

Meine Freundin hatte in der Zeit, da ich meinen Weg von dem ihrigen trennte, mehr gedichtet als gewöhnlich, und eines ihrer Lieder hat mich wunderbar gerührt. Es ist mit dem Namen des Tags nach der Geburt Karls überschrieben, da sie also schon geflohen war. Das Lied ist ein Quartett zwischen dem Monde, der Sonne, der Nacht und einer geblendeten Nachtigall, die sich zu Tode singt, weil sie die Stunden der Ruhe nicht mehr erkennen kann. So gehen ihre Lieder allegorisch fort, und nähern sich zum Ende einem ganz eignen Sterben in sich selbst; alles, was mit den Sinnen erkannt wird, schwindet mehr und mehr. So klagt sie, daß der Mond immer dunkler werde, und die Sonne immer matter. Auch ist ein Klagelied darunter, an die ewige Dämmerung, die schon mehrere Wochen daure; dann ein Ruf an die fliehende Natur, die Bitte, nicht so schnell zu fliehen, damit das Mädchen mitkönne; dann ein Lied an das Leben, das einzige, in dem sie von Menschen spricht, und das letzte, die Wiedergeburt genannt. Sie beschreibt in ihm, wie sie in die tote Natur zerrinnt, wie sie nun die Rolle wechseln und so nach dem Leben schauen und das Lebendige besingen werde, wie sie bis itzt der toten Natur getan habe. –

Wie wenig ich mich zur Dichterin schicke, beweist schon, daß ich immer auf den Verfasser zurückkehre. Ich kann nicht lange auf dem Gedichte verweilen, gleich überrasche ich mich auf dem Gedanken: »Welche Seele! die so dichtet«, und nie habe ich die Schönheit des Werks, immer nur die Kraft und die Fülle des Meisters geliebt. Die Dichtkunst ist mächtiger als Malerei; wie mir jene Herabzerrung des Ideals ist, so ist mir diese Beflügelung desselben oder doch wenigstens völliges Erreichen. In der Poesie übergebe ich das Werk sich selbst, und die [103] Macht, welche bildet, bildet sich selbst, denn das Werk ist in ihr die ganze Kraft des Meisters. Ich habe in ihr mit der Phantasie begehrt, und erfülle mit einer ebenso großen Gewalt, mit der Phantasie. Die Bildung verhält sich in ihr zum Ideal wie die Sprache zum Denken, in der Malerei aber wie die Farben, die Gestalt zum Denken. Ich kann mein Ideal in mir in der gedrängtesten Gestalt empfinden, und es in der Dichtung unendlich ausbreiten und entfalten, denn das Wort hat Farbe und Ton, und beide haben Gestalt. So kann ich mit den Geistern aller Sinne mein Gedicht allen Sinnen übergeben, da ich in der Malerei das ganze weite vielgestaltete Bild auf die Macht des Auges beschränken muß, ich muß einen Sinn zum Richter der unendlichen Phantasie machen, und mit den Farben die Sprache erreichen wollen. – – Die Besinger sind den Malern so unähnlich als die Sänger den Bemalern – der Dichter ist größer als der Maler, denn der erste hat mehr gedichtet als er malen konnte, der letztere aber kann nie malen, was er dichtete. Zum Maler bin ich zu klein, welch Lied würde das werden?

Alles dies hatte ich gedacht; und gefühlt, daß die Kunst mir nimmer die Liebe ersetzen kann. Diese künstliche Kunst! So war ich, als ich meinen Sohn fand – o könnte jeder, der einen Mißton in der Liebe griff, sich auf diesen Einklang retten. Diesen kann man mir nicht nehmen, nicht ich, nicht die Pflicht, nicht der Überdruß. Er ist von mir, er ist mein wieder beginnendes Leben, und wenn ich noch so viele Grundsätze zu befolgen habe, so kann dieser doch nie wegräsonniert werden.

Oft ist mirs sehr wunderbar zu Mute mit den Grundsätzen, ich kann sie dann gar nicht begreifen, und möchte dann so ein halb Dutzend Grundsätze auf den Kopf stellen, und sie umgekehrt befolgen, gar nicht aus Verachtung der Grundsätze, nein – aus lauter Langeweile. Grundsätze? – das ist mir so gar schwerfällig, als sollte ich eine Bastille aus Quadersteinen von Grundsätzen in mir erbauen, um die Gelüsten darinne einzusperren; ich sage die Gelüsten, denn wer kann die Tat erwischen, wenn sie geboren ist? Erklärt sie vogelfrei, sie ist unendlich geschwind, und fällt in die Anlage zur Handlung, wie ein Funke in das Pulver; nimmer werdet ihr sie bändigen, denn sie ist das Leben.

[104] Godwi hat seinen Bedienten, der mich in meiner Morgens-Wallfahrt so unangenehm störte, einem Landedelmann, der mit seinem Sohne hier auf dem Landtage ist, überlassen, und von diesem Bedienten weiß ich, daß er bei Ihnen ist.

Der gute naive Landjunker, der aus Unerfahrenheit mit den Sitten der Stadt einen Platz in meiner Loge nahm, erzählte mir viel von einem seltsamen Herrn Baron Godwi, der bei ihm gewohnt habe, und ich erfuhr mit einigem Unwillen, daß er mit der Schwester des Junkers recht vertraut gewesen sei, so daß es diesem wie eine pur angelegte Sache vorgekommen ist, wie er sich in seiner Unschuld ausdrückte.

Nun so bin ich dann schon vergessen; oder ist er einer von den Mächtigen, deren Leichtsinn Universalität, deren Treue Einseitigkeit, deren Langeweile Tiefe, deren Schwärmerei Höhe ist? –

Küssen Sie Ihre Otilie, danken Sie ihr für ihre Mühe an Eusebio.

Sollte Godwi nicht auf diesen Kleinen wirken, und wie wird er es tun?

Molly

Jost von Eichenwehen an seine Schwester Joduno

Der Papa, liebe Klaudia, hat viel zu viele Geschäfte, darum hat er mir befohlen, zu schreiben, und siehst du, unter uns gesagt, es wäre auch ohne Geschäfte nicht so recht seine Sache mit dem Schreiben.

Man kann es ihm auch nicht verüblen, denn zu seiner Zeit gings noch nicht so rasch mit der Kultur und der Aufklärung, wie es jetzt geht; da denn der Sohn den Vater immer überschreiten muß. Es geht dir auch jetzt so höllisch geschwind, daß man ordentlich recht auf seiner Hut sein muß, um seinen Vormann nicht übern Haufen zu werfen. Mir brummt der Kopf vor lauter Bildung, und wenn ich mich nicht fast allein auf die Taktik und Heraldik legte, so würde ich sicher vor Eilen in der Aufklärung den Atem verlieren.

Mit dem vierten Band vom Akazienbaum bin ich kaum fertig und habe noch viel von der Pockennot, und besonders vom [105] Runkelrüben-Zucker vor mir. Ich möchte des Teufels werden, wenn ich denke, daß unsre Kühe so viel Zucker gefressen haben, den wir hätten zu unserm Kaffee brauchen können, und so viele Blattern gehabt haben, die wir hätten den Menschen inokulieren können. So geht es aber, wenn man in seiner Kindheit fortlebt. Wenn ich nur wieder zurückkomme, da soll eine ganz andere Bildung losgehen.

Das Leben in der Residenz ist freilich ein ganz andres Savoir-vivre, da herrscht dir ein Ton, der sich darf hören lassen, und du mußt mirs verzeihen, wenn ich manchmal in diesem Brief hie und da so etwas durchblitzen lasse, das dir Kopfbrechens kostet; aber wenn man einmal in dem Strom der Aufklärung drinne sitzt, so muß man immer weiter mit fort, und ich möchte mir noch so viel ennui geben, ich kann mich nimmer auf meinen alten Stil und Schreibart besinnen.

Ich habe aber auch die Ohren gespitzt, um alles recht zu erwischen, gieb Achtung.

Morgens um – – zehn Uhr stehen wir auf, dann wirft man sich in eine Negligence und hat, man sagt aber nur so, nicht gut geschlafen. Dann geht man in der Stube auf und ab, bis der Friseur kömmt. Da geht es dann gleich mit der Bildung an, die schönen Wissenschaften nämlich, und zwar das Theater. Der Friseur macht alle Perücken für die Schauspieler, und wickelt einen mit lauter Komödienzetteln auf. Gestern hat er mich mit lauter Familienstücken gebrennt, und itzt habe ich den Gustav Wasa und Bayart von Kotzebue hinter den Ohren.

Der Friseur sagt einem auch, was am stärksten gelesen wird, denn er sieht das immer, wenn er die Leute frisiert, wo er recht schöne Stellen den Leuten über die Schulter weg aus dem Buche liest und auswendig lernt. So hat er mir auch gesagt, daß im Wallenstein recht schöne Stellen wären. So komme ich denn so nebenbei zu den schönen Wissenschaften. Aber ich lese, wenn er mich frisiert, gewiß so kein Buch mit schönen Stellen, weil ich bemerkt habe, daß einen der Mensch dann rauft, und manchmal gar über den schönen Stellen dieser großen Köpfe an meinem kleinen eine Stelle sehr häßlich macht.

Im Anfange wollte mir das lange Liegenbleiben des Morgens gar nicht recht vonstatten gehen; ich hatte schon eine halbe [106] Stunde lang die indianischen Blumen auf meiner Bettdecke betrachtet, und alle die seltsamen Figuren auf der Tapete, als ich es nicht mehr aushalten konnte. Ich machte mich also auf, und wollte mir die Stadt ein bißchen besehn. Die Hunde nahm ich mit, und nun ging es hinaus.

Keine Menschenseele war zu sehen, nur einigemal kam eine Hetze Soldaten, guckten mich an, oder fragten mich aus. Auch bin ich in zwei große Verlegenheiten gekommen. Du kennst meine Wißbegierde zu der Taktik, ich stellte mich also an ein Schilderhaus und erzählte einem schönen großen Grenadier, der drinne stand, daß ich hier sei, um auch Soldat zu werden, und noch vieles dergleichen. Der Kerl antwortete nicht, und da er, als ich ihm einen guten Morgen bot, mit dem Kopfe nickte, so glaubte ich, daß er auf seinem Posten nicht sprechen dürfe, und erzählte ihm immer wacker zu. Er stand im Häuschen drinne, und ich hatte mich auch so halb hineingedrückt, weil es frisch war in der Morgenluft. Gerade in meinem besten Erzählen da ruft es draußen: Rund! ich weiß nicht, was das bedeutet, und ein paar Augenblicke darauf prügelt es derb in das Häuschen herein. Das war dir eine schöne Geschichte, rühren konnte ich mich nicht, und der Soldat war wie verrückt, er wußte gar nicht, wer ich war, und ich hatte ihm doch alles erzählt. Endlich ging es an ein Examinieren, wie ich hierherkomme, was ich mit der Schildwache vorhätte. Ich erzählte alles, aber da war der Grenadier so undankbar, und schwur, daß ich ihn mit meinen Diskursen eingeschläfert hätte. Wir konnten gar nicht auseinanderkommen, bis ein Branntweinschenke seinen Laden aufmachte, und das Schild, das er eben heraushängen wollte, unter dem Arme haltend, zu uns hintrat. Da nahm das Ding gleich eine andre Wendung; der Unteroffizier schlug vor, die Sache bei dem Manne auszumachen, und die ganze Gesellschaft trank meine Gesundheit bei dem Branntweinschenken. Ich bezahlte die Zeche, und machte die Bemerkung, wie äußerst wohltätig es im Staate ist, daß der Wehrstand und der Nährstand sich einander unter die Arme greifen.

Die zweite Verlegenheit war den andern Tag auch morgens ganz früh. Der Vater hatte mir abends im Bette, wo er mir denn immer viele gute Lehren aus seinen Erfahrungen über den Umgang [107] mit Menschen giebt, vieles von Gefahr mit Seelenverkäufern erzählt, die einen in großen Städten wegnehmen, und einen zu Matrosen machen. Das nahm ich mir besonders zu Herzen, denn ihrer Schlingen, eine arme Seele zu fangen, sind unzählige.

Ich ging wieder so früh hinaus, denn ein Mensch, der Soldat werden soll, darf sich von nichts abschrecken lassen. Es war auf dem großen Platz, wo die vielen Bäume stehn, da ging ich auf und ab, und denke dir, was das für ein Wesen mit den Frauenzimmern in dieser Stadt ist, eine ging schon da auf und ab spazieren. Sie mußte wohl melancholisch sein, denn sie sah gar verwirrt aus, und tat mir leid. Endlich kam sie auf mich zu, und sagte gar freundlich, sie wünsche bei mir zu deschönieren, sie sei gar wunderbar gestimmt, und ein wenig hungrig, auch könne ich zu ihr kommen, neben ihr wohne ein Kaffeewirt, da könne ich die Schokolade holen lassen. Ich verwunderte mich ein bißchen, und meine Hunde beschniffelten sie. Sie hängte sich mir in den Arm und sagte, es sei ihr gar heiß auf dem Herzen, deswegen öffnete sie das Halstuch ein wenig; dann sagte sie: »Was das doch eine seltsame Krankheit ist, mein Herr, sehn Sie, die Hände sind mir eiskalt«; da reichte sie mir die Hand, und drückte mir sie sehr heftig. Ich konnte gar nicht begreifen, was das für Manieren seien, und fragte sie, wie sie heiße? »Ich heiße Aurora«, erwiderte sie, »und erwarte meine Schwester am Himmel.« Ich verstand, daß ihre Schwester gestorben und im Himmel sei, daß sie es gar nicht mehr erwarten könne, zu ihr zu kommen, und darum fing ich an, sie zu trösten. Aber sie guckte mich groß an, und meinte, ihre Schwester werde alle Morgen geboren. Das machte mich nun ganz verwirrt, es ward mir angst und bange, denn die mußte keinen Vater noch Mutter mehr haben, und närrisch obendrein sein.

»Sind Sie denn die ganze Nacht hier so spazieren gegangen«, fragte ich. –

»Ach nein,« sagte sie, »ich komme soeben da aus dem großen Hause, da war ich heute nacht bei Freunden. Gehen Sie doch mit mir, kommen Sie geschwind, ich höre Fußtritte, die Wache« – Da nahm das Mädchen plötzlich den Reißaus, und hinter mir kamen Kerls mit langen Stangen, ich lief deswegen [108] auch, so gut ich konnte, denn es waren sicher Matrosenpresser mit Mastbäumen gewesen, und das Mädchen vielleicht gar eine Schlinge von ihnen. Da ich nach Hause kam, lag der Papa noch im Bette, und sagte mir ganz ruhig, es würden wohl ein Fill de Schoa und einige Karson de Poliß gewesen sein, aber das macht nichts aus, ich weiß ja ebenso wenig als vorher, was die im Sinne hatten.

In die Komödie gehen wir alle Tage, und sind lustig oder traurig drinne, wie es seiner Durchlaucht gefällig ist, was man leicht an Dero Schnupftuch oder lautem Lachen merken kann. Manchmal ist man recht in Verlegenheit, wann Ihro Durchlaucht der Fürst lacht und die Fürstin weint, was letzthin der Fall war, da muß man sich denn, so gut man kann, herausziehen. Mit der Komödie ging es noch an, aber mit der Oper mag ich nichts mehr zu schaffen haben. Ich werde mein Lebetag nicht vergessen, wie es mir da erging. Der Papa bekam ein Billet gratis vom Hof, und sagte mir, ich möge nur der Schildwache ein paar Groschen geben, die würde mich schon hereinwischen lassen; ja mit dem Hereinwischen, da kam dir ohne Billet keine Katze herein.

Der ersten Wache vorn auf dem Platze gab ich zwei Groschen, denn der Kerl hatte doch Ehre im Leibe und begehrte nichts; dem an der ersten Türe gab ich wieder etwas oder mußte wohl, denn er begehrte recht derb, und je näher ich der Musik kam, je gröber forderten die Kerls. Ich hatte mich schon einmal mit dem Geben verstiegen, und mußte immer weiter, endlich war die Musik ganz nah, da zeigte mir der letzte ein Treppchen, da sollte ich hinabgehen und mich unten nur immer rechts halten. Aber, ach Gott! was war das ein Elend da unten, es war, als würde hier die ganze Welt erschaffen im Geigen und Donnern und Singen um mich, dabei ganz stichdunkel, alle Augenblicke stieß ich mich an. Neben mir kam einer mitsamt einem Stuhle niedergefahren, ich wußte über den unvermuteten Besuch mir gar keinen Rat, und steuerte ruhig vorwärts der Musik nach, bis ich einen matten Schimmer von oben herunter bemerkte. Da griff ich dann nochmals um mich, und ergriff etwas, das sich wie ein paar Beine anfühlte, und bald war ich fest davon überzeugt, denn sie fühlten sich auch so, indem sie [109] mir ein paar Tritte in die Rippen gaben, und eine Stimme, die herunterflüsterte: »Verdammte kleine Katze, hat Sie denn nimmer Ruhe, Sie wird machen, daß ich falsch souffliere; warte Sie nur, bis der Vorhang fällt, da wollen wir scherzen«, verstand ich auch nicht; doch war er freundlich, langte mit der Hand herunter, und kneipte mir in die Wangen. Ich steuerte endlich weiter und tappte immer mit den Händen voraus, bis ich endlich den Ausweg fand. Ich war wieder auf einem Gange, die Musik ganz nahe, sie spielten einen Marsch; ich mache die letzte Türe auf, und denke dir, ich stand auf der Straße, der Zapfenstreich zog vorüber, ich hätte fast geglaubt, es wäre im Stücke, und bloß so natürlich vorgestellt, wenn nicht die Kutschen vorübergerasselt wären. Da hatten die Schurken mich unterm Theater weggeschickt, ich biß mir vor Bosheit die Lippen, und zog mit den Trommeln durch die Stadt, bei denen geht es doch offenherzig zu.

Du würdest mich gar nicht mehr kennen, wenn du mich sähest, so bin ich dir zugestutzt, ein leibhaftiger Engländer und Franzose habe ich werden müssen, dem Allart und dem Packan wird es heute auch so gehen, denen haue ich heute Schwanz und Ohren ab. Alle dergleichen Tiere werden hier gestutzt, das kömmt vom Kronprinzen, und der hiesige Sterngucker ist schon in einer großen Verlegenheit, wie er den Kometen, der sich jetzt sehen läßt, englisieren soll.

Du hast dem Vater geschrieben, daß du nach B. willst. Ja, das ist nun so eine Sache, die Verführung soll dort groß sein, ich habe es in der Kasette de Kolong gelesen. Was mich hier oft ärgert, ist, daß fast alles französisch spricht, und man dann kein Pipswörtchen versteht.

Der Vater meint, daß es wohl nichts schaden könne, wenn du nach F. gingst, weil du so allein zu Hause bist und leicht das Heimweh kriegen könntest; aber ich meine, weil es dir nichts nutzt, da der Musje Godwi nicht weit von unserm Schlosse ist, und zu dir schleichen und dich mir nichts dir nichts verführen könnte. Denn sieh, ein guter Freund von mir hier in der Stadt England, der Kellner, sagt mir, in jetziger Zeit sei jedes Mädchen zu verführen, täten es die Männer nicht, so täten es die Bücher. Mit dem Bücherlesen hast du nun schon [110] einen guten Grund gelegt, wenn nun der Fantast dazukäme, der ohnedies alle Bücher von Anfang bis zu Ende gelesen hat, da könnten wir leicht einen Schandfleck in die Familie kriegen.

Nein! zu Hause kannst du platterdings nicht bleiben, du mußt nach F. – Ich kann dich nicht hinbringen, ich habe viel zu viel zu tun, teils mit meiner Bildung, teils mit dem Militairwesen; dreimal ist Wachtparade in der Woche, und die übrigen Tage wird geprügelt und Gassen gelaufen, da kann ich gar nicht abkommen. Du kannst nur einen von deiner guten Freundin Brüdern verschreiben, und ihn dem Amtmann vorstellen, der wird mir schon schreiben, wenn du mit ihm fort bist, was es für ein Mensch war, und ob du mit ihm ohne Gefahr reisen kannst.

Der Godwi ist doch bekannt wie ein Pudelhund. – Letzthin setzte ich mich zu einer Dame in ihre Loge, und da mir die Komödie Mackbeth nicht gefiel, fing ich mit ihr an zu sprechen; der Teufel weiß, was das für eine Dame war, die mußte auch von einer schönen Bildung sein, alle die Hexen und Gespenster gefielen ihr, und ich war schon zu Haus darüber hinaus, als ich mit dem Amtmanne das Buch gegen den Aberglauben gelesen hatte. Ich fragte sie, wie sie nur an den Vorurteilen Freude haben könne? Sie lächelte höhnisch, und sagte, es wären tragische Motive, Gott weiß aber, was das für Dinger sein sollen; dann sah sie immer wieder nach dem Theater, wo einer den Leuten mit schrecklichem Gebrülle weismachen wollte, es marschiere ein Dolch vor seinen Augen in der Luft.

Als ich ihr den Namen Godwi genannt hatte, ja da war ihr freilich alle das Zeug nicht phantastisch genug, der Name allein war ihr viel toller. Sie ließ gar nicht mehr nach mit Fragen, was ich von ihm wisse; sie sagte auch, er wäre ein sehr reizender Mensch, und da hatte sie freilich sehr recht; denn, bei meiner Ehre, du weißt, alle Menschen sind mir lieb, aber wenn mich je einer reizte, so war es dieser. Da ich ihr anvertraute, daß du in ihn verliebt seist, ward sie ganz blaß vor Unwillen und ganz still. Siehst du, liebe Klaudia, alle Leute sagen es ja, daß er ein Abenteurer ist, es ist nicht meine Meinung allein. Ich wollte recht gern, daß du einen braven gesunden Mann kriegtest, denn es ist ein altes Sprüchelchen, und ein Sprichwort ein Wahrwort: [111] Was macht die Frauen gesund und aufgeräumt? Alle Jahre ein Kind und eine tüchtige Wirtschaft; dabei bleiben sie gesund und ehrlich.

Es ist kein Einfall von mir, liebe Klaudia, viele brave solide Leute denken so. Du bist schon so mager und sehnsüchtig, um Gotteswillen, laß von diesem Wege ab, sonst bist du ein armes verlornes Kind!

Hier giebt es viele schöne Leute, besonders bei den Soldaten; da sind Kerls bei, wie die Kerzen gerad, und fest wie Brandmauern; auch sind die Straßen sehr hübsch gepflastert, und stehn gewaltig große Häuser in der Stadt, und viele Industrie ist da, das sägt Holz auf den Straßen und klopft Röcke aus, man muß fast die Ohren verstopfen.

Gestern waren wir im großen Irrgarten, wo mir besonders der große Christoffel gefallen hat, der steht auf einem hohen Berge und guckt in die Welt hinein, und aus seinen Augen gucken wieder Leute hinaus, denn sein Kopf ist hohl und seine Augen sind ungeheure Schalusieladen. Er ist von eitel Kupfer, und wenn man lauter Pfennige davon schlüge, könnte fast jeder Bettler einen im Lande bekommen; das will was sagen! Da sind auch viele Statuen, aber sie sind alle in steinerne Bettücher gehüllt, oder unverschämt nackigt, und haben keine Augäpfel, was gegen alle Moralität und Natur ist. Wasser springt von allen Seiten, und man kann gar nicht evitieren, etwas naß zu werden. Tabak darf darinne nicht geraucht werden, auch darf man keine Stecken schneiden.

Der Papa läßt dich grüßen – es trommelt schon, mein Lebetag habe ich keinen so langen Brief gesehen, du kannst daraus abnehmen, wie sehr ich dich liebe, und daß ich es gut meine. Adieu, grüße die alte Margarethe, sage ihr, ich würde ihr etwas mitbringen, und füttre den Star – der ich verbleibe bis ins Grab dein

Jost von Eichenwehen

Postskriptum

Es ist hier auch ein großer Lärm, weil der König hierher kömmt. Den ganzen Tag werden die Straßen gefegt und Lampen geschmiedet zur Illumination vom großen Christoffel, es [112] ist ein Gepimper in der Stadt, daß man die Uhren gar nicht hört; wenn ich nur die Post nicht verhöre. Soeben werden Vivat von hölzernen Stangen zur Illumination vorbeigetragen und allerlei poetische Sachen in Öl getränkt, was sich sehr vortrefflich ausnehmen wird, wenn man die Lichter dahintersteckt.

Auf die große Rewü freue ich mich recht, die Soldaten bekommen andre Kamaschen dazu, und an jeder Seite einen Knopf weniger, damit die Kamaschen nicht gar zu hoch kommen; auch sollen ihre Röcke verkürzt werden und ihre Gage erhöht. Bei der Rewü da wird dir es einen rechten Staub geben, wenn sie die entsetzlich vielen Beine bewegen, und das geht alles auf einen Wink, Links um! da siehst du zwanzigtausend Haarzöpfe, einen wie den andern – Rechts um! da siehst du zwanzigtausend Schnurrbärte, das geht alles, als kehrte sich die Welt um. Ist das nicht schön? Und dabei der rasende Lärm mit Trommeln und Pfeifen. Dann die Kavalerie, da ist der Mensch wie das Pferd, und das Pferd wie der Mensch, alles wie es der Herr Kommandant will. Auch werden kleine Attacken gemacht werden, Einhauen und dergleichen, aber alles zum Vergnügen, denn die Potentaten stehen alle recht bequem zum Zusehen, und wenn ein gemeiner Soldat vor Strapaz umfällt oder überritten wird, so schafft man ihn beiseite, damit es nicht ekelhaft aussieht. Gott sei Dank, liebe Klaudia, daß ich in diesem Säkulo geboren bin, wo solche erhabene Wissenschaften getrieben werden. Adieu.

Godwi an Römer [1]
Godwi an Römer

Werden wir uns wiederkennen, Römer, da der Wechsel die Dinge nun ergriff und in der Werkstätte des Lebens wir, andere Bilder, dastehen? Werden wir unsre Herzen herausfinden aus diesen Falten augenblicklicher Stimmungen? und wann werden wir ewig unveränderlich, nackt und vollkommen die schönste Vollendung unsrer Eigentümlichkeit sein? wo kein äußeres Zeichen mehr unsre Ordnung bestimmt, sondern wir selbst ein einziges, unteilbares Zeichen für unser höchstes Dasein sind.

Ich fand dich wieder in deinem zweiten Briefe, in dem dich [113] das Leben so bunt vermummt hatte. Ich kann dich auch so und vielleicht so noch mehr lieben, obschon du die Narben vieler Abenteuer der äußern und innern romantischern Zeit deiner Jugend trägst, und mir kein Einzelner mehr erscheinst.

Wie ist dir? du Armer! Soll ich den aufrichten, der mich nicht aufrichten konnte?

Dein Urteil war in deinem ersten Briefe weiter als dein Leben, und dein Geist richtete an der Wiege deiner Handlungen über die Sünden deiner Männlichkeit. – Ich erkühne mich nicht, über diese Zufälle auszusprechen, denn ich achte nicht die Gefahr, nein! nur die Süßigkeit des Lebens.

Man soll mich nie eines Eingriffs zeihen in das stille feierliche Weben der Liebe durch die Natur, womit sie uns dicht nebeneinander in die bunten Farbenmelodieen des Lebens verschlingt.

Nie habe ich den lächelnden Ernst und die kindische Feier dieses heiligen Gewerkes mehr empfunden als jetzt. Auch mich hat die Liebe mit unendlich zarten Armen umfangen, und an das warme lebendige Herz der Natur sanft herangezogen. Ich stehe nicht mehr allein, trotzig und kühn die Welt zu beschauen, und ihren tausendfachen Schritt, und das Begehren und Hingeben ihrer glühenden Pulsschläge. Ich bin im Leben, o Freund, und wo? In seinen unschuldigsten Blicken, in den freundlichsten Grübchen seiner Wangen, in der teilbarsten Fülle seiner Lockenflut, und in seinen zartesten Träumen.

Alle meine Pläne, alle meine Hoffnungen sind freiwillig losgetrennt von mir, ich sah sie ruhig, mit wehmütigem Entzücken leise über mir hinwegschweben, wie mächtige, leichte Luftbälle, als habe sie die in uns so traurig gefangene Allgemeinheit des Lebens als ein Bild ihrer schönen verlornen Freiheit erschaffen, das sich ungetreu von dem Künstler losreißt, um sein Urbild zu suchen, als habe die sehnende Einsamkeit meiner Seele einen herrlichen Boten ihres Verlangens in den unentdeckten Himmel gesandt. Aber Freund! es ist nur ein freudiges herzerhebendes Schauspiel geworden für meine Liebe und mich; da ich mit ihr den fliehenden Kugeln nachsah, drückte sie mich sanft in die Arme, und mein Herz ward größer, je kleiner die entwichenen aufwärtsschwebten. Sie waren schon unkenntliche Punkte über mir, und die Welt unermeßlich groß unter mir [114] geworden, als die Liebe zu mir sagte. »O hebe dein Haupt, Jüngling, sieh, wie weit sind die Sterne und wie leuchtend, deine Pläne sind noch viel näher, und wir sehen sie nicht mehr.«

Alles ist mir entschwunden, dem ich sonst ein Spiel war. Die Welt ist von mir gesprungen, wie eine Form, die nun ein reines Bild gebar, ach! ich werde es nun nicht mehr beklagen, da ich nun so lieblich begrenzt bin. Das Leben ist hier oben so mild widerstrebend, und ich fühle, daß ich am Busen der Natur in einer elastischen Ruhe des Genießens liege. Mein ganzes verflossenes Leben liegt in ungestalten, farbenlosen Massen hinter mir. Das alles sollte ein ungeheurer Tempel werden, und sank vor dem Himmelsbogen erbebend in den Willen eines Kindes zusammen. Ich stehe an meinem vorigen Leben wie an einem Hügel unordentlich gesammelter Steine, die eher zur Ruine wurden als zum Gebäude, und bin zufrieden, wenn nur eine wilde einsame Blume an ihm aufblüht. Vor mir wird alles so deutlich, so groß im kleinsten, und ein ewiger Spiegel. Kein Geist tritt auf, den das Wort nicht reichlich, geschmeidig und durchsichtig bekleidet, kein Vorsatz schreitet ruhmsüchtig mit eitlem Klange vor der bescheidenen Tat her, ich finde mich in allem, und der Liebe.

Ach wie braucht es doch so wenig, um zu vergessen, so wenig, unser Dasein wenige Schritte vorher selbst zu übersehen. Gleichen die Menschen nicht Kindern, die jedes Spielzeug mit Begierde umfassen, sich mit ihrem ganzen Verstande darüber hinwerfen und heftig weinen, wenn es ihnen genommen wird? Doch schnell erholen sie sich, und das neue, das man ihnen hingiebt, ist das wahre, nun haben sie's endlich gefunden, was sie wünschten. So wechseln sie immer, und endlich löst sich das ganze Spiel von ihnen. Wir wissen nicht, was der liebe Bruder nun vornimmt, wir kennen den Ort nicht, an den er geführt wird, und was er nun erhalten wird, um die äußre Natur von sich zurückzudrängen, damit er nicht in sie zerrinnt. Wir werfen das Spielzeug aus den Händen, und knieen um das Kleid herum, das er trug, als er bei uns war, »wohin bist du? daß dies schöne Kleid nicht der Mühe wert war«, und kühle Erde umfaßt den engen Schrein, der seine Hülle versteckt. Wir glauben, um den Toten zu weinen, aber wir weinen um den [115] Tod, wir empfinden den Schmerz, weil unsre Seele aufwärtsblickt, der Linie nach, die unser Freund nach dem Ziele unsrer Bestimmung gezogen hat, und weil das Leben uns gewaltsam zurückzieht. – Aber nimmer lernen sie, zu fühlen, daß selbst der Tod nur eine solche Trauer des Kindes über das genommene Spiel ist. – Wir sterben auch im Leben, nur sind die Übergänge sichtbarer, oder ganz unsichtbar, und immer gebärt uns die Liebe wieder. Ich fühle, daß ich in einer andern Welt bin, und ein Kind; wenige werden ja mehr als Kinder in der Liebe, und Kinder in der Kunst; es sind die, welche für die Zurückgebliebenen schon Meister in beiden scheinen.

Sieh, Römer! ich habe alles vergessen, und wenn ich dich auch einmal vergesse, so weine nicht, denke, daß dann noch ein Leben zwischen uns liegt. Willst du mich aber übereilen, so will ich dir dasselbe tun; wohl uns, wenn wir gleiche Schritte gehen, und ewig jeder neben dem Freunde.

Fern liegt mir die vergangene Zeit, nur was mir damals in Dunkelheit gehüllt bang vor den Augen schwankte, was mit der wundersüßen fremden milden Sprache der Sehnsucht in tiefen Stunden neben mir erklang, was mit unendlicher Gewalt mich in schwindelnde augenblickliche Höhe warf, steht itzt hell, verständlich und mit gleicher Stärke neben mir. Es waren damals kühne Minuten meiner Zukunft, die sich in meine Gegenwart wagten, und itzt wie bekannte Freunde neben mir stehen.

Ich denke nie zurück, auch wenn ich etwas von dorther sehe, so ist es Nordschein, oder Blitz, der die Jugend erleuchtet, und wahrlich, ich kann solche Erinnerungen wehmütig anblicken, die wie verspätete Worte verstorbener Sprachen um mich wandeln, und nur in den tiefern Narben meiner Wunden eine Heimat finden.

Nur dann sind wir glücklich, wenn wir nicht wissen, wie wir es sind, wenn wir geboren sind und Kinder. Wenn wir jeden Mechanismus eines Lebens ergründen wollen, so sind wir zum Tode reif, und kennen wir ihn, so sind wir vorüber; denn dann ist das Leben mit uns selbst zusammengeflossen, und ist nicht mehr, und jedes heftige unwillkürliche Begehren in uns ist Sehnsucht nach dem Tode, wie jede willkürliche Begierde die Meditation des Selbstmordes ist.

[116] Vollkommenes Gleichgewicht der Natur in uns und außer uns, soviel Streben als Erlangen, soviel Geben als Umfangen ist die Minute des Entzückens der Liebe, und die tätigste, wo nicht vollendetste des Daseins. Wer je einen solchen Moment in sich fühlt, der winde ihn sanft und rasch, mit Begeisterung, aus dem Gewirre seiner Wünsche; denn dies ist sein Glück, seine Bestimmung und all sein Talent.

So ist es mir geworden!

Die Dämmerung lag zwischen dem Streben und der Vollendung, der glühende Tag, im Feuer des Lichtes zu seiner eignen Gestalt geschmiedet, verglimmte in die dunkle Nacht, in der unendlichen Zahl seiner Brüder unsichtbar untergehend. Ich saß am Turme zu den Füßen Otiliens. Ihre Hand lag dicht neben der meinigen, und ich schien mit dem Rande des Gewandes, das sie bedeckte, zu spielen, es war ein solches Spiel des Lebens. Eusebio stand hinter ihr, und legte ihr die Haare in Flechten. Ich empfand eine Kühnheit in mir, die schnell in eine große Ruhe zerfloß, als habe mein erhöhtes Dasein meine Kühnheit wieder eingeholt. – Meine Sehnsucht war durch die ihrige umarmt, und meine Hand lag in der ihrigen. – So war ich aufgelöst in der Natur, die mich umgab, und in der ich nun alles umgab.

Leise, wie ein Lied des Danks, zündete sich Eusebios Stimme am Monde an, der seinen Blick über den Bergen öffnete, ich sah ihr Auge nicht glänzen, denn sie blickte zu mir herab, ich fühlte den Puls in ihrer Hand, und die sanft schimmernde Nacht wandelte um uns her. – Eusebio sang:


Sieh, dort kömmt der sanfte Freund gegangen,
Leise, um die Menschen nicht zu wecken;
Kleine Wölkchen küssen ihm die Wangen,
Und die schwarze Nacht muß sich verstecken.
Nur allein
Wer mit Pein
Liebt, den kühlet sein lieblicher Schein.
Freundlich küsset er die stillen Tränen
Von der Liebe schwermutsvollen Blicken,
Stillt im Busen alles bange Sehnen,
[117]
Alles Leiden weiß er zu erquicken.
Liebe eint,
Wenn erscheint
Ohnvermutet die Freundin dem Freund.
Auch mich kleinen Knaben siehst du gerne,
Kömmst mit deinen Strahlen recht geschwinde,
Mir zu leuchten aus der blauen Ferne,
Wenn ich Tiliens seidne Locken winde.
Zuzusehn,
Bis wir gehn,
Wenn die kühleren Nachtwinde wehn.
Als Eusebio die Worte sang:
Liebe eint,
Wenn erscheint
Ohnvermutet die Freundin dem Freund, –

fühlte ich, daß sich unsre Hände dichter verschlangen, und daß mein Dasein in dieser Minute alle Wichtigkeiten meines Lebens aufwog.

O Römer! es wohnt soviel Freude um uns und schmachtet unerkannt, aber wir gehen stolz vorüber, und unser ungebärdiges Wesen macht die zarte Tochter des Himmels so menschenscheu. In dem einklingenden Akkorde unsres äußern und innern Lebens kömmt sie uns zu umarmen. Wenige Auserwählte nur erreichen das Rückkehren einer selbstgeschaffenen schönen Welt der Kunst in sich, in die liebende lebende Natur, und alle Klagenden konnten die Oktave höher nicht erreichen, und sind zu stolz, aus den paar errungenen Tönen in das Echo des reinen Grundtons zurückzukehren.

Itzt sehe ich, daß mir der Stoff des Glückes fehlte, der stille einfache Friede, in dem sich alle Sehnsucht beantwortet, wie die Welle im Teich. Alles dieses hat mir die Liebe gegeben. Es ist mir ein reines kunstloses Weib begegnet, und sie hat alle Hindernisse in mir gehoben, die sie nicht kannte, und sie hat alle Krankheiten einer Welt in mir geheilt, die sie nicht kannte. Ist der Tod nicht eine Genesung, und Liebe nicht der Tod? Es gibt eine allgemein treffende Antwort, eine milde wahre Auflösung [118] aller Rätsel der Kunst, in der reinen Natur, und die Natur hat sie in die Liebe des reinsten Weibes gelegt. – Wenn mich Tilie liebt, so habe ich keinen Wunsch, kein Begehren, keine Geschichte mehr, ich bin aus dem Leben in die Natur getreten, und, guter Römer! knie dann neben mein Andenken hin, stille deine Tränen, und sprich die wahren, heiligen Worte: Er ruht sanft, ihm ist es besser als uns, wir müssen alle diesen Weg, wohl uns! wohl dir!

Godwi an Römer [2]
Godwi an Römer

Werdo, der Vater Tiliens, ist heiterer, seitdem ich hier bin. Tilie dankt es mir, und nennt mich darum den Freund. Da ich sie zum erstenmal sprach, es war in der Gesellschaft des Alten, waltete für mich eine seltsame Zauberei über ihrer Rede. Sie sprach in weiten geisterischen Umrissen von der Welt, und ich fühlte, indem sie mit einer hohen Teilnahme und vielem Geiste die Leiden und das Übel der Gesellschaft vermutete, daß alles in der Welt recht sei, und wie es sein könne.

Unsre Wirklichkeiten wurden unter der zarten Bestimmung ihrer Phantasie zu einer fremden freundlichen Poesie, so wie ihre Wirklichkeit unsre Poesie sein könnte. Es ist mir, als sei der Genius der höchsten Kultur auch derselbe der einfachsten Natur, und habe seinem Kinde die Sitten der Kinder der Gesellschaft anvertraut, um sie durch die Darstellung jener Unzulänglichkeit für ihr eignes Leben empfänglicher zu machen.

Werdo, der mein Erstaunen über sein weissagendes Kind bemerkte, ergriff in einer seiner traulicheren Stunden meine Hand, und sprach: »Mein Freund! du bist mein Hausgenosse geworden, und freuen soll es mich, noch lange in stiller Liebe so mit dir zu teilen. Ich schwieg bis itzt, ich glaubte, daß auch dich das Mitleid ekelhaft durchdringe, und alles müßte ich vor dir und deines Herzens Vorwitz bang verhüllen. Doch freudig habe ich des Herzens stille Teilnahme gefunden, vor der ich ohne Scheu, daß du in lautes Seufzen, in Verwundern, wie kein Mensch es darf, verfielest, die lang entwohnte Offenheit ergieße. Mein Schmerz ist still, du hast ihn nie mit Klang und lauten [119] Worten angeredet, so liebt er dich und mag dich wohl in seiner Ruhe leiden. Das Leben, das ich sonst um gar nichts fragte, es wollte mir auf alles Antwort geben, und tat es rauh mit scharfen lauten Worten, so daß es mich hinausgedrängt. Itzt frag ich nichts, und nichts mehr spricht mit mir; so lebe ich in tiefer Einigkeit mit allem, was hier um und um mich lebet.


Wenn der Sturm das Meer umschlinget,
Schwarze Locken ihn umhüllen,
Beut sich kämpfend seinem Willen
Die allmächtge Braut und ringet,
Küsset ihn mit wilden Wellen,
Blitze blicken seine Augen,
Donner seine Seufzer hauchen,
Und das Schifflein muß zerschellen.
Wenn die Liebe aus den Sternen
Niederblicket auf die Erde
Und dein liebstes Lieb begehrte,
Muß dein Liebstes sich entfernen.
Denn der Tod kömmt still gegangen,
Küsset sie mit Geisterküssen,
Ihre Augen dir sich schließen,
Sind im Himmel aufgegangen.
Rufe, daß die Felsen beben,
Weine tausend bittre Zähren,
Ach, sie wird dich nie erhören,
Nimmermehr dir Antwort geben.
Frühling darf nur leise hauchen,
Stille Tränen niedertauen,
Komme, willst dein Lieb du schauen,
Blumen öffnen dir die Augen.
In des Baumes dichten Rinden,
In der Blumen Kelch versunken,
Schlummern helle Lebensfunken,
Werden bald den Wald entzünden.
[120]
In uns selbst sind wir verloren,
Bange Fesseln uns beengen,
Schloß und Riegel muß zersprengen,
Nur im Tode wird geboren.
In der Nächte Finsternissen
Muß der junge Tag ertrinken,
Abend muß herniedersinken,
Soll der Morgen dich begrüßen.
Wer rufet in die stumme Nacht?
Wer kann mit Geistern sprechen?
Wer steiget in den dunkeln Schacht,
Des Lichtes Blum zu brechen?
Kein Licht scheint aus der tiefen Gruft,
Kein Ton aus stillen Nächten ruft.
An Ufers Ferne wallt ein Licht,
Du möchtest jenseits landen;
Doch fasse Mut, verzage nicht,
Du mußt erst diesseits stranden.
Schau still hinab, in Todes Schoß
Blüht jedes Ziel, fällt dir dein Los.
So breche dann, du tote Wand,
Hinab mit allen Binden;
Ein Zweig erblühe meiner Hand,
Den Frieden zu verkünden.
Ich will kein Einzelner mehr sein,
Ich bin der Welt, die Welt ist mein.
Vergangen sei vergangen,
Und Zukunft ewig fern;
In Gegenwart gefangen,
Verweilt die Liebe gern,
Und reicht nach allen Seiten
Die ewgen Arme hin,
Mein Dasein zu erweiten,
Bis ich unendlich bin.
So tausendfach gestaltet,
Erblüh ich überall,
[121]
Und meine Tugend waltet
Auf Berges Höh, im Tal.
Mein Wort hallt von den Klippen,
Mein Lied vom Himmel weht;
Es flüstern tausend Lippen
Im Haine mein Gebet.
Ich habe allem Leben
Mit jedem Abendrot
Den Abschiedskuß gegeben,
Und jeder Schlaf ist Tod.
Es sinkt der Morgen nieder,
Mit Fittichen so lind,
Weckt mich die Liebe wieder,
Ein neugeboren Kind.
Und wenn ich einsam weine,
Und wenn das Herz mir bricht,
So sieh im Sonnenscheine
Mein lächelnd Angesicht.
Muß ich am Stabe wanken,
Schwebt Winter um mein Haupt,
Wird nie doch dem Gedanken
Die Glut und Eil geraubt.
Ich sinke ewig unter,
Und steige ewig auf,
Und blühe stets gesunder
Aus Liebes-Schoß herauf.
Das Leben nie verschwindet,
Mit Liebesflamm und Licht
Hat Gott sich selbst entzündet
In der Natur Gedicht.
Das Licht hat mich durchdrungen,
Und reißet mich hervor;
Mit tausend Flammenzungen
Glüh ich zur Glut empor.
[122]
So kann ich nimmer sterben,
Kann nimmer mir entgehn;
Denn um mich zu verderben,
Müßt Gott selbst untergehn.«

Die Harfe lag, während er sprach, schon an seiner Brust, wie ein Teil seines Gemüts und seiner Äußerung.

Ich empfand erst in der Mitte seines Liedes, daß er sie spielte, so leise hatte er angefangen. Alles das hatte sich verschlungen und durchdrungen, ohne daß ich irgend einen Übergang sah.

Morgen schreibe ich dir weiter; ich habe den Greis verlassen, sitze hier auf meiner Kammer, weine und bete; der Abend kömmt schon, von ihm den Abschiedskuß zu fordern. O lebe wohl!

Godwi an Römer [3]
Godwi an Römer

Ich will dir nun weiter erzählen, was Werdo sprach. Als er sein Lied geendigt hatte, sagte er: »Sieh, keiner konnte mich mit Trost erquicken, drum habe ich in mir das Wort getilget, und lebe wie Natur, in freien und ungebundenen Tönen.

Du bist ein Mensch wie wenige gebildet, denn aus dir spricht, was andre träg verstecken, und was mir nur die leblose Natur gezeigt.

Die Sitte ist in dir Gesetz geworden, nach dem die Sonne auf und nieder gehet, und alles kann ich gleich erwarten, denn nirgends willst du überraschen, und nimmer folgst du ihr, die dich begleitet.

Doch das soll dich nicht eitel machen, denn ein Gedicht der ewigen Natur ist Demut. Auch kannst du es nicht bilden, oder weiter in dieser hohen Gabe vorwärtsschreiten, denn alles Wissen ist der Tod der Schönheit, die in uns wohnet und dieselbe wäre, wär gleich die Wissenschaft noch nicht erfunden.

Mein Lieber, vieles muß ich dir verbergen, und in den ersten Augenblicken warst du schrecklich. Die Vorzeit, die ich mir mit Mühe und vielen tiefen Schmerzen abgewöhnte, sie trat aus dir mir drückend bang entgegen, und Zukunft rann so hell aus den Augen, daß ich mit Sehnsucht schon hinübersah.

Es war kein Bleiben sonst auf Erden, darum habe ich am [123] Felsen dort den Quell zum Teich gehemmt, der immer mich auf seinen wilden Wellen in ferne Zeit mit Sehnsucht hingezogen.

Itzt steht er still, kein Schwinden und kein Kommen, und jede Welle, die sich regt, umarmt die andre, die ihr froh entgegenwallt. Und mir ward wohl!

Als du nun vor mich tratst, so wars, als wollte Vergangenheit mir schnell zum toten Bilde und Zukunft in der Gegenwart gerinnen. – Das alles ruhet schon, ich liebe dich.

Auch Tilie, die holde, will dir wohl, und freue dich. Sie kennet keine Welt, von Menschenhänden trügerisch erbaut, und du bist wie Natur natürlich, liebt sie dich.

Sprich nie von ihr, denn auch der Wahrste lügt, will er mit Worten, was er fühlet, sagen, und nur die Äußerung ist wahr, die unvermutet und unverschuldet aus der Tiefe steiget.

Es leitet unwillkürlich die Natur die Sprache aus der Tiefe unsers Herzens durch die Oberfläche in sich selbst zurück, und enger, enger ziehen sich die Kreise und gehen endlich in den Tropfen über, die Tätigkeit so in sich selbst beschließend, die in der Ruhe stillen Spiegel fiel.

Ich weiß nicht, wo mein Kind nach meinem Tode ein Bündnis mit dem Leben schließen sollte, drum habe ich sie der Natur verbunden, und so muß sich in ihr schon alles finden, und nirgends braucht sie Rat zu suchen.

Es findet selbst ein blindes Kind die Brust der Mutter, deren Schoß es barg.

O stör sie nicht, und liebe still, und stille Liebe wird dir danken – doch höre, hüte dich vor ihr, und bleib dir ewig gleich, denn zarte Ordnung bildet ihr Gemüt; zerreißt du sie, so wird sie dir zur Marter.

Dem stillen heilgen Leben blieb sie treu, und fasset ohnbewußt vom Ganzen doch den Geist.

Nur wenige sind so, von der Natur in tiefen Schöpfungsstunden so geprägt, und hast du Zeit, noch mehr als Mensch zu sein, füllt dir des Lebens Ernst nicht alle Tätigkeit, bist du ein Bürger – o so fliehe schnell!

Denn solchen Reiz bestehet keine Pflicht, sei sie auch noch so fest gehämmert, Natur ruft dich mit aller Weibes-Allmacht hier, sie reicht die Arme dir so frei und schön entgegen, und [124] ihres Busens Wellen dich verschlingen. Du kehrest nimmermehr zurück.

So muß es die Natur, sie meint es gut.

Die Mutter sehnt sich ewig nach dem Sohne, den sie aus ihrem Schoße hervorgerufen, daß er sich ihr an ihrem Busen angesaugt verbinde.

Er stehet oft fürs Ganze draußen im Kampfe, und sieht den Frieden nicht, der nur im Innern blüht.

Sie kennt den Ruhm, die Ehre nimmermehr, der Lorbeer grünt in ihr, und auch die Myrthe, und beide liebt sie nur als frohes heitres Grün, das wir zur Hoffnung uns erwählten.«


Hier sah mir der Alte mit Begeisterung ins Auge, ich wußte nichts von seiner Rede. Das Ganze schwebte wie ein unbekanntes Element um mich her. – Nur einige seiner Äußerungen über Tilien traten mir aus seiner sichtbaren unsichtbaren Rede entgegen. Sie wurden mir Gesetze, ich kannte keine Pflichten mehr, aller voriger Glauben sank wie ein gestürzter Götze.


Die Liebe fing mich ein mit ihren Netzen,
Und Hoffnung bietet mir die Freiheit an;
Ich binde mich den heiligen Gesetzen,
Und alle Pflicht erscheint ein leerer Wahn.
Es stürzen bald des alten Glaubens Götzen,
Zieht die Natur mich so mit Liebe an.
O süßer Tod, in Liebe neu geboren,
Bin ich der Welt, doch sie mir nicht verloren.
Ich sank ihm in die Arme, und rief ihn mit dem Namen: Vater! und alles zerrann um mich.
Er staunte mich an und sprach wild:
»Ich war sein Vater nicht, bin keines Menschen Vater, jetzt geh zu meinem Kinde hin.«

Lebe wohl!

Godwi an Römer [4]
Godwi an Römer

»Ich war sein Vater nicht, bin keines Menschen Vater, jetzt geh zu meinem Kinde hin.« Wunderbare Worte; o Römer, wie sie mich ergriffen!

[125] Der Greis, der rührend vor mir saß, und mit dem Blicke in das Tal hinab und über die Berge hin, als sei er überall gegenwärtig, mir allen Druck vom Herzen nahm, dessen begeisterte Rede, ein sanfter leuchtender Engel, meine Wünsche wie abgeschiedene Seelen in einen freudigen Himmelsfrieden brachte, der nämliche, der sich in seinem Liede, in seinen Worten der ganzen Welt so schön verbrüderte, – stieß mich wild zurück da ich mit allen Mächten zu ihm hingezogen, an seinem Halse den Namen: Vater, nannte. –

Ach, soll ich keinen denn aus vollem Herzen so nennen können? Muß der es bleiben, der ein peinlich Leben mir, ohne daß ich leben wollte, gab? Die Worte dieses Mannes könnten mich befriedigen, könnten das Silber mir im Herzen bis zum Blicke glühen, wenn mir nicht jener durch eine unselige Mischung ein seltsames unerfüllbares Sehnen mitgegeben hätte.

So kann ich nur das Hohe unendlich lieben, so kann ich nur den Sinn verstehen, und nimmer den Leib, die herrliche Gestalt umfassen. Alles zerbricht mir unter den Händen, und ewig hoffe ich und will; doch feindlich tritt ein böser Geist zwischen Willen und Handlung hin, und reißt mich in mich selbst zurück, das Ziel stets weiterrückend.

Wo mich die Weisheit schon im Arme zu halten scheint, und ich ihr wie ein Schwur versichert in die Augen sehe, reißt mich der Wahnsinn wild zurück. Was kann ich nur ergreifen wie ein Schwert, um jedes Leben, jede Rede zu zerlegen, damit mir nur das werde, was mir dient, denn keiner ist wohl in der Welt, dem ich so ganz angehöre, in den ich sorglos und kühn mit allen Zweigen verwachsen darf; und werde ich je das Leben selbst erschaffen, das alle diese Zwecke mir erfüllt, oder erschaffe ich jetzt die Welt mir so, daß keiner mir erreichbar ist?

Es ist mir, als stritten Wahnsinn und Poesie sich um Werdos Geist, und siegend faßt ihn diese oder jener. Der Wahnsinn ist mir wie der unglückliche Bruder der Poesie, er ist im Leben verstoßen. Siegt er, dann führt er treu den schwer erkämpften Preis bis zu den Göttern, der Schwester aber tritt die ekle Wirklichkeit oft breit in den Weg, und oft muß sie für die Duldung, die man ihr gewährt, die harte Schmach erdulden, daß ihre Beute der Welt anheimfällt.

[126] Ich verließ Werdon sehr zerrüttet, er hatte meine Ansicht der Dinge wunderbar verändert, mich fest mit seinem Glauben verwebt, daß alles, was mir entgegentrat, mir fremd und neu erschien. Seine letzten Worte hatten meine Hingebung wieder erschüttert, und ich stand wie ein unentschloßner, ungeschickter Gott da, der nicht weiß, wie er die Welt erschaffen soll, weil sie schon da ist.

Ich näherte mich den Gebüschen, die von einer Seite seine Wohnung einfassen, und hörte Tilien mit Eusebion sprechen. Der Ton ihrer Stimme rührte mich wie ein Zauber, es war der Ton, den ich verloren hatte, und alle meine Gedanken reihten sich, und alles war mir wieder wahr und gut, unbezweifelt – Liebe.

Eusebio saß zu ihren Füßen, versteckte sich bald, bald sah er traurig in die Höhe, doch sprach er nicht. Sie redete ihn an: »Eusebio, wie bist nur so still, versteckst dich und siehst dann wieder so traurig auf; des Knaben Herz muß froh und heiter sein.«

Hier sprang er schnell auf und sagte:

»Tilie, ich will singen, fange an, ich will singen, daß ich froh werde wie ein Lied.«


Tilie sang:

Frei, frei
Von Trauer sei
Des Knaben Herz.
Hier fiel Eusebio ein:
Von Trauer frei
Ist nicht sein Herz;
Schmerz, Schmerz
Ganz tiefer Schmerz
Ist selbst sein Scherz.
Will nach der Buche,
Will nach der Buche gehn,
Wird sie dort freundlich stehn?
Will sie dort wiedersehn,
Die ich nur suche.
Sehnsucht!
[127]
Im Mondschein,
Ganz allein
Will sie bei mir sein.
Fürchte mich nicht,
Ihr Gesicht
Ist Tageslicht.

Hier trat ich auf die Stelle, wo sie beide standen, Tilie kam mir freundlich entgegen und küßte mich; ich weiß nicht, wie mich gerade in dieser Minute eine wunderbare Verlegenheit ergriff, da ich sie in den Armen hielt. Der Knabe schien an Tiliens Klage über seine Trauer sich schalkhaft rächen zu wollen.

Er drängte sich an mich, faßte meine Hand, dann wendete er sich zu Tilien und sang:


Mild, mild
Von Liebe, schwillt
Des Mannes Brust;
Von Liebe schwillt
Auch Tiliens Brust.
Lust, Lust,
Ganz stille Lust,
Ihr unbewußt.
Sonst war der Liebe
Stille im Herzen bang,
Bis sie zum Auge drang
Und von der Lippe klang,
Ihr Spiel sie triebe.
Liebestrieb!
Im Mondschein,
Ganz allein
Will sie bei ihm sein.
Fürchtet euch nicht,
Mondeslicht
So freundlich spricht.
Hier ließ er mich los und eilte in den Wald. Tilie rief ihm nach:
»Eusebio! Eusebio! verspäte dich nicht« –
[128] Aber der Knabe war verschwunden, und das Echo rief aus dem Walde zurück:
– Verspäte dich nicht!
Tilie wendete sich zu mir und sprach:

Ich weiß nicht, was in diesem Knaben webet,
Je mehr er faßt, je mehr verschließt er sich,
Und sollte doch stets reicher auch mehr geben,
So wie Natur, die immer mehr uns bietet,
Je mehr sie Reichtum im dem Schoße faßt.
Wie rührt mich nicht des Frühlings Kindergabe,
Der, kaum des Winters hartem Geiz entflohen,
Schon freundlich grüne Sprossen bringt und Blumen.
Er trägt ein Kleid von dünnem Glanz gewebet,
Und sieht mit lindem Sonnenschein uns an,
Und weckt mit süßen Liedern alle Wesen.
Steht ihm auch gleich die Träne noch im Auge,
Die ihm des harten Winters Frost entlocket,
Und zittert gleich sein zarter Leib von Kälte,
Weil ihn so dünn der strenge Vater kleidet,
So regt er doch zum Tanze und zur Arbeit
Mit leichtem Flug die neugebornen Glieder.
Er schürzet sich, blickt in den festen Spiegel,
Der aller Flüsse wandelnd Leben decket,
Und unter seinem heißen Blicke springet
Der zarten Nymphen und Sirenen Fessel;
Sie fassen dankbar seiner Jugend Schöne
Und eilen, sie in alle Welt zu tragen,
Und tragen sie hinab durch alle Täler.
Mit seinem frohen Bilde kindisch spielend,
Entzünden sie zu seinem Dienst die Ufer,
Durch die sie wollustmurmelnd freudig gehen;
Die Blumen all, die an dem Rande stehen,
Sie winken still hinab, ihr zitternd Bild begrüßend.
Er schwebet liebend über tote Wälder,
Die bang mit kalten Armen aufwärtslangen,
Da zündet er den Wald mit grünen Flammen,
Und alle Blätter küssen sich so lieb zusammen,
Und blicken still, das Götterkind zu fangen.

[129] So sprach Tilie noch lange vom Leben und Geben, und wahrlich, sie giebt alles, könnte ich nur alles nehmen; aber da wohnt eine unausstehliche Sparsamkeit in mir, die man immer in eurer ärmlichen Haushaltung von Leben davonträgt.

Dann stand sie auf und sprach:


Der Name Reichtum kommt allein von reichen;
Hinreichen sollen wir das Eigen; allen,
Die arm sind, sollen froh wir geben,
Weil sie die Arme so gar traurig heben.
Wir wollen mit einander nach dem Walde,
Den Knaben, der allein ist, aufzusuchen;
Er sagte ja, er wollte nach den Buchen.

Hier nahm mich Tilie an der Hand und führte mich durch kleine schmale Wege in den dunkeln Wald; es war mir recht heilig zu Mute.

Wir schwiegen lange, und horchten auf das Abendlied der Nachtigall, das mit glänzenden einzelnen Tönen durch die lebenden Gewölbe zog. Der Mond sprach wehmütig mit einzeln zündenden Silben durch das Flüstern der Bäume, Ahndung wehte mit ihren dämmernden Flügeln durch die Büsche, und alle heimlichsten Gedanken wagten sich aus jeder Seele, wo sie sich vor dem geschäftigen vorwitzigen Tage versteckt hatten.

Morgen, Römer! hörst du weiter; ich muß nun schlafen. Tilie sagte heute, meine Augen seien so verwacht, da bist du schuld dran.

Dies Mädchen besitzt einen so, daß man, um nur wenige Augenblicke nach einem Freunde zu sehen, fast vor Anstrengung erblinden muß. Schlafe wohl.

Godwi

Godwi an Römer [5]
Godwi an Römer

Hat sich die Zeit in ihrem Gange verändert? – Kein Tag schleicht mehr mit seinen gähnenden Stunden, und keiner stürzt mit seinen Augenblicken hinab. –

O welche stille Wechsel in mir, im gemessenen Takte schreiten [130] die Augenblicke wie Töne zu einer schönen Melodie des Lebens hin, und irret mein Geist durch alle Akkorde auf harmonischen Wegen einen dem andern verbindend, so gelangt er nicht selten, der schönen Folge zur wunderbaren Erquickung, auf einen Gipfel, wo aller Takt weicht, und das Lied gleichsam einen freien ungebundenen Blick in die Ewigkeit tut, und neuerdings kehrt die Melodie zurück, wie das Atmen unsers Busens, das ein sanfter Seufzer unterbrach.

Hier eilt das Leben nicht, ich sehe ihm nimmer nach, auch weilt es nicht träg, und ich brauche es nie zu treiben.

Ich gehe ruhig mit den Stunden, und jede bietet mir das volle Leben an; solange ich hier oben bin, habe ich noch nicht an die Zeit gedacht.

Der Morgen ist schon wieder da, und alle Farben, alle Töne und Gestalten singen ihm ein Lied, das noch nie gesungen ward, so oft er auch die Welt begrüßte, die ihm jedesmal mit schönen Worten geantwortet.

So ist und bleibt der Stoff, der des Dichtens wert ist, ewig derselbe und einfachste, der eben darum unerschöpflich ist. Denn nach dem einzigen Punkt, der in der Mitte der Welt liegt, kannst du die meisten Linien ziehen, und nur von ihm aus zu allem gelangen.

Hier folgt die Fortsetzung meines Tagebuchs.

So war der Wald, und wir – Tilie unterbrach unser Schweigen:


Du hast mit meinem Vater lang geredet,
Wie war er, war er freundlich, warst du es?
Ich:
Ich sah ihn niemals so, Otilie, niemals
War seine Rede so voll süßer Worte,
Die alle zwischen Ernst und Wehmut schwankten;
Sein Aug war feurig und ein mildes Lächeln
Umschwebte seinen Mund, und um die Wangen
Schwamm eine zarte Röte, wie ein Heilger
Sah friedlich er zum Himmel und zur Erde.
Er sprach von dir, von mir und von der Liebe,
Und hingerissen sank ich vor ihm nieder,
[131]
Umfaßte ihn und konnte ihn nicht lassen.
Von meinen Lippen drang der Name: Vater!
Da riß er sich von meiner Brust und zürnte,
Sprach wild zu mir: »Ich bin sein Vater nimmer,
Bin keines Menschen Vater; geh! o gehe
Zu meinem Kinde hin«; so komm ich zu dir.
Tilie:
Es tut mir weh, o Freund! denn du wirst glauben,
Daß du den Vater so mit deiner Rede
Gekränkt hast, und das könnte dich verführen,
Was nimmer gut ist, dich in acht zu nehmen.
Ich:
Was nimmer gut ist?
Tilie:
Nein, denn die Natur,
Sie nimmt sich nie in acht, drum handelt sie
So mächtig und so rein, stets zur Genüge.
Willst du gleich alles schon zum voraus sein,
So kannst du in der Handlung nie genügen.
Ich:
Ich konnte nicht, denn alle meine Sinne
Und alles, was geheim in mir verborgen,
Hat er erweckt mit wunderbarem Leben.
Die tiefsten Wünsche kühn in mir bewaffnet,
Ihr Ziel, sonst unerreichlich, zu erreichen.
Ich fühlte mich wie neu geboren, dankend
Nannt ich ihn Vater!
Tilie:
Vater, und er zürnte –
Er liebt den Namen Vater nicht, und nimmer
Darf ich ihn anders als nur Werdo rufen;
Und er hat recht, denn es ist sonderbar,
Den Einzelnen im Leben so zu nennen,
[132]
Da wir ja nur ein einzig Leben kennen.
Beruhigtest du ihn?
Ich:
Nein, ich vermied es,
Weil es nach ihm nur eine Ruhe giebt,
Die in der Nacht, wo alle Farben sterben,
Die in der Ferne, wo der Ton verklingt,
Und Grabesruh, die die Gestalt verschlingt.

Als wir an einen kleinen runden Platz kamen, in dessen Mitte zwei junge Pappeln standen, sagte Tilie, auf die Pappeln zeigend:


Dies ist Joduno, und dies hier Otilie.
Als wir vor zehen Jahren in dem Walde
Still miteinander wandelnd uns verloren,
Verteilten wir uns, um den Weg zu suchen,
Daß eine doch nach Haus zu Werdo komme,
Den Abendtrunk in dem kristallnen Glase
Ihm freundlich vor dem Schlafengehn zu reichen.
Mich traf das Los, den Rückweg bald zu finden,
Joduno irrte lang im Walde hin,
Bis ich sie hier auf dieser freien Stelle
Am Boden ruhig sitzend fand, sie lauschte,
Wie eine Nachtigall die süßen Töne sang.
Ich setzte mich zu ihr, und wir verbanden
Mit kindschen Schwüren unsre kleinen Herzen.
Als sie mich drauf verließ, pflanzt ich und sie
Die Pappeln hier zum ewigen Gedenken.
Und wie die Bäume wachsen, sieh, so sind wir
Uns lange gleich an Mut und Freud geblieben.
Doch sie, Joduno, neigt die schlanken Äste,
Sie trauert; sprich, wie hast du sie gelassen?
Ich:
Sie wollte bald zu dir herüberkommen.
Tilie:
Ich kann es kaum erwarten, bis sie kommt,
Und doch, ich weiß nicht, wie mir bangt,
[133]
Daß sie mich überraschen wird, die Gute;
Sonst freute sie mich, wie im Frühling
Die erste Blume, die sich regt, mich freut.
Ich:
Und jetzt – wird sie dich jetzt nicht freuen?
Tilie:
Sonst war sie jung und ihre Mutter brachte
Sie zu mir her. Wir waren beide Kinder;
Die Kinder teilen sich so gern ins Leben,
Weil ihnen allen gleich die Welt erscheint,
Doch meistens bildet sich die größre Jungfrau
Das Leben schon zur eignen Wohnung aus,
Und formt sich alles, wie's bequem und schicklich
Sich zu dem inneren Geschmacke füget.
So ist es wohl Jodunen auch ergangen. –
Ich blieb stets Kind, ich kenne keinen Zeitpunkt
In meinem Leben; wenn ich rückwärts schaue,
Ergießt sich alles still in tiefe Ferne,
Und nimmer habe ich mit Sinn gewechselt.
Joduno wird mir nun wohl nicht mehr gleichen,
Und sich nicht – Ach, mich wird es schmerzen!
Wenn ich sie sonsten sah, dacht ich zurücke
Ans letztemal, es ward ein Wiedersehen.
Der Funke brach sich hell in vielen Spiegeln,
Bis zu den fernsten Bildern meiner Jugend
Erleuchtete die Liebliche mein Leben.
Wenn sie verändert mich nun hier umarmt –
Wie war sie, als du sie verlassen? sage –
Ich:
Sie sehnte sich nach dir, und war begierig,
Wie du und ich sich wohl vertragen möchten.
[134]
Tilie:
Vertragen möchten? – wir? Das ist nicht gut,
Hieraus wird mir kein Wiedersehen – ach,
Sie ist gewiß verändert, und ich finde
In ihr das treue Gegenbild nicht wieder.
Sie gab als Kind mir alles, was mir fehlte,
Jetzt fehlt mir nichts; wird sie auch alles haben?
Ich glaube nicht, weil sie sich nach uns sehnt.
Sie möchte wissen, wie du mich veränderst,
Da sie durch dich sich selbst verändert fand.
Ich:
Verändert? ach! und hat vielleicht verloren,
Was sie, die Einsame, zu deiner Freundin
Gemacht? Es tut mir weh! Durch mich verloren?
Tilie:
Es tut dir weh? – So wolltest du's; ich bitte,
Ach! wolle, was dich einstens schmerzt, nicht wieder,
Was wird Joduno fühlen? wenn sie sieht,
Daß du nun nicht mehr willst, was du gewollt hast.
Ich:
O! Tilie, ich weiß nicht, ob ichs wollte.
Ich kam auf ihres Vaters Schloß, und trübe,
So trübe Stunden lagen hinter mir,
Schnell wie ein Blitz war eine große Freude
Mit vieler Liebe mir hinabgestürzet.
Mein Leben war so dunkel, und ihr Auge
Erweckte freundlich blickend mir im Busen
Zuerst des Friedens holdes Weben wieder.
Es war am Abend, ruhig sank die Sonne
Und mit ihr ging mein müdes Leben unter.
Sie sprach mit mir von allem, was sie liebte,
Von ihrer Mutter, dir und deinem Vater –
Ich liebte nichts, mußt ich sie so nicht lieben?
Und ist mir dieser Wille nicht verzeihlich?
Der Wille? Tilie, der so leise war –
[135]
Tilie:
Ich fühle wohl, wie dies in dir und andern
So ist; mir selbst ist es schon so ergangen.
Wenn du die Fremde, die du Heimat nennst,
Mit bunten Bildern rauschend um mich weckst,
Von deinen Reisen so beweglich sprichst:
So liebe ich dich nicht; und wenn ich wieder
Für mich allein dran denke, reut es mich –
So ist es umgekehrt, was du getan.
Doch, trübe Stunden lagen hinter dir,
Und eine große Freude war verloren;
Du Armer, sprich, wie war das alles?
Ich:
Eins nur
Von allem, was du mir gesagt, betrübt mich,
Sonst wollt' ich gerne alles dir erzählen.
Tilie:
Niemals sollst du durch Tilien verlieren –
Ich:
Ich kann nun fernerhin nichts mehr verlieren,
Denn alle das Vergangne ist verloren,
Und nichts mehr kann vergehen, nichts mehr kommen,
Seit ich zum erstenmal das holde Leben
So gegenwärtig und geliebt empfinde,
Und das, Otilie, hast du mir gegeben,
Du wolltest, daß die Liebe mich entzünde.
Aus deinen Augen helle Lichter schweben,
Daß alles Dunkel rück- und vorwärts schwinde,
Doch sagtest du, du konntest mich nicht lieben.
Wenn ich das bunte Leben dir beschrieben.
So lasse mich vergessend hier gesunden,
Laß mich von meinem alten Leben schweigen,
Da du das neue schon mit grünen Zweigen
Und deiner Küsse Liebesblüt umwunden.
[136]
Du öffnest mir die kaum vernarbten Wunden,
Und in die Wunden wie in Gräber steigen,
Sollt deine holde Liebe von mir weichen,
Die ewge Freude und das Licht der Stunden.
Vertreibst du mich aus diesem Heiligtume,
So muß das junge Leben früh verstummen,
Das du mit Liebesseligkeit gewürzet.
Sind dann nicht alle Stunden ohne Schimmer,
Ists weniger als Freude, die auf immer
So unerreichlich tief hinab mir stürzet?
Tilie:
Es sei dir Nacht, und nächtliches Entzücken,
Das mild der Sterne Blumenglut ergießt,
Erblühe dir aus meinen stillen Blicken.
Und wenn du mir nicht in die Augen siehst,
So will ich deinen Arm gelinde drücken.
Damit sich nie das Leben dir verschließt,
Sollst du an meinem Arme hängend fühlen,
Wie warm mein Herz, will deines gleich erkühlen.
So sprich mir dann von deinem jüngsten Leben,
Von deiner Freud und Schmerzen Heiligkeit,
Denn über dieser wunderbaren Zeit
Kann nur der Schmerz, kann nur die Freude schweben.
Dem Ältern sind die Stunden hingegeben,
Er führet sie zu Frieden oder Streit,
Er herrschet über sie. So Freud wie Leid
Muß er allein sich selbst bestimmend weben.
Um Vater, Mutter und das Vaterland
Weint oft Eusebio so stille Tränen
Und hat verloren, was er nie gekannt.
Auch mich hält fest ein tief unendlich Sehnen,
Der frühverlornen Mutter zugewandt;
Denn uns besitzt, was wir verloren wähnen.
Besinne dich ein wenig, was du sagest,
Denn selten, lieber Freund, sagst du das Rechte.

[137] So sollte ich mich besinnen, Römer, und wußte doch von nichts, kannte niemand mehr als sie. O, wie hat mich dies Weib gefangen genommen, und wie werde ich durch sie leiden müssen, Schmerzen, die sie nimmer verstehen kann. Sie heilt, wie die Natur, alle Wunden, ohne sich zu einzelnen hinzuwenden; sie heilt mit einer eigentümlichen heilenden Kraft, mit einem Balsam, der wie ihre eigne Gesundheit in ihr lebt.

So bin ich denn einem Wesen hingegeben, das in seiner eigentümlichsten Macht dasteht; ich liege in der Wiege der Natur, ihr Fußtritt bringt mein Leiden mit leichten Schwingungen in die Träume der goldnen Zeit; möge ich erwachend an ihrem Busen von einem Geiste beseelt sein, für den meine jetzige Sprache ein Stammlen des Kindes ist. Oder werde ich sterben, wenn ich an ihrem Busen erwache, und die Form aller Formen mir vor den Augen und der Quell aller Nahrung und Wollust zwischen meinen Lippen schwillt? O wie werde ich dich dann nennen, Freund! mit aller Macht des Worts, allem Zauber der Poesie nennen können.

Godwi

Godwi an Römer [6]
Godwi an Römer

Ich habe dir gestern geschrieben, Römer, wie wir sprachen, und will gerne fortfahren, aber ich habe hier in jeder Minute stets so viel geliebt und gelebt, daß ein ganzes Leben der Erinnerung immer hinabsinken muß, um die Gegenwart zu umfangen.

Wer in der reinen Natur und unter den Menschen Gottes lebt, o! der ist so von der unendlichen Kraft durchdrungen, daß er keine Augen für die Handlung hat. Ich bin so gezwungen zu leben, daß alle Reflexion mir Mühe kostet, und wäre ich nicht so ungeschickt, und so verschroben, daß in jeder Minute des Alleinseins mir alles Genossene als Bedürfnis erscheint, weil ich noch nicht in mir selbst fortdauernd empfinde, daß diese Welt ewig in mir entzündet, so könnte ich dir nichts schreiben als abgebrochene Sätze und Ausrufungen, wie der, der, in dem tiefsten Schoße der Wollust versunken, sich selbst mit aller Äußerung in ihm auflöst, und keine Beschreibung als in der Anschauung des Genusses selbst geben kann. –

Godwi [138]

Fortsetzung meines Tagebuchs

Es ist eine Torheit, Römer, daß ich dir diese Szene zu schildern anfing, da es keine war – – Es ist, als wollte ein Maler ein wunderbar heiliges, lebendiges Leben im Mondschein, wo alle Gestalt leise zerrinnt, vor dir in bestimmten Formen hinzeichnen, wo der Mensch und alles Einzelne in das Ganze zerrinnt, wo nichts von dem Hintergrunde sich trennt, und alles in ein leises Gefühl des ewigen Gleichheit verschwimmt, und unser bestimmtester Begriff nur der des allgemeinen seligen Daseins des Lebens sein kann.

Es war kein Umriß da und keine Fülle, und kein Selbstgefühl, es war alles eins, und ich fühlte Tiliens warmen Busen an meiner Brust, wir wandelten leise, als wollten wir den Schlaf des Waldes nicht erwecken. Mein Herz drängte sich in meiner Brust schüchtern hinüber zu dem ihrigen, dessen vollen Schlag ich fühlte, sie drängte sich im Gehen dicht an mich, und alle Fibern zitterten in mir.

Ich wußte nicht, ob die Eichen oder unsre Locken so sanft über uns rauschten, ob Tiliens Blicke den Mond oder der Mond ihre Blicke anzündete. Ich war nie mehr – und doch nichts als ein Lebender. Das Äußre fühlte ich in meiner Seele in einem stillen Weben, und mich das Äußre bildend und von ihm gebildet. Es war, als habe ich ein Element um mich erschaffen, das seinen Schöpfer mit Wellen dankend umschlingt, und ihn von sich selbst trennend zur Einzelheit erhebt. – – Es war die letzte Empfindung des Geschaffenen, und die erste des Schöpfers.

Mit dunkeln Wünschen ist die Ordnung in unserm Herzen angeknüpft, ihr stiller Strom fließt zu der Liebe hin, und kehrt mit allem Leben ewig in unser Herz zurück.

Ich habe bis jetzt noch keinen Genuß im Leben gehabt, den mir die Reue über den Mißbrauch meiner Fähigkeit, mich zu freuen, nicht begleiten würde, wenn es nicht nichtswürdig und eine schnöde Verachtung der Gegenwart wäre, etwas zu bereuen.


Schnell nieder mit der alten Welt,
Die neue zu erbauen.
Der, dem die Liebe sich gesellt,
[139]
Darf nicht nach Trümmern schauen.
Aus Kraft und nicht aus Reue dringt,
Was die Vergangenheit verschlingt.

Nie darf die Erinnerung mit Neid nach der Gegenwart blicken, auf den Gräbern wollen wir tanzen, wenn wir Leben kennen und sterben können.

Ich stehe wieder wie ein Kind im Leben wie ein mächtigeres Kind eines mächtigeren Lebens. Und jetzt soll ich mich auf das Ehemals besinnen, da mir die Gegenwart meine ganze Möglichkeit so süß vereinzelt hinbietet?

Es ist mir, als ob alle dunkle sehnsüchtige Stunden meiner Jugend voreilige mutige Boten der Zukunft gewesen wären, die ich jetzt verstehe.

Meine Liebe zu der Engländerin war voll Kenntnis, voller Übung aller selbstischen Bemühung des Herzens in der Leidenschaft. Es war eine Liebe, wie die des Naturforschers zur Natur, die er in Kabinetten mit seinem Leitfaden in der Hand überrascht, und in seinem Laboratorium chemisch in einem Schmelztiegel küßt.

Jetzt hat mich die allgemeine Verbindung einer Schweiz umarmt. Das Leben wiegt sich wie ein Blumenkranz in meinen Locken, den Tilie hineingelegt. Ich fühle ihn nicht, und meine Phantasien wohnen in seinen Kelchen. Nie wird ihn mein Geist entblättern, denn mein Gemüt hat sich wie Dank und Rausch an Frühling und Liebe entzündet. Die Stimme meines stillen innern Danks spricht wie die Liebe im Liede der Nachtigall, aus Liebe, ohne Liebe zu dichten.

Ich liebte die Engländerin, weil sie meinen Sinnen schmeichelte, weil sie meinem Bedürfnisse und meinem Geschmacke das Bild der Natur hinzureichen schien. – Aber sie kam nur von der mißverstandenen Kunst zurück – dies Bild war nicht rein, der Zwang hatte hie und da einen schmerzhaften Zug zurückgelassen – es war Genesung, die nimmer Gesundheit wird.

Tilien liebe ich, weil sie so ist, denn die Gesundheit allein ist liebenswürdig. Sie war nie anders, sie ist nie so geworden, und wird nie anders werden. Sie ist so, und ewig so.

Sie schafft sich ewig selbst, und weiß es nicht. Jede Minute [140] ihrer Schönheit wird durch sie, und sie ist das Kind jeder Minute ihrer Schönheit. Wie die Liebe ihren Busen hebt, so ist ihr Busen das göttliche Gefäß ihres liebenden Herzens.

Äußere Dinge bestimmen sie nur, insofern sie in die unwandelbare treue Folge der Lebensaussprache tritt, in deren sittewechselnden Bildungen sie eine wunderbar ehrwürdige Urgebärde geblieben ist.

Sie selbst steht da wie die Natur im schönen Menschen; ihre Gedanken, ihre Worte, Gebärden und Mienen, ihre ganze Erscheinung ist der heiligsten Anschauung fähig. Man könnte jede Folge ihrer Äußerung mit schönen abwechselnden Bildern allegorisieren.

Wenn ich mir sie denke, wie sie sich bewegt, wie sie spricht oder singt, so sehe ich eine Reihe schöner weiblicher Gestalten in harmonischen Wellen vor mir hinschweben, die sich bald mit ihren zarten Armen, bald mit einzelnen Blumen oder Tönen, mit ganzen Blumen- und Tonfolgen, bald mit süßen durchsichtigen Liedern aus beiden gewebt berühren.

Diese Gestalten bilden mir dann keinen Zirkel, sondern kommen unmittelbar aus der Natur, die sie umgiebt, und schweben wieder so aus ihr hinüber.

So fühlte ich, als sie mir befohlen hatte, mich zu besinnen, und besann mich also nicht –


Tilie:

Hast du denn bald genug gedacht? Ich fürchte,
Du suchst so lange, bis du mehr als findest.
Denn suchst du übers Finden, so erfindst du.
Ich:
Verzeih, ans Suchen dachte ich noch gar nicht.
Tilie:
Was dachtest du?
Ich:
Ich weiß nicht, was ich dachte,
Ich sprach mit dir, und diese ganze Welt,
Der Wald, der Mond, sie lagen mir am Busen.
[141]
Ich fühlte, daß sie mit mir sprachen, daß ich,
Mit allem Leben innig tief verbunden,
Doch keinem Einzelnen eröffnen könnte
Und keinem das erwidern, was sie mir vertraut,
Als dir, du liebe Tilie, dir allein.
Tilie:
So sprich mir nun von deinen Kinderjahren,
Du hast dich schon besonnen; was du fühltest,
War Wahrheit, Leben; wo sie einig sind,
Kann sicher nur das Rechte einzig sein.
Laß dies Gefühl um deine Worte währen,
Und reine Dinge wird Otilie hören.
Szene aus meinen Kinderjahren
Oft war mir schon als Knaben alles Leben
Ein trübes träges Einerlei. Die Bilder,
Die auf dem Saal und in den Stuben hingen,
Kannt ich genau; ja selbst der Büchersaal,
Mit Sandrat, Merian, den Bilderbüchern,
Die ich kaum heben konnte, war verachtet,
Ich hatte sie zum Ekel ausbetrachtet.
So daß ich mich hin auf die Erde legte
Und in des Himmels tausendförmgen Wolken,
Die luftig, Farben wechselnd oben schwammen,
Den Wechsel eines flüchtgen Lebens suchte.
Kein lieber Spielwerk hatt ich als ein Glas,
Im dem mir alles umgekehrt erschien.
Ich saß oft stundenlang vor ihm, mich freuend,
Wie ich die Wolkenschäfchen an die Erde
Und meines Vaters Haus, den ernsten Lehrer
Und all mein Übel an den Himmel bannte.
Recht sorgsam wich ich aus, in jenen Höhen
Den kleinen Zaubrer selbst verkehrt zu sehen.
Ich wollte damals alles umgestalten,
Und wußte nicht, daß Änderung unmöglich,
Wenn wir das Äußre, nicht das Innre wenden,
[142]
Weil alles Leben in der Waage schwebet,
Daß ewig das Verhältnis wiederkehret
Und jeder, der zerstört, sich selbst zerstöret.
Dann lernt ich unsern Garten lieben, freute
Der Blüten mich, der Frucht, des goldnen Laubes
Und ehrte gern des Winters Silberlocken.
An einem Abend stand ich in der Laube,
Von der die Aussicht sich ins Tal ergießt,
Und sah, wie Tag und Nacht so mutig kämpften.
Die Wolken drängten sich wie wilde Heere,
Gestalt und Stellung wechselnd in dem Streite,
Der Sonne Strahlen schienen blutge Speere;
Es rollte leiser Donner in der Weite,
Und unentschieden schwankt des Kampfes Ehre
Von Tag zu Nacht, neigt sich zu jeder Seite;
Dann sinkt die Glut, es brechen sich die Glieder,
Es drückt die Nacht den schwarzen Schild hernieder.
Da fühlte ich in mir ein tiefes Sehnen
Nach jenem Wechsel der Natur, es glühte
Das Blut mir in den Adern, und ich wünschte
In einem Tage so den Frühling, Sommer,
Herbst, Winter in mir selbst, und spann
So weite, weite Pläne aus, und drängte
Sie enge, enger nur in mir zusammen.
Der Tag war hinter Berge still versunken,
Ich wünschte jenseits auch mit ihm zu sein,
Weil er mir diesseits, mit dem kalten Lehrer
Und seinen Lehren, stets so leer erschien.
Der Ekel und die Mühe drückte mich,
Ich blickte rückwärts, sah ein schweres Leben,
Und dachte mir das Nichtsein gar viel leichter.
Dann wünscht ich mich mit allem, was ich Freude
Und wünschenswertes Glück genannt, zusammen
Vergehend in des Abendrotes Flammen.
Der Gärtner ging nun still an mir vorüber
Und grüßte mich, ein friedlich Liedchen sang er,
Von Ruhe nach der Arbeit und dem Weibe,
Das freundlich ihn mit Speis und Trank erwarte.
[143]
Die Vöglein sangen in den dunkeln Zweigen,
Mit schwachen Stimmen ihren Abendsegen,
Und es begann sich in den hellen Teichen
Ein friedlich monotones Lied zu regen.
Die Hühner sah ich still zur Ruhe steigen,
Sich einzeln folgend auf bescheidnen Stegen.
Und leise wehte durch die ruh'ge Weite
Der Abendglocke betendes Geläute.
Da sehnt ich mich nach Ruhe nach der Arbeit,
Und träumte mancherlei von Einfachheit,
Von sehr bescheidnen bürgerlichen Wünschen.
Ich wußte nicht, daß es das Ganze war,
Das mich mit solchem tiefen Reiz ergriff.
Des Abends Glut zerfloß in weite Röte,
So löst der Mühe Glut auf unsern Wangen
Der Schlaf in heilig sanfte Röte auf.
Kein lauter Seufzer hallte schmerzlich wieder,
Es ließ ein Leben ohne Kunst sich nieder,
Die hingegebne Welt löst' sich in Küssen,
Und alle Sinne starben in Genüssen.
Da flocht ich trunken meine Ideale,
Durch Wolkendunkel webt ich Mondesglanz.
Der Abendstern erleuchtet, die ich male,
Es schlingt sich um ihr Haupt der Sternenkranz,
Die Göttin schwebt im hohen Himmelssaale
Und sinkt und steigt in goldner Strahlen Tanz.
Bald faßt mein Aug nicht mehr die hellen Gluten,
Das Bild zerrinnt in blaue Himmelsfluten.
Und nie konnt ich die Phantasie bezwingen,
Die immer mich mit neuem Spiel umflocht;
So glaubte ich auf einem kleinen Kahne
In süßer Stummheit durch das Abendmeer
Mit fremden schönen Bildern hinzusegeln.
Und dunkler, immer dunkler ward das Meer,
Den Kahn und mich, und ach, das fremde Bild,
Dem du so ähnlich bist, zogs still hinab.
Ich ruht in mich ganz aufgelöst im Busche,
Die Schatten spannen Schleier um mein Aug,
[144]
Der Mond trat durch die Nacht, und Geister wallten
Rund um mich her, ich wiegte in der Dämmrung
Der Büsche dunkle Ahndungen, und flocht
Aus schwankender Gesträuche Schatten Lauben
Für jene Fremde, die das Meer verschlang.
Und neben mir, in toter Ungestalt,
Lag schwarz wie Grab mein Schatten hingeballt.
Und es schien das tiefbetrübte
Frauenbild von Marmorstein,
Das ich immer heftig liebte,
An dem See im Mondenschein,
Sich mit Schmerzen auszudehnen,
Nach dem Leben sich zu sehnen.
Traurig blickt es in die Wellen,
Schaut hinab mit totem Harm,
Ihre kalten Brüste schwellen,
Hält das Kindlein fest im Arm.
Ach, in ihren Marmorarmen
Kanns zum Leben nie erwarmen!
Sieht im Teich ihr Abbild winken,
Das sich in dem Spiegel regt,
Möchte gern hinuntersinken,
Weil sichs unten mehr bewegt,
Aber kann die kalten, engen
Marmorfesseln nicht zersprengen.
Kann nicht weinen, denn die Augen
Und die Tränen sind von Stein.
Kann nicht seufzen, kann nicht hauchen,
Und erklinget fast vor Pein.
Ach, vor schmerzlichen Gewalten
Möcht das ganze Bild zerspalten!
Es riß mich fort, als zögen mich Gespenster
Zum Teiche hin, und meine Augen starrten
Aufs weiße Bild, es schien mich zu erwarten,
Daß ich mit heißem Arme es umschlinge,
Und Leben durch den kalten Busen dringe.
[145]
Da ward es plötzlich dunkel, und der Mond
Verhüllte sich mit dichten schwarzen Wolken.
Das Bild mit seinem Glanze war verschwunden
In finstrer Nacht. In Büsche eingewunden,
Konnt ich mit Mühe von der Stelle schreiten.
Ich tappe fort, und meine Füße gleiten,
Ich stürze in den Teich. Ein Freund von mir,
Der mich im Garten suchte, hört den Fall,
Und rettet mich. Bis zu dem andern Morgen
War undurchdringlich tiefe Nacht um mich,
Doch bleibt in meinem Leben eine Stelle,
Ich weiß nicht wo, voll tiefer Seligkeit,
Befriedigung und ruhigen Genüssen,
Die alle Wünsche, alle Sehnsucht löste.
Als ich am Turm zu deinen Füßen saß,
Erschufst du jenen Traum zum ganzen Leben,
In dem von allen Schmerzen ich genas.
O teile froh mit mir, was du gegeben,
Denn was ich dort in deinem Auge las,
Wird sich allein hoch über alles heben.
Und kannst du mir auf jenen Höhen trauen,
So werd ich bald das Tiefste überschauen.
Ich glaube, daß es mir in jener Nacht,
Von der ich nichts mehr weiß, so wohl erging;
Als ich erwachte, warf sich mir die Welt
Eiskalt und unbeweglich hart ums Herz.
Es war der tötende Moment im Leben,
Du, Tilie, konntst allein den Zauber heben.
Mein Vater saß an meinem Bette, lesend
Bemerkte er nicht gleich, daß ich erwachte.
Es stieg und sank mein Blick auf seinen Zügen
Mit solchem Forschen, solcher Neugierd, daß
Mir selbst vor meiner innern Unruh bangte.
Dann neigte er sich freundlich zu mir hin
Und sprach mit tiefer Rührung: »Karl, wie ist dir?«
Ich hatte ihn noch nie so sprechen hören,
Und rief mit lauten Tränen aus – »O Vater!
Mir ist so wohl, doch, ach! die Marmorfrau –
Wer ist sie? – Wessen Bild? – Wer tat ihr weh?
[146]
Daß sie so tief betrübt aufs holde Kind
Und in den stillen See herniederweint?«
Mein Vater hob die Augen gegen Himmel,
Und ließ sie starr zur Erde niedersinken,
Sprach keine Silbe und verließ die Stube.
In diesem Augenblicke fiel mein Los.
Ein ewger Streit von Wehmut und von Kühnheit,
Der oft zu einer innern Wut sich hob,
Ein innerliches, wunderbares Treiben
Ließ mich an keiner Stelle lange bleiben.
Es war mir alles Schranke, nur wenn ich
An jenem weißen Bilde in dem Garten saß,
War mirs, als ob es alles, was mir fehlte,
In sich umfaßte, und vor jeder Handlung,
Ja fast, eh ich etwas zu denken wagte,
Fragt ich des Bildes Widerschein im Teiche.
Entgegen stieg mir hier der blaue Himmel
Und folgte still, wie die bescheidne Ferne,
Der weißen Marmorfrau, die auf dem Spiegel
Des Teiches schwamm. So wie der Wind die Fläche
In Kreisen rührte, wechselte des stillen
Und heilgen Bildes Wille, und so tat ich.

Meine Stimme war nach und nach gesunken, und mein Gefühl konnte ich nicht mehr erreichen.

Wir wendeten uns denn, es war spät in der Nacht und kühl, der Mond goß den kalten Tag der Geister durch die Nacht; in sonderbar wilde fremde Formen zerriß sich das einsame traute Leben der Dämmerung, Schauer wehte aus den Gebüschen, und in den Gewölben der Eichen herrschte bange Geisterfeier.

Godwi

Godwi an Römer [7]
Godwi an Römer

Ich bin krank, und diese Krankheit ist mir nicht schmerzlich, denn ich hoffte viel für meine Genesung, ich hoffte Genesung für meine Krankheit, und mein voriges Leben von ihr.

Ich bin nicht in dem Zeitraume zwischen diesem und meinem [147] letzten Briefe krank geworden; ich bin es, seit ich dir von meinem Spaziergange mit Tilien in den Wald schreibe, nur in dieser Minute fühle ich es, daß ich es bin.

Ich bitte dich, habe hier keine voreiligen bürgerlichen Gedanken, und denke nicht, daß ich mich sicher verkältet hätte. Es wäre mir fatal, wenn ich glauben müßte, daß in solchen Momenten man sich verkälten kann, in denen man glüht, und doch ist es leider so; aber ich will es nicht haben, daß ich es glaube, und du sollst es mir zum Gefallen tun, und es nicht glauben.

Meine Spannung, meine Überspannung, meine Abspannung und ein Schrecken, dessen Ursache nur in dem natürlichsten und künstlichsten Zustande uns eine ruhige Ansicht sein kann, hat mich krank gemacht.

Tilie verpflegt mich und der Knabe. Der einzige Arzt in der Gegend ist der, der Tiliens Mutter, wie Werdo glaubt, umgebracht hat, und der Alte kann ihn daher nicht leiden; doch hat sie ihn einigemal heimlich zu mir gebracht, nur um ihn zu fragen, ob meine Krankheit gefährlich sei; aber er versteht nichts davon. Er sagt, es käme ganz allein von meinem Leben mit den seltsamen Menschen hier oben, die alle nicht klug seien, das habe mich angesteckt, und der Geist wirke auf den Körper, und – er wäre ein Schafskopf, dachte ich.

Seine Arzneien glaubte ich lange genommen zu haben, und war meiner Genesung schon nah, da sagte mir der Knabe, daß die Tränke alle von Tilien seien; er suche die Kräuter und sie koche sie.

Ich habe nur einen Tag zu Bette gelegen, und länger konnte ich auch nicht; denn könntest du wohl ruhig liegen bleiben wenn sich dir von jeder Seite deines Lagers eine weite, herrliche Aussicht öffnet, die mit allen Punkten ihres Eingangs dich ergreift, und mit Gewalt, den Eindruck und sich selbst immer mehr vereinzelnd, dich in den einzigen Punkt der Perspektive ihres Ausgangs hinreißt?

Ich habe mancherlei gedacht, indem ich so hinaussah, über Aussichten, ihre Ansicht und ihren Genuß, aber ich habe dennoch keine Ideen über Landschaften gehabt. Es ist wunderbar und macht mich immer für meine Nebenmenschen in der Gegenwart [148] unnütz, daß ich nie eine Sache an sich selbst betrachte, sondern immer im Bezuge auf etwas Unbekanntes, Ewiges; und überhaupt kann ich gar nichts betrachten, sondern ich muß drinnen herumgehen, denn auf jedem Punkte möchte ich leben und sterben, der mir lieb ist, und so komme ich dann nimmer zur Ruhe, weil mit jedem Schritte, den ich vorwärtstue, der Endpunkt der Perspektive einen Schritt vorwärtstut.

Nur der Mensch kann glücklich und ruhig werden, der etwas ansehen kann, und der nicht den Drang in sich hat, daß ihm alle Ferne Nähe sei.

Aus eben derselben Art zu fühlen kann ich auch nie spielen, weil ich platterdings mich nie entschließen kann, den anerkannten Zweck des Spiels für mich als Zweck und den Gewinst für mich als Gewinst gelten zu lassen. So stelle ich mir immer unter den Figuren des Schachbretts eine Menge Charaktere vor, die ich durch mein Spiel, gegen den gegenarbeitenden Mitspieler, der mir das Schicksal vorstellt, in eine dramatische Zusammenstellung zu bringen suche, und so weiß mein Gegner nie, wie ich nur so dumm spielen kann, gerade wenn ich am zufriedensten bin, und mein Held recht herrlich dasteht. Es wird dann meistens ein Trauerspiel, und ich stehe recht gerührt und mit tiefen Betrachtungen über das Geschick auf, während mein Gegner mir vorwirft, daß ich geizig sei, und unzufrieden, wenn ich gleich meinen Verlust selbst verschuldet hätte. So wie mancher Dichter allein seine Werke versteht, und tief gerührt von seinen Geburten, dem Publikum die gutmütige Äußerung abgewinnt, wenn er nur etwas Lesbareres schrieb, da würde er nicht vor Armut Tränen weinen.

Auch mit dem Billardspielen geht mir es so; ich möchte immer gerne mit den schönen weißen Bällen irgend eine Gestirnstellung auf der grünen Fläche hervorbringen, und der andere stößt mir alles in die Löcher.

Ich schrieb dir meine Krankheit mit Fleiß nicht eher, bis ich wußte, daß ich leben bleiben mußte, und wäre ich gestorben, so hättest du nichts davon erfahren, denn nur im Vergessen wird man glücklich.

Hier folgt die Fortsetzung meines Tagebuchs, und – lebe wohl!

Godwi [149]

Fortsetzung meines Tagebuchs [1]
Fortsetzung meines Tagebuchs

Ich fühlte plötzlich, daß ich mich in meiner Erzählung verloren hatte, und aus der Folge meiner innern Erneuerung getreten war.

Ich hatte mich auf meiner Erzählung in mein wirres Leben zurückgetragen, ich hatte meinen Talisman abgelegt. Meine ganze Umgebung sprach mich wieder fremd an. Ich war mit diesem zarten einfachen Leben uneins geworden, und schauerte, in alle Farben der wilden Welt gehüllt, vor dem Umriß meiner Lage, die mich so farbenlos wie ein Geist anredete – die Natur kommt uns armen unnatürlichen Menschen leider oft so übernatürlich vor.

Tilie, die an meinem Arme hing, schwieg. Ihr Anblick überraschte mich, und ihre Berührung machte mir bang; die ganze Reihe von Bergen um uns her, deren Häupter unsre Nachbarn waren, verschwammen im Mondenglanz in die Wolken, und türmten sich regellos wie Dampfsäulen wechselnd in den Himmel.

Eine unergründliche Tiefe zwischen Jetzt und Ehedem, wie die Täler zu meinen Füßen, ohne eine einzige Gestalt, wie siedende Kessel voll weißer Nebel und Dünste, ein ganzes Klima zu erschaffen.

Alles um mich her, ohne eine einzige Stelle, etwas hinzustellen, alles so voll und so wogend wie ein Meer, und in mir die drückende Last und der Drang, mich ewig von den Erinnerungen zu trennen, die, ohne Frucht üppig in Blätter und geruchlose Blüten schießend, jedem Bessern die Nahrung stehlen.

Alles das hatte mich zugleich umfaßt, meine ganze Vergangenheit, die ich durch meine lebhafte Erzählung erweckt hatte, ergoß sich mißgestaltend in meine Gegenwart, ich war ganz verloren, und wachte in dem abenteuerlichsten Traum.

Ohne irgend etwas zu denken, meine Seele wie in einem Wirbelwinde unter tausend Bildern und Ungestalten herumschwindelnd, blickte ich in den Wald, während ich mit vollem Bewußtsein neben Tilien in der herrlichen Nacht hätte gehen sollen.

[150] Ich blickte schon eine Zeitlang auf einen leuchtenden Punkt im Holze, der, zwischen den Bäumen hin und her schwankend, in der Ferne zwischen die Blätter leuchtete, und das Grün der Bäume entzündend, schimmernde Zweige in der tiefen Nacht des Waldes erblühen ließ. Meine Zerstreuung suchte dies nicht näher zu erforschen, sondern reichte bequem lieber zu dem nahen Gefühle, das mir so oft die erleuchteten Hüttenfenster auf meiner Reise einflößten.

Unwillkürlich malte ich mir eine kleine Bauernstube, und fühlte das Behagliche der Ruhe nach der Ermüdung; ich sah die Kinder rund um den Ofen, die Spinnräder und die Lampe nach der Reihe einschlafen, und dachte gar nicht dran, daß hier auf eine Meile Wegs keine Bauernhütte sein könne.

Ich wollte schon anfangen, Tilien meine Gefühle über die Hüttenfenster mitzuteilen, als es mir auffiel, daß sie so lange geschwiegen habe.

Ach, es ist sehr traurig, wie ungeschickt uns unsre Erziehung macht; unsre Seele wird vom bürgerlichen Leben, wie von einem Tanzmeister, in eine wunderbare steife Konsequenz und eine auswendig gelernte Mannigfaltigkeit geschraubt, die, sobald wir in die Natur treten, zu höchstverderblicher Ungeschmeidigkeit und Einseitigkeit führen.

Mit meiner Rückkehr in meinen vorigen Seelenzustand verbanden sich nach und nach alle seine Schwächen, so wie ein Weltmann nicht leicht einen französischen Pas und einen natürlichen Sprung in der Mitte vereinigen kann.

Ich war zu verwirrt, ich möchte sagen, zu erniedrigt, um Tiliens hohes, reines Leben voraussetzen zu können, und meine Frage, warum sie so lange geschwiegen habe, schien nur eine gewöhnliche Dame zu berühren. Ich vermutete, sie sei ängstlich geworden, meine Erzählung von der weißen Marmorfrau, die Nacht und die Einsamkeit mit mir habe in ihr jene weibliche Furcht erregt, die uns Männern so hinreißend wird, weil sie eine der wenigen Aufwallungen ist, in denen sich das eigne innere Verhältnis noch äußert.

Es ist so selten, daß die bloße Liebe von beiden Seiten gleichtätig die Geschlechter näher verbindet, daß uns bis jetzt die raschere, bestimmtere Annäherung zugeteilt wurde; ebendeswegen [151] tut es uns äußerst wohl, wenn wir einmal der feststehende und nicht der bewegte Teil sind, wenn eine Bewegung der Luft, oder das Gewicht der Reife, die Rosen oder die Früchte, die wir pflücken wollen, uns entgegen bewegt.

Tilie hatte im Gehen dann und wann ihre Hand fester auf die meinige gelegt.


Ich:

Wie ist dir, Tilie, sag, warum so stille?
Tilie:
Daß ich nicht spreche, ist dein eigner Wille,
Wie konntest du das alles so erzählen,
Nur diesen hohlen bangen Ton erwählen,
Der wie durch einen dunkeln, tiefen Gang
In deiner seltsamen Erzählung klang.
Im Anfang folgt ich dir, verließ die helle,
Die sterngezierte Nacht, die ernste Schwelle
Neugierig überschreitend, drang ich vor,
Bis ich mich ganz in Dunkelheit verlor.
Du warst so weit, so tief hinein gegangen,
Und Tilie konnte dich nicht mehr erlangen.
Ich eilte rückwärts, hörte dich nicht mehr,
Nur deine Stimme klang noch zu mir her.
Ich setzte mich still an der Höhle nieder
Und liebte dich nicht, denn du kamst nicht wieder.
Ich schaute einsam durch die dunklen Räume,
Aus Waldestiefen kamen zarte Träume
Und spielten mit des Mondes Geisterbildern,
Um meines Freundes Abschied mir zu mildern.
Nur eins von allen blieb bei mir zurücke,
Die weiße Marmorfrau, und meine Blicke
Ließ ich durch Schatten und durch Lichter spähen,
Und hoffte fest, die Arme zu ersehen;
Aus den Gebüschen, glaubt ich, muß sie schauen
Und könne mir allein ihr Leid vertrauen.

[152] Mich ergriffen ihre Worte heftig, wohl war ich Armer in einem langen düstern Gang, und konnte nicht wieder heraus.

Ich konnte Tilien nicht antworten; ich wußte nichts, gar nichts, und hätte fast vom Wetter gesprochen, hätten mir die Hüttenfenster nicht eine freundliche Unterhaltung angeboten.


Tilie:

Hier oben – Hüttenfenster, sag, wie ist dir?
Hier oben sind ja keine Hütten –

Die Auflösung meines Irrtums, der sich nun schon eine ganze halbe Stunde lang in meine Gedankenreihe verflochten hatte, vollendete meine Zerstörung. Mit einem sehr häßlichen Unwillen fuhr ich fort:


Was denn sonst
Solls sein, was dorten leuchtet?
Sie:
Nun, es wird wohl
Ein stilles Licht sein, kennst du diese nicht?
Ich:
Ein stilles Licht? – Das ist ein Aberglaube.
Tilie:
Ein Aberglaube? – Sag, was nennst du so?
Ich:
Ein Aberglaube? Nun, ein falscher Glaube.
Tilie:
Wie sprichst du Mann, wie hast du dich verändert;
Die Worte, falsch und schief, versteh ich nicht.
Woher sind sie gekommen, hast du sie
Aus deiner falschen Welt heraufgebracht?
[153]
Ich:
Ich meine, liebe Tilie, daß die Lichter
Aus der Natur entspringen, und daß jeder
Verschiedne Glaube ihres Ursprungs falsch sei.
Tilie:
Von allem diesem weiß ich nichts. Natürlich
Ist alles. Von den stillen Lichtern schweige,
Ich ehre sie, sie sind mir lieb. Sehr selten
Ists, daß sich eines zeigt; es gehet dann
In meinem Leben sicher etwas Seltnes
Und Wunderbares vor, sie schimmern
Wie Winke meines Schutzgeists in der Nacht,
Und wandeln ferne in der Gegenwart
Wie kühnere Minuten meiner Zukunft vor mir.
Eusebion lieben sie, er sprach schon oft
Mit ihnen, und sie tanzen freundlich um ihn.
Willst du mir meine zarten Freunde stören,
So gieb mir erst, was sie mir still gewähren.
So weit für heut, ich bin so müde.

Godwi

Godwi an Römer [8]
Godwi an Römer

Ich bin schon wieder genesen. Ich gehe schon wieder durch Wald und Flur, und ohne Mühe, ohne Kampf mit dem vorigen. Auch mein Körper ist sanfter gestimmt. Alles ist einfacher in mir. Ich kann lange an einer Stelle stehen, ohne jene innere Angst, die mich immer weitertreibt.

O wie ist die Natur so groß, und wie ist der Mensch größer! Wie kann er sie bändigen in sich; wie kann er weit hinaus sehen, und so unendlich viel in sein Auge fassen, und es mit seinem Geiste ruhig anfühlen und betrachten.

Es ist mir nun alles erklärbar, alles verstehe ich; es hängen mir nicht mehr um jede Aussicht alle Erinnerungen, und reißen mich von der Gegenwart gewaltsam zurück.

Sonst mußte ich immer durch eine düstere Wolke von Reflexionen durchbrechen, um zu genießen. Es ist, als sei nach [154] dieser Krankheit mein Bedürfnis kleiner und mein Begehren heftiger geworden.

Der Alte ist nun immer freundlicher mit mir, und ich bringe heilige Stunden mit ihm und Tilien zu.

Eins nur kann ich noch nicht lösen; wer war sie, die mit dem Knaben auf dem Arm am Ende der Wiese stand? –

Godwi

Fortsetzung des Tagebuchs

Die Worte Tiliens beschämten mich. Ich schwieg. Ich wollte Tilien ihre Götter rauben, und sie blieb mir freundlich. Ich sah in mich zurück und um mich her, da blieb es kalt und leer. Kein Bild sprach mit mir von einem heiligen Zusammenhange mit einem höhern Leben. O, wer giebt mir diese Religion?

Wenn ich Tilien und mit ihr den schönen Zusammenhang mit ihren stillen Lichtern erhalten könnte! Wie ehre ich nun diese stillen Lichter – Sind sie Tilien, was sie mir ist? – Sollte mich nicht eine schöne Eifersucht bewegen, an ihre Stelle zu treten, meine Stelle mit ihnen zu vertauschen? – Wie – wie kann die wilde verzehrende Flamme in mir zum stillen Lichte werden? –

So war es in mir. Tilie ging ruhig an meiner Seite und sang:


Sprich aus der Ferne
Heimliche Welt,
Die sich so gerne
Zu mir gesellt.
Wenn das Abendrot niedergesunken,
Keine freudige Farbe mehr spricht
Und die Kränze stilleuchtender Funken
Die Nacht um die schattigte Stirne flicht:
Wehet der Sterne
Heiliger Sinn
Leis durch die Ferne
Bis zu mir hin.
Wenn des Mondes still lindernde Tränen
Lösen der Nächte verborgenes Weh,
[155]
Dann wehet Friede. In goldenen Kähnen
Schiffen die Geister im himmlischen See.
Glänzender Lieder
Klingender Lauf
Ringelt sich nieder,
Wallet hinauf.
Wenn der Mitternacht heiliges Grauen
Bang durch die dunklen Wälder hinschleicht
Und die Büsche gar wundersam schauen,
Alles sich finster tiefsinnig bezeugt:
Wandelt im Dunkeln
Freundliches Spiel,
Still Lichter funkeln
Schimmerndes Ziel.
Alles ist freundlich wohlwollend verbunden,
Bietet sich tröstend und traurend die Hand,
Sind durch die Nächte die Lichter gewunden,
Alles ist ewig im Innern verwandt.
Sprich aus der Ferne
Heimliche Welt,
Die sich so gerne
Zu mir gesellt.

So sang Tilie durch die Büsche, als bete sie. Der ganze Tempel der Nacht feierte über ihr, und ihre Töne, die in die dunkeln Büsche klangen, schienen sie mit goldnen, singenden Blüten zu überziehen.

Ich selbst war wunderbar gerührt und weinte fast, daß ich an der Seite dieses hellen freundlichen Bildes so trüb und verschoben dastehe.

Hier wendete sich Tilie zu mir und sprach:


Dir ist nicht wohl, du magst den Wald nicht leiden,
Weil Dunkelheit schon in dir selbst regiert;
So will ich dich den andern Weg geleiten,
Der über eine helle Wiese führt,
Wo Licht und Schatten nicht so bange streiten
Und sich der Pfad in hellen Glanz verliert.
Durch jene Flur, in sanften grünen Wogen,
Wird sie von leisem Wehen hingezogen.

[156] Tilie trat mit mir aus dem Walde auf die glänzende Wiese heraus, und ich erschrak fast vor ihrer Schönheit.


Ist des Lebens Band mit Schmerz gelöset,
Liegt der Körper ohne Blick, ohn Leben,
Fremde Liebe weint, und er geneset.
Seine Liebe muß zum Himmel schweben,
Von dem trägen Leibe keusch entblößet,
Kann zu Gott der Engel sie erheben.
Und er hält sie mit dem Arm umfasset,
Schwebet höher, bis das Grab erblasset.
Ist er durchs Vergängliche gedrungen,
Kehrt die Seele in die Ewigkeit,
O, so ist dem Tod genug gelungen,
Und er stürzet rückwärts in die Zeit.
Um die Seele bleibet Wonn geschlungen,
Alles giebt sich ihr, die alles beut,
Wird zum ewgen Geben und Empfangen,
Kann des Wechsels Ende nie erlangen.

So war mir, als ich auf die Wiese trat und Tilie neben mir; es war, als stürze alles Licht auf sie herab, sie zu verschlingen, oder zu erschaffen, oder sie erschaffe alles Licht; es war, als entstehe sie aus den Wellen der Grashalmen und Blumen, über die sie schwebend hinging, wie Venus aus dem Schaume des Meeres.


Ich:

Wie diese stille Fläche sah der See
In meines Vaters Garten aus; Otilie,
Dort, wo die Büsche sich verengen, stand
Das weiße Bild, o Gott –
Tilie:
Was ist dir?
Ich:
Dort steht die Frau.
Tilie:
Wo? Laß uns zu ihr hin;
Da steht sie, ja ich sehe sie, die Arme!

[157] Ich war in die Erde gewurzelt, die weiße Marmorfrau stand am andern Ende der Wiese, und hatte den Knaben im Arm.

Tilie saß neben mir, rief mich dann und wann und rüttelte mich leise, ich war sinnlos niedergesunken.


Tilie:

Wie ist dir, sprich, du machst mir bange,
Liebst du das weiße Frauenbild nicht mehr?
Hast du ihm wehgetan, daß du es fürchtest?
Mir war es lieb, daß sie sich vor uns stellte.
Ich:
Sahst du sie denn?
Tilie:
Gewiß, bis sie verschwand.
Doch komme, wunderbarer Mann, komm schnell,
Laß uns nach Haus zu meinem Vater eilen,
Mit dir ist es nicht gut allein zu weilen.

Das stille Licht sahen wir schnell durch den Wald hinfliehen, und trennten uns an der Türe. Ich bin krank –

Godwi

Joduno von Eichenwehen an Sophie Butler

Du hast mich mit dem freundlichen Briefe recht in Versuchung geführt, und ich war nie so reich in meiner Einsamkeit. Unter zwei Freuden soll ich wählen – ich armes Mädchen bin an Freuden gar nicht gewöhnt.

Wenn du wüßtest, was auf der andern Waagschale liegt, und das ist etwas, was dich schier aufwiegen könnte. Ich soll auf einige Tage nach Reinhardstein zu meiner Otilie, ihrem Vater und dem kleinen Eusebio. Auch Godwi ist dort, und ich hätte ihn immer zuerst nennen dürfen.

Auf deiner Seite liegt eine große Stadt mit Spazierfahrten, Schauspielen, Bällen, neuen Moden, und du, liebes Mädchen, dich hätte ich wohl auch zuerst nennen können. Der Vater und [158] mein Bruder sind nach B. auf den Landtag gereist, und ich warte nur auf seine Antwort, ob ich zu dir kommen darf. Es ist mir sehr lieb, daß mein Bruder mit nach B. ist, er würde sonst mich sicher nach Reinhardstein oder zu dir begleitet haben. Nach Reinhardstein bringe ich ihn nicht gerne, weil er meine Otilie mit seiner Liebe quält, und bei dir, sieh, da möchte ich doch ein wenig brillieren; mein Herr Bruder aber hat gar keine Anlage zumChevalier d'honneur. Nun weiß ich noch nicht, wer mich begleiten wird. Könntest du mir nicht einen deiner Brüder schicken? Ich will sehen, ob es der Vater erlaubt.

Ich freue mich recht sehr auf dich; wir wollen dann die kindische Zeit wieder aufwecken, die wir zusammen im Kloster verlebten. Ob diese Erinnerungen für dich noch reizend sein können, weiß ich nicht, denn du hast mit einem glänzenden, bunten Leben das alles vertauscht; aber ich, ich kann nimmer das zarte Leben vergessen, in dem wir so verschwistert nebeneinander einhergingen; die große, stille Laube, am steilen Abhange des Klostergartens, ist nirgends mehr in der Welt. Wie die Mühlen klappten, die Bäume rauschten, und sich unten alles in den dunklen Wellen eines lebenden grünen Meeres bewegte. Immer steht mir noch ein Abend im Sinn: der Bruder der Priorin und ein freundlicher geistlicher Herr waren angekommen, und es war ein großes Fest im Kloster. Nach Tische mußten wir beide das Ave singen, um den Fremden eine Freude zu machen, und es war uns so gut gelungen, daß uns erlaubt wurde, eine Bitte zu tun; wir besannen uns lange, damit wir die rechte tun möchten, und standen beide am Fenster, miteinander zu überlegen. Es war Abend und ganz dunkel draus, da ging auf einmal der Mond auf, und der Garten war so schön, die kleinen Springbrunnen rauschten so freundlich, daß du um die Erlaubnis batst, eine Stunde in den Garten gehen zu dürfen.

Als wir unten durch die dunklen Gänge gingen, da wurde uns sehr wohl; wir setzten uns in die Laube und sahen in das glänzende Tal hinab. Nachher merkten wir, daß der alte Gärtner noch wachte, wir klopften an sein Fensterchen, da kam er dann heraus, setzte sich zu uns in die Laube und erzählte uns, wie er sich als kleiner Knabe bei seinem seligen Vater erinnere, daß [159] hier in der Laube sich einmal ein wunderschöner junger Prinz in eine Nonne verliebt und sie nachher entführt habe. Wie der Gärtner fort war, sprachen wir noch lange von der Liebe, und wählten uns jede einen Ritter, und schufen an ihnen allerlei kleine Liebenswürdigkeiten, die wir teils an den Freunden unsrer Eltern, teils an unsern Gespielen bemerkt hatten, zum Heldencharakter um. Ich wollte einen lustigen, offenherzigen Ritter mit braunen Locken; er brauchte gar nicht alle zu besiegen, nur meine Lieblingsfarbe Himmelblau mußte er tragen, auch tanzen, singen, und nun, auch sehr zärtlich sein konnte er. Dein Auserwählter war schon viel preziöser und zusammengesetzter. Er hatte schon den Zug ins heilige Land vollbracht, du wolltest ihn zum Lohne seiner Arbeiten mit deinem großen schwarzen Auge freundlich anblicken, und ihn die Rätsel und Charaden deines Witzes auflösen lassen. Er war ein ernster, erfahrner Mann, voll Wahrheit und milder Majestät. Sein Auge mußte schwarz sein, und nicht einen süßen Blick wolltest du ihm verzeihen. Treue und Achtung war das eigentliche Band. Sein Gewand war grau, braun oder schwarz. Perlen durfte er tragen, und die feinsten Kanten zur Halskrause, aber alles echt und einfach; auch sollte er die Zither spielen, und du wolltest ihm verzeihen, wenn er Lieder der Liebe sänge. Aber die Erinnerung, die Zeit, die Zukunft müßte sein Vorspiel sein, er sollte sie zur Ehre der Damen singen, mit denen er in Frankreich getanzt, die er in Italien geküßt, unter deren Fenstern er in Spanien die süßeste Langeweile empfunden hatte, und am Ende sollte er dich küssen, einen ernsten Kuß der Überzeugung; dann griff er wieder in die Saiten und sang ein Lied von dir, in dem sich alles, seine bunte Welt und sein wilder, strebender Sinn, ruhig gelöst hatte. –

Wenn das Glöckchen zur Mette läutete, und wir traulich wie zwei verwünschte Prinzessinnen die langen Gänge an den vielen alten Bildern hinab ins Chor schlichen, machten wir bei einem von den Bildern immer die Augen zu, es war eine Martergeschichte, und mußten deswegen Gesichterschneidens halber stehend essen. Wir waren damals die Ältesten, und freuten uns, wenn es in das Chor ging, immer über die vielen fröhlichen kleinen Mädchen, die um uns her wallten, über die [160] neugierigen Nonnen, die die Köpfe zu ihren Türen herausstreckten, oder wie Gespenster um die Ecken herumschwebten. Wir konnten den eintönigen Gesang von den vielen Mädchen-Stimmen gar nicht mehr leiden, drehten an dem Rosenkranze und steckten die Köpfe zusammen, und ich sagte einmal recht offenherzig: »Ach! wenn doch unsre Ritter mitsängen.« Wir waren immer einig, nur ein einzigesmal haben wir ein paar Stunden geschmollt; es war, als dein Bruder deine jüngere Schwester gebracht hatte. Ich vergesse den Abend nie, die Nonnen huschten wie Geister um ihn her, und keine wollte ihn vor der andern angesehen oder gesprochen haben, und er scherzte mit allen. Du wurdest aufgebracht und weintest, weil ich in meiner Einfalt die Schwester Rosalie gegen dich auslachte. Sie wanderte so sonderbar bewegt mit deinem Bruder im Garten herum, und konnte gar nicht von ihm loskommen. Die Arme war deiner Tränen wohl wert, sie ist nun tot. – Wenn ich spröde, dummzierige Mädchen sehe, so wünsche ich sie immer ein paar Jahre ins Kloster, damit sie fühlen lernen, was die arme Rosalie fühlte. – Seitdem ich Godwi kenne, fühle ich, daß ich die Männer liebe, und daß nur sehr elende Weiber sie nicht lieben können. Ich freue mich auch sehr, viele gescheite und schöne Männer bei dir zu sehen. Es ist so totenstill hier im Schlosse, seit der Vater, Jost und Godwi fort sind, daß ich mich nicht getraue, aus meinem Winkelchen herauszugehen; das Fleckchen von unserm Garten, das ich aus meiner Stube übersehe, habe ich fast auswendig gelernt. Der Himmel allein ist es, der mich unterhält, die Wolken mit ihren tausendfaltigen Gestalten sind meine einzige Lektüre; bald suche ich Umrisse von Gesichtern, bald Schlösser, bald kämpfende Drachen und Schlangen in ihnen, und indem sie selbst immer leise zerrinnen, wird aus meinen einzelnen Arten ein allgemeines Dichten, ohne eigentlichen Stoff; doch lange dauert es nie, so steht Godwi mitten drinne. Oft sehe ich ihn in allen Ecken. Stundenlang sitze ich in dem Armstuhl auf seiner ehemaligen Stube; alles, was von ihm übrig ist, habe ich durchsucht, und ein Stückchen Papier, worauf er, indem er die Feder probierte, meinen Namen und seinen schrieb, liegt unter den heiligsten Blättchen meiner Brieftasche. Der Morgen, an dem er wegging, ist sehr traurig [161] für mich gewesen, ich wußte gar nicht, wo ich bleiben sollte; ich ging in meiner Stube an die Kommode, in der meiner verstorbenen lieben Mutter ihre Kleider liegen, nahm sie heraus und betrachtete die schönen Kanten und schwarzen Paladine, las in dem Kalender, in den sie geschrieben hatte, wann ich geboren war, und setzte mich dann an ihr künstliches Spinnrad, das mein Vater ihr zur Hochzeit schenkte, und spann, indem ich heftig weinte, um Godwi und die Mutter. Es ist so allein, es hallte alles wieder, ich klettere an jedem Schranke in die Höhe, um zu sehen, ob nicht etwas Vergessenes oben liege, das mich zerstreuen könnte. Die alte Margarethe hat alle ihre Gespenstergeschichtchen wiederholt, die Legende und hundert königlichen Jagdgeschichten habe ich durchgelesen und möchte fast, daß mir ein kleiner Schloßzwerg erschiene, und mir irgend einen geheimen Schrein voll der seltsamsten Sachen entdeckte. Aber ich glaube, fast alle meine Groß- und Urgroßherrn waren viel zu trockene Leute, als daß so ein poetisches Männlein bei ihnen hätte seßhaft werden können. Es ist mir wie einem Indianer, an dem eine herrliche Musik mit allen ihren blitzenden Tönen vorüberrauschte, die göttlichen Flammen schlingen sich um seinen unschuldigen Sinn, und er kann nimmermehr ruhen, weil er die glänzenden Töne vermißt, die in einem Augenblicke einen Himmel aufschlossen, den er nimmer wiedersieht. Godwi ist nun fort, ich finde ihn nirgends, aber er hat eine Begierde in mir entzündet, die er selbst nicht ausfüllen kann, eine Begierde nach Dingen, die ich nie kannte. Ich liebe Godwi nicht, denn er ist viel weiter als ich in allem Leben. Vieles, was ihn ganze Stunden beschäftigt, fällt mir gar nicht auf. Seine ganze Stimmung kann durch einen kleinen Mißton, durch eine auf andre gar nicht wirkende Wendung der Unterhaltung zerstört werden, und oft ergreift ihn wieder die größte Heiterkeit bei Dingen, die mich gar nicht rühren. Ich scheine mir viel zu arm für ihn. Er selbst liebt sich wenig, und oft hat er mir geklagt, er sei sich viel zu wenig gegen andre Menschen, die er kenne. Und nun sieh das Verhältnis: für mich waren die Empfindungen, die er in mir hervorbrachte, die unbegreiflichsten, höchsten, die ich je gehabt habe; er selbst, um den er sich so wenig bekümmert, war mein einziges Dichten [162] und Trachten. Wenn er scherzend sprach, mußte er mir oft vieles erklären, und wenn er ernst sprach, war er mir oft unverständlich, und doch hörte ich ihm dann gerne zu, ich hatte die Empfindung der italienischen Musik dabei, wo ich den Text nicht verstehe, oder sah ihm in die Augen, die ihm oft abtrünnig mit vielen Dingen umher ein ganz eignes Gespräch führten. Er verband immer die größte Delikatesse mit einer hohen Vertraulichkeit, und nie hat er mir von Liebe gesprochen. Wenn ich an ihn denke, wie er hier war, so zerfällt mir diese Zeit in eine Menge von Zusammenstellungen und Gruppen, unter denen einzelne mir besonders hervorspringen. Ich saß einstens in einer kleinen Gitterlaube mit ihm abends im Garten, ich sah ins Tal hinab, und er saß auf der Erde zu meinen Füßen, der Mond schien herein, und der Schatten der Gitterlaube fiel über seine Gestalt; wenn ich ihn ansah, so war mir es, als wäre er gefangen, aber nicht von mir, als wäre er gefangen von einer andern Welt. Da legte er seine Hände auf meine Knie, und bald auch seinen Kopf, und wir sprachen nur wenig mehr. Daß ich sagte: »Ich will schlafen«, und den Kopf auf den Arm legte, und daß er sagte: »Wir fangen an ganz stumm zu werden«, ist wahr, aber von beiden Teilen eine kindische Entschuldigung gewesen. Wir gingen sehr still zurück, er nur sagte etwas schüchtern: »Fräulein! würden Sie auch einem andern erlaubt haben, seine Arme und seinen Kopf auf Ihre Knie zu stützen, oder wollen Sie mir besonders wohl, und warum tat ich es?« Hier ging er auf seine Stube, und diese Fragen stehen beide ganz verlassen und nackt in unserm Leben; diese Fragen, an die sich eine Folge von schönen Rätseln und Auflösungen hätte knüpfen lassen. Den Abend vor seiner Abreise schnitt er meinen Namen in die Eiche, er ging dann auf seine Stube, um einiges in Ordnung zu bringen; ich blieb allein zurück und mußte seinen Namen unter den meinigen setzen, es kostete mir viele Mühe, und ich habe mir zweimal die Hand dabei verletzt.

Als ich gestern hinkam, um mich nach den Stunden umzusehen, die hier so schön gewesen waren, als er noch da war, sah ich das Wort Freunde unter die Namen geschnitten. Eine schmerzhafte Empfindung durchdrang mich, als ich diese Hinzusetzung las. Hatte ich mehr erwartet als Freundschaft, und [163] bin ich wert, daß er mir mehr gebe? Ach! ich törichtes Mädchen weinte, als habe er mir unrecht getan, und itzt sehe ich das Wort schon so gerne, daß ich es unterstrichen habe.

Diesen Mann nun soll ich sehen, ungestört, in der schönsten Gegend, bei der Einsamkeit und Einfachheit. Fühlst du wohl, wie schwer dies Gegengewicht ist? Und doch ist es besser, wenn ich ihn nicht sehe, da er mir nie mehr als Freundschaft geben kann, und die Forderungen meines Herzens noch so vorlaut sind. O, wenn du doch da wärst, liebes Mädchen, und mich zu dir fortreißen könntest; ich glaube doch, wenn du vor mir ständest, ich könnte Godwi vergessen.

Welche Veränderung in mir, wenn ich lese, was ich sonst schrieb – das war alles so leicht und so deutlich, wie ich es dachte, und itzt kann ich nicht einmal alles schreiben, was ich denke, die Worte fehlen, und doch finde ich viele Worte in diesem Briefe, die mir fremd vorkommen, die ich nie gehört habe als von Godwi. Auch denke ich vieles, was ich sonst nicht dachte und wieder von ihm ist. – Doch, was nützt das alles. Hier ist auch von ihm, und vielzuviel.

Wenn du mir schreibst, so sage mir, welcher von deinen Brüdern mich abholen soll, ob es der sonderbare undeutliche, ungezwungene, der sonderbare ernsthafte, zierliche oder der sonderbare trockne, spaßhafte ist. Jeder dieser sonderbaren drei Herren erfordert ein eignes Benehmen, bei jedem müßte ich anders in den Wagen steigen. Dem ersten muß man Zu trauen ohne Vertrauen geben, seine Schwäche nicht zeigen und ihm nicht sagen, daß er nicht gut sei. Der zweite duldet keine Schachtel im Wagen, er erfordert lauter Eleganz, und man weiß gar nicht, wie man ihn eigentlich ansehen soll, weil man noch keine englischen Patentblicke hat. Der dritte endlich fordert Duldung für Tabak, Widerspruch, Bisarrerie und Spaß. Darum zeige mir meinen Schutzgeist vorher an, damit ich in der Überraschung meine Rolle nicht fallen lasse. Lebe wohl!

Joduno [164]

Antonio Firmenti an Godwis Vater

Segen über Sie und das Ihrige! Sie haben mir die fröhlichste Nachricht erteilt, die ich seit zwölf Jahren erwartete. Mein Bruder, mein geliebter Franzesco lebt und ist in den Armen eines Freundes. Meine Nachfragen sind ganz Europa durchlaufen, fünf Jahre lang habe ich selbst alle große Städte durchreist, ohne eine Spur von ihm zu finden. Schon wollte ich auf die Freude Verzicht tun, ihn je wieder zu umarmen, schon löschte die Zeit sein Bild aus meinen Augen, als er mir plötzlich und unerwartet wiedergefunden ist. Die wenigen Blicke, die er Sie in sein Schicksal tun ließ, will ich Ihnen, soviel als möglich, erläutern. Seine Geisteszerrüttung, die mich so sehr schmerzt, würde es ihm ohnedies zu gefährlich machen, in der Darstellung in seine Leiden zurückzukehren. Wenden Sie alles an, ihn so viel als möglich zu zerstreuen und wieder herzustellen. Ich sende Ihnen hierbei einen Wechsel auf dreihundert Pfund Sterling; geben Sie mir von Zeit zu Zeit Nachricht von ihm, und wenn Sie mir endlich den glücklichen Punkt melden, wenn er fähig ist, die Erschütterung des Wiedersehens zu ertragen, so komme ich selbst, umarme ihn und führe ihn dem sanften Himmel seines Vaterlandes zu. Doch itzt zur Erzählung seiner Geschichte, die die Geschichte meiner ganzen Familie werden wird, die Sie ganz kennen müssen, da der Himmel Sie zu ihrem größten Wohltäter gemacht hat. Ich werde ganz aufrichtig sein, und Ihnen meine innersten Meinungen über diese Familie aufschließen.

Unser Vater war ein redlicher, kluger und reicher Mann, doch alles dieses aus kaufmännischen Gesichtspunkten betrachtet. Redlich, ohne doch die sogenannten Handlungsvorteile zu verwerfen, klug in Spekulationen und bürgerlichen Verhältnissen; auch seine Religion war Spekulation auf den Himmel, Verhältnisse mit der Menschheit hatte er wenige, und hier waren Mönchsköpfe seine Maschinen, reich an Gütern des Lebens – Gott segne seine Asche!

Wir beide waren seine einzigen Kinder; das Taufbuch bezeugte es, sonst hätten wir es wenig erfahren, denn er war rauh und hart. Ein Glück für uns war es, daß er auch stolz war, so [165] daß er wenig mit uns sprach, und nur seine Mienen uns weh taten. Wir standen in keinem Umgange mit ihm, und sahen ihn oft wochenlang nicht, bis der Tod unsrer vortrefflichen Mutter uns plötzlich in eine engere Verbindung mit ihm brachte, die um so drückender war, da die freundliche Mittlerin nun fehlte. Sie war die Tochter eines vornehmen Römers, der wegen einiger gewagter Ausfälle auf den Nepotismus Rom verlassen und seine Güter bezogen hatte. Ihr Vater hatte sie zum geistvollen, vorurteillosen Weibe gebildet, und ihre Mutter ihr Herz und ihre Sitte zu einer Zartheit der Empfindung und einer Bescheidenheit geleitet, die sie fähig machten, den Flug ihres Geistes und die Freiheit ihres Denkens auf dem Punkte in der Erscheinung zu begrenzen, auf dem Weiber, um die Forderungen der sogenannten Weiblichkeit nicht zu übersteigen, verweilen müssen, und der in sie jenen unergründlich reizenden Hintergrund legt, der uns wie ein verborgener Schatz aus den tiefen Augen der wenigen entgegen sieht, die ihn besitzen. Mein Vater, der bei Bergwerken mehr Sinn für den Inhalt der Tiefe als bei Menschen besaß, berührte mit all seinem Geize diese Fülle nie, die sie in Liebe und inniger Teilnahme über uns ausgoß. Ihre Handlungen gingen immer mit ihren Äußerungen in gleichem Schritte; wo ihr Geist viel weiter als ihre Äußerung war, verbreitete er über diese eine helle, deutliche Allgemeinheit, so daß, indem sie das Ganze im Einzelnen äußerte, sie weder der Welt durch ihre Größe drückend, noch sich selbst ungetreu werden konnte; und wahrlich, nur der Blick nach innen, nur ihr hohes Selbstbewußtsein konnte sie für den Druck einer rauhen Umgebung, für die harte Behandlung meines Vaters und seine ungestüme Liebe zu ihr entschädigen. Ich habe sie nie gegen ihn murren hören, und zu uns, die wir ihre Freunde waren, sprach sie nie von ihm als mit allgemeinen Worten der Achtung und Pflicht.

Unsrer Mutter ging es sehr kümmerlich, sie teilte ihr kleines Taschengeld mit uns und den Armen. Mein Bruder war ihr ganz heimgefallen, mein Vater haßte ihn, indem er durch seinen allgemeinern Sinn und seinen Künstlerglauben keinen Berührungspunkt in dem engen Herzen des Kaufmanns hatte. So umfaßte die Mutter den Sohn mit doppelter Liebe, da sie [166] ihn lieben und schützen mußte, und legte in seinem Herzen dadurch den Grund zu der wunderbaren Leidenschaftlichkeit seines Gemüts, die die Wirkung des wirklichen Lebens auf ihn so rauh und schmerzlich machte. Er verließ sie selten, saß halbe Tage zu den Füßen dieser Märtyrerin, und suchte ihren stillen Kummer, den er aus Delikatesse mit Worten nicht zu zerstreuen wagte, mit Singen, Vorlesen oder Verfertigung kleiner allegorischer Bilder zu zerstreuen. Seine Liebe ward immer heftiger in ihm, sie brannte eigentlich ohne Gegenstand und verzehrte ihn selbst; sein ganzes Dasein war umfassend und voll Wunsch ohne Hoffnung, so daß er ewig in sich selbst zurückkehrte, und indem er an sich selbst allein immer von neuem und neuem bestimmen mußte, ward er der unbestimmteste, undeutlichste Mensch. Meine Mutter gab sich ihm ganz mit ihrem innersten Wesen aus Mitleid hin, und er verwuchs mit seinem eignen Ursprung, aus dem er sich doch hätte entfernen und sich seinen eignen, freien Raum hätte erfüllen müssen. Bald lag keine einzige Folge mehr in seinen Gedanken noch seinen Handlungen, und wer nicht sein Bruder oder seine Mutter war, mußte über den zerstückten, seltsamen Menschen trauren. Bald bemerkte die Mutter selbst diese leidenschaftliche Liebe in ihm mit Angst, und fühlte nur zu sehr, daß sie ihn ganz vernichten müsse, um sich ihm zu entwinden; umso lieber ergriff sie die Gelegenheit, die sich ihr darbot, seiner Leidenschaft einen andern Gegenstand unterzuschieben. Sie nahm die Tochter einer Freundin zu sich, die ihre Ehre auf dem geradesten Wege der Natur verloren hatte. Die Mutter des Kindes verlor sich, und die Anverwandten hörten, daß sie gestorben sei. Cecilie wurde bis ins vierzehnte Jahr bei meiner Muhme in Ancona erzogen, dann nahm sie unsre Mutter zu sich, voll Freude, ein weibliches Wesen um sich zu haben, die Jugend, diese verlorne einzige glückliche Zeit ihres Lebens, noch einmal in einem zarten Herzen zu sehen, und sich gleichsam in diesem Spiegel nochmals unter Sonne und Liebe zu entwickeln. – Mein Vater fragte öfters bitter, wo denn das Kind herkomme? und da meine Mutter antwortete: »Von der Unschuld und Armut« so fragte er: »Was soll aus ihr werden?« – »Meine Tochter«, antwortete die Mutter. »So!« sagte er bitter, »ich werde nie Ihre [167] Kinder anerkennen, die nicht die meinigen sind,« und verließ uns.

Cecilie war nun die stete Gesellschafterin Franzescos und der Mutter, die mit Freude bemerkte, wie diese beiden sich immer näher und näher kamen, und endlich sich ganz durchdrangen.

Ich brachte den größten Teil des Tages in kaufmännischen Geschäften zu, und machte nebenher kleine Spekulationen zum besten Ceciliens, der ich für den Fall der Not einen heimlichen Schatz sammelte, denn ich liebte sie herzlich, und wußte, daß der Vater ihr nichts geben würde, die Mutter nicht könne und mein Bruder viel zu sehr aus ihren Augen getrunken hatte, um nur den Gedanken an Ernähren möglich werden zu lassen. Meine Mutter begünstigte Franzescos Leidenschaft auf alle Weise, um sich mit ihm selbst wieder in das Verhältnis kindlicher und mütterlicher Liebe gesetzt zu sehen, denn sie hatte sicher erfahren, daß Franzesco von dem freisten, allgemeinsten Geiste der Liebe beseelt war, und keine gefesselte Unterabteilung ihn zu beschränken vermochte.

Ich sah Cecilien selten, ja es gab eine Epoche, in der ich sie sorgfältig vermied, denn ich liebte sie; und warum soll ich es nicht gestehen, da alle diese Lieben nicht mehr sind? Ich fand einen großen Genuß darin, meinem Bruder ein stilles Opfer mit dieser Leidenschaft zu bringen. Franzesco hatte sich der Malerkunst gewidmet, und würde es weit gebracht haben, hätte seine Schwärmerei, sein nicht ganz heitrer Blick in die Zukunft und sein durch den Umgang mit den zwei einzigen Weibern tief, aber einseitig bestimmter Umgang seiner Phantasie kühnere Bilder gereicht. Sein ganzer Stoff lag in ihm und seinem kleinen Zirkel. Er konnte nur stille, zarte und leidende Gestalten bilden, und das Höchste war so ewig über seiner Grenze; er fühlte das innerlich, doch wußte er es nicht, und siechte, wie jede volle Seele leise hinwelkt, die von der Vollendung zurückgehalten ist. Es lag in allen seinen Bildern eine geheime Sehnsucht nach irgend einem andern Gegenstande, und es war mir oft vor ihnen, als sagten sie mit dunkeln unverständlichen Worten: »Wir sind die wahren nicht«; sie schienen ewig zu entfliehen, um höhern Wesen die Stelle zu räumen, oder standen ängstlich da, als ständen sie nicht an der rechten Stelle. In Blumen, Stilleben [168] hatte er es weit gebracht, und in seinen Arabesken lag sehr viel Harmonie und Musik. Cecilie, welche eine sehr geschickte Stickerin war, hatte ihn zu diesem Teile der Kunst besonders gestimmt. So lebten wir drei Jahre lang in einem zarten Wechsel von Arbeit und traulicher Erholung in unserm kleinen Zirkel, der heilige Stunden umfaßte, Stunden, die mir mit seiner Zerstörung nimmer wiederkehrten.

Der traurige Zeitpunkt trat ein, in dem der innere Harm meiner Mutter ihren Körper besiegte. Sie bekam heftige Krämpfe auf der Brust. Cecilie und Franzesco verließen ihr Lager nicht, sie teilten den kostbaren Schatz ihrer letzten Augenblicke, und wenn ich einige Minuten von den Geschäften loskommen konnte, so trat ich zu ihnen, und wir alle hörten die Lehren und den Trost unsers sterbenden Glücks. Die fürchterliche Stunde kam heran, der Vater wagte es nicht, sich dem Krankenbette zu nahen, er reiste weg, ohne jemand zu hinterlassen, wohin. Vor ihrem Tode hatte jeder von uns dreien eine besondere Unterredung mit ihr. Ich war der letzte, sie starb in meinen Armen, mit den Worten: »Antonio! du bist der stärkste, nimm dich Ceciliens und deines unglücklichen Bruders an.« Die Zerrüttung war fürchterlich unter uns; von dem Sterbebette mußte ich auf die Schreibestube, der Vater war weg, Franzesco war in Wahnsinn verfallen, und Cecilie stumm und ohne Bewegung, nur dann und wann löste sich die Wut ihres Schmerzes in einem heftigen Schrei, der das ganze Haus durchschallte, und unter allem diesen Jammer arbeitete ich des Tags und wachte die Nacht bei den zwei Leidenden. Da Cecilie wieder etwas besser war, ließ ich sie in ein Kloster bringen, in dem eine Freundin unsrer Mutter Äbtissin war, weil sie ihren Kummer dort ruhiger zerstreuen konnte, bis ich mit meinem Vater weitere Maßregeln mit ihr ergreifen konnte. In Franzesco kehrte mit seinem Verstand auch seine Liebe zurück, und ich konnte ihn nur mit der Vorstellung über Ceciliens Abwesenheit beruhigen, daß ich sie meinem Vater und seinem Verdrusse hätte entziehen wollen.

Der Vater kehrte zurück und mit ihm seine Strenge. Er billigte mein Verfahren mit Cecilien, doch wohl nicht aus der Ursache, die mich bewogen hatte. Franzesco und ich besuchten [169] sie öfters, und unsre Zuneigung zu diesem lieben Wesen ward um so heftiger, als sie uns durch den Verlust der Mutter einziger und unentbehrlicher geworden war. Mein Vater war einst nach Tische vorzüglich guter Laune, und einige Mönche, die ihm und seinem Weine Gesellschaft leisteten, nicht minder. Er äußerte sich, er werde Cecilien eine Nonne werden lassen, und verbot uns daher für die Zukunft, sie zu besuchen, weil wir beide zu weltlich gesinnt wären. Meine Bitten rührten ihn nicht, und den schrecklichen Blick Franzescos, der in seiner Gegenwart immer stumm war, verstand er nicht. Sie ward hierauf in ein anderes Kloster gebracht, und wir konnten sie nicht mehr sehen.

Franzesco hatte nun alles verloren, was ihn ans Leben fesselte, er brachte den ganzen Tag auf einsamen Spaziergängen zu, und ängstigte mich mit seinem heimlichen, stillen Betragen sehr.

Eines Abends kam er in die Stube meines Vaters, seine Erscheinung war mir ungewöhnlich kräftig, er ging auf mich zu, umarmte mich heftig und trat dann vor den Vater mit den Worten:

»Vater? wo ist Cecilie?«

»Sie ist im Kloster«, erwiderte dieser unwillig, »und wird die künftige Woche eingekleidet werden.«

»Sie wird nicht eingekleidet,« erwiderte Franzesco, »denn sie liebt mich und ich sie; sie ist meine Braut, und ich werde ihr Gatte sein.«

»Sie ist die Braut des Himmels, Bube!« brach mein Vater im Zorne aus: »denke, wie du leben kannst; reiche ich dir nicht schon zwanzig Jahre Almosen, Ketzer! An ein Weib denke nicht, denke an Brot.«

Franzesco erbebte im Innersten, fürchterlich stand er da, wie ein Mensch, der sich von der Natur losreißt, die Bande des Blutes rissen tief in seiner Seele; ich faßte ihn in meine Arme, damit er seinem Vater nicht lästern möge, und er rief mit Wut folgende Worte: »Gerechter Himmel! Gott und meine Mutter seien meine Zeugen, ich will mich nähren und sie, und kein Bissen mehr von deinem Tische! Große ungeheure Schuld über mir, ich muß dir alles wiedergeben, was du mir gabst, und [170] habe gegen meinen Vater mich empört.« Ich führte ihn nach seiner Stube, er stand starr und stumm, sein Blick wurzelte in den Boden, da floß ein Strom von bittern Tränen über seine Wangen, er umklammerte mich fest – ach! ich wußte nicht, daß dies der letzte Rest meiner Freude war, die ich zum letztenmale umarmte. – Er bat mich, ihn allein zu lassen; ich hörte ihn noch lange über mir mit schnellen Schritten auf und abgehen, bis ich einschlummerte.

Der folgende Tag erschien, ich eilte auf seine Stube und fand ihn nicht mehr. Ein Brief lag auf dem Tische:

»Antonio! o könnte ich neben dir stehen und dich trösten! Lebe wohl! ich gehe zu sterben, oder fliehe mit ihr; zeige meine Flucht nicht an, bis sie sich selbst kundtut, denn wahrlich, ich töte mich und sie, wenn man uns ergreift. Die Gewalt ist schrecklich in mir erstanden, ich habe zwei Wesen dem Schicksal entrissen, und trage sie mit Macht zu ihrem Ziel. Lebe wohl! du Teurer, in einigen Monaten sollst du wissen, wo ich bin. Die Träne, die auf dies Blatt fällt, gehört dir und dem Grabe meiner Mutter. Lebe wohl!«

O Franzesco, sie war heiß die Träne, die du mir weintest, denn alle meine Freuden, mein ganzes Leben ist in ihr versiegt. Mein Vater erfuhr die Flucht meines Bruders, und die Entführung Ceciliens. Die Sache machte ein ungeheures Aufsehen, denn eine Nonne zu entführen, heißt ein Ehebruch im Bette des Himmels. Man setzte ihnen von allen Seiten nach, doch vergebens. Mein Vater enterbte ihn, und er ward mit Cecilien in den Kirchenbann getan. Einige Monate lang zeigte man mit Fingern auf mich, als den Bruder des Verbrechers; von allen Kanzeln hörte ich die Namen meiner teuersten Freunde unter den schimpflichsten Benennungen ablesen, und wenn ich in die Kirche ging, um am Grabe meiner Mutter für ihre Kinder zu beten, so mußte ich erst den Bannfluch über sie an der Türe angeschlagen sehen. So sehr mir auch von jeher diese Machtsprüche der Kirche in weltlichen Dingen, und überhaupt alle grobe Versinnlichung von Dingen des tiefsten Gefühls, erbärmlich schienen, so machte es doch mechanisch den fürchterlichsten Eindruck auf mich; so wie uns immer schaudert, wenn wir etwas Ungewöhnliches sehen, ohne daß wir deswegen an Geister [171] zu glauben brauchen. Ich hatte nun keinen Menschen mehr, dem ich mich offenbaren konnte, und mußte dabei den ganzen Tag dem Feinde meiner verlornen Freunde gegenüber die trockensten und langweiligsten Arbeiten verrichten. Allein das Maß war noch nicht gefüllt: ich erhielt einen Brief von Franzesco ohne Datum und Ort, er war ein Bild des Wahnsinns, der Tod Ceciliens und verwirrte Ideen von Selbstmord waren die einzigen lichten Stellen. Mein Schmerz war grenzenlos, alle Hoffnung war gebrochen, ich unterlag, eine Sinnenermattung warf mich nieder, ich konnte nicht außer dem Bette sein. Bei allem dem mußte ich arbeiten, mein Vater brachte mir die Briefe ans Bette, die ich beantworten mußte. Ihn selbst schien in dieser Zeit etwas ganz eignes zu rühren. Eines Tages war ich matter als je, einige Arbeiten hatten meine letzten Kräfte er schöpft, die Gegenstände verschwanden um mich, und ich starrte träumend vor mich hin, bis ich einschlief. Da ich wieder erwachte, war es Nacht, der Mond schien in die Stube und erleuchtete eine Statue der heiligen Marie, die zu den Füßen meines Bettes in einem Glasschranke stand. Der goldne Mantel des Bildes glänzte schön, und die Glorie leuchtete wunderbar heilig um das liebliche süße Angesicht der Mutter. Ich glaubte, Cecilie stehe vor mir, ich war ganz in die Anschauung der Erscheinung zerflossen, und fühlte sie in und außer mir; so schlummerte ich wieder ein, und auf einem seligen Traume schwebte das Bild in meinen Schlaf hinüber, und bewegte sich lebendig mit himmlischer Grazie in meinen trunknen Sinnen. Es war mir, als bräche sich des Bildes Schein in drei großen Spiegeln in mir, und Franzesco, Cecilie und die Mutter lebten in mir; dann hörte ich eine rauhe Stimme, Pietro, mein Vater, stand vor meinem Bette, mit einem Lichte in der Hand, er sprach: »Antonio, ich verreise, in vierzehn Tagen kehre ich zurück, dann sollst du angenehmere Tage haben, jetzt arbeite fleißig.«

Ich stellte ihm vor, er möge bis zu meiner Genesung bleiben. Allein dazu war er nicht zu bereden. Er befahl und reiste. Nach einigen Tagen konnte ich wieder auf sein. Der vierzehnte Tag erschien, es kamen einige Neapolitanische Offiziere zu mir und fragten nach der Signora Fiormenti. »Die ist schon längst tot«, erwiderte ich. »Nein, nach der jetzigen Gemahlin Fiormentis [172] fragen wir; sollte er noch nicht angekommen sein?« – »Ich kenne sie nicht,« erwiderte ich stammelnd, und bat die Herren, mich zu verlassen. Also eine neue Mutter erwartete ich. Ich fand die Sache mit Vorteil verbunden, denn so wurde mein Vater doch beschäftiget; und mußte nicht jedes Weib besser sein als er, schon weil sie ein Weib war? Der Gedanke, an ihr ein Organ zu finden, durch das ich zu ihm sprechen könnte, tröstete mich. Den Mangel des Zutrauens zu mir, der in der Verheimlichung der Sache lag, war ich gewohnt, und harrte mit einiger Neugierde auf die Weiblichkeit meiner neuen Hausgenossin.

Der Abend kam, mein Vater stieg aus dem Wagen, aber es war kein Weib bei ihm. Ich wagte ihn nicht zu fragen. Er ging auf seine Stube und schrieb, dann verließ er das Haus um die zehnte Stunde. Ich hüllte mich in meinen Mantel und folgte ihm. In einem entlegenen Teile der Stadt trat er in ein Haus, dessen Fenster festlich erleuchtet waren, und aus dem mir das Getümmel muntrer Gäste und der Klang fröhlicher Musik entgegenschallte. Ich stellte mich dem Hause gegenüber an eine Gartenmauer, und lauschte ängstlich auf jede weibliche Stimme, um in ihr die Stimme der Braut zu bemerken. Ich war plötzlich von einer tiefen Teilnahme für sie ergriffen, ohne sie zu kennen. Ihr Schicksal rührte mich. Als ich so stand und lauschte, ertönte die Betglocke der Nonnen hinter mir, die mich tief erschütterte; ich hatte so oft dies Glöckchen in schlaflosen Nächten mit zärtlichen Wünschen für Cecilien gehört, es war mir eine Sprache aus untergegangenen Zeiten, die schrecklich an ein verlornes Leben mahnte. Gleich neben mir flüsterte die Laube, aus der sie sich in Franzescos Arme herabgelassen hatte, flüsterte die grüne Halle lebendig, aus der sie in ihr Grab gestiegen war. Von allen Seiten umgaben mich Bilder des Schmerzes. Ich hörte die Pappeln von dem Kirchhofe der Mutter herüberrauschen, und vor mir den hellen Jubel einer unsinnigen Verbindung. Der nächtliche Wind spielte in meinem Mantel, ich verbarg das Gesicht und weinte. Die Musik verstummte und die Gäste verließen das Haus, meinen Vater allein hatte ich nicht herausgehen sehen. Die Braut öffnete ein Fenster, und ich bemerkte an dem Schnupftuche, das sie vor die Augen hielt, und den[173] Worten meines Vaters: »O liebe Julie, Sie weinen an dem freudigsten Tage meines Lebens!« daß sie ebenso gestimmt war wie ich. Sie sprach wenig, aber ihre Stimme war sanft und lieblich, und ihre Worte voll tiefen Gefühls. Die Reden meines Vaters standen mit den ihrigen in einem widrigen Mißton, und in ihren Antworten lag für mich ein Stolz, der sich aus Überzeugung opfert. Sie sagte viel über das Kloster, und bat dann meinen Vater zu schweigen, damit sie dem Gesange der Nonnen zuhören könne. Dann beurlaubte sie meinen Vater, der sie mit Zärtlichkeiten überhäufte, und ich trat in einen Winkel, um ihn vorüberzulassen.

Ich wollte schon eilen, um auf einem anderen Wege vor Pietro nach Hause zu kommen, als mich die Töne einer Laute zurückhielten, an die sich eine süße Stimme schloß. Es war mir, als hörte ich Cecilien singen, es war ganz ihre Stimme. Ich kehrte zurück, und es war Julie, die sang:


So bricht das Herz, so muß ich ewig weinen,
So tret ich wankend auf die neue Bahn,
Und in dem ersten Schritte schon erscheinen
Die Hoffnungen, der Lohn ein leerer Wahn.
Mit Pflichten soll ich Liebe binden,
Die Liebe von der Pflicht getrennt;
Und frohe Kränze soll ich winden,
Die keine Blume kennt.
Der erste Blick muß schon in Tränen schwimmen,
Mir gegenüber steht das stille Haus,
Der Orgelton schwillt bang um helle Stimmen,
Die blassen Kerzen löschen einsam aus.
Ihr Stimmlein kann ich nicht erlauschen,
In Gottes Hand erlosch ihr Licht,
Und aus der schlanken Pappeln Rauschen
Die stumme Freundin spricht.

Eine Menge Lichter, die sich die Straße herauf bewegten, und einzelne Töne, wie von getragenen Saiten-Instrumenten, unterbrachen dies Lied, das mich durch seine dunkeln Andeutungen tief gerührt hatte. Die Musikanten näherten sich, und ich bemerkte Pietro unter ihnen, zweifelte also nicht, daß es [174] eine Galanterie meines Vaters gegen seine Braut sei. Der Kreis ordnete sich unter den Fenstern Juliens, die, als sie es bemerkte, das Licht ausgelöscht und die Fenster zugemacht hatte. Ich war begierig, wie mein Vater in der Musik gewählt habe, die er seiner Geliebten brachte; aber wirklich, er übertraf alle meine Erwartung, als er nach einer rührenden Symphonie selbst eine Arie sang, und zwar:


I miei pensieri,
Corrieri fedeli
Ihr, meine Gedanken,
Lauft eiligst, geschwind,
Correte, volate
E passion portate
Verehret die Dame,
Die mich hat entzündt etc.

Ich konnte nicht länger bleiben, ein tiefer Unmut bemeisterte sich meiner bei dem Gesange Pietros, und ich ging mit dem Gedanken nach Hause, daß der Verbindung der Liebe und des Alters keine Grazie beiwohne.

Den folgenden Mittag war bei Tische der Platz meiner verstorbenen Mutter wieder besetzt, und mit einem, wo nicht so feinen, doch ebenso freundlichen Wesen. Mein Vater war heftig fröhlich und zärtlich, Julie in einer wehmütigen Verlegenheit, und da ich einmal ihren Blick überraschte, der lange auf mir verweilt zu haben schien, überflog eine sanfte Röte ihr Gesicht und drang eine Träne in ihr Auge. Ich dankte dem Himmel, daß sie in die Familie getreten war, die seit dem Verluste Ceciliens und Franzescos einer Einöde glich. So wandelte doch wieder ein sanftes, weibliches Bild wie ein guter Geist durch das stille Haus, das sonst einen ganzen Himmel umfaßt hatte; so konnte sich mein innerer Kummer doch wieder in der schönen Entsagung einer Mitleidenden erheben. Ich ging öfters durch alle Gänge des Hauses, nur um sie zu finden, und so oft sie mir begegnete, überraschte sie mich mit einem süßen Schrecken, Cecilie oder die Mutter schien mir entgegenzukommen; durch ihre Schritte über die gewohnten Wege dieser Verlornen, indem sie die häuslichen Verrichtungen besorgte, [175] er hielt sie über mich die Macht der sinnlichsten Erinnerung. Wenn wir uns begegneten, schienen wir beide verlegen, und dennoch schienen wir uns zu suchen.

Ich saß nachmittags in meiner Stube, und in dem Augenblicke, daß ich die Worte in mein Tagebuch schrieb: »Meine Stiefmutter ist ein gutes, sanftes Weib, das Leben hat mir durch ihre Nähe einen neuen Reiz erhalten, sie erweckt die schönste Zeit meines Lebens, indem sie wie ein guter Geist auf den Wegen geht, die einst Cecilie und die Mutter gingen«, pochte es leise an der Türe, und Julie trat zu mir herein. Sie bat mich, ihren Besuch zu entschuldigen, und er schien ihr eine kleine Überwindung gekostet zu haben; sie setzte sich zu mir auf das Sopha und redete mich mit schüchterner Stimme an:

»Signor Antonio, wir wohnen unter einem Dache und, ich glaube, uns näher, als es scheint. Ich habe schon lange auf den Zufall gehofft, der uns bewegen könnte, uns diese Nähe zu erklären; ich habe nicht länger darauf warten können, umso mehr, da ich bemerkte, daß Sie mir wohlwollen, und daß es nur der Zufall ist, der uns bis jetzt von einander entfernt hielt.« – »Signora,« erwiderte ich, »Sie sind gütig, und es tut mir wohl, daß Sie den Schritt tun, den ich allein verzögerte, weil ich Ihre Gesinnungen gegen mich nicht kannte.« – Hier schwieg sie, ihr Blick verweilte mit Rührung auf dem Gemälde meiner Mutter. Es war allein in meiner Stube, denn Pietro hatte es seit seiner zweiten Verbindung aus allen Gemächern, in die er treten konnte, verbannt. Es schien ein tiefer Schmerz in ihr zu erwachen, und helle Tränen traten in ihre glänzenden Augen.

»Kannten Sie dies Weib?« sprach ich ernst.

»O, ich kannte sie, ich liebte sie, sie war meine Freundin, meine Wohltäterin«, erwiderte sie in einer schönen Leidenschaftlichkeit des Schmerzes. Ich staunte, und sah gespannt einer Auflösung von vielen Rätseln und Ahndungen entgegen.

»Sie sind ihr Sohn,« fuhr sie fort, »und mein Freund in dem Grade, als wir uns gegenseitig in der Liebe zu Ihrer Mutter begegnen.« Hier reichte sie mir ihre Hand mit unendlicher Anmut, und ich erkannte in ihrer Würde die Freundin meiner Mutter.

»Signora!« erwiderte ich, »Sie sind die Freundin dieses Weibes [176] gewesen, Sie haben die Stelle gekannt, auf der jene untergegangen ist, und konnten die nämliche Stelle betreten; wissen Sie, was Sie taten?«

»Es war mein Wille,« sprach sie stark, aber ihre Stimme sank bei den Worten, »da zu leben, da unterzugehen, wo meine Cecilie, meine Tochter –«

»Cecilie Ihre Tochter« – rief ich aus, und lag in ihren Armen – »so sind Sie dann auch meine Mutter!« Sie zog sich zurück und sprach ruhig: »Fassen Sie sich; ja, ich bin Ceciliens Mutter, ich will Ihnen alles erklären.« –

Verzeihen Sie, wenn ich hier meiner Stiefmutter etwas in die Rede falle, um Sie um Ihre Verzeihung zu bitten, daß mich die Freude meines wiedergefundenen Bruders so gesprächig macht. Es ist eine innerliche Gewalt, die mich zwingt, Ihnen alles zu erzählen; es ist mir, als hätten Sie mich gefragt, als wären Sie ein Glied meiner Familie, das, ganz von ihr getrennt, jetzt erst von ihrer Geschichte unterrichtet werden müßte. Sie müssen es auch dem Nationalcharakter des Italieners zugute halten, den die Freude allein aufschließen kann. – Sie werden meinem Bruder dann und wann wie ein Arzt etwas von diesen Begebenheiten hinreichen, um ihn zu der großen Überraschung vorzubereiten, die ihn erwartet. Ich kehre nun zu meiner Geschichte zurück. Julie sprach mit ruhiger, gelassener Stimme:

»Ja, Cecilie ist meine Tochter, ihr Vater war mein Gatte nicht, sie hatte einen kühnen Schritt getan, auf die Welt zu treten, auf der sie nur das beleidigte Gesetz erwartete. Meine Eltern lebten nicht mehr; der Mann, der mich zur Mutter gemacht hatte, wurde von meinen Verwandten ermordet; ich, eine arme Waise, ward einer Waise Mutter. Ich hatte nichts als meine Schande, und wäre gewiß dem Hohne und der Rachsucht meiner Verwandten ein Opfer geworden, wie sie auch noch bis jetzt glauben, hätte Ihre Mutter, die meine Milchschwester und lange Zeit meine Gespielin war, nicht mich und mein armes Kind gerettet.

Den täglichen Kränkungen meiner Verwandten ausgesetzt, konnte ich es nicht länger ertragen, mein Kind, das Einzige, was ich auf Erden hatte, mit Verachtung behandeln zu sehen, und ich entschloß mich daher, eher mit ihm zu verhungern, ja [177] lieber zu betteln, als länger in dem Hause einer alten Muhme zu bleiben, bei der ich lebte, und mit der niedrigsten Arbeit ein Leben voll Undank und Spott verdiente. Eine alte Frau, die meine Amme gewesen war, die mich sehr liebte und mir bei der Geburt der unglücklichen Cecilie beigestanden hatte, machte mir den Vorschlag, zu ihr in ihre kleine Hütte zu ziehen, das Leben wollten wir schon gewinnen, meinte sie. Der Vorschlag wurde gerne von mir angenommen, ich gab der Alten mein weniges Eigentum einzeln hin, und sie schaffte es nach und nach weg, und endlich verließ ich nachts mit Cecilien auf dem Arm das Haus selbst, in dem ich alles verloren hatte. Nimmer vergesse ich die stille Mitternacht, in der ich wie eine Geächtete durch die breiten Straßen Roms, wie das Gespenst meiner gestorbenen Ehre hinschlich. Die Welt war um mich verwandelt, die Häuser, an denen ich sonst so unbefangen am hellen Mittage vorübergegangen war, rückten wie schwarze Kerkerwände gegen mich; die Bildsäulen standen kalt und streng vor mir, und sahen beleidigt auf mich herab, mein Herz bebte, Cecilie schlief in meinem Arme. Als ich an die Peterskirche kam, riß es mich unwillkürlich auf die Knie nieder, ich kniete auf den Stufen des Eingangs und betete für mein Kind. Über diese Stufen war ich zwei Jahre vorher in einer Reihe unschuldiger Mädchen, mit Blumen gekrönt, zum erstenmale an den Tisch des Herrn gegangen, und nun, wie kniete ich hier, es war, als wollte die hohe Kirche über mich hinstürzen und mich begraben. Ich betete mit Inbrunst zur heiligen Jungfrau, plötzlich hörte ich ein Geräusch innerhalb der Kirche, ich zitterte, die ungeheure Türe öffnete sich mit einem donnernden, traurigen Tone, und ich zuckte tief auf. Es war ein Mesner, er bemerkte mich nicht und ging seinen Weg fort. Cecilie war durch das Geräusch erwacht, sie weinte, ihre Stimme drang jammernd durch die Nacht, und kehrte in vielfachem Echo von den Säulen der Kirche mit tausendfach schneidenden Dolchen in mein Herz. Ich setzte mich nieder, lehnte den Kopf an die kalten Steine, und reichte meinem armen Kinde die Brust. Ich bemerkte eine Laterne, die sich gegen mich bewegte. Die Alte mußte befürchtet haben, es sei mir etwas zugestoßen, weil ich so lange ausblieb; sie suchte mich daher, und Ceciliens Stimme brachte [178] sie zu mir. Nachdem sie mich ausgeschmäht hatte, so in der Nacht dazusitzen und zärtliche Gedanken zu haben, wie sie sich ausdrückte, brachte sie mich zu sich, wo ich hierauf noch einige Monate lebte. Die Alte nährte sich von einem kleinen geistlichen Handel mit Reliquien und geweihten Wachskerzen, auch machte sie von Wachs alle Gliedmaßen des menschlichen Körpers, welche fromme Leute kauften, um sie den wundertätigen Bildern zu opfern, wenn sie an irgend einem Gliede ein Gebrechen oder böses hartnäckiges Übel hatten. Ich arbeitete fleißig mit, aber wir konnten uns doch nur kümmerlich ernähren. Mein Kummer stieg täglich und meine Gesundheit sank immer mehr, die Einsamkeit machte mich mit den fürchterlichsten Gedanken vertraut. Mein altes Mütterchen kam erst spät abends nach Hause, und ich saß den ganzen Tag verzweifelnd in einer kleinen dunkeln Stube, Cecilie lag kränklich in meinem Schoße, und das Bild ihres Vaters hing über meinem Herzen wie ein ewiger Vorwurf. So saß ich an einem von den vielen langen, langen Tagen abends ohne Licht, und wartete auf die Alte, die mir manchmal etwas aus der Stadt erzählte, wenn sie zurückkam. Heute blieb sie länger als gewöhnlich, der Mond blickte schon herein, und ich hatte Cecilien schon zum Schlafen hingelegt. Ich saß und brütete über meinem Elende, das mit helleren Farben als je vor mich trat: wenn nun die Alte stürbe, wenn sie ausbliebe, was würdest du anfangen, dachte ich, du müßtest mit deinem Kinde betteln. Dieses Gefühl durchdrang mich mit all seiner Schmach, es war mir schon, als würde die Alte nicht wiederkommen, mein Gram ließ sich nicht mehr denken, ich sank in die dunkelste, tiefste Bewußtlosigkeit meines ganzen Zustands, und es war mir, als würde mir es wohler, als mischte sich ein banger, heiliger Leichtsinn in meine Geschichte, starr und kalt standen einzelne Gedanken in meinem Kopfe, und eine Menge wunderbare nackte Gestalten gaukelten weinend und lachend mit einer fürchterlich süßen Trunkenheit vor meinen Augen. Ich riß mein Kind aus der Wiege, entkleidete es und bedeckte es mit heißen Tränen und Küssen, und alles das mit einem bangen Gefühl von Unrecht und Verbrechen. Das Kind weinte nicht, es lächelte und bewegte sich freundlich, als spielte ich mit ihm, ich zitterte dabei am ganzen Körper, und [179] mein Zustand war dem Wahnsinn nah. Ich hörte die Türe gehen und erwartete die Alte, aber es näherte sich ein fremder Schritt meiner Stube, und eine Person, in einen Mantel gehüllt, trat herein. Ich hielt sie anfangs für einen Mann und erschrak vor der Idee, es möge ein junger Wollüstling sein, der mir Hülfe um das höchste Elend bringen wollte. Ich hatte diese Erniedrigung schon einigemal ertragen. Aber ihre Stimme flößte mir Mut und Vertrauen ein, ich erkannte ein edles Weib in der Unbekannten, die mir und Cecilien helfen wollte. Sie trat an das Fenster und nahm mein Kind in die Arme, ich war wunderbar durch ihr ganzes Betragen gerührt, und als die Alte mit einem Lichte hereintrat, sanken wir uns in die Arme; es war Ihre Mutter und ich, Antonio! die sich erkannten. Sie verließ mich bald darauf, um mich völlig abzuholen. Als sie weg war, erzählte mir die Alte, warum sie so lange ausgeblieben, und wie sie die Dame gefunden habe. Sie hatte weniger als je verkauft, saß ängstlich hinter dem Tischchen mit bunten Lichtern, Rosenkränzen und Reliquien, es war schon dunkel, die Leute verließen die Vesper, und kein Mensch wollte ein Lichtchen kaufen; endlich kam noch eine Dame aus der Kirche, und als sie sie sehr dringend bat, sie möge ihr doch etwas zu verdienen geben, weil sie eine gar feine Dame mit ihrem Töchterchen, die ins Elend gekommen, zu ernähren habe, so hätte sich die fromme Frau erbarmt, hätte sie mit nach Hause genommen und wäre dann so verkleidet mit ihr hierher gegangen.

Den folgenden Morgen kam Ihre Mutter mit einem Wagen, mich aus der Wohnung der Alten abzuholen, die ich nicht ohne Tränen verließ. Emilie bezahlte sie reichlich für das Gute, das sie an mir und meinem Kinde getan hatte, und verschaffte ihr die Stelle einer Pförtnerin in einem Kloster, dem eine Freundin von ihr als Äbtissin vorstand.

Ihre edle Mutter berührte mein Unglück mit keinem Worte mehr, und begehrte keine Bedingung, als die Befolgung ihres Willens; ›denn‹, sagte sie, ›liebe Julie, du kannst in deiner Lage keinen Entschluß fassen, du bist zu sehr durch Reue zerstört, und könntest leicht eine Menschenfeindin werden, weil die andern dich für geringer halten als sich selbst, und du dich für mißhandelt.‹

[180] Sie versorgte mich mit allem Nötigen, und brachte mich in die Gesellschaft zweier Menschen, deren Gesellschaft mir eine immerwährende Darstellung der Gesetze war, die ich übertreten hatte. Vassi, ein Maler, und Bettina, eine Jüdin, liebten sich von der frühsten Jugend an, und da sie die große Trennung ihrer Religion an einer engern Verbindung verhinderte, so lebten sie schon zwanzig Jahre in der reinsten Seelenverbindung. Diesen beiden vortrefflichen Menschen ward ich zur Gesellschafterin gegeben, und sie nahmen sich meiner und Ceciliens wie Eltern an. Als Cecilie sechs Jahre alt war, kam sie nach Ancona zu Ihrer Tante, und nachher zu Ihrer vortrefflichen Mutter im vierzehnten Jahre, und jetzt – jetzt bin ich an der Stelle, wo mein Kind aufblühte, wo meine Emilie starb an der Seite ihres Sohnes, meines Freundes.« – – Da mein Vater nach dem Tode meiner Mutter, um sich zu zerstreuen, nach Rom gereist war, hatte er sie kennen gelernt, und sie gefiel ihm. Sie wußte wohl, daß sie ihm nicht sagen durfte, daß sie Ceciliens Mutter sei. Er sprach oft von dem Tode seiner Gemahlin mit ihr, und da er nicht wußte, daß sie dann um ihre größte Freundin weinte, hielt er diese Tränen bloß für eine Folge ihrer Neigung zu ihm. Dies fesselte ihn immer mehr an sie; er hatte wenig Gründe gegen den Vorschlag, ein junges Weib zu nehmen, und setzte seine Bewerbung mit ununterbrochnem Eifer fort. Julien lag in dieser Verbindung, selbst in der Unannehmlichkeit seines Alters und Charakters, ein schwärmerischer Reiz der Entsagung. Sie wußte, daß er gesagt hatte, da Emilie ihm Cecilien als ihre Tochter vorstellte, daß er ihr Vater nicht werden werde; nun konnte sie ihn zwingen, ihres Kindes Vater zu werden.

»Der Gedanke,« sagte sie zu mir, »auf die Stelle zu treten, wo meine Freundin stand, alles das zu leiden, was sie erduldet hatte, hatte einen sonderbaren Reiz für mich. Es war mir, als könnte ich mich in die Form und Gestalt eines bessern Wesens, als ich selbst war, einschleichen, um auf mich zurückschauen und meiner Gebrechen lachen zu können. Ich habe Cecilien nicht mehr gefunden, ich trete in eine aufgelöste Familie, Sie sind der einzige, letzte Zweig, der Rechte auf mich hat, so nehmen Sie denn meine heilige Versicherung, daß mein Eintritt in dieses [181] Haus keinen Zweck hat, als Ihnen ein Herz voll Dank, voll Freundschaft näherzubringen, als in diesen toten verödeten Mauren Ihnen das Leben wieder in einem zärtlichen vertrauten Umgange zu entzünden. O, wir sind leider durch die fremde Macht des gewaltigen Geschicks verbunden, alle unsre Lieben haben wir verloren, unsre Vergangenheit ist ein Grab aller unsrer Freuden der Gegenwart und der Zukunft geworden. Die Gegenwart, Antonio, sie ist zu enge, wir müssen sie zersprengen, wir müssen ineinander alle Zeit zerstören, wir müssen uns lieben. Es umschwebt uns dann das Bild der Mutter und Ceciliens, und ziehet unser Leben in leiser Sehnsucht hinüber zu sich.« – – Sie weinte, meine Arme umschlangen das edle Weib, ich glaubte meine verlornen Freuden alle wiedergefunden an mein Herz zu drücken – »O, so habe ich alles gefunden!« – rief ich aus, und mein Vater trat herein. Julie blieb ohnmächtig in meinen Armen. Der Schrecken benahm mir die Sprache, mein Vater drückte nur eine Minute den verzweifelnden Zustand seiner Seele in einem glühenden Blicke aus, und stürzte zu Boden. Wir kamen ihm zu Hülfe, aber es war zu spät, der Schlag hatte ihn gerührt. Er mußte geglaubt haben, ich sei der Verführer seines Weibes gewesen, seine Eifersucht kannte keine Grenze. Sein alter schwacher Körper konnte den Sturm des Verdachts der Wahrscheinlichkeit und der Überzeugung des unvermutetsten Betrugs nicht in derselben Minute ertragen, und unterlag.

Lange nachher noch wagten Julie und ich nicht, sich gegenseitig zu nähern, sein Tod war gleichsam zwischen unsre Umarmung gefallen, und hatte uns gewaltsam auseinander geschleudert. So unschuldig wir auch waren, so schreckte uns doch der Gedanke auseinander, daß er die Welt mit dem Verdacht der schändlichsten Verräterei von uns verließ.

Wir näherten uns furchtsam und konnten nur nach und nach die stumme Betrachtung dieses Zufalls durch Blicke und einzelne wenige Worte unterbrechen. In dieses Dunkel, das kaum zur Dämmerung übergegangen war, warfen Sie, lieber Freund! durch Ihre Nachricht von Franzescos Leben ein fröhliches, helles Licht. Verzeihen Sie daher die Unordnung und Unbestimmtheit, die diesen Brief begleiten könnte. Es ist so lange [182] her, daß ich der Freude entbehrte, daß mir wohl ihre Sprache etwas ungeläufig ward. Meinem Bruder werden ich und die Mutter seines Weibes mit offnen Armen entgegenkommen. Sein Vermögen blieb ihm unversehrt, mein Vater ist ohne Testament gestorben. Er soll kommen und mit mir teilen, was auch ihm gehört, und in Ruhe seine Tage beschließen. Ich kann kaum die Zeit erwarten, ihn an mein Herz zu schließen. Ob ich ihn wohl noch kennen werde? – Lassen Sie ihn doch malen, und schicken Sie mir sein Bild, bis ich ihn selbst mit seinem Bilde vergleichen kann, das fest, unauslöschlich in meinem Herzen steht.

Wenn Sie können, ohne ihm weh zu tun, so suchen Sie doch einiges von dem wahren Schicksale seines Weibes zu erfahren, damit ich Julien etwas über ihre Tochter sagen kann.

Leben Sie wohl, antworten Sie bald, denken Sie, daß Sie das Glück zweier Menschen dadurch vermehren, die so lange unglücklich waren, und deren besseres Geschick Ihr erster Brief begründete.

Römer an Godwi [2]
Römer an Godwi

Ich habe eine ganze Reihe von Briefen von dir, und wenn ich sie beantworten wollte, was könnte ich sagen? Können wir beide uns etwas sagen? da keiner feststeht, da ein jeder getrieben wird.

Wir können höchstens einer dem andern das Eigne zeigen und vertauschen; aber uns erfüllen können wir nicht, ich kann dir nicht geben, was dir fehlt, und du mir nicht, denn der Streit ist mit einem jeden losgebrochen, und jeder hat nur mit dem Seinigen zu tun.

Unsre Seelen treibt eine seltsame Laune des Geschicks; wohl uns, daß ein Punkt in unsern Herzen ist, wo wir uns beide ewig wiederfinden, die Freundschaft, denn im Äußern sind wir für einander verloren.

Unsre Briefe können sich nicht mehr beantworten, denn wo du glühst, starre ich, und bin ich nur erwärmt, so schmilzst du schon. Dies war gerade der Fall bei deinem ersten Briefe von Reinhardstein, in dem du gar nicht aus dir selbst kömmst; du [183] tappst in deinem Herzen herum, daß es mir oft ein Jammer ist, und zertrittst eine Blume nach der andern.

Ich habe nie einen Brief gesehen, in dem ein solcher Gefühlswechsel des Schreibers hervorleuchtete, und dies ist mir um so sonderbarer, da du meistens vergangene Dinge erzählst, die dich hinrissen, als sie geschahen, denn sie geschahen alle nur, insofern sie dich hinrissen, die dich aber nicht mehr hinreißen mußten, wenn du sie nochmals vor den Augen eines Freundes erschaffst; oder ist es die Illusion der Darstellung, die mir manchmal für deine Nerven ein wenig bange macht.

Doch laß das gut sein; ich weiß nicht warum, aber ich hoffe das Beste für dich. Die Folge deiner Bekanntschaften und deiner Briefe machen mir eine vollkommene Krise wahrscheinlich.

Von dem Landhause einer Engländerin in die Burg eines Landedelmanns, von da zu einer Ruine, zu einem Einsiedler; ist das nicht der Lauf der Zeit?

So auch deine Briefe: der erste tatendürstend, Molly; der zweite küssedürstend, Joduno; der dritte tränendürstend, Otilie; und alle die folgenden ruhedürstend und voller Heimgehenwollen in die Natur.

Du schläfst, lieber Godwi, einen ruhelosen Schlaf des Lebens, schwere Träume ängstigen dich, bei deinem Erwachen wird dir es leer und müde sein; aber nicht wieder einschlafen, um Gottes willen nicht!

Tilie ist ein Mädchen, über die ich nicht urteilen mag oder auch kann. Es ist überhaupt eine krittliche Sache, über deine Weiber zu urteilen, und mein Urteil über Molly ist mir übel bekommen; aber du kannst das Wesen nicht mit der Ofengabel aus mir heraus treiben, es ist meine Natur, immer etwas über die Leute zu denken, und zwar laut.

Tilie nun scheint mir sehr natürlich, und zwar so natürlich, daß sie nach meinen armen Begriffen schon ein wenig ins Übernatürliche geht. Aber dennoch ist sie dir ohnstreitig die beste Gesellschaft und bringt dich sicher in die Wirklichkeit zurück.

Es war einmal ein seltsamer Engländer, der über den Verlust seines gewöhnlichen Verstandes, seiner Freuden an der Industrie, der Ökonomie, dem Pferderennen und Hahnengefechte, und seines Geschmacks an Kotzebues Stücken und zuckerbunten [184] Kupferstichen, äußerst melancholisch ward. Er las mit tiefen Schmerzen den phantastischen Shakespeare, und verzweifelte fast darüber, daß er ihm so wohlgefiel; deswegen verfiel er, wie schicklich, in den Spleen, und war immer in einem dunkeln Zimmer, obschon das Tageslicht und die Mittagssonne zu seinen Füßen schien; er aber klagte immer über die Dunkelheit, Tag und Nacht war ihm ganz einerlei, er hielt immer den tollen Lear in den Händen, und las Tag und Nacht in ihm, weil er sagte, die Buchstaben glühten. Aus Kotzebues sämtlichen Werken hatte er sich aus Bosheit einen patent-papiermachénen Fußboden, Spuckkasten und Leibstuhl machen lassen, und weinte bittre Tränen über diese verkehrte Überspanntheit.

Seine Freunde konnten ihm nicht helfen, bis endlich einer den Einfall bekam, ihm das Haus über dem Kopf anzustecken, und das geschah. Kaum war die Flamme bis zu seiner Stube gekommen, so sagte er, es werde nun Licht, und da alles um ihn her brannte, und ihm die Hitze sehr zu Leibe ging, deklarierte er, daß es Tag sei, und ward wieder gescheit. Das erste, was er tat, war, daß er ein halb Schock Pferde zu Tode ritt, fünfhundert Hahnen tot hetzte, immer in Kotzebueschen Wortspielen sprach, und diesem so lang verkannten Dichter zu Ehren einen Patent-Esel, der vor Apollo tanzt, aus kararischem Patent-Marmor in seinem Park aufrichten ließ, welches Monument der Dichter aus Erkenntlichkeit vor sein bestes Werk in Kupfer stechen ließ.

Sieh, so wird es dir auch gehen; Tilien hältst du für Tageslicht, und sie ist schon Flamme.

Wenn sie dich nicht heilt, so bist du unheilbar, denn ihr seid euch völlig entgegengesetzt, und das in den Extremen. Da du nun natürlich einen ewigen Drang fühlen wirst, ihr ähnlich zu werden, ihr aber nie ähnlich werden kannst, so wirst du, um näherzukommen, gerade so weit gehen, als du kannst, bis zum gesunden Menschenverstand.

Daß du ihr nicht ähnlich werden kannst, verstehe ich so: sie ist mehr als natürlich, denn sie ist auf eine gewisse Weise unterrichtet, und ich möchte sagen, sie sei eine weise Frau in einem früheren Leben, und sei in die Jugend dieses Lebens herübergewachsen. Sie ist gleichsam für mich ungeboren. Da [185] nun meine Stufenreihe folgendermaßen geht: Natur – Bildung – Überbildung oder Tod – und alles immer vorwärtsschreitet, so kannst du ihr nicht ähnlich werden, weil du mit dem Tode aufhören müßtest; du wirst es also bei der Bildung stehen lassen, weil du von der Überbildung nicht vorwärts, und nur bis zur Bildung zurück kannst; zur Natur kannst du schon nicht mehr, weil die Bildung die Natur aufhob, du mußt platterdings auf der Bildung stehen bleiben, oder sterben, was du mit deiner Lebensfähigkeit nur bis zum Wunsche bringen wirst. Ich wünsche dir also viel Glück zur Bildung.

Sie wird dich sanft aus deinem Ideenparadies hinausführen du sagtest ja von ihr: »So trat der Engel von Gott gesandt ins Paradies« –

Du im höchsten Grade zusammengesetzt, sie von Grund aus einfach – du stürmend und glühend wie Sirocko, sie sanft und warm wie West – du schmelzend und glühend wie Lava, sie biegsam und zart wie Wachs – du aus der Welt in ihr Leben hineinträumend, sie aus ihrem Dasein in deine Welt hineinstaunend –

Gleich, lieber Junge, wird sie dich nicht lieben, aber vielleicht noch einstens, und das sehr innig. Du bist ihr jetzt eine Masque, die sie blendet und reizt, und wenn du bescheiden einen Flitter nach dem andern von deinem Wesen zu ihren Füßen gelegt hast, wenn sie naiv und neugierig einen Flitter nach dem andern von dir gelöset hat –?

Dann wird sie dich lieben, weil wir alles lieben, was wir bildeten; und wenn es unser erstes Werk ist, und noch dazu ein gutes, o so wird es die erste Liebe und die letzte.

Ich fühle, daß Tilie voll von dem Triebe ist, etwas zu bilden, denn ihre Grundsätze sind hiervon schon ein Beweis; sie sind eine seltsame Moral, die sie sich selbst erschaffen hat, und die bei ihrem einzelnen Leben so trostreich und passend ist, als eine allgemeine für unsre Gesellschaft so selten hinreicht und alle Lücken mit gutem Ton, Freigeisterei und Galanterie verstopfen muß. –

Das Haus, in dem ich lebe, ist hiervon ein auffallender Beweis, und du sollst die Leute auch kennen lernen, wenn ich sie ganz kenne.

[186] Lebe wohl, man ruft mich irgend wohin, wo es allerliebst und wenig mehr ist; sei versichert, daß ich in dieser folgenden Stunde gar nicht an dich denke, und halte daher meine Versicherung recht lieb und warm, daß ich ewig bin dein

Römer

Römer an Godwi [3]
Römer an Godwi

Mein voriger Brief und mein vorletzter scheinen dir wohl nicht recht innig zu sein. Du wirst glauben, ich sei schon wieder ganz klug geworden, und doch ist es nicht so.

Die sogenannte Türkin ist noch immer der Gedanke, der mich beherrscht, wenn ich Zeit habe, von irgend einem beherrscht zu werden. Aber dies ist hier im Hause schwer, man kann und darf hier fast nichts, als auf seiner Hut sein und seinen Kopf auf dem rechten Fleck haben.

Soeben bekomme ich einen Brief von deinem Vater. Ich bin meiner sogenannten Geschäftsreise entledigt, und darf noch ein paar Monate ausbleiben und so fröhlich sein, als mein Aufenthalt mich machen kann.

Du wirst dich aus meinem zweiten Briefe des Fremden erinnern, der zu deinem Vater kam; er versieht alle meine Geschäfte und ist völlig genesen.

Ich schrieb dir, daß er immer in deines Vaters heimlichen Kabinette ist; nun bin ich noch begieriger, was dies Zimmerchen wohl verbirgt, denn dein Vater schreibt vermutlich in der Vergessenheit, daß ich nichts davon weiß:

»Ja, es ist mir lieb, einige Zeit mit dem Manne allein zu sein, der mich durch seine Arbeit in meinem Kabinette so glücklich gemacht; er hat mein Innerstes aufgedeckt, und zarter verhüllt, als ich es je konnte.«

Auch nach dir fragt er:

»Wo ist mein Sohn, wissen Sie von ihm? Ich suche – seine Freundschaft, o daß ich –«

Hier brach er ab, Gott weiß, was der Gedankenstrich und das Kabinett verstecken.

Du solltest ihm doch schreiben, er glaubt dich beinahe schon auf dem Kapitol in Rom, und erwartet wohl Antiken von dir, [187] und du sitzest fest für die Ewigkeit auf dem Reinhardstein, und könntest ihm zur Not einen Eichen- oder Epheukranz schicken.

Dein Vater kennt dich nicht, gar nicht, und wenn du so fort in dir revolutionierst, so wirst du vielleicht um den Zirkel der Bildung herumgereist auf seinem Punkte stehn, wenn er unter der Erde ist.

Höre, da fällt mir etwas ein, womit ich dich ärgern will:

Gestern abend las man hier im Hause den Brief des einen abwesenden Bruders vor, der dir sehr ähnlich zu sein scheint; den Brief hättest du auch schreiben können.

Die Frage an den Bruder war: »Was willst du denn endlich werden?«

Die Antwort: »Ein Mensch.«

Weiter: »Du bist extravagant« –

Die Antwort: »O du armer Bruder, du weißt nicht, was du sprichst; einstens wünschtest du, ich möge selbstständig sein, und da haben wir es, ihr Leute könnt nie etwas ganz sein, ihr könnt in nichts die Vollendung; da ich nun selbstständig bin, versteht ihr mich nicht mehr, weil ihr mit eurer Selbstständigkeit nicht die Selbstverständigkeit verbindet. – Du hast damals gemeint, ich sollte standselbstig sein, und auch das bin ich so, wie ich bin, denn ich bin mein Stand selbst, weil das Ich selbst allein mein Stand ist, und ich nicht im Stande bin, in irgend einem andern Stande zu sein. Ihr aber seid nicht in eurem Stande, noch auf eurem Standpunkte, sondern euer Stand ist in euch, und euer Standpunkt auf euch, so daß ihr übel steht, und euer Stand gut, denn er läßt euch keinen Platz in Herz und Kopf, und hat euch unter den Füßen. Was die Extravaganz angeht, hast du dich auch verschrieben, – o wäre ich ein wenig extravagant, so wäre ich nicht allein intravagant, so ging ich nicht in mir selbst herum und räumte ängstlich auf. Ihr seid extravagant, denn ihr seid aus euch heraus, in die Kaufmannschaft geschweift, und eure Seelen klettern wie Affen auf Kaffeebäumen herum.« etc.

Nun, bist du böse? Nicht wahr, der Mensch hat recht? –

Lebe wohl, ich muß ins Bureau d'Esprit der Mademoisell Buttlar. Je, was ist das für ein Bureau? Nicht viel Kluges, mehr Witziges, keine zwei jungen Pappeln, keine Tilie. Nächstens lernst du die Menschen kennen.

Römer [188]

Römer an Godwi [4]
Römer an Godwi

Ich habe dir versprochen, die Leute zu malen, mit denen ich umgehe; ich will es, aber es ist schwer. Sie sind alle äußerst verschieden, haben alle einen einzigen auffallenden Zug von Ähnlichkeit, sind alle sehr originell, und doch alle abgeschliffen.

Ich möchte die Familie einem Bilde in Mosaik vergleichen, lauter verschiedne Steine, alle glatt auf einer Seite geschliffen, mit vielem Lapislazuli drinne, bringen ein kunstreiches, kuriöses, doch nicht ganz geschmackvolles Ganze heraus. –

Vor allem gehe mit mir zu den Weibern. Sie sprechen immer in Rätseln; du hast es nicht erraten, oder so künstlich erraten, daß du wieder ein Rätsel gemacht hast. Dich ein wenig brüstend, bringst du die Auflösung vor, mehrere fallen über den neuen Knoten her, die Brünette sieht dich dabei an, als wäre es deine Schuldigkeit, einem so geistreichen Mädchen die Sache ein wenig leichter zu machen; die Blonde löst und löst, und fällt darüber in eine italienische Arie, die sie auch sogleich am Klaviere singt; die Brünette singt mit, und dein Rätsel? – du wendest dich gegen eine Ernste hin, die in einem Winkel sitzt und strickt, sie sieht dich mit einem strafenden Blicke an, als hätte sie einen unrechten Gedanken in deiner Seele gelesen. –

Du senkst aus höflichem Bewußtsein deiner Schuld (die du eigentlich gar nicht kennst), deinen Blick von ihrem Auge herab, und verlierst dich in ihren gar nicht ernsten, sehr naiven Busen.

Du fühlst nun, daß der strafende, ernste Blick prophetisch und a priori war, auf ihrem sanften lächelnden Munde aber vergaßest du das Beste, es hing ein Ablaßzettel auf ihren Lippen, den solltest du mitnehmen, die Sünde am Busen hineinwickeln, und so das Fleisch am Fasttage verschlucken – Nun, wo ist dein Rätsel? Nun – unterstehe dich nicht, es wieder aufzuwärmen, das wäre ungezogen; und hast du nicht genug dafür erhalten?

So geht es hier mit allem, man fängt alles an, aber jedes Bild verliert sich in Schnörkel, und wahrlich, diese Weiber haben alle etwas vom Sirenenwesen, das sich in einen Fischschwanz auflöst.

Il faut dorer la pillule, sagt ein witziger Kopf vondem Goldnen Kopf, der das Schild des Hauses ist.

[189] Jede Münze gilt hier, auf der ein Kopf steht, und heller (Kopf) ist hier soviel wert als alle Pfennige des Römischen Reichs.

Unter allem diesem Leben und bunten Durcheinanderwühlen wandelt ein schlankes, sanftes, weißes Bild herum, dessen Geist richtig und ruhig, aber wenig sieht; dessen Herz wahr, tief, aber kalt fühlt. Sie erscheint unter den andern, und es ist, als sage sie: »Ich bin euch allen gut.« –

Sie geht, und es ist, als sage sie: »Mit euch ist es nicht auszuhalten.« –

Sie kömmt mit dem Herzen, ihr Geist, der richtig und ruhig sieht, sieht, daß man es nicht aushalten kann; aber, weil er wenig sieht, sieht er nicht, daß man es wohl aushalten kann, wenn man sie einhalten kann.

Von den Stürmen der andern verschlagen, lege ich mich oft vor dieser friedlichen, ruhigen Insel vor Anker, und der kleine Anker von Jaspis, der an ihrem Halse hängt, mit seinen sanft wogenden, tiefen, stillen Gründen, hat sich oft so mit meinen Tauen verstrickt, daß ich kappen mußte, um wegzukommen.

In solchen Verlegenheiten kam mir oft unvermutet ein Gedanke so originell, einsam und wunderbar frei, wie ein Robinson aus der stillen Insel, entgegen, und half mir großmütig selbst fortkommen.

Ein Hauptzug in ihrem Charakter ist, daß sie sich nie mit andern Weibern geheime Bagatellen in die Ohren flüstert; sie ist offen und geheim im Ganzen, so daß man nur eins von beiden von ihr sagen könnte. –

Es läßt sich gut von ihr und mit ihr sprechen, sie tötet keinen Begriff, faßt jeden mit Liebe, und giebt ihm einen zarten Gesellschafter, sie macht das Gespräch glücklich.

Die Brünette, die ich schon in meinem zweiten Briefe anführte, ist mir gefährlich. Sie läßt fast jede Unterhaltung eines erhabenen Todes sterben, und spielt das Schicksal dabei; doch blüht auf ihren wohltätigen Wink gleich ein ganzer Frühling von Blumen um den Rosmarin eines solchen Grabes, und jeder solcher Hügel wird durch sie ein Berg, von dem du eine fröhliche Weinlese und Ernte übersiehst.

Die ganze gegenwärtige Gesellschaft fällt dann über die [190] Kränze her, und das Gespräch winkt in einzelnen Blumen von Busen, Locken, Lippen und Blumenkrügen dir entgegen; sie selbst aber nahm einen kleinen Rosmarinzweig und hält ihn aufmerksam vor ihr einziges großes Auge, und zieht eine Linie in die Ewigkeit. –

Die Blonde möchte es auch gerne so machen, aber sie kömmt nicht dazu; es liegt in ihr zu viel Begierde und Gebärde, so daß fast jede Begierde eine Gebärde, und jede Gebärde eine Begierde wird. Sie ist zu mimisch, um mehr als sich und andere nachzumachen, und verliert in jeder Heftigkeit des Vorsatzes die Kraft zur Handlung. Wenn sie witzig sein will, so ist schon in dem Pfeil, den sie abschießt, mehr Drang, als in der Senne des Bogens; ist der Pfeil angekommen, so kann er nicht mehr verwunden, weil die Spitze sich gierig in sich selbst umgebogen hat. – Sie kann keinen langen Ton singen, ohne daß er in einen Triller fällt, und will sie einen Gedanken geradeaus in die Höhe oder Tiefe schicken, so wird das Ende kraus, und kehrt in sich selbst zurück; sie wird nie etwas erhalten, wenn nicht einer in die selbsttätigen Schlingen fällt, oder sie sich nicht selbst umarmt.

Aber da sitzt noch so eine Rabenschwarze in dem Winkelchen, es dämmert schon in der Stube, und ich hätte sie übersehen, mit ihren Locken der Nacht, wenn ihre schönen Augen nicht leuchteten und milde, schöne Blicke aus ihnen stiegen, wie Strahlen zweier einsamen Sterne am Himmel. Kannst du dir ein Mädchen denken, mit allen Zeichen der Glut, die sanft und stille ist, ein schöner Busen so sittlich verhüllt, daß sich jeder umsonst bemühen wird, irgend den Zwiespalt – – in ihrer Brust zu erkennen?

O du freundliche begehrende Zufriedenheit, du wohltätige getrennte Einigkeit, du Streit im Frieden, warum sprichst du nicht? –

– Ich höre.

Nein, du bist zum Sehen gemacht.

– Sehen Sie mich so gerne?

Nein, du bist zum Sehen und nicht zum Hören gemacht, meinte ich –

– Ich höre und sehe – doch, warum sagen Sie das, das versteht sich von selbst.

[191] Du bist zum Sehen gemacht, weil du so viel mit deinen großen Augen sprichst, und nicht zum Hören, weil du so wenig mit deinen kleinen Lippen sprichst; du bist zum Sehen gemacht, weil du so große Augen hast, und nicht zum Hören, weil du so kleine Ohren hast; ei, wie klein sind deine Ohren –

– Drum sollten Sie ihnen nicht zumuten, so groß Lob zu hören. –

Ich schweige, denn, lieber Freund, ihr Busen ist leicht zu erregendes Meer, und es würde sie schamrot machen, wenn sie bemerkte, daß man in solchen Stürmen so leicht den Zwiespalt – – in ihrer Brust sieht.

O weh, es ist Abend, ganz dunkel, es ist eine Fledermaus in der Stube. Ach je, es ist mir eine Fledermaus was Schreckliches; keine Maus, kein Vogel, gar nichts, o ich bitte, verschonen Sie mich, das ist mir verhaßt bis in den Tod; von nichts als von der Unsterblichkeit der Seele sprechen Sie, und alles wird unsterblich, und so langweilig, daß man die Unsterblichkeit zum Guckguck wünscht, wenn Sie immer während der langen Zeit einem die Zeit lang machen, und die Fledermaus fliegt mir immer um den Kopf, sehen Sie, gerade wie die Fledermaus ist Ihre Unsterblichkeit, sie kriecht nicht, wie andre honette Mäuse, sie fliegt nicht, wie andre honette Vögel. Gott sei Dank, nun ist sie fort, die Fledermaus; nun die Unsterblichkeit? – sie ist auch fort.

Alle Lichter sind abgelaufen in der Stube von dem Flattern der Fledermaus. –

Die Brünette: Wie sind Sie doch so menschenfeindlich.

Ich: O, ich halte alles, was ich hasse, nicht für Menschen. Zum Beispiel, solche Leute halte ich für Fledermäuse. Weiter ist mir in Tod verhaßt Zwieback, wie Sie ihn gewöhnlich hier beim Teetrinken essen; er gleicht gewissen Leuten, deren Witz nie reif wird, obschon er zweimal gebacken ist, und die immer beide Backen voll nehmen, nichts zu sagen.

Die Blonde: Und weiter –

Ich: Und weiter ist mir verhaßt eine Art von Zeug,Damis genannt; er hat einen verdammten Glanz, schreit alles an, ist äußerst spröde, reißt leicht, und am Ende ist gar nichts dahinter.

Die Ernste: Und weiter –

[192] Ich: Und weiter ist mir verhaßt: Wandle auf – (Rosen) und (Vergißmeinnicht); das ist eine dumme Sentimentalität, die einen an allen vier Ecken der Welt einholt, ein Gedanke, ja, fast so abgeschmackt, wie die Anekdote der Herren von Viereck, die hinter einander ins Tor ritten; wenn mir die jemand erzählt, möchte ich ihm immer sagen: Wandle, wo du willst, und denke nach Belieben an mich. –

Das Schlanke Bild: Und weiter –

Ich: Und weiter seien weit von mir alle tote Vivat auf Torten und Illuminationen, Gott weiß warum, es giebt eine Art höfliche Leute, die nichts als wünschen, und die man verwünschen sollte.

Das war ein Stückchen der Unterhaltung dieses Abends. Gute Nacht, lieber Godwi, morgen weiter – ich komme morgen an die Männer.

Römer

Römer an Godwi [5]
Römer an Godwi

Mein letzter Brief war ein wenig toll, lieber Godwi, aber ich kann es gar nicht anders einrichten; ich verliere mich so in das Wesen hier, daß ich fast Maß und Ziel vergesse, und hätte ich nur Zeit, mich ein wenig mit einer einzigen von allen den Weibern zu beschäftigen, so würde mich vielleicht eine einzige fesseln, aber so bin ich immer in eine ganze Tapete mit eingewebet, alle Augenblick fliegt eine andre wie ein Weberschiff an mir vorüber, und reißt mich hin, an ihrem Punkte mein Kolorit herzugeben; bald muß ich ein Stückchen Blume, bald einen Punkt im Auge, bald einen Funken, bald eine Perle vorstellen helfen.

Es wird dir, glaube ich, wohltun, oben auf deinem Berge, wo du halb im Himmel steckst, solche Menschenbilder zu sehen, und du kannst Tilien meine Portraits vorlesen, die ohnedies keine Weiber als Joduno und deine Molly kennt, und keine Männer als dich und den Landjunker.

Es sind drei Söhne im Hause; die übrigen, zu denen der gehört, der einen Brief geschrieben hat, den du auch geschrieben haben könntest, sind in der Fremde. [193] Ich will dir die drei ein wenig einteilen, in den Allzudeutlichen, den Deutlichen und den Undeutlichen.

Der Allzudeutliche

Er ist der juristische Codex des Familienarchivs, und läßt in seinen Urteilen das Ur und Ur Ur noch stark hören. Er steht wie eine Eule geneckt unter den vielen leichten Vögeln.

Er trägt die Jurisprudenz wie Atlas die Welt auf seinem Nacken, und hat das Schöne und Wahre in das Chaos versinken lassen, als er diese Welt auf seinen Nacken packte.

Sein Kopf ist gedrückt, sein Leben gebückt, doch schlägt sein Herz edel und frei, denn da liegt ein liebevolles Naturrecht drinne, das dem Ballen positiven Rechts, in dem sein Kopf wie ein Türk im Turban (meine Türkin auszunehmen) bis über die Augen steckt, die Spitze bietet.

Übrigens ist es ihm gar nicht türkisch zu Mute, denn er liebt den Wein, wie jene die Weiber, das heißt öffentlich, und die Weiber, wie jene den Wein, das heißt heimlich.

Er ist ein sonderbares Wesen, ganz für sich und in sich, und selten in den andern, die er doch alle liebt, die ihm alle nichts geben, und denen er gerne giebt, wenn er hat. –

Jetzt komme ich an den

Deutlichen
Deutlichen.

Ich wage ihn kaum zu beschreiben, vor ihm neigt sich die ganze Erscheinung, er ist die Wahrheit, die Güte, die Liebe, die ruhige Sorge, der Friede und der entsagende Fleiß, der von allen verstanden, geliebt und geachtet wird; in ihm und der Brünette, die ein inniges Bündnis mit ihm schloß, findet sich alles wieder, sie halten alles zusammen, sie durch Geist und Sinn, er durch Herz und Tat, und es ist wirklich viel, so viele zu vereinigen. Es ist ein Künstler in ihm verdorben, er hat viel Sinn für Gemälde und Zeichnung, und es ist rührend zu sehen, wie bei dem großen Mangel solcher Gegenstände um ihn sein Blick oft mit Aufmerksamkeit auf dem Basrelief seines Ofens oder auf der Arabeske seiner Papiertapete verweilt. Er hat unendlich[194] viel Sinn für Poesie, und ist es nicht viel, wenn ein Mann von sechsunddreißig Jahren, mit ungeheuren Geschäften und Familiensorgen beladen, über Tiecks Genoveva weinen kann, und wenn sein gutes Weib Tage nach der verflossenen Lektüre sagt: »Lieber, es ist kalt in der Stube«, daß er ihr antwortete: »Gute Frau, Genoveva hatte mit ihrem Bambino noch viel kälter im Walde, und jener schrie und war schon auf der Welt, deiner wärmt sich noch an deinem Herzen.« Es ist mir nicht sowohl für seinen Kunstsinn als für sein Herz bestimmend, daß unter so vielen gelesenen Gedichten gerade dies einzige wunderheilige ihn so ergriff – ich schicke dir es hier, du sollst es mit Tilien lesen im Walde.

Der Deutliche ist ein Kaufmann, ich habe viel von ihm gelernt; ich ende so, daß ich sage, jeder sollte in seiner Art sein, wie er, Liebe und Ernst zu dem Seinigen.

Sein Herz liegt seit kurzem an den tiefen, stillen Gründen des sanften, schlanken, weißen Bildes vor Anker – der kleine jaspisne Anker ist von ihm ausgeworfen worden, er hängt am Halse seines Weibes.

Jetzt wende ich mich zu dem

Undeutlichen
Undeutlichen.

Dieser Mensch ist in einzelnen Minuten eine wahre Erscheinung doch kämpft meistens Mode und Genialität mit seiner Oberfläche. Außer diesen Minuten könnte man ihn für einen Dichter und nicht für einen Kaufmann halten.

Er ist selten unter uns, und wenn er es ist, so führt ihn Liebe und Gefälligkeit her; aber weil er ewig seines Ehrgeizes wegen sich muß gefangen halten, um seine Nichtanlage zu seinem Stande zu verbergen, so erscheint diese Liebe fast nie anders als eine notgedrungene Kälte, indem er die Zeit oder die Gewandtheit nicht hat, nur das Einzelne zurückzuhalten.

Er ist durch diese ewig in ihm gespannte Feder verschlossen, ohne es zu wissen, und freundlich mit Ängstlichkeit.

Oft schweigt er wochenlang, und bald ist er die Macht der Unterhaltung; die Weiber schätzen ihn, und wagen es nicht, ihn zu lieben, weil er sie liebt, und es nicht wagt, sie zu schätzen.

[195] Alles außer seinen Gesichtspunkten nennt er Schwärmerei, und ihm sieht sie aus den Augen, denn sein Stand hält ihn nur gefangen, weil er in ihm aus Schwärmerei seine Freiheit hingegeben hat.

Ein innrer Kummer über alles das drückt sein Herz, und äußre Umstände, denen er huldigt, fesseln seinen Geist. Er ist ein trauriger Beweis, wie der Stand einen Menschen verbildet, und der Mensch in seinem Stande unterjocht ist.

Aus einer freigebigen, schönen, edeln, freien, herrschsüchtigen Seele ist – ein Kaufmann geworden – ist das einzige, was ihn ganz charakterisiert.

Er bekümmert sich wenig um mich, weil er dadurch um sich selbst bekümmert werden könnte, und sucht nur Menschen, die ihn in seiner Sphäre erhalten können, die er als Bürger mit Ehre erfüllt, und es ist traurig zu sehen, wie er aus Ehrgeiz mit Menschen umgeht, die seiner nicht wert sind, die ihn, indem er sie nur als Mittel gebraucht, wieder als Mittel gebrauchen, freilich nicht zum Mittel einer edlen Entsagung, wozu er sie gebraucht, sondern zum Gegenteil. – Du würdest ihm ein Schrecken sein. – Er schämt sich fast jeder Rührung aus dem mißverstandnen Worte: »Sei ein Mann«, er, der zu nichts Anlage hat als zu dem süßen Namen, in dem Schoße eines schönen, liebenden Weibes: »O du lieber, schöner Junge«. Er schämt sich fast jeder Rührung, und wenn er für sich allein in seiner Stube Guitarre spielt, so hebt ihn sein eigner Gesang eines einfachen Liedes in die Höhe, er wendet die Blicke phantastisch zum Himmel, und hebet den Kopf zärtlich, und schwärmt sich auf seiner runden, vollen Stimme, Gott weiß, in welche Umarmung eines andern höhern Lebens, einer Liebe, oder einer Kunst.

Er liebt seine Pflicht zu sehr, und seine gerechte Forderung zu wenig, und wird einstens sehr unglücklich sein, wenn er nicht ein Weib bekömmt, in deren Genuß, in deren Genialität selbst das Band der Ehe lüftig, leicht und schön wird. –


Das wäre so ziemlich das Häufchen, das mich umzingelt, und schon so gefesselt hat, daß ich nicht weiß, wie ich wieder nach Hause kommen soll.

[196] Außer allen diesen Menschen existieren noch zwei auswärtige Mitglieder des Bureau d'esprit, die sehr aktiv sind, und die ich gelegentlich schildern werde, wenn sie mich ein wenig geärgert haben, weil er schwer ist, sie gern zu schildern, wie sie sind, ohne daß man etwas böse auf sie sei.

Zu dieser Gelegenheit komme ich sicher leicht, denn ich darf den einen nur einmal recht betrachten und erkennen, und den andern einmal recht obenhin ansehen, so habe ich mich gewiß über beide geärgert.

Lebe wohl. Ist heute abend keine Sitzung, so gehe ich ins Theater, die herrliche Sängerin zu hören. Der Undeutliche ist so von ihr entzückt, daß sie durch alle seine Vorurteile über Schauspieler eine Lücke, eine Ausnahme gesungen hat. Ich gehe allein hin, um zu hören, ob sie besser, rührender singt als die – Türkin in B. – Dein

Römer

Römer an Godwi [6]
Römer an Godwi

Tröste dich, mein Lieber, du wirst nicht in die Verlegenheit kommen, das Herz eines treuen, zarten Mädchens zu kränken.

Joduno von Eichenwehen wird nicht zu Tilien kommen. Sie kömmt hierher zu der Brünette, zu Sophien. Es hat mich ihr Brief, den ich lesen durfte, weil man nicht weiß, daß ich dich und sie durch dich kenne, tief gerührt.

Das arme Mädchen, ja sie liebt dich, und schwankt in ihrem Briefe schüchtern hin und her, ob sie zu ihrer Freundin oder dir soll; am Ende besiegt sie die schwere Wahl, und will scheinen, nur ihre Freundin geneckt zu haben mit dem Nichtkommen.

Ihr Entscheiden, hierher zu kommen, hat mich erfreut für dich, und mir ist es wunderbar bang darum geworden, ihr Brief schon hat mich seltsam berührt.

Es ist seltsam, wie mir das Schicksal deine verlassenen Schmetterlingshüllen in den Weg führt.

Vielleicht werde ich bei ihr die Engländerin vergessen, wie du, die Engländerin vergessen, die mich oft zum Träumer macht. Sie übt eine wunderbare geheime Gewalt über mich [197] aus, die mich drückt, und von der ich mich um keinen Preis loskaufen möchte. Ich fürchte mich daher vor Joduno.

Du weißt, daß ich mit meiner planen, ehrbaren Erziehung, in meinem äußerst verständlichen Kaufmannsstande, gar nichts Geheimnisvolles habe, als daß ich nicht weiß, wessen Kind ich bin, und daß ich nichts verberge als den Einkaufspreis. Nun quält mich das Mystische in der Engländerin Betragen unendlich, die sich wie ein unbekannter tätiger Genius in unsre beiderseitige Existenz hineingefunden hat.

Das Wunderbarste ist, daß sie zu uns beiden eine Art von Liebe hinzog, und sie plötzlich abbrach, als habe sie nur so lange geliebt, bis sie ein Zeichen in uns erkannte, daß sie es nicht darf. Doch ich hoffe auf den Brief, den du von ihr erhieltst, er muß alles erklären. Verliere ihn nur nicht, mache um Gotteswillen keinen Papierdrachen für Eusebio, noch einen Haarwickel für jemand anders draus. –

Joduno also kömmt hierher – und wie das?

Die Brünette war mit ihr in einem Kloster, wo sie miteinander erzogen wurden, sie ist ihre innige Freundin, und dies verspricht viel für Joduno.

Denn wer dieses Mädchens Freundin ist, mag wohl die Achtung der Welt verdienen; aber wenige sind es ganz, das heißt, wenige können ihr geben, was ihr fehlt – Sie selbst – und nur der kann es, der ihr Freund nicht so ist, wie es alle diese sind, die sie nur lieben, weil sie so viel giebt; nur der kann es, der wie ein Spiegel vor sie tritt, der nur alles nimmt, um es ihr zu geben.

Ihr Leben war bestimmt, zum Himmel, zu der Kunst, zur unendlichen Liebe hinzuströmen, aber sie ward aufgefangen zum Strome, sie ward von dürftigen Ufern eingefaßt, und ergoß sich aus Mitleid freundlich rauschend, nährend und spiegelnd durch das arme Leben andrer; viele taugliche, schiffbare Flüsse, einige fischreiche Bächlein, und viele Waldströme und wilde Schneegewässer rannen gierig in sie hinein, um sich vergrößert und auf der Landkarte in ihr geehrt zu fühlen. Schweigend nimmt sie alle auf, die sich ihre Freunde nennen, und führt sie weiter; durch diesen Zufluß ist sie aufgehalten zu vergehen, sie muß langsam die trüben Wellen abwärtswälzen, und ihre Freunde merken es nicht, daß sie sie aufreiben – über ihr [198] steht die Sonne und saugt sie gierig hinauf, schon an der Quelle dort strahlt sie dankend der Sonne Bild zurück, und sie wird wohl bald versiegt sein und im Gedanken leben, wenn das zusammengeflossene Gewässer ihrer Freunde den Strom allein ausmacht, den man Sophie nennt. – Sie ward umfaßt, und sollte alles gelinde umfassen, und wenn ich sie ansehe, ist mir, als sei sie nur noch die Form ihres Lebens, und zerbricht diese, so werden die, die sie so fest zusammenpackten, mit den Köpfen zusammenstoßen, und weinen, daß sie nun auf ihren eignen Füßen stehen müssen.

Weil ich doch dabei bin, so will ich über die Brünette in einer Fabel weissagen. –

Eine kraftvolle, herrliche Eiche wächst in der Mitte von vielen andern gewöhnlichen Bäumen. Die Menschen kommen und wollen sich Hütten bauen, sie hauen die gewöhnlichen Bäume nieder, und keiner möchte gern die Eiche verlieren, so bauen sie denn rund um die Eiche schlechte, baufällige Hütten. Die Eiche, die sich durch inneres Leben weit und mächtig ausbreitet, wußte gar nichts von den Hütten und wächst ruhig fort; die Menschen aber glauben, es wäre recht schön, wenn sie die herumstrebenden Äste der Eiche in ihre Häuser hinein verbauten, damit sie doch in ihrem toten Holze einen grünen Zweig hätten; und so muß nun die arme Eiche in dunkle Stuben, feuchte Gewölbe etc. hineinwachsen – sie vertrauert leise, ohne es zu wissen, sie folgt dem angewiesnen Wege. Ihre Krone nur spielt noch in der freien Luft, die einzelnen Äste verdorren, und die Menschen bauen immer näher heran, sie lehnen Überhänge und Altanen auf die Zweige. Da wächst sie unter dem herrlichen Lobe: »O die gute, herrliche Eiche!« gegen alles ihr Streben; endlich drängt sich gewaltsam ihre Kraft empor, sie strebt mit allem ihrem Leben zwischen den engen Hütten hinauf, die Sonne blickt auf sie, sie blüht heftig im Winter, treibt Frucht und Blüte und Samen mit Gewalt nebeneinander in die Höhe; dies ist die einzige Minute ihres eignen Lebens, und die letzte. Alles bricht an ihr herunter, alle die leichten Werke, auf sie gestützt, zertrümmern, und die Hütten senken sich traurig gegen die Mitte, wo sie war.

Lieber, ich habe nicht geglaubt, daß ich das schreiben würde, [199] was ich schrieb, es hat ein Wort das andre gegeben, und nun, ach! nun ist mir wunderbar still zu Mute; von der Straße steigt ein stöhnender, gebrochener Ton herauf, es ist ein armes Weib, das geistliche Lieder singt, um zu leben. Ihr Gesang hat mich erweckt, und es ist mir ein wehmütiger Nachklang geblieben. Ich will ihr ein brennendes Papierchen mit Geld hinabwerfen. Ach! ist das der Stern, der sich deiner erbarmt, du armes Weib? Es ist schrecklich, daß in der Bürgerschaft das Beten zum Betteln werden muß. Ach, wie ist es traurig, daß der Mensch aus Armut singen muß, und daß alle Töne, die Seufzer und Klagen werden möchten, gezwungen werden, den Gang fröhlicher Töne und des Jauchzens anzunehmen, wodurch der rührende Anstrich solcher Lieder entstehet.

Das Weib hört plötzlich auf, ich lausche am Fenster, es ist ein Frauenzimmer aus dem Hause gewesen, die mit ihr sprach. Ich erkenne die Stimme nicht, und da ich doch gerne wissen mochte, wer es war, so gehe ich hinab, zu sehen, wer in der Versammlung der Übrigen fehlt. Du sollst es gleich erfahren, lieber Godwi –

Es war die Brünette, sie tritt herein, und als ich ihr sage, weil ihr ein Geldbeutel aus der Hand fällt: »Sind Sie noch so spät wohltätig?« antwortet sie: »Ich bin noch so spät wohl tätig, und manchmal wohl noch später, denn ich tue wohl oft in der Nacht lesen; jetzt habe ich meine Kammerfrau bezahlt.«

Verzeihe, Lieber, ich habe mich verirrt.

Man will nun debattieren, welcher der Brüder deine Freundin holen soll, und das wird im Bureau d'esprit geschehen. – Lebe wohl.

Römer

Römer an Godwi [7]
Römer an Godwi

Ich schreibe dir heute das Resultat der gestrigen Konsultation.

Es fand sich gleich, daß die möglichen Gesandten nach Eichenwehen nur zwei seien, entweder der Zudeutliche, oder der Undeutliche.

Der erste war leichter zu haben als zu wollen, und der zweite war leichter zu wollen als zu haben.

Man zieht ihn zur Seite, man lobt ihn, man schmeichelt ihm, [200] man verspricht ihm, seine feinen Hemden aufs zierlichste zu sticken, alle Hände erbieten sich, ihm eine elegante Satteldecke für sein Pferd zu machen, alle Finger wollen ihm Stiefelstrümpfe aus englischer Baumwolle stricken, man nennt ihn das schönste, edelste, geschmackvollste Mitglied der Familie – wenn er Joduno holen will.

Er nimmt alles an, um nicht stolz zu scheinen, er geht, um für das Angenommene nicht verbindlich zu sein, und wahrlich, wer ihn kennt wie ich, wird gerne gestehen, daß es ihm sehr uninteressant sein muß, ein Mädchen, das er nicht kennt, wie er glaubt, aus dem Hühnerhof ihres Lebens in den Elstern- und Pfauenhof seiner Familie einzuführen, und eigentlich geht er frank und frei aus Liebe und Gefälligkeit, und die Kälte, welche diese zwei Motive verhüllt, ist durch die mißverstandnen Pflichten seines Standes in ihn gekommen.

Soeben steigt er beklatscht in den Wagen, Grüße und Kußhändchen von allen Seiten. – Bald werde ich nun deine Joduno sehen und beurteilen.

Ich will dir heute abend schreiben, ob ich mich geärgert habe über die zwei außerordentlichen Mitglieder, wenn ich aus dem Kabinette der Brünette komme.


Guten Abend! Noch konnte ich mich nicht ärgern, kann also den zwei Leutchen nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen. Das Gespräch war heute zu allgemein, und ich zu geneckt, als daß ich die zwei Menschen, die gegenwärtig, so obenhin und durch und durch hätte betrachten können.

Die ganze Gesellschaft war beschäftigt, sich über einige Charmants riens, die Titus, Karakallas, Charles douze, Gustav Adolph, Iglou, Vergettes, Terroristes, Incroyables und Merveilleux Köpfe zu zermartern – Das sind lauter Arten von Verstand, Denkungsarten, die in verschiednen Gattungen von unordentlichen Frisuren bestehen, und oft kömmt man in der Gesellschaft durch unwilliges Wühlen in den Haaren in eine ähnliche Verstandeslage.

Damit man nun nicht merkt, daß ich am öftersten in diese Verlegenheit komme, und damit mein Verstand dann nicht so parvenü drein sieht, habe ich mir heute einen Haarkräusler bestellt, [201] der mir die eklatanteste Frisur machen soll, damit ich weiß, zu welcher Art von Verstand ich mich mit der größten Anlage bekennen soll. – Da ist er; gleich, wenn ich gescheiter bin, sollst du die große Begebenheit hören.

Ich: Wie heißen Sie?

– Christ – ich soll Ihnen die Haare schneiden. –

Ich: Christ? – Schneiden Sie nur keinen Mönchskopf – höchstens etwas aus dem Dreißigjährigen Krieg – etwa einen Gustav Adolph –

Es klopft an der Türe – »Herein« – ein zweiter Haarkräusler; der Bediente hat zwei bestellt. –

Wie heißen Sie?

– Heidenblut (mit einem wilden Blick auf Christ), und komme, Ihnen den Kopf aufzuräumen.

O wehe! da haben wirs, es wird einen Religionskrieg geben. Nun werden Sie einen Karakalla aus mir schneiden wollen –

Christ: Ihr Kopf hat alle Anlage zu einem Gustav Adolph –

Heidenblut: Ihr Kopf hat alle Anlage zu einem Karakalla –

Ich: Was wird das nun? Ich schwanke von einem zum andern. –

Christ: Herr Heidenblut wird Sie unchristlich raufen.

Heidenblut: Herr Christ, ich weiß, daß Sie immer mein Blut, mein Leben, mein Unglück verlangen; Sie nehmen mir alle Kunden.

Christ: Nein, wenn ich Ihr Blut verlangte, müßte ich Sie selbst verlangen, und ich brauche Sie gar nicht.

Heidenblut: Er wird Sie ganz gegen die Aufklärung schneiden; er wird Ihnen eine fromme Frisur schneiden.

Ich: Nun, so will ich ungläubig geschnitten werden. Herr Christ, wickeln Sie mich auf, brennen Sie mich, und Sie, Herr Heidenblut, schneiden mir dann die Haare.

Beide: Ja – ja, Ihre Haare haben alle Direktion zu einem très incroyable.

Ach, wie warm wird mir um die Ohren; Herr Christ, nur keinen Märtyrer, nur keinen Märtyrer – so – ich sehe drollicht aus mit den papiernen Locken – nun schneiden Sie, Herr Heidenblut. Meine langen Haare fallen mir bündelweise vom Kopfe – schneiden Sie nur nicht alles weg. –

[202] Er: Um die Ohren muß alles weg – damit sie besser wachsen können.

O wehe! die Ohren sollen wachsen –

Er: Nein, die Haare. –

Ich fühlte eine sonderbare Kühlung über dem ganzen Gehirne, es ward mir viel leichter zu Mute; so zugestutzt kam ich in das Kabinett, wo man mich mit großem Erstaunen aufnahm. Die Brünette führte mich im Zirkel herum, die Blonde hielt mir einen Spiegel vor, und alles begann mich zu necken. –

Morgen fahre ich fort zu erzählen, und dann wird Joduno ankommen und eine große Lücke in der Korrespondenz entstehen.

Dein Römer

Römer an Godwi [8]
Römer an Godwi

Heute bin ich dazu gekommen, die zwei außerordentlichen Mitglieder des Bureau d'esprit zu beschreiben, ich habe mich geärgert.

Ich trete in die Stube, und will wie gewöhnlich gleich nach dem Heiligtume, dem Kabinette zu – aber eine Menge Hände fahren mir entgegen, halten mich auf – »pst – pst – still – sie ist krank – sie hat ein Nervenfieber.« –

Das ganze Vorzimmer rauscht von Teilnahme seufzende neue Stiefeln und rauschende seidne Kleider bezeugen ihre Teilnahme, und eigentlich nehmen diese Leute nur auf zwei Arten teil, erstens, indem sie noch teil an dem bißchen gesunder Luft der Kranken nehmen, und zweitens, indem in ihnen alle ihr Teil genommen wird, denn seitdem die erste erregende Potenz, die Brünette, krank ist, und zwar (wie der Arzt sagt) asthenisch, hat sie alle die höchste Sthenie überfallen, sie sind alle fade, man hört keinen guten Gedanken, alle ihre wunderlichen Frisuren sind nur wunderliche Frisuren, und hören auf, Arten von Verstand zu sein.

Ich ärgerte mich über die zwei außerordentlichen Mitglieder, weil der eine mit einer ungeheuren Prätension von Teilnahme der armen Sophie dicht vor das Lager gerückt ist, und ihr mit Gewalt jedes gesunde Wort, das sich ihr entwindet, dicht vor den Lippen wegfängt, es mit Ungeschicklichkeit in seiner zerstreuen wollenden Unterredung auffängt und ihr verwickelt [203] wie ein Rätsel zurückgiebt. Er weiß nicht, daß dies Mädchen auch in der Krankheit über seine kranke Gesundheit Meister ist, und mit einer geteilten Mühe ihm halb aus Gutherzigkeit seine Arbeit an ihrer Zerstreuung mühselig zu erleichtern sucht, und aus der frohen, natürlichen Wildheit ihres Geistes, die in diesem Augenblicke etwas mit Überreiz kämpft, wieder hingerissen wird, ihn zu verwirren. So versetzt er das arme Geschöpf in die schädlichste Arbeit und kann, indem er mit dem Unglauben an die Lage der Sache durch seine Eigenliebe und seine Höflichkeit zu kämpfen veranlaßt wird, nicht einsehen, daß er ihr schädlich ist, so wie sie aus dem ewig fatalen, und auf dem Krankenbette fatalen Motive, das die FranzosenEgard nennen, verhindert wird, ihn fortzuschicken.

Ich setze mich in der Vorstube schweigend auf den Fußteppich, höre unwillkürlich diese erbärmliche Konversation, denn ein Gespräch war es nicht, an, und lasse meine Blicke in der Stube herumschweifen.

Auf diese Weise tätig, erlitt ich, ohne zu wissen wie, die Handlung des zweiten außerordentlichen Mitglieds, durch die ich auch geärgert wurde.

Der Mann saß da und schnitt meine Silhouette mit der größten Gleichgültigkeit aus, und trifft meine Seele so wenig, daß er die herunterhängende Schlafmütze, die er dran geschnitten hat, ganz allein schnitt, weil er behauptet, ich hätte geschlafen; ja, denke dir, ich bin versichert, daß er meinen Schattenriß allein schnitt um der Schlafmütze willen, daß er mich an eine Schlafmütze hängen wollte.

Über die übelverstandne Schlafmütze bös, weil ich in demselben Augenblicke sehr traurig über die Konversation des ersten Mitglieds war und drauf studierte, wie ich ihn hinausspedieren wollte, beschwerte ich mich; er wollte sich entschuldigen und sagte:

»Ihr Profil ist so schön.«

»Deswegen sollten Sie es nicht in den Schatten stellen«, erwiderte ich.

»O schneiden Sie mir darum kein Gesicht«, fuhr er fort.

»O hätten Sie darum mein Gesicht nur ungeschnitten gelassen« – setzte ich hinzu. –

[204] Meine Antwort erregte Lachen, die Kranke ward aufmerksam und wollte das Ganze hören, und den Schattenriß sehen, und ich zog mich traurig zurück, daß ich, indem ich mehr Ruhe um sie zu bringen suchte, die Unruhe selbst veranlaßte.

So bin ich nun auf meiner Stube über beide geärgert, und kann sie dir beide beschreiben. –

Diese zwei Männer, die sich weder von außen noch innen gleichen, die weder in ihren Gesinnungen noch in ihrer Äußerung die mindeste Ähnlichkeit haben, können von einem Gesichtspunkte angesehen werden, daß sie das Produkt der nämlichen Ursache auf umgekehrten Wegen sind.

Zusammengeschoben machen sie ein verschobenes Viereck, und einzeln sind sie gleiche Dreiecke mit zwei spitzen und einem stumpfen Winkel, sie stehen, wie Figura zeigt:



Der erste hat den stumpfen Winkel nach oben, der andre nach unten gewandt, und keiner einen rechten in sich.

Des ersten Erscheinung wird sich leicht in dich drücken, ohne einzudringen noch zu bleiben, und des zweiten Erscheinung sich scharf, bleibend und schmerzlich eindrängen.

An keinen von beiden kannst du etwas erbauen, daß es zugleich fest und gerade stehe. Gegen den ersten kann sich dein Wesen höchstens schlafend anlehnen, und an den zweiten kannst du höchstens etwas hängen.

Der erste, der die gerade Linie zur Basis hat, steht fest, und der zweite, der den stumpfen Winkel zur Basis hat, schwankt entweder von einer Seite zur andern, indem er das Gleichgewicht sucht, oder steht auf dem stumpfen Winkel fest, indem er etwas unterschiebt, oder lehnt sich auf die linke oder rechte Seite, doch muß er dir ewig den spitzen Winkel entgegenhalten.

Das wäre das Allgemeinste, was man von ihnen sagen kann; nun will ich etwas in das Einzelne gehen.

Es giebt Menschen, die so geschäftig oder träge im Leben waren, daß sie nichts Eigentliches getan haben, noch irgend [205] tun können, indem immer eine Handlung die andre durchkreuzte, oder jedes Aufnehmen in sich das andere verlöschte. Das ist mit beiden der Fall.

Ich will den mit dem stumpfen Winkel oben B nennen, und den entgegengesetzten A.

B ist, der in der Trägheit lebte, ein Mensch der nie etwas getan hat, nie um etwas gekämpft, er sitzt auf seiner breiten Basis recht kommode, oder er ward vielmehr von Jugend an drauf gesetzt; so bequem, wie er dalag, hatte er weiter keinen Drang, als sich gelinde zu erheben, und hat es bis zum stumpfen Winkel in die Höhe gebracht. Er hat so viel genossen, daß er nicht mehr viel genießen kann, und schon so viele Genossen gehabt, daß er keinen Freund mehr haben kann. Da ihn nun alles langweilt, fängt er an, seinen Verstand zu gebrauchen, aber untersteht sich, nach seiner Aisance, die nun anfängt wirkliche Mattigkeit zu werden, nichts zu tun, als nach den Zipfeln der schönen Wissenschaften, geistreichen Umgangs und der Wohltätigkeit zu greifen, die ins gemeine Leben herabhängen. Er faßt nie mehr als einen Zipfel, und nie begreift er den Gipfel.

(Hörst du, ich werde poetisch, ich habe à contre-cœur einen Reim gemacht.)

Seine einzige Erhebung ist also nichts als folgendes –

Er legte sich zu Bette aus Wollust, wälzte sich drin herum aus Veränderung, blieb liegen aus Mattigkeit, und kann nun nicht wieder aufstehen, – aber über dem Bette des bürgerlichen Lebens hängt der Himmel der Kunst, und in jedem guten Himmelbette hängt ein Bettzopf herunter, an dem man sich in die Höhe ziehen kann – nun faßt er also diesen Bettzopf, diesen Zipfel des künstlichen Himmels, um sich in die Höhe zu bringen, und fällt wieder in die Kissen hinein. Wenn er so ein wenig in die Höhe ist, regen sich alle erdrückte Möglichkeiten in ihm, und er hat, solange er sich oben erhalten kann, einige gute Gedanken, Wünsche und eilfertige Taten, aber pumps fällt er wieder nieder.

Die Menschen sind zum Aufrechtstehen, zum Herumgehen gemacht, und so auch liegt ihnen das Herz im Leibe; wenn sie sich aber ins Bette legen, um immer drinnen zu liegen, kann nichts in ihnen handeln, sondern alles wird zur Verdauung, [206] es werden keine Weltmenschen, sondern Bettmenschen draus.

Sein Inneres ist auf vielfache Weise verschoben, und sein Äußeres gelinde aufgeschwemmt.

Könnte dieser Mann nicht durch die Liebe geheilt werden? Ja, wenn er die Liebe nicht meistens mit in sein Bett nähme; er müßte sich in Bettzöpfen ruiniert haben, so viele heruntergerissen haben, daß er sich keinen mehr kaufen könnte; dann müßte man ihm eine Liebe recht hoch von einem andern Himmel herabhängen, und weit von seinem Lager, weil, wäre sie ihm bei seiner Gewandtheit erreichlich nah, so würde er sich mit Gewalt herauslehnen, den Bettzopf ergreifen und durch sein Übergewicht abreißen. Ist das Band, an dem er sich hinaufziehen kann, aber weit von ihm, und recht hoch, so wird er sich entschließen, herauszusteigen, wird sich wieder ans Gehen gewöhnen, und endlich, um die Geliebte zu erreichen, sogar springen lernen.

Alles das könnte als eine Allegorie seiner Lage in einem Feenmärchen recht schön erzählt werden, am Ende würde dann die Fee, die ihn beschützt, aus dem Bettzopf eine herrliche Prinzessin machen, das Bett würde zu Asche zerfallen, der Betthimmel mit seinen seidnen Wolken zum Himmel werden, der über ihm strahlte, und er würde sicher bei seinem Geiste, seiner Leichtigkeit und seiner Übung ein achtungswerter, liebenswürdiger Mann sein.

Du weißt, daß ich in meinen Erzählungen immer den Menschen und den Bürger trenne; ich sprach hier nur vom Menschen, insofern er sich von der Basis erhebt: als Basis ist er Bürger und, feststehend, solid und durch seine große Fläche tätig, ist er als solcher ein rechter Quaderstein seines Standes, ein achtungswerter, geschickter, fleißiger Bürger –

Wenn er wüßte, lieber Godwi, daß ich dir dies schrieb, und könnte es wahr fühlen, und könnte begreifen, wie ich ihn bei allem dem mehr als irgend einen seines Standes liebe, die meistens ganz auf dem Ohr liegen; wenn er begreifen könnte, wie ich ihn mit Rührung und herzlichen Wünschen den Bettzopf mit seiner Sehnsucht in die Höhe ergreifen sehe; wenn er wüßte, wie sehr ich den Menschen und den Talern böse bin, [207] daß sie ihn so zurichteten, und könnte darüber traurig werden und keinen Groll hegen: so wäre noch Hoffnung für ihn, und ich wollte dem Himmel danken.


A war so tätig, so geschäftig, daß er nie was getan hat; bei seinem übergroßen Drang aber ist er mit der ganzen Fläche nach außen auf sein Schicksal losgegangen, und sein Schicksal war tausendschneidig und tausendfach, das siehst du an seiner Fläche, die er nach außen kehrt.

Er ist nicht leise von der Seite und offensiv seinem Leben entgegengegangen, sondern die Augen zu, durch einen Hagel von Widerwärtigkeiten, tappte er blindlings nach dem, was er erreichen wollte, und hatte es nur in sich; denn indem sein Höchstes in ihm pochte und rief: »Ergreife mich, bilde mich, stelle mich ins Leben«, und seine Aufmerksamkeit durch das ewige Balancieren, indem er, auf seinem stumpfen Winkel stehend, nie Ruhe hat, sondern von einer Seite zur andern fällt, geteilt, diese Stimme nicht verstand: so fühlte er sein Innres nicht als Ruf, sondern bloß als Stoß, Reiz, Sehnsucht, und tappte nimmer findend vorwärts.

Er hat daher alle Spuren des Lebensstreites auf seinem Äußern, sein Körper ist ein vernarbter derber Krieger, aber seine Muskeln sind durch dasselbe abgehärtet. Er ist kein zerstörter, nur ein markierter Mensch; er ist nicht gebildet, nur geübt; er ist kein geschickter, nur ein abgehärteter Mensch.

Stoße einen Menschen, der ein Dichter oder ein Philosoph werden sollte, in das Brausen einer Staatenumwälzung, und mache, daß er, seine Oberfläche nach außen, alle Zerstörungen derselben auffangen muß, gieb ihm dabei keinen festen Punkt, weil er das in sich nicht entwickelt und zur Stütze gemacht hat, was ihn halten kann; gieb ihm dabei Glut, Liebe, Feuer, gieb ihm Ehrgeiz, sich aufrecht zu halten, laß das Ganze los, daß die innre Wildheit ihn treibe und die Wellen der kämpfenden Außenwelt über ihm zusammenschlagen – und du wirst in der Erscheinung sein Leben sehen.

Alles das, durch Dauer und Dauerhaftigkeit zur Gewohnheit, zur Natur geworden – hier ist A. Es ist angenehm, mit ihm zu leben, er ist treuherzig, wenn es sein Witz erlaubt, vergnügt, [208] immer voll Hoffnung, und ewig derselbe; wird nicht aufgerieben werden, er wird einstens zerbrechen, das ist die Art seines Untergangs.

Nun bin ich ruhig, und will, da du dir nun alle Glieder des Bureau d'esprit denken kannst, den Ort der Versammlung, insofern er ein Produkt der Brünette ist, beschreiben.

Die äußerst einfache, doch krause, harmonische, doch bunte Meublierung der Stube zeigt gleich, daß hier ein Weib haust, das die Welt und ihren Inhalt in sich hält, und das nichts in seine liebenswürdige Caprice, sondern seine liebenswürdige Caprice in alles trägt.

Sie herrscht hier, ohne es scheinen zu wollen, aber alles, was man hier mit geistigen Fühlhörnern und den Händen berühren kann, ist so von ihrem Sinne übergossen, so von ihr ausgegangen, daß man an keinem Orte der Welt auf eine angenehmere Weise seinen Willen nicht hat.

Sie ist ein vollkommnes Wesen, das in allen Saiten, die über die Tonweite ihres resonannten Daseins gespannt sind, ewig erklingt, und wo sie ist, ist sie auch so in das ganze Irgendwosein verwebt, daß sie in allen Punkten des Irgendwos wiedertönt.

Was sie beherrscht, und was sie umgiebt, ist die Variation ihres eignen Themas, doch leider schon mehr Gesellschaftslied als göttliches Gedicht.

Und wenn ich sie auf ihre Möglichkeit, die unmöglich geworden ist, nicht zurückgeführt, gerade wie sie ist, auf Noten setzen könnte, so müßte sie selbst mit ihrer sehr künstlichen Resignation das ganze Bild, auf ihrem kleinen Klaviere, mit ihren kleinen Fingern spielen, mit ihrer feinen Stimme singen, damit es nicht allerliebst langweilig klänge.

Denn wäre in dieser kleinen irdischen Hütte nicht ein einziges, schön gewölbtes Fenster (sie hat nur ein Auge), auf das von außen die Sonne der Welt blitzte, und durch das von innen die andächtigste, zarteste Seele einer Sakontala die Augen gegen den Himmel höbe, so könnte man bei den vielen Manieren und der Eleganz die ganze Erscheinung leicht für so leicht als eine erhabene Gartenverzierungsidee halten.

Lebe wohl! morgen kömmt Joduno.

Römer [209]

Römer an Godwi [9]
Römer an Godwi

Ich eile, wir gehen alle in die Kirche, ich auch, in die katholische Kirche.

Es ist Allerseelentag, dieses Fest ist das Fest aller Seelen; auf jeder Gruft brennen so viele Wachsfackeln, als sie geliebter Freunde Körper umfaßt. Die Lichter brannten so heilig, als wollten sie die Seelen vorstellen.

Alle die Kinder des Hauses gehen nach dem Grabe der Mutter, heute gleichen sie sich alle, sind alle stille Trauer und Nachdenken, und guter Vorsatz.

Die Brünette kniete so heilig, so gerührt am Grabe ihrer Mutter, sie betete und ward ohnmächtig, man brachte sie nach Hause, hier finden wir Joduno und den undeutlichen Bruder. Alles ist voll Freude. Die Brünette sagt, es sei ihr gewesen, als wenn es sie leise in die Gruft hinabzöge.

O Godwi, wo ist deine Mutter! die Schmerzen des steinernen Bildes fielen mir ein; wo ist meine Mutter!

Römer


In dem Bureau d'esprit hängt das Bild der Mutter Sophiens, in einer gelinden, zarten Zeichnung, die Geschwister gleichen ihr alle, jedes hat seinen schönen Zug, und den findest du gewiß in dem Bilde ihrer Mutter wieder.


Ende des ersten Teils [210]

Zweiter Band

Vorrede

Wo will es am Ende hinaus! Die Begebenheit steht zuletzt wie ein schwankendes Gerüste da, das die Behandlung nicht mehr ertragen kann, und jagt den Lesern Todesangst für sich und sein Intresse ein. Das traurigste aber bleibt es doch immer, wenn dem Buche der Kopf zu schwer wird, durch Gold, oder mehr noch durch Blei. Werden beide Arten nicht Holundermännchen? die sich auf den Kopf stellen, und ist dieses nicht äußerst gefährlich? wenn zarte weibliche Figuren darin leben sollen.

Ich habe leider diese Briefe mit dem Meinigen vermischt, und hoffe einige Entschuldigung, wenn ich erzähle, wie ich zu diesen Briefen gekommen bin.

Einen Teil meines Lebens brachte ich damit zu, mich zu besinnen, als was ich eigentlich mein Leben zubringen sollte, einen andern damit, da mich die Theorie langweilte und meinen Vorgesetzten Faulheit schien, alle Stände wie die Röcke einer Trödelbude anzuprobieren, und ich stak wahrlich recht unschuldig mit einem von den besten Willen in allen Arten von Propyläen, aber ebenso willig, ebenso unschuldig verließ ich sie wieder nach der Reihe.

So kam ich endlich in meinen vielen nicht ausgehaltenen Lehrjahren zu Herrn Römer, den die Leser aus meinem Buche kennen; er ist ein reicher Kaufmann in B., und ich sollte mich seinem Stande widmen. Ich ward in seiner Familie freundlich aufgenommen, seine Gemahlin kannte meine Eltern, die ich nicht kenne, und nahm sich meiner wie eine Mutter an. Ich habe ein leicht bewegliches Gemüt, und Herr Römer hatte eine sehr schöne Tochter, in die ich mich etwas verliebte. Obschon mein Herz an einer früheren Leidenschaft litt, die ich nie zur Ruhe bringen konnte, so ergab ich mich hier dennoch neuen und leichtern Fesseln.

Herr Römer bemerkte bald, daß diese Leidenschaft weder mir noch seiner Tochter zuträglich sei, und überhaupt fand er, daß der Stand, den ich unter seiner Leitung ergriffen hatte, mich nie ergreifen würde.

[225] Er stellte mir beides mit vieler Freundlichkeit vor, und da er meinen Schmerz über meine ewige Unbestimmtheit bemerkte, gab er mir ein Päcktchen Briefe mit folgenden Worten:

»Mein lieber Maria, dies ist ein Briefwechsel zwischen sehr edlen und intressanten Menschen, er enthält auch einen Teil meiner Lebensgeschichte; lesen Sie ihn durch, ich glaube, die Geschichte dieser Menschen wird Sie über Ihre, im Verhältnisse mit jener noch sehr einfache, Geschichte trösten. Zu gleicher Zeit bitte ich Sie, den Versuch zu machen, diese Briefe nach dem Faden, den ich Ihnen geben will, zu reihen, und hie und da zu ändern, damit mehr Einheit hineinkömmt. Ich denke das Ganze herauszugeben, und habe die Erlaubnis der vorkommenden Personen dazu.« Und weiter eröffnete er mir, daß er von unbekannter Hand reichliche Anweisungen erhalten habe, mich zu unterstützen, und zwar unter der Bedingung, daß ich auf der naheliegenden hohen Schule studieren solle.

So sehr mich auch mein Glück erfreute, war es mir doch schmerzlich, meine Leidenschaft zu der Tochter des Herrn Römers aufzugeben, und da ich diesen Schmerz recht von Herzen äußerte, sagte er mir:

»Wenn Sie sich mehr bilden, werden Sie leicht einsehen, was zwischen Ihnen und meiner Tochter liegt, und es leichter überwinden können.« –

Wie ich mit den Briefen umging, weiß man; wie ich mich bildete, wird die Zukunft vielleicht auch wissen, denn bis jetzt habe ich noch nichts gesehen, was zwischen mir und meiner Liebe liegen konnte.

Herr Römer erhielt den ersten Band, und über meine ungeschickte Behandlung aufgebracht, versagte er mir seine Tochter auf immer, und noch trauriger – er zeigte mir an, daß ich durch meine unbeholfne Buchverderberei einer spanischen und englischen Büchersammlung sei verlustig geworden, die mir von einem anonymen Intressenten an der Herausgabe des Buchs sei versprochen gewesen, wenn ich es gut bearbeiten würde.

Unmutig über mein Unglück, und ohne alle Quellen zu der weitern Fortsetzung des Buchs, zu der ich mich doch durch den ersten Band verbindlich fühlte, – unternahm ich es, Herrn [226] Godwi, von dem ich wußte, daß er sich auf seinem Gute aufhielt, aufzusuchen, wo möglich seine Freundschaft zu gewinnen, und meinen zweiten Teil mit seiner Hülfe auszuschreiben; und der zweite Teil ist die treue Geschichte, wie ich ihn fand, und was mir mit ihm begegnete.

Der Leser wird hieraus sehen, wie mühsam mir dieser zweite Teil wird, und mit mir bedauren, daß Herr Römer mir eigentlich nicht mehr und nicht weniger genützt hat, als daß er mich in neue Lehrjahre hineingestoßen. – Denn zu der gütigen Unterstützung, die mir von unbekannten Händen zufließt, ist er doch nur das kaufmännische Werkzeug – und was wird endlich mein Los sein? Ich habe mich auf einem schwachen Bote auf das unabsehbare Meer gewagt, und treibe den Wellen überlassen hin. O ihr wenigen Herzen, die ihr liebevoll an mir hängt, ihr seht mich ohne Mast und Steuer auf gutes Glück hinaustreiben, und ich werde euch nimmer danken können; schon regen sich die Lüfte von allen Seiten, die Wellen bewegen sich, und ich werde in meinem kleinen Kahne wohl zu Grunde gehen!

[227][229]
Erstes Kapitel

Als ich in der Stadt nahe bei Godwis Gut angekommen war, erkundigte ich mich im Gasthofe auf eine unbefangene Weise nach Godwi, und hörte mancherlei von den Bürgern, die mit an dem Abendessen teilnahmen, was ihn betraf. Sie erzählten mit jener gemütlichen Geschwätzigkeit, in der sich gewöhnliche Menschen so gern über jeden Ausgezeichneten ergießen, der in ihrer Mitte lebt oder lebte. Ein jeder hatte eine eigne Ansicht von ihm; ich meine hier den Vater, denn von dem Sohne erfuhr ich nichts Bestimmtes, als daß er ganz allein auf seinem Gute lebte. Ich habe das Bestimmteste dieser Urteile gesammelt, und kann mit einiger Gewißheit folgendes von seiner Erscheinung erzählen.

Godwis Vater ging mit wenigen um, und wenige liebten ihn; dennoch lagen in seinem Leben viele schöne Beweise seiner Menschenliebe, aber keines dieser Bilder zeigte freundlich auf den Meister zurück, keines seiner Werke wollte ihn als Vater anerkennen. Alle Urteile über ihn waren dunkel, und man sprach immer von ihm wie von einem Gespenste, das keinen kränkt, abwechselnd mit Ergebenheit, mit kaltem Absprechen, oder einer Art Frechheit, die am Glauben ermüdet ist.

Dieses alles berechtigt mich, ihn für einen Mann zu halten, der seine Umgebung nicht sowohl durch Vorzüge als durch Verschlossenheit beherrschte. Er lag wie ein Geheimnis zwischen Neugierigen, und alles, was er tat, erhöhte dieses Geheimnis; denn seine Handlungen waren oft wirklich bedeutend, und wurden auffallend, indem sie aus innern Gründen auszugehen schienen, die mit seinem bürgerlichen Standpunkte in keiner Verbindung standen.

Er war in die Stadt gekommen, hatte sich das Bürgerrecht erkauft, und ein größeres Handlungshaus errichtet, als je in diesem Orte gewesen war; aber keiner seines Standes konnte Nachricht geben, woher er kam, warum er es tat, und wie die Wege gewesen, die ihn so schnell zu allem diesem geführt hatten.

Man wußte nur, daß er abends angekommen war und im Wochenblatte gelesen hatte, daß ein großes Gut bei der Stadt [229] zu verkaufen sei, welches er auch gleich den folgenden Morgen kaufte. Dann war er einigemal auf die Börse gekommen, hatte große Händel abgeschlossen, und ein Comptoir in der Stadt errichtet. Er selbst arbeitete wenig in diesen Geschäften, sondern überließ sie seinen Factoren, die er sehr begünstigte; und besonders zeichnete er einen jungen Menschen unter ihnen aus, der ihm als elternlos aus England geschickt worden war; und endlich zog er sich ganz auf sein Gut zurück.

Von diesem Gute selbst erzählte man vielerlei, von seiner ganz eignen innern Einrichtung; doch kannte es eigentlich niemand genau, seit er es bewohnte, denn die wenigen Diener, die er um sich hatte, waren für jede Erklärung verloren. Er hatte seinen Sohn dort bei sich, der, nach der Aussage der vielen Erzieher, die ihn verlassen hatten, ein wunderlicher Mensch sein sollte.

Das Gut gehörte ehemals einem mennonitischen Edelmann, und die Pächter waren alle von dieser Glaubenslehre. Da der Besitzer gestorben war, fiel es der Regierung anheim, und von dieser kam es in Godwis Besitz.

Seine Gesellschaft auf diesem Gute war stets wechselnd, denn sie bestand aus durchreisenden Künstlern, die er einige Zeit beschäftigte, und die ihm stets beteuern mußten, was sie bei ihm gebildet hatten, zu verschweigen. Viele Maler, Bildhauer und Dichter kannten seine Freigebigkeit, und hatten einige Zeit bei ihm zugebracht.

Ein Teil seiner Wohnung soll nach der allgemeinen Sage sogar seinem Sohne und allen seinen Hausgenossen verschlossen geblieben sein, und hier war es, wo er die Arbeiten der Künstler, die bei ihm gewesen waren, aufbewahrte. Ehemals war es eine kleine Kirche, der sich die verstorbenen Besitzer des Gutes zu den religiösen Versammlungen ihrer Glaubensbrüder bedient hatten; von außen war es auch Kirche geblieben, im Innern aber nach dem Plane des Engländers verändert worden.

Das Wohnhaus des Gutes hatte er in seinem vernachlässigten Zustande gelassen; so nicht die Gärten, deren Verunstaltung er zu einer zierlichen Verwilderung erhob.

Der gesuchten Nachlässigkeit in der Erhaltung dieses Gutes war sein Haus in der Stadt völlig entgegengesetzt, wie seine [230] eigene finstre Untätigkeit seinem kaufmännischen Wohlstande. Dieses Haus war das geschmackvollste und geräuschvollste; seine Zahlstube wimmelte von zierlichen Arbeitern, seine Gewölbe waren in voller Tätigkeit, die Treppen und Eingänge waren mit Bedienten und Türstehern besetzt, und die Einrichtung der Gemächer schimmerte in dem gediegensten Luxus.

Seine Factoren gaben Gesellschaften, Gastereien, Konzerte und Bälle, an denen der ganze gebildete Teil der Stadt und die vielen, an seine Handlung empfohlenen Reisenden teilnahmen.

Er allein erschien nur das erstemal bei der Eröffnung eines solchen Zirkels, und bemühte sich dann mehr ernstlich als teilnehmend, die ganze Gesellschaft zu einer fröhlichen Anmaßlichkeit auf diese Vergnügungen seines Hauses zu bewegen, und erschien gleich einem Lehnsherrn, der sie mit herkömmlichen Besitzen belehnt.

Das Gute, was er tat, wagte er nicht sich anzumaßen; dennoch wendete er ebensowenig Fleiß darauf, es zu verbergen als es bekannt zu machen, und niemand ehrte seine Wohltaten, wenn gleich jeder Bedürftige sie wünschte. Seine Wohltaten sahen aus wie Buße.

Wie er gekommen war, war er auch wieder verschwunden; schon einige Jahre waren hin, daß er mit einer Gesellschaft, deren Zusammenhang mit ihm man nicht näher kannte, plötzlich nach Italien gezogen war. Das Gut aber blieb dem Sohne, der es jetzt bewohnte, und von dem mancherlei Gerüchte gingen.

Besonders schwatzte man viel von einem prächtigen Grabmale, das er einem Mädchen habe errichten lassen, welches nicht den besten Ruf habe und mit ihm von seinen Reisen gekommen sei. Man sprach davon, daß sie verrückt geworden sei, und daß das Grabmal darauf anspiele; sie habe Violette geheißen, und einige Offiziere, die den letzten Feldzug am Rheine mitgemacht hatten, wollten sie sehr gut gekannt haben.

Dem sei nun, wie ihm wolle, aber alle stimmten darin überein, daß man nichts Schöneres sehen könne als dieses Grabmal, denn es war in der Stadt öffentlich gezeigt worden.

[231] Dies waren ungefähr die Nachrichten, die ich abends in dem Gasthofe sammelte und in dieser Ordnung niederschrieb.

Ich entschloß mich, den andern Morgen vor Sonnenaufgang meinen Weg nach dem Gute anzutreten, das einige Stunden von der Stadt entfernt im Gebürge lag.

Zweites Kapitel

Der Morgen dämmerte kaum, als ich meinen Weg antrat; meine wenigen Geräte hatte ich im Gasthofe zurückgelassen, und mir vorgenommen, ehe ich mich Godwi als seinen unberufenen Geschichtschreiber zu erkennen gäbe, ihn unter einem andern Vorwande zu berühren, um seinen guten Willen zu gewinnen. Ich wollte mich für einen reisenden Künstler ausgeben, der Violettens Grabmal sehen wolle.

Ich ging unter diesen Gedanken den Berg hinauf, und hatte auch wirklich eine große Begierde, Violettens Grab zu sehen, denn der Gedanke des Bildes konnte unstreitig sehr schön ausgeführt sein, und ich liebe besonders bedeutungsvolle Werke, die zugleich schön sind, wenn sie auch nichts als sich selbst bedeuteten. Durch die Bedeutung erhält ein gutes Bild immer ein höheres Leben, denn es liegt so eine Geschichte in seiner Erscheinung, indem es, um schön zu sein, seine Bedeutung besiegt.

Als ich auf dem Berge angelangt war, ergoß sich eine herrliche Aussicht um mich, die Sonne ging schön auf, und es war mir sehr wohl. Ein schöner Wald drängte sich von der entgegengesetzten Seite, und rauschte freudig mit seinen Zweigen des Friedens in der frischen Morgenluft.

Ich fühle in einem Walde, bei den großen lebendigen Säulen der kühlen zusammenrauschenden Gewölbe, immer eine tiefe Berührung im Innern.

Friede, Versöhnung, freudigen Ernst und schaffende Ruhe könnte ich nur singen in Wäldern, bei den allmächtigen Stämmen, die nicht streitbar sind, in der Ruhe freudig verwachsen, sich umarmen und ausweichen, still und ernst, leises Wehen ihrer Küsse, und leichtes Sinken sterbender Blätter. Fest auf [232] sich selbst und aus sich selbst, im Sturme mächtiges Brausen, kräftige, schwingende Bewegung, oder großer stürzender Tod, daß die Erde erbebt und die nahen Freunde mit hinab müssen zu der Ruhe; und wenn die Sonne aufsteigt und weggeht, wie die Gipfel sie golden begrüßen, und es niedersteigt an den Stämmen leise und feierlich, wie einer des andern Licht teilt und Dunkel, wie jeder seinen Schatten dann an den Boden streckt, das Maß seiner Größe, das endlich in allgemeiner Herrlichkeit zerrinnt, wenn der Mittag herabstrahlt und ihre Häupter in Pracht und Leben verglühen, während die Füße noch im kühlen Grabe der Schatten weilen, wie dann die Schatten wieder auferstehen, wenn die Sonne untergeht; wie endlich der letzte Kuß der Sonne noch an den Wipfeln hängt, bis alle gleich werden in der tiefen Nacht, wie sie es in der Pracht des Mittags waren, oder der sanfte Mond nach denselben Gesetzen den milden Tag der Liebe und des innern stillen Treibens im Herzen über sie ausgießt. Friede, Versöhnung, freudigen Ernst und schaffende Ruhe möchte ich nur singen in Wäldern.

An dem Ausgange des Waldes, der das ganze Tal erfüllte und auf der andern Seite wieder in die Höhe zog, wo er sich endigte, bemerkte ich einen hohen Rauchfang, auf dem ein Storch sein Nest erbaut hatte, und vermutete, daß dieses Gebäude zu dem Landgute gehöre. Der Storch war noch nicht wieder da, denn er hat eine weitere Reise zu machen als der Frühling.

Die Seite des Bergs, an der ich hinabstieg, war meistens Felsenwand, und hin und wieder mit reinlichen steinernen Treppen unterbrochen. Es zog sich so freundlich hinab, um und um rauschte der Wald, die Sonnenstrahlen fielen schräg das Tal herein, und mein Schatten hüpfte und ging mir gesellig in allerlei gebrochenen Gestalten zur Seite. Ich war recht munter, blieb manchmal stehn, wenn mir mein Schatten gar zu wunderlich aussah, bewegte mich auf verschiedene Weisen, um ihn zu verändern, und freute mich über meine langen großen Schattenbeine; dann dachte ich, wenn du nur so auf den Schattenbeinen hinuntergehen könntest, und hob einen Fuß auf, beinahe zwanzig Stufen wäre ich unten; da ich aber nicht lange den Fuß so halten konnte, setzte ich ihn wieder nieder, und war auf dem alten Flecke.

[233] Über dem engen Tale voll Wald stieg ein zarter Nebel auf, und löste sich um mich herum in den Sonnenstrahlen, die höchsten Bäume schimmerten schon in der Sonne, und bald war der ganze Wald unter mir erleuchtet; auch wurden die Vögel immer lustiger, und ich wünschte nur, auf der andern Seite bald wieder oben zu sein, damit ich bald an dem Schlosse wäre; denn ich vermutete, da unten in der Wildnis möchte irgend eine allerliebste Anlage, ein Tempelchen oder dergleichen stecken, in das ich mich hineinsetzen, ausruhen und weiter gar nicht ans Weitergehen denken könnte. Ich vermutete so etwas, weil ich weiß, daß die Engländer immer viele Anlagen zu solchen Anlagen haben, und weil ich durch mein munteres, unregelmäßiges Gehen und besonders durch meine Schattenspiele etwas müde geworden war.

Ich schritt darum wacker zu, der Rauchfang mit dem Storchneste war mir wie ein Magnet: es liegt etwas Heimliches, Getreues und Heimatliches in so einem Storchneste; denn ein gastfreies Dach bedeckt gastfreie Menschen. So reflektierte ich, denn ich war hungrig, und um mir diese Reflexion zu bemänteln, machte ich geschwinde noch folgende über das Schreiten auf Schattenbeinen, und hob, um der Anschauung willen, die Beine noch einigemal, den Schritt des Schattens beobachtend.

Drittes Kapitel

Es giebt allerdings Leute, die so mit den Schattenbeinen zu gehen glauben und große Beschreibungen von solchen Reisen zu erzählen wissen. Ich meine eine gewisse Gattung junger Philosophen, denen die Sonne noch nicht grade über dem Kopfe steht, sondern hinter dem Rücken.

Das Licht, das die Sonne vor ihnen hergießt, nennen sie ihr eignes Produkt, ihr ganzer Gesichtskreis ist ihnen ihr Objekt, und ihren Schatten nehmen sie als ihr Subjekt, ihr Ich, an, das ihnen durch Anschauung zum Objekt geworden ist. Erst stehen sie sehr ernsthaft still, schütteln in tiefen Gedanken den Kopf, schneiden Gesichter, und betrachten das im Schatten, und nennen es zum Selbstbewußtsein kommen; dann heben sie [234] wechselsweis Arme und Beine – so viel als möglich zierlich, der Ästhetik halber – und haben sie dies im Schatten beobachtet, so sind sie zum Bewußtsein der reinen Akte gekommen. Haben sie dieses alles einige Zeit getrieben, so bedenken sie, daß es nützlich sei, die äußere Welt an sich zu reißen, ihre physische Kraft zu befestigen. Dies geschieht nun, indem sie ihren Gesichtskreis, ihr Objekt auf alle Weise in sich herein bringen, das heißt, indem sie durch Hin- und Wiederspringen bald dieses, bald jenes Stück Wegs mit ihrem Schatten bedecken. Am Ende werden sie dann müde, sie setzen die Füße nieder, ihr Schatten wird immer kleiner, denn die Sonne steigt, und steht ihnen bald grade über dem Kopfe. Es ist voller Mittag, und sehr heiß, sie haben nichts getan, nicht einmal Optik studiert. Um sich abzuspannen, trinken sie eiskaltes Wasser in der Hitze, und werden krank, das heißt, verlieren die Bewußtlosigkeit ihrer Organisation, und sterben. An ihr Grab stellen sich einige Freunde, und berühren es so lange mit ihrem Schatten, oder vielmehr, stellen so lang reine Freundschaftsakte an, bis andre Freunde es ihnen ebenso machen.

Ich erinnerte mich dabei mehrerer Jünglinge, die ich gekannt hatte, auch eines Dichters, der zwar nicht zu den Schattenbeinichten gehörte, aber doch gute Freunde unter ihnen hatte, und mir nicht recht gut war, denn ich haßte stets allen Schatten-Bombast.

Während diesen wunderlichen Gedanken war ich weiter hinabgegangen, und erschrak nicht wenig, als ich plötzlich neben mir an der Bergwand folgende Worte ängstlich sprechen hörte:

»Nun kömmt es, nun kömmt es, ach es ist sicher ein wildes Tier, wenn ich nur erst geschossen hätte, – ein Tier, ein Tier!«

Ich war von jeher auch nicht sehr mutig, besonders fürchtete ich mich vor Feuergewehr in ungeschickten Händen, und sprang deswegen schnell beiseite, indem ich mit furchtsamem Pathos ausrief:

»Wer Sie auch sind, der sich hier zu schießen fürchtet, so fürchte ich mich, geschossen zu werden, und bin kein Tier, sondern ein Mensch.« –

Hierdurch hatte ich meine und seine Furcht vor dem Schießen [235] aufgehoben, und ging nach der Stelle hin. Hinter dem Gebüsche fand ich eine kleine Nische in den Felsen eingehauen, und wer war darin? –

Niemand anders als der Dichter Haber, dessen ich soeben bei den Schattenphilosophen gedacht hatte –

Er sah mich so groß an, als er klein war, und sprach dabei mit Verwunderung: »Ei, Maria, wo kommen Sie her?« –

»Ei, Haber, wie finde ich Sie hier,« erwiderte ich, »Sie hätten mich ja beinahe totgeschossen« –

Er: Ich bitte sehr, – ehe ich schieße, spreche ich immer das Wesen an, damit es, wenn es ein vernünftiger Mensch ist, antworten kann.

Ich: Sie können auf diese Weise noch die Tauben und Stummen totschießen. Das Beste wäre das Ansehen.

Er: Ich bin von Herrn Godwi zur Jagd beredet worden, der gleich hier im Gebüsche auf dem Anstande steht. Eigentlich wollte ich bloß hier einige Verse machen, konnte aber über dem Geräusche, daß Sie durch die dürren Blätter machten, meine Gedanken nicht sammeln, und noch etwas sehr Seltsames störte mich: vor einigen Minuten, als ich anfing zu schreiben, flog mir einigemal ein ungeheurer Schatten über das Papier, gestaltet wie ein ungeheurer Fuß.

Ich: Der große Fuß ist etwas wunderbar, besonders da Sie grade mit den Füßen der Verse beschäftigt waren, und ebensosehr wundert es mich, daß ich in dem Augenblicke, in dem Sie mich beinahe erschossen hätten, sehr lebhaft an Sie dachte.

Er: Gott weiß, es ist hier in dem ganzen Tale sehr schauerlich, und Ihre Gesellschaft ist mir recht angenehm.

Hier wendete ich mich gegen die kleine Flinte, die er zwischen den Ast eines Baumes gezwängt hatte, und noch immer auf mich zielte, um sie wegzunehmen. Er hatte vermittelst seines Strumpfbandes und Schnupftuches, die aneinander und den Drücker der Flinte geknüpft waren, sich eine künstliche Maschine verfertigt, um bei dem Schusse weit vom Feuer zu sein; ich nahm die Flinte weg, und schoß sie in die Luft, worüber er etwas erschrak.

Auf den Schuß kam Godwi herbei; er glaubte, Haber habe etwas geschossen, und wollte ihm Glück wünschen.

[236] Haber erzählte den ganzen Hergang, Godwi lächelte, und fragte, wer ich sei. Der Dichter stellte mich vor, und ich bat ihn um die Erlaubnis, Violettens Denkmal zu sehen.

Er ward etwas ernster bei meiner Bitte, und sagte mir, nachdem er mich mit den Augen gemessen hatte:

»Sie können es sehen, aber nicht eher als morgen früh, denn es ist niemand zu Hause, wir sind alle auf der Jagd. Harren Sie also, bis wir heute abend heimziehen, Sie können die Nacht bei mir zubringen. Bedürfen Sie irgend einer Erquickung, so lassen Sie sie sich im Jägerhause reichen, und wenn Sie gerne schießen, so lassen Sie sich eine Flinte geben.«

Ich dankte ihm, und nahm alles gerne an.

Hier wendete er sich zu Haber, bat diesen, mich hinab ins Jägerhaus zu führen, und verließ uns. Haber hängte seine Flinte mit einem lustigen Stolze und etwas lächerlichen Vorsicht um, da sie abgeschossen war, und trabte stillschweigend an meiner Seite tiefer ins Tal hinab.

Dies war also der Godwi, von dem ich so viel geschrieben habe – es ist eine eigne Aufklärung, wenn so plötzlich die Wirklichkeit vor das Ideal tritt.

Ich hatte mir ihn ganz anders vorgestellt.

Ich fürchtete mich etwas vor ihm, denn es gehört eine große Seelenruhe dazu, einen Autor vor sich zu sehen, der einen so unscheniert herausgiebt, und die Menschen noch im Wahne läßt, als habe er alles das erfunden. Gut, daß er nichts davon zu wissen schien, und da mein Buch erst einige Wochen in der Welt war, hoffte ich, der Dichter Haber werde auch nichts davon wissen, ich wendete mich daher mit der Frage an ihn –

»Sind Sie schon lange hier?«

»Sechs Wochen sind es,« erwiderte er, »daß ich Herrn Godwi hier im Walde fand, und auf eben die Weise mit ihm bekannt ward wie Sie. Ich arbeitete grade auf meiner Reise an einem allegorischen Gedichte, und machte, um dem Dinge mehr Leben zu geben, einen Spaziergang hierher, wo ich ihn jagend traf, mit ihm ging, und bis jetzt bei ihm blieb.«

Ich bat ihn, mir Godwi etwas zu schildern.

»Es ist ein ganz eignes Wesen um diesen Mann,« fuhr er fort, »Sie werden schwerlich mit ihm auskommen, denn er ist sehr [237] einfach, ruhig und verschlossen; innerlich muß er einen großen Kummer haben, und ich fühle mich sehr von ihm angezogen. Er ist ein schöner, kräftiger Mann, voll Seele, ganz zur süßesten Freundschaft gemacht. Über seine ganze Erscheinung ist ein tiefer Strom von reiner Wollust ergossen, und dennoch hat er gar keinen Sinn für innige, dringende, brennende Freundschaft. Er lebt hier in einer ganz eignen Einsamkeit, und fühlt gar kein Bedürfnis des Umschlingens mit andern Menschen; ich werde daher nicht lange mehr hiersein, denn in einem so trocknen lieblosen Leben halte ich es nicht mehr lange aus.«

»Nach Ihrer Beschreibung zu urteilen,« fuhr ich fort, »werde ich mich besser zu Herrn Godwi schicken als Sie; denn wenn er keinen Sinn für die verliebte Freundschaft hat, so ist mir das recht lieb, ich mag sie auch nicht recht leiden. Der Liebe bin ich gern so nahe als möglich, denn in ihr liegt Notwendigkeit, man muß sich in ihr wechselsweise recht innig beistehen, sonst kömmt nimmer nichts heraus, der eine oder der andere Teil wird krank, vor Hunger und Durst nach dem andern, und es giebt eine elende erbärmliche Ziererei, der die Sentimentalität zu einer lindernden Salbe werden muß.

Das nüchterne Lieben ist nur ein Cursus, in dem sich das Wesen der beiden vor beider Augen entwickelt, damit sie sich erkennen und einsehen, ob sie sich einander zutrauen können, das körperliche und geistige Dasein ihrer selbst freudig auseinander zu entwickeln, zu verwickeln und einem Dritten, ihrem Kinde, zu vertrauen, damit ein lebendiges Produkt, des bloßen Liebens und Lebens, des reinsten, süßesten Geheimnisses unschuldige Verkündigung, hervorgehe, mit denselben Rechten als sie.

So wird jedes Paares Liebe unendlich, ein Werk der Ewigkeit, und ein Heiligtum aller Erkenntnis. Die allgemeine Liebesziererei ist übrigens das Geschäft eines Complimenteurs, wie es Philander von Sittewald übersetzt: eines compli menteur, eines vollkommnen Lügners.

Die verliebte Freundschaft aber ist nichts anders als entweder erbärmliche, süßliche Schwäche, völlige Unmännlichkeit des einen Teils, oder Täuschung. Ich bin versichert, daß der Freund, [238] der mir lange in den Armen liegt, entweder ohnmächtig, sterbenskrank, verwundet und dergleichen ist, oder mich gar nicht meint, sondern irgend ein hübsches Mädchen, oder eine heimliche, unerreichliche Geliebte, in deren Armen er gern so rechtlich, so ungestört und frei liegen möchte.

Wenn ich es daher ja dulde, daß mein Freund so etwas tue, so tue ich es aus Mitleid, ich laß ihn an sein Mädchen denken, und denke wo möglich auch an irgend eine.

Das Wesen der eigentlichen Freundschaft wird hierdurch gestört, denn es besteht nicht in Auswechslung, in Vermischung und Durchdringung, es besteht in bloßer Geselligkeit.«

Hier unterbrach mich Haber, – »bloße Geselligkeit ist nach meinen Gefühlen noch lange keine Freundschaft, ich kenne sehr gesellige Menschen, die keiner eigentlichen warmen Freundschaft, die so recht aus der Seele kömmt, fähig sind, die den Drang, sich an Freundesbrust zu schließen, Herz an Herz, Aug an Aug, Lippe an Lippe, Pulsschlag, Blick, Hauch und Wort zu teilen, nicht in sich haben«, – »oder gar eine Art von Handschuh über den ganzen frierenden guten Freund werden mögen«, fuhr ich lächelnd fort; »ich zum Beispiel kann schon keines Menschen Freund werden, der mit seinem Herzen, seinen Augen, seinem Hauche nicht für sich allein fertig werden kann; seine Worte, auf die mache ich Anspruch, aber am meisten auf seinen Geist, und seine Wahrheit. –

Freundschaft ist allein durch die verschiedenen Stufen der Bildung entstanden, die in einem ewigen Krieg miteinander stehen, und ist daher nichts als stillschweigendes Bündnis durch gleiches Bedürfnis.«

»Aber«, versetzte Herr Haber, »die reinste Freundschaft dringt über alle Stufen hinab und hinauf, sie ist frei, und kein Vorurteil des Standes kann sie hemmen, sie schließt sich bloß an den geliebten Menschen, an das bloße Nackte ohne alle Bekleidung von Sitte, Stand und anderm dergleichen Unsinn.«

Was Herr Haber sagte, langweilte mich, dennoch wollte ich es der Freundschaft nicht entgelten lassen, da ich hier unter den hohen Eichen so recht gestimmt war, ihr eine Rede zu halten.

[239]
Viertes Kapitel

Ich lehnte mich daher an einen Baum, und hielt folgende Rede an Herrn Haber –

»Was nennen Sie Freundschaft, jenes Weinen aneinander, jenes Lachen aneinander, jene Würdigung unserer eignen Armut in den Augen des Freundes, das gegenseitige Erseufzen über die Beschränktheit und Grenzenlosigkeit, das Hingeben und Annehmen von Dingen, die keiner brauchen kann, und die den, der sie giebt oder nimmt, zu unserm Freunde machen, weil grade kein andrer die Sache genommen hätte, das Aufessen einer einzigen Person, daß man endlich, an einem einzigen übersättigt, allen Sinn für das andre verliert, die gegenseitige Nothülfe der sich Nächsten, weil sie Not haben und faul sind – nennt ihr das Freundschaft – o dies kann nur in ärmlichen, stolzen und einseitigen Menschen Raum haben, die einen großen Nutzen in der Welt zu schaffen glauben mit ihren Empfindungen, und ihre eigne Armut zu beherbergen, einen Freund brauchen, der ihr in seinem Herzen ein Obdach verschaffe. –

Alles dieses ist entweder gleichseitige Erbärmlichkeit oder Niederträchtigkeit und Barmherzigkeit, Dummheit und mitleidiger Stolz von der einen oder andern Seite.

Freundschaft ist nur unter den Vortrefflichen möglich, deren ganzes Leben ein ewiger Fortgang nach dem Höchsten ist. Sie streben nicht darnach, denn alles Streben geht von Armut, Bewußtsein der Armut, Begierde und Vorsatz aus, wird dadurch absichtlich, und hört auf, eine freie schöne Handlung zu sein.«

Hier fiel Herr Haber wieder ein:

Streben wäre nicht frei, nicht schön, es dürfe keine Absicht sein. –

»Lieber Herr Haber,« sagte ich, »stören Sie mich nicht. – Streben ist freilich erlaubt, auch Absicht, aber nur dem Künstler, der Genie war, und Künstler geworden ist, an diesem bin ich aber noch nicht – also –

Sie streben nicht, sie sind ausgesandt von Gott, und wissen es nicht; ihr Leben ist nichts als das fortgehende Bilden eines Kunstwerks alles Schönen, wozu sie gleichsam die Zeichen, die [240] Buchstaben sind; sie berühren sich wie Akkorde, und ihr Zweck ist der schöne Ausdruck des Liedes. So reihen sich Glieder an Glieder in schön geschwungenen Wellen, und bilden das herrliche Bild, so wechselt der Schritt der Silben, um des Liedes Tanz hervorzubringen, so gießt sich Farbe an Farbe und bildet des Gemäldes Zauberei. Diese Berührung ist die Freundschaft.

Durch ihre eigne innere Bildung können zwei nebeneinander stehen, aber nur um der großen Harmonie ihrer Aufgabe willen.

Die Eigentümlichkeit eines jeden bleibt unangetastet, und bleibt sie es nicht, so entsteht bei Farbe eine gebrochene schmutzige Halbtinte, wie bei Form Verwachsenheit.

Die Stufen der Bildung, der Rang der einzelnen Freunde, verhält sich wie Buchstabe, Wort, Periode, Ton, Akkord, Satz, und im Innern sind sie als Zeichen gleich verwandt und würdig. Ja ich trage das Ideal eines Menschenkenners im Kopfe, der die Menschenarten in die einzelnen Redeteile oder Tonarten zerteilen und wirklich eine Grammatik und einen Generalbaß des Zusammenlebens hervorführen könnte. Man könnte nach seiner Wortfügung den Staat oder die Menschenfügung allein verbessern, und durch seinen Generalbaß allein die wahre Freundschaft finden, die in ebenso geheimnisvollen Gesetzen begründet bleibt als die Verwandtschaft der Töne. Man könnte dann ganze Völkergeschichten auf dem Klaviere spielen und in einzelnen Versen absingen, und es wäre das Leben zur Kunst geworden.

Übrigens gehören zwei männliche Töne, die sich etwas herausnehmen und nur sich allein bilden wollen, in keine Melodie, und ihr Durchdringen kann ihnen nie gelingen, denn dieses liegt nur in der Liebe. Nur die Liebe kann erzeugen aus sich, die Freundschaft aber kann es durch sich.

Die Liebe giebt den Ton und die Musik, die Freundschaft ist nur das Nebeneinanderstehen der Töne zur Melodie, die wieder ein Produkt der Liebe ist. Die Freundschaft wohnt in der Liebe, aber in ihr selbst ist keine Liebe, sondern nur Harmonie, Tonverhältnis.

Die Eichen über uns, der ganze Wald um und um gedrängt, alle einig einem einzigen Zwecke, sie stehen grad und aufrecht [241] nebeneinander. Jeder einzelne trägt die Liebe in seiner eignen Blüte, trägt die Liebe in sich – nur aus der Liebe konnten die Bäume erstehen, nur aus den Bäumen erstehet der Wald. Freunde sind sie alle, welche den Wald bilden; einzelne stehen sich näher, diese werden Freunde genannt. Aber alle, die sich so aneinander drängen, stören sich. Sie mögen noch so malerische Gruppen bilden, noch so schöne Lauben wölben, so ist dieses doch nur für andere.

Zwei dringen selten zugleich hervor, denn einer opfert sich immer dem andern, seinem eignen Leben zum Trotze, das zum Himmel in die Höhe sollte, zu atmen und zu duften.

Nebeneinander stehen, vereint grünen oder welken, alles das gehört zum Walde; sterben früher oder später, sich erkennen und zur selben Gattung gehören, das alles gehört zur Freundschaft.

Wer den größten heiligsten Zweck hat, der hat die gebildetsten und treuesten Freunde, denn an dem Höchsten arbeitet nur die Wahrheit. Ob sich nun die Freunde kennen oder nicht, das ist gleichviel; ja sich nicht zu kennen und in allgemeiner Menschenliebe fortbrennen, ist bei gehörigem Maß und Ziel wohl das Schönste, denn das allzu innige und angepriesene Freundschaftswesen wird meistens nichts anders als ein abgekartetes Spiel, einander freundschaftlich zu hudeln, und ist mir immer wie ein Produkt der langen Weile oder des Kurzweils erschienen.

Das letztere wäre wohl das Beste, wenn doch eins von beiden sein sollte, denn es liegt etwas äußerst Komisches darin, mit großen, herrlichen Empfindungen vereinigt zu sein, um kleine lustige Empfindungen zu gewinnen, und dieses scheint mir die einzige Art von Freundschaft, die unsern großatmichten Jünglingen zu erlauben wäre, denn sie lernten dadurch die Würde des kleinen und bloß scherzhaften, des reinen Spieles oder Spaßes kennen, da sie doch zu glauben scheinen, die Freundschaft gehe allein und schnurstracks zum Tragischen hinauf. Auch kann man allerdings in einer solchen kurzweiligen Freundschaft vieles lernen, man übt sich hier an einem tausendfachen Stoffe, dem die Ungeschicklichkeit der Behandlung nicht schadet.

[242] Ein junger Stümper voll Drang und Eifer, und dadurch um so tölpischer, soll sich [nicht] an einem kararischen Marmorblocke üben, um den Stoff eines Meisterwerks zu zerstören; er mag die ersten Schläge seines Meißels an einem Sandsteine mildern, und ein fröhliches Bild hauen, dem es auf einen Buckel nicht ankömmt, und an dem er seiner Ungeschicklichkeit lachend genießt. Dieses letztere ist der erste Schritt zu jeder Kunst und auch der des Lebens. Wir sollen Freunde werden lernen durch Geselligkeit, denn die Freundschaft ist nichts als Geselligkeit unter ernstern Umständen.

Die andere Gattung aber oder die innige Freundschaft aus langer Weile will nie etwas von ihrer Mutter wissen, und kann auch nicht wohl, denn sie müßte sonst von sich selbst wissen. Sie ist nämlich die lange Weile selbst, und zwar eine der gediegensten Arten, jene langwierige erbliche, die sich ewig erklären will und wie blinde, stumme und taube Seuche herumkriecht.

Zwei Menschen, die nichts zu tun haben, was können sie Schlechteres oder Besseres anfangen als Freundschaft, und solche nun sind es, denen ich jene innige brennende Freundschaft vorschlagen möchte; da sie selbst so leer sind, mögen sie es in der Form wieder einbringen, mögen sich den ganzen Tag umarmen.

Zu dieser Art Menschen gehöret eine gewisse Gattung, die Sie sehr gut kennen, mein lieber Haber, ich meine den jugendlichen philosophischen Anflug der letzten fünf Jahre. Diese Menschen sind in ihrer ganzen Jugend in einem geräuschvollen Veranstalten ihrer Jugend begriffen, und zernichten sich einer in dem andern. Ewiges Umklammern ist der Charakter ihrer Freundschaft, und wenn sie aufhören sich zu umfassen, so hat sicher ihre Verirrung gesiegt, denn dieses Umfassen ist ein Streich, den ihnen die Natur noch spielte, die sich immer an die Gestalt hält. Da ihr inneres Wollen und Treiben aber ganz gestaltlos und daher langweilig ist, so müssen sie sich in solcher Freundschaft entschädigen.

So wie bei den Griechen, die das gestaltvollste Volk waren, es wirklich eine bloße Gestaltenliebe gab, die Knabenliebe, eine künstlerische bildende Verirrung, ebenso liegt in diesen Menschen, welche die gestaltlosesten sind, eine Gestaltenfreundschaft,[243] die ewig Verderbtheit bleiben wird, indem sie eine krankhafte Metastase der Liebe in die Freundschaft, ein unglückliches Vermischen der heiligen ersten Ursache mit dem geselligen Zwecke ist.

Erlauben Sie mir, Ihnen die Geschichte jenes jungen philosophischen Anflugs in einer Parabel zu erzählen:

Ein frommer und tapferer Held, im Herzen für den Glauben brennend, forderte seine Brüder auf, das heilige Grab des Erlösers aus der schändenden Gewalt der Ungläubigen zu befreien. Mächtig war seine Rede und hinreißend, von allen Seiten strömten ihm an An dacht, Gesundheit und Kraft gleiche Seelen wie Wogen entgegen. Alle zogen seinen Weg, ein stürmendes Meer, das sich gegen Orient wälzte.

Unter dem versammleten Volke, das des Helden Rede verschlang, befand sich auch eine Schar junger Schüler und unerfahrner Neubekehrten. Leicht, wie jugendliche Gemüter hingerissen werden, machte auf diese Jünger die glänzende, ergreifende Rede des frommen Helden einen heftigen Eindruck. Sie standen tief erschüttert, gerührt oder erregt, wie jedes einzelne Gemüt es werden konnte, unter den streitbaren Männern. Vorwärts strömte bald die Flut des frommen Krieges; aber man hatte vergessen, die Jünglinge zu ermahnen, wie sie sich zuerst durch tieferes Eindringen in die Geheimnisse des Glaubens weihen müßten, bevor sie an dem heiligen Werke teilnehmen könnten.

Sie sahen das Bild des Kreuzes in den wehenden Fahnen, sie sahen die heiligen Zeichen der Erlösung von allen Waffen und Werkzeugen des frommen Bundes strahlen, und längst war der heilige Zug schon über Berge und Meere, als sich in hitziger Ungeduld die phantastischeren unter ihnen erhoben mit dem Aufrufe, –

›Auf! auf! laßt uns im schönen Bunde der Freundschaft, dicht von Jugend umblüht, das heilige Grab erlösen, nach! dem heiligen Kreuzzuge.‹

Aus allen Studierwinkeln rannten die jungen Toren heran und schlossen sich an die Freunde. Sie bezeichneten ihre Schülermäntel mit dem Kreuzeszeichen und bestachen ihre kleinen Liebschaften, ihnen aus abgedankten seidenen Röckchen zierliche [244] Fahnen zu verfertigen. In einem lustigen Taumel voll kindischer Andacht und Prahlerei zogen sie auf demselben Wege, den die andern genommen und deren tiefe, ernste Fußtapfen ihnen als Führer dienten. Durch lustige Wiesen zogen sie hin, die Blumen zertretend oder als Futter ihren Eseln opfernd, deren sie viele bei sich hatten. Wahrlich die Besten im Zuge, denn sie waren doch bescheiden und führten des Haufens Nahrung mit sich. Da aber der Weg in der Folge schwerer zu erkennen war, ja wohl hie und da die Spuren vom Winde verwehet oder auf hartem Boden nicht sichtbar waren, blieben sie stehen, und stritten – wohin nun?

Früher schon hob sich der Unmut unter den Jüngsten, sie wollten nicht begreifen, was das heilige Grab ihnen nützen würde. Von den Mutigern verlacht, kehrten sie um, und kamen in die Heimat zurück, doch nicht ohne den Ihrigen lange ein Spott zu bleiben, denn sie hatten sich in die Sprache und Zeichen der Kreuzfahrer so eingewöhnt, daß sie alle Augenblicke irgend einen dummen Streich mit Kreuz und Fahne begleiteten, oder etwas ganz Gewöhnliches mit Sehnsucht nach dem Grabe Christi und tiefer Andacht vollbrachten.

Unter den übrigen, die weitergezogen waren, entstanden mehrere Sekten. Sie waren in der Nacht an einen großen Teich gekommen, den sie meistens für das Weltmeer hielten, denn es war dunkel, und ein schwerer Nebel lag auf dem entgegengesetzten Ufer. Die Stärksten unter ihnen hielten nun einen Rat, was zu tun sei, da sie keine Schiffe bei sich hätten, und der übrige Haufen stellte sich auch zusammen und hatte seine Redner.

So schwebte, ruhend die Fittiche, in unentschiedenem Fluge ihr Geschick –«

Fünftes Kapitel

Hier trat Godwi aus dem Gebüsche und sagte: »Lassen Sie die Kreuzfahrer so stehen und uns nach dem Jägerhause gehen, um etwas zu essen.«

Haber lächelte und ging mit. Er hatte mir gegenüber gestanden, an einen anderen Baum gelehnt in gebückter Stellung, und viel an seinem Stockbande gespielt.

[245] »Von Herzen gern,« sagte ich, »denn eigentlich fühle ich mehr Anlage zum Hunger als zur Allegorie.«

Godwi erwiderte: »Sie sollen uns dennoch Ihre Allegorie nicht schuldig bleiben, ich bin begierig, die Reden der einzelnen Haufen und das fernere Geschick der jungen Kreuzfahrer zu hören, unter denen Sie so artig die letzte akademische Generation verstecken. Ihre Ideen über Freundschaft gefallen mir, und es ließe sich darüber noch manches zwischen uns wechseln.«

»Sie haben das alles gehört?« versetzte ich beschämt, »das war etwas boshaft, ich glaubte nur vor meinem alten Bekannten so frei sprechen zu dürfen, und hatte die Nebenabsicht bei der Rede, einen Freund zu gewinnen.«

Hier versetzte er: »Wenn es diese war, so kann es sich bald entwickeln, ob Sie Ihre Absicht erreichten, und Sie sagten ja mit so vielem Nachdrucke – ob Sie sich kennen, ob Sie sich sehen oder nicht, das ist gleichviel – verzeihen Sie daher, daß ich mich versteckt hatte.«

Dabei war sein Blick fest, es war einer von den seltenen Blicken, die nur frühe Erfahrung geben kann. Der Blick eines Auges, das Blicke der Lust und des Rausches gegeben und genommen hatte, und nicht mehr begehrt, sondern bildet und begründet, der Blick eines Freundes. Wir erreichten bald den tiefsten Teil des waldigten Tales, und da wir noch einige Schritte links in das Gebüsche getan hatten, ertönten mehrere Jagdhörner auf eine sehr muntere Art. Es war eine rufende Melodie, und ich unterschied bald drei Hörner, die von verschiedenen Punkten aus sich in einem Wechselliede antworteten. Das Echo verdoppelte die Töne, und brachte in die gedrängte Melodie eine angenehme tonschimmernde Verwirrung. Bald schien sich auch das Echo zu verdoppeln und aus allen Tiefen des Waldes tönte es der Melodie nach, als ziehe ein geheimnisvolles musikalisches Leben durch die Wipfel der Bäume.

»Das Echo verdoppelt sich,« sagte Haber, »haben Sie es bemerkt?«

»O ja,« sagte Godwi, »ich habe das leider so oft bemerkt, daß mir durch die Gewohnheit die Rührung entgeht, welche alles Fremde, Geheimnisartige begleitet.«

Auch ich war durch den tönenden Wald wunderbar überrascht, [246] und fühlte, was die Alten in ihren Wäldern empfinden mochten, die noch mit Göttern belebt waren, welche in wunderbaren Waldstimmen um den Wanderer ertönten.

Ich mache hier noch die Bemerkung, daß in den Reden Godwis etwas Trocknes, Ernstes und Bewunderungsloses lag. Er zeigte jene Art von Ruhe, von der die Erfahrung begleitet wird, und welche die muntere offene Jugend mit dem Stolze auf ihre wenigen errungenen Begriffe nicht reimen kann, und die ihr daher drückend wird. Die Jugend sieht solche Wesen wie den traurigen Vorwurf der Menge an, die sie noch zu erringen hat. Ein solches Wesen wird ihr geheimnisvoll und erdrückt durch seine anspruchlose Strenge ihre Wißbegierde. Wenn ich mit meinem muntern, schnellen Sinne eine Zeitlang gelehrte und vortreffliche Freunde erfreut habe, die sich vertraulich zu mir herablassen, und ich in ihrem Umgange vergessen habe, wie weit mehr sie umfassen als ich, so befinde ich mich wohl auch oft in solcher Jugendlichkeit, denn ich darf nur irgend ein Werk solcher Freunde in die Hand nehmen, um jene Bangigkeit zu empfinden, oder habe ich gar das Unglück, mit einer solchen leichtsinnigen Fröhlichkeit in eine große Bibliothek zu treten, so werde ich ganz zertrümmert und empfinde einen recht panischen Schrecken.

Als wir in einen Winkel gekommen waren, wo sich die Wildnis immer mehr drängte und der Weg sich verlor, sprach Haber:

»Nun haben wir uns verirrt, die geheimnisreiche Musik hat uns irregeführt, denn dies ist nimmermehr der Weg nach dem Jägerhause.«

Godwi lächelte und sagte:

»Hier haben wir keine Hülfe als die Hülfe aller Menschenkinder, wir müssen zurückkehren oder, sind wir fromm, die Unsterblichen anrufen, dies nun ist die Sache der Dichter. Lassen Sie uns daher unter die große Eiche treten, die hier neben dem Gebüsche steht.«

Da wir einige Schritte durch das Gebüsch getan hatten, waren wir unter der großen Eiche; ich erinnere mich, nie eine solche Säule des Himmels gesehen zu haben, sie quoll wie ein ungeheurer Strom aus der Erde, und zerstreuete ihre grünen Flammen in den Himmel.

[247] Haber fragte, in welchem Silbenmaße er beten sollte, in Stanzen oder Sonetten?

Godwi lächelte, und ich sagte: »Überlassen Sie mir das Gebet, mein Hunger wird mich ein kräftiges lehren, und wenn es mein Eifer nicht ungereimt macht, so soll es doch sicher reimlos sein.« Dann sprach ich:


Unter des lebenden
Grünenden Tempels
Flüsternde Hallen
Komme ich irrend.
Wie sich die Eiche
Himmelwärts türmet,
Wie in dem Gipfel
Ruhet des mächtigen
Jupiters Fuß.
Und in dem Herzen
Fühl ich die Nähe
Heiliger Wesen,
Die durch die Zweige
Zu dem Olympos
Wandeln empor.
Führt mich, ihr friedlichen
Geister des Haines,
Die mich umschweben
Lachend und rufend,
Führt mich zurück.
Irrende, flüchtige,
Tönende Geister,
Die ihr mit schäkernden
Lispelnden Worten
Irr mich geführt.
Hier wo in mondlichen
Nächten ihr rauschet
Und um die wohnsame
Herrliche Eiche
Tanzend euch schwingt;
[248]
Wo ich im Taue
Freudigen Grases
Von euren flüchtigen
Goldenen Sohlen
Ehre die Spur, –
Hört mich ihr freundlichen,
Die ihr verlorene
Götter gepfleget,
Die ihr die fliehende
Daphne umarmt.
Frohe, geheime,
Lindernde Geister,
Die in des Waldes
Rührigen Schauer
Weben den Trost.
Mächtige, lebende,
Stärkende Geister,
Die in der Stämme
Alter und Jugend
Bilden die Kraft.
Wenn ich je frevlend
Eure geheiligten
Stämme verletzet,
O! so verdorre
Welkend die Hand.
Nimmer auch höhnt ich
Echo die Jungfrau,
Die mit euch wohnet,
Teilt ihr vertraulich
Liebe und Schmerz.
Führet mich heimwärts!
Bin nur ein Wandrer,
Bin kein Unsterblicher,
Der mit ambrosischen
Bissen sich nährt.
[249]
Wisset, mich hungert,
Führet mich heimwärts,
Daß ich dem Freunde
Von der Dryaden
Hülfreicher Güte
Bringe die Mär.

Während meinem Gebete hörten wir verwirrte Stimmen jenseits der Eiche.

»Der betet, glaube ich,« sagte eine Stimme, »wer mag das wohl sein?«

»Ein Narr« – erwiderte die andere.

»Gott gebe, daß er ihn erhört«, sagte die erste Stimme.

»Daß wer ihn erhört?« fragte die zweite.

»Ei nun, Gott« –

»Das ist ja dumm, Gott soll geben, daß Gott ihn erhört; es wäre wohl besser, Gott erhörte ihn, damit er ihm gleich was gebe.«

»Flametta, Flametta, du spaltest die Worte wieder.« –

»Das Spalten macht mir vielen Spaß, wenn ich deinen Verstand dazwischenklemmen kann, und sollte ich es allein tun, um dich empfinden zu lassen, wie es den Tieren zu Mute ist, die du lieber in Fallen fängst, als sie, wie ich, rechtlich totzuschießen. Glaubst du mich auch so zu fangen? Das lasse dir nur vergehen.«

Sechstes Kapitel

Hier ging plötzlich eine Tür auf, die in der großen Eiche versteckt war. Godwi hatte mit uns gescherzt. Es war diese Eiche der Eingang eines Parkes, der an die hintere Seite des Jägerhauses angrenzte und Habern noch nicht bekannt war.

»Mich bekömmst du nimmer so«, sagte das Mädchen Flametta, das hinter der Eiche stand und lief davon, als sie uns durch die Türe eintretend bemerkte.

Ein Jägerbursche, der uns nicht so früh gesehen hatte, rief: »Freilich, du bist schneller als ein Reh, und wenn du läufst, kriege ich dich nimmer« – nun bemerkte er uns und lief auch davon.

[250] Godwi rief ihnen beiden nach, aber sie hörten nicht. »Es ist eigen,« sagte er, »wie man nimmer den geringeren Ständen die Scheue nehmen kann; es liegt ihnen mehr Genuß in der Freiheit, davonlaufen zu können, als in der, sich nähern zu dürfen. In jedem Menschen liegt eine ewige Rache gegen die Bestimmung seiner Geburt, und aus dieser Rache läßt sich mehr Kraft und Vollkommenheit erweisen als aus jeder Art der Toleranz.«

Haber meinte, es sei Mangel an Bildung der Menschen.

Ich meinte, es sei Mangel an Bildung der Stände, die zu sehr durch bloße menschliche Bedürfnisse und zu wenig durch ihre innern Standesbedürfnisse verbunden seien, so daß die Stände die Menschen trennten und die Bedürfnisse allein sie vereinigten.

Der Park, in dem wir waren, war nichts anders als der kräftigste Teil des Waldes, ein kleiner Eichenhain. Alle Stämme waren voll gesunden Lebens, wie eine Versammlung der Bürger einer großen Republik standen sie da, alle voll Selbstgefühls und eignen Sinnes, doch nur eine Absicht.

Godwi sagte zu Haber: »Sehen Sie, diese sind Freunde, wie man es sein soll.«

Ich fragte ihn, wie diese brave, wackere Gesellschaft zusammengekommen sei.

»Es sind lauter Antiken,« erwiderte er, »bis auf einige neue, die mein Vater gepflanzt hat, und dann noch eine junge Zucht von Flametten.«

Wir waren wenige Schritte gegangen, als durch die grüne Nacht eine glänzende weiße Fassade hervorbrach.

»Wundern Sie sich nicht,« sagte Godwi zu Haber, »dies ist der hintere Teil des Jägerhauses, von einem Italiäner für meinen Vater angelegt, der in der letzten Zeit viel bauete.«

Wir traten durch den geräumigen, luftigen Eingang, an dem keine Tür war, und links in einen runden gewölbten Saal. Der Türe des Saales gegenüber sprudelte ein Wasserfall über einen Haufen moosigter Steine nieder. Das Fenster, wodurch man ihn sah, gab dem Saale allein Licht, außer einigen grünen Scheiben, welche von oben herab einen anmutigen Schimmer ergossen. Die Wände ringsherum waren täuschend mit Gebüschen bemalt, die oben an der Kuppel zusammenliefen und das Ganze [251] einer Laube ähnlich machten. An dem Fenster standen zierliche Vasen, und als ich sie betrachten wollte, bemerkte ich, daß dieses kein Fenster war, sondern ein großer Spiegel, dem das Fenster, durch welches der Wasserfall erschien, gegenüberstand. Es war über der Türe angebracht und fiel nicht in die Augen. In der Mitte des Saales stand ein kleiner marmorner Tisch, der schon gedeckt war.

Wir legten unsere Mordgewehre ab, und erfrischten uns mit dem Wasser, das an der einen Wand des Saales in einem Becken von grünem Glase unter einem Haufen von Früchten hervorquoll, die auch aus grünem Glase von verschiedenen Lichtstufen sehr künstlich gebildet waren. Die Früchte drangen unmittelbar aus der Wand hervor, und lagen in schöner Unordnung übereinander. Die Mitte nahmen einige große Trauben ein, und um sie drängten sich andere Früchte; über den Trauben lag ein Lorbeerkranz, auf dem ein Schmetterling saß.

Als ich das kunstreiche Werk betrachtete, sagte Godwi, das alles wäre recht gut: »Wenn nur der Schmetterling nicht der Hahn wäre, der den Strahl des Wassers schließt und öffnet, und der Lorbeerkranz nicht die Wasserröhre verbärge, aus der die Ströme hervorrinnen und über die Früchte laufen, besonders die Traube setzt er unter Wasser.«

»Ja,« sagte ich, »er liegt über der Traube wie ein schlechtes Trinklied, das uns den Wein verdirbt. Es ist viel Unschuld oder Bosheit in der ganzen Idee.«

Hier nahm Godwi ein kleines silbernes Jagdhorn von der Wand und tat einige helle Stöße hinein, die wie Flammen an der Kuppel durch die grünen Wände hinaufliefen.

»Die Töne sind ein wunderbarer lebender Atem der Dunkelheit«, sagte ich; »wie alles rauscht und lebt und mit uns spricht in dem heimlichen Saale, den die Töne wie glühende Pulsschläge durchzuckten.«

Godwi sagte: »Die Töne sind das Leben und die Gestalt der Nacht, das Zeichen alles Unsichtbaren, und die Kinder der Sehnsucht.«

Es traten einige reinlich gekleidete Jäger herein, und trugen Speisen und goldenen Rheinwein auf. Godwi sagte ihnen, sie möchten die Speisen hinstellen, und uns dann an dem Wasserfalle [252] etwas singen und blasen. Er gab ihnen das silberne Horn dazu, und sagte ihnen, sie möchten Flametta bitten, ihr Konzert zu unterstützen.

Wir machten uns nun herzlich über die Gerichte her, und besonders hielt Haber ein schreckliches Gericht über sie, er sagte:

»Es ist nichts Vortrefflicheres in der Welt als der Geschmack so eines wilden Schweinkopfs.« Man verzehrte ihn so siegreich wie ein Indianer seinen skalpierten Feind.

»Das Essen überhaupt ist das wahre erste Studium«, sagte Godwi; »in einer recht gründlichen Naturlehre müßte die erste Einteilung sein – dies kann man essen, und dies nicht.«

Ich setzte hinzu, daß recht vernünftig Essen zum vollkommnen Menschen gehöre, und daß, wer nicht mit ernstlicher Freude esse, weder ein guter Philosoph noch Dichter sein könne.

»Wie die Helden im Homer zugreifen«, sagte Haber.

»Rechten Hunger haben, heißt viel Anlage haben, und verhungern, heißt eine größere Anlage haben als die gegenwärtige Bildung«, sagte Godwi.

»Und der ist der vernünftigste Esser,« fügte ich hinzu, »der die Bildung durch seinen Hunger so lange steigert, bis sie ihn sättigt.«

Hier brachte Haber Goethens Gesundheit aus, wir tranken rundum aus voller Seele und vollen Bechern, und ich sagte: »Es ist seltsam, mit dieser Gesundheit ist mein Mahl geschlossen, ich bin ordentlich satt.«

Siebentes Kapitel

Nach Tische hörten wir einige Waldhörner, die lustig erklangen. Godwi sagte: »Wir wollen uns gegen den Spiegel wenden, da werden wir unser Orchester besser sehen können, und besonders Flametta, die ein sehr schönes Mädchen ist, und sich bei solchen Gesängen öfters sehr reizend dekoriert.«

Wir warteten auch nicht lange, als wir an dem Wasserfalle einen zahmen Hirsch trinken sahen. Er hatte ein blankes Halsband [253] mit Schellen an, und sah sehr zierlich aus. Er drehte sich um und sah zu uns herein. Godwi gab ihm etwas Brot, und er guckte uns mit seinen hellen freundlichen Augen groß an, dann rief ihn Flametta und er lief wieder weg.

Godwi sagte: »Das gehört sicher zu dem Liede, und wir können uns nun von Flametta etwas Dramatisches erwarten.«

Nun begannen die Hörner wieder ein lustiges Jagdlied zu blasen, verloren sich dann in der Ferne, und ahmten das Echo nach, als ob eine Gesellschaft Jäger auszöge, dann verstummten sie ganz, und an dem Wasserfalle erschien eine liebliche Maske.

Flametta war es, sie hatte sich in einen jungen Jäger verkleidet. Ein grünes Mäntelchen hing schön geschürzt über ihren Schultern. Die kräftigen Hüften hatte sie mit weißen Puffen bedeckt. Sie setzte sich, und streckte die schlanken behenden Beine nachlässig an den Boden. Ihr hoher Hals drang stolz aus dem strengen Dianenbusen, den sie leider aus Kostüm soviel als möglich verbarg. Sie wußte wohl nicht, wie gern solche Fehler übersehen werden. Sie stützte das trotzige freie Köpfchen, auf dem sie einen schönen Kranz von frischen Blättern und Flittergold trug, in die Linke, und warf mit der Rechten Bogen und Pfeil von sich.

Indem sie sich über das Wasser beugte und ihre Worte mit gelinden Bewegungen begleitete, sang sie mit heller klingender Stimme, und die Hörner tönten leise nach.


Cyparissus:

Nicht lachen mehr, nicht singen mehr,
Nicht mehr in Wäldern jagen,
Still sitzen hier und klagen,
Weil ich nun mein Hirschlein geschlagen tot.
Wollt eilen hin, wollt eilen her,
Könnt einer mir nur sagen,
Daß ich es nicht erschlagen,
Daß ich nicht vergossen sein Blut so rot.
O böse Jagd! o böser Pfeil!
Mit liebem Blut gerötet,
[254]
Mein Freund hab ich getötet,
Der um mich verlassen die Freiheit sein.
Nicht lachen mehr, nicht singen mehr,
Nicht mehr in Wäldern jagen,
Still sitzen hier und fragen,
Wer hat erschlagen das Hirschlein mein?
O Sonnenschein! o heißer Schein!
Hier sitz ich an der Quelle,
Wo in dem Wasser helle,
Das Hirschlein sah sein güldin Geweih.
Was rauschet wohl, was blinket fein?
Was brauch ichs dann zu hören,
Mein Hirschlein kann nicht kehren,
Es ist ja tot und blinket nicht meh'.
Welch hoher Schritt, welch güldner Schein!
Zwei Hörner seh ich blinken,
Mein Hirschlein kömmt zu trinken,
O Freude groß! daß ich es noch seh.

Hier trat der Jägerbursche mit einer goldenen Leier auf. Flametta hatte ihn als Phöbus maskiert. Flametta, welche den Cyparissus vorstellte, glaubte nach der Wendung ihres Liedes, als sie die Leier blinken sieht, es sei das Geweih ihres Hirschleins.


Phöbus:

O Cypariß! du holder Knab!
Dein Hirschlein ist im Walde,
Mein hoher Tritt so schallte,
Mein güldin Leier gab solchen Glanz.
Seit ich dich nicht gesehen hab
Und hier bei dir gesessen,
Hast du mich schon vergessen,
Und flochte dir doch den grünen Kranz.

Flammetta nahm hier den grünen Kranz und warf ihn in das Wasser, wobei ihr die schönen langen Haare herabflossen.


[255]

Cyparissus:

Den grünen Kranz will ich nicht mehr,
Und bist du nicht mein Hirschelein,
Und gehe und laß mich nur allein,
So habe ich es doch geschlagen tot.
Phöbus:
Deins Hirschleins Tod verdrießt mich sehr,
Will dir ein andres suchen,
In Eich' und grünen Buchen,
Vom Morgen bis zum Abendrot.
In heißer Sonn, in kühler Nacht,
Will ruhn in keiner Stunden,
Bis ich ein solches funden,
Damit ich tröste dein'n bittern Schmerz.
Cyparissus:
In heißer Sonn, in kühler Nacht,
Kannst keins du je erjagen
Wie meins, das ich erschlagen,
Dem ich durchstochen sein treues Herz.
Verlassen hats sein'n freien Stand,
Von selbst kam es gegangen,
Ich hab es nicht gefangen,
Ein'n treueren Freund giebt es wohl kaum.
Am Halse trugs ein güldin Band,
Mit Schellen auch von Golde,
Und wenn ich reiten wollte,
Legt ich ihm auf ein'n Purpurzaum.
Ihm war vergüldt sein hoch Geweih,
Daß mit den vielen Enden
Es alles mocht verblenden,
Wann es rannte durch den dunklen Wald.
Es schien, als obs ein Blitzstrahl sei,
In seinen Ohren hinge
[256]
Von Perlin ganz ein Ringe,
So war geziert seine hohe Gestalt.
Phöbus:
O Cypariß! Du holder Freund!
Ich geb dir Pfeil und Bogen,
Mit Gold ganz überzogen,
O höre doch auf betrübt zu sein.
Dein schöne Augen sind ganz verweint,
Von deinen süßen Wangen
Ist ganz das Rot vergangen,
Und deine Lippen sind so voll Pein.
Komm, geh mit durch den dunklen Wald,
Den wilden Schmerz zu kühlen,
Will singen dir und spielen,
Komm und vergesse dein Hirschelein.
Cyparissus:
Dein Pfeil und Bogen nur behalt
Und in den Wald alleine geh,
Denn ich vergeß es nimmermeh,
Und sterbe hier voll großer Pein.
Will setzen zu dem Hirschlein mich,
Am heißen Mittag, wenn alles schweigt,
Will ruhen da,
Will sterben da,
In der Einsamkeit will ich sterben,
Meine Gedanken ganz traurig,
Will sterben bei dem Hirschelein.

Hier verließ Phöbus und Cypariß die Szene. Die Waldhörner spielten eine traurige Weise, und mehrere Stimmen sangen, ohne gesehen zu werden, folgendes Chor:


Da saß der Jüngling und weinte,
Der Gott konnt ihn nicht trösten,
Und mocht nicht, daß er leide.
[257]
Da macht er ihn aus Liebe
Zu einer Trauerweide.
Des Baumes Zweig' sich senken
Und scheinen still zu denken
Und leis herabzuweinen,
Cypressus er nun heißet.

Hier war das Fest zu Ende, und alles schwieg still. Die Sonne hatte recht gut dekoriert. Im Anfange schien sie ganz heiß auf den Wasserfall und zog dann mit dem Gesange davon. Sie ging von der Seite des Phöbus, so daß Cypariß nach und nach ganz in den Schatten kam und auch der Saal viel düstrer ward.

Achtes Kapitel

Wir waren alle durch Flamettens Lied bewegt. Godwi allein äußerte nichts Bestimmtes. Es schien mir überhaupt, als habe er ein ganz eigenes Instrument im Busen, und seine Rührung sei sich stets gleich. Er hat sein Leben einer schönen Erinnerung hingegeben, und was ihn rührt, schlägt diese an, dennoch hat er ein gesundes originelles Urteil. Diese Originalität aber besteht aus einem einzigen großen Eindruck in seinem Inneren, von dem er immer seinem Urteil einen Klang mitgiebt und es so stempelt. Unsere Äußerungen über das Lied Flamettens führten uns zu einem allgemeinen Gespräche über das Romantische, und ich sagte:

»Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem Seinigen mitgiebt, ist romantisch.«

»Was liegt denn zwischen Ossian und seinen Darstellungen?« sagte Haber.

»Wenn wir mehr wüßten,« erwiderte ich, »als daß eine Harfe dazwischenliegt, und diese Harfe zwischen einem großen Herzen und seiner Schwermut, so wüßten wir des Sängers Geschichte und die Geschichte seines Themas.«

Godwi setzte hinzu: »Das Romantische ist also ein Perspectiv [258] oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases.«

»So ist nach Ihnen also das Romantische gestaltlos,« sagte Haber, »ich meinte eher, es habe mehr Gestalt als das Antike, so, daß seine Gestalt allein schon, auch ohne Inhalt, heftig eindringt.«

»Ich weiß nicht,« fuhr ich fort, »was Sie unter Gestalt verstehen. Das Ungestaltete hat freilich oft mehr Gestalt, als das Gestaltete vertragen kann; und um dieses Mehr hervorzubringen, dürften wir also der Venus nur ein Paar Höcker anbringen, um sie romantisch zu machen. Gestalt aber nenne ich die richtige Begrenzung eines Gedachten.«

»Ich möchte daher sagen,« setzte Godwi hinzu, »die Gestalt selbst dürfe keine Gestalt haben, sondern sei nur das bestimmte Aufhören eines aus einem Punkte nach allen Seiten gleichmäßig hervordringenden Gedankens. Er sei nun ein Gedachtes in Stein, Ton, Farbe, Wort oder Gedanken.«

»Es fällt mir ein Beispiel ein,« versetzte ich, »verzeihen Sie, daß es die so sehr gewöhnliche Allegorie auf die Eitelkeit der Welt ist. Nehmen Sie eine Seifenblase an, denken Sie, der innere Raum derselben sei ihr Gedanke, so ist ihre Ausdehnung dann die Gestalt. Nun aber hat eine Seifenblase ein Moment in ihrer Ausdehnung, in der ihre Erscheinung und die Ansicht derselben in vollkommner Harmonie stehen, ihre Form verhält sich dann zu dem Stoffe, zu ihrem innern Durchmesser nach allen Seiten und zu dem Lichte so, daß sie einen schönen Blick von sich giebt. Alle Farben der Umgebung in ihr schimmern, und sie selbst steht nun auf dem letzten Punkte ihrer Vollendung. Nun reißt sie sich von dem Strohhalme los, und schwebt durch die Luft. Sie war das, was ich unter der Gestalt verstehe, eine Begrenzung, welche nur die Idee festhält, und von sich selbst nichts spricht. Alles andere ist Ungestalt, entweder zu viel, oder zu wenig.«

Hier versetzte Haber: »Also ist Tassos Befreites Jerusalem eine Ungestalt« –

»Lieber Haber,« sagte ich, »Sie werden mich ärgern, wenn Sie mir nicht sagen, daß Sie mich entweder nicht verstehen, oder mich nicht ärgern wollen.«

»Ärgern Sie sich nicht,« erwiderte er, »denn ich tue weder das eine, noch will ich das andere, aber mit Ihrer Ungestalt des [259] Romantischen bin ich nicht zufrieden, und setzte Ihnen grade den Tasso entgegen, da ich ihn kenne, und leider nur zu sehr empfinde, wie scharf und bestimmt seine Gestalt ist. Das fühle ich nur zu sehr, da ich damit umgehe, ihn einstens zu übersetzen.«

»Daß Sie es zu sehr fühlen, ist ein Beweis für mich«, sagte ich; »die reine Gestalt fühlt man nicht zu sehr; und nehmen Sie sich in acht, daß Sie es auch den Leser Ihrer Übersetzung nicht zu sehr fühlen lassen, denn nach meiner Meinung ist jedes reine, schöne Kunstwerk, das seinen Gegenstand bloß darstellt, leichter zu übersetzen als ein romantisches, welches seinen Gegenstand nicht allein bezeichnet, sondern seiner Bezeichnung selbst noch ein Kolorit giebt, denn dem Übersetzer des Romantischen wird die Gestalt der Darstellung selbst ein Kunstwerk, das er übersetzen soll. Nehmen Sie zum Beispiel eben den Tasso; mit was hat der neue rhythmische Übersetzer zu ringen? Entweder muß er die Religiosität, den Ernst und die Glut des Tasso selbst besitzen, und dann bitten wir ihn herzlich, lieber selbst zu erfinden; hat er dieses alles aber nicht, oder ist er gar mit Leib und Seele ein Protestant, so muß er sich erst ins Katholische übersetzen, und so muß er sich auch wieder geschichtlich in Tassos Gemüt und Sprache übersetzen, er muß entsetzlich viel übersetzen, ehe er an die eigentliche Übersetzung selbst kömmt, denn die romantischen Dichter haben mehr als bloße Darstellung, sie haben sich selbst noch stark.«

»Bei den reinen Dichtern ist dies der Fall wohl nicht,« sagte Haber, »da sie doch noch etwas weiter von uns entfernt sind.«

»Nein,« erwiderte ich, »obschon sie etwas weiter von uns entfernt sind, und grade deswegen nicht, weil diese große Ferne jedes Medium zwischen ihnen und uns aufhebt, welches sie uns unrein reflektieren könnte. Die Bedingnis ihres Übersetzers ist bloße Wissenschaftlichkeit in der Sprache und dem Gegenstande, er darf bloß die Sprache übersetzen, so muß sich seine Übersetzung zu dem Original immer verhalten, wie der Gipsabdruck zu dem Marmor. Wir sind alle gleichweit von ihnen entfernt, und werden alle dasselbe in ihnen lesen, weil sie nur darstellen, ihre Darstellung selbst aber keine Farbe hat, weil sie Gestalt sind.«

[260] Godwi sagte scherzend: »Nun also, lieber Haber, fangen Sie nur vorher an, sich zu übersetzen, schwerere Kontraktionen wollen wir Ihnen erläutern helfen, und tiefe Stellen, sollten welche vorkommen, müssen Sie erst in Konfessionen ergießen, um sie ans Licht bringen zu dürfen. Denn, übersetzen Sie sich nicht zuerst, so möchte, für alle die Religiosität, den Ernst und die Glut Tassos, liebenswürdiger Atheismus, süße Prosa und jene in den Musenalmanachen so häufige ästhetische Glut, Äther-Glut, Rosen-Glut oder Johanniswürmchen-Glut hervorkommen.«

»Die Reime allein schon«, fuhr ich fort, »sind in unserer Sprache nur als Gereimtes wiederzugeben, und ja, sehen Sie, eben diese Reime schon sind eine solche Gestalt der Gestalt, und wie wollen Sie das alles hervorbringen? Der italiänische Reim ist der Ton, aus dem das Ganze gespielt wird. Wird Ihr Reim denselben Ton haben? Ich glaube nicht, daß Sie ein solcher Musiker sind, der aus allen Tonarten und Schlüsseln auf ein andres Instrument übersetzen kann, ohne daß das Lied hie und da stillsteht und sich zu verwundern scheint, oder seiner innern Munterkeit nach aus Neugierde mitgeht und sich selbst in dem luftigen ästhetischen Rock, der hier zu eng und dort zu weit, überhaupt seinem Charakter nicht angemessen, so ein Rock auf den Kauf ist, wie einen Geniestreich ansieht oder, wird es blind, wie ein vortrefflicher Adler, dem man eine Papiertute über den Kopf gezogen hat, dumm in einer Ecke sitzt.«

Godwi lachte und sagte: »Eine Frage für ein Rezeptbuch – Wie übersetzt man einen italiänischen Adler ins Deutsche? – Antwort – Recipe eine Papiertute, ziehe sie ihm über den Kopf, so ist er aus dem Wilden ins Zahme übersetzt, wird dich nicht beißen; ja er ist der nämliche Adler, und zwar recht treu übersetzt.«

»Recht getreu,« sagte ich, »denn er sitzt nun unter den deutschen Hühnern recht geduldig und getreu, wie ein Haustier.«

»Jede Sprache«, fuhr ich fort, »gleicht einem eigentümlichen Instrumente, nur jene können sich übersetzen, die sich am ähnlichsten sind; aber eine Musik ist die Musik selbst und keine Komposition aus des Spielers Gemüt und seines Instrumentes Art. Sie erschafft sich da, wo das Instrument, der Tonmeister[261] und die Musik in gleicher Vortrefflichkeit sich berühren. Viele Übersetzungen, besonders die aus dem Italiänischen, werden immer Töne der Harmonika oder blasender Instrumente sein, welche man auf klimpernde oder schmetternde übersetzt. Man versuche es einmal mit dem Petrarch; wenn mehr herauskömmt als ein gereimtes Florilegium, an dem man die Botanik seiner Poesie studieren kann, wenn mehr herauskömmt als eine officinelle Übersetzung, wenn nicht jedes Sonett ein Rezept an ein Wörterbuch wird, wo man des Reimes wegen immer die Surrogate statt der Sache nehmen muß, statt Zitronensäure Weinstein, statt Zucker Runkelrüben, so will ich den Entschluß aufgeben, sollte ich je lieben, eine Reihe deutscher Sonette zu machen, die keiner ins Italiänische übersetzen wird.«

»Den Dante halten Sie denn wohl für ganz unübersetzlich«, sagte Haber.

»Grade einen solchen weniger,« fuhr ich fort, »ebenso wie den Shakespeare. Diese beiden Dichter stehen ebenso über ihrer Sprache wie über ihrer Zeit. Sie haben mehr Leidenschaft als Worte, und mehr Worte als Töne. Sie stehen riesenhaft in ihren Sprachen da, und ihre Sprache kann sie nicht fesseln, da ihrem Geiste kaum die Sprache überhaupt genügt, und man kann sie wohl wieder in einen anderen wackeren Boden versetzen. Es kann gedeihen, nur muß es ein Simson getan haben. Transportierte Eichen bleiben sie immer, an denen man die kleinen Wurzeln wegschneiden muß, um sie in eine neue Grube zu setzen. Die meisten anderen italiänischen Sänger aber haben ganz eigentümliche Manieren, die in der Natur ihres Instrumentes liegen, es sind Tonspiele, wie bei Shakespeare Wortspiele; Tonspiele können nicht übersetzt werden, wohl aber Wortspiele.«

»Wie sind wir auf die Übersetzungen gekommen?« sagte Godwi. – »Durch das romantische Lied Flamettens«, sagte ich. »Das Romantische selbst ist eine Übersetzung« –

In diesem Augenblick erhellte sich der dunkle Saal, es ergoß sich ein milder grüner Schein von dem Wasserbecken, das ich beschrieben habe.

»Sehen Sie, wie romantisch, ganz nach Ihrer Definition. Das grüne Glas ist das Medium der Sonne.«

[262]
Neuntes Kapitel

Es ging wirklich etwas Bezauberndes mit diesem Becken und seinen Früchten vor, und die Erscheinung war mir äußerst überraschend.

Die Früchte, die halb in der Wand verborgen waren, fingen allmählich an zu schimmern. Zuerst erleuchteten sich der Lorbeerkranz mit dem Schmetterlinge und die Trauben, ein dunkles ernsthaftes Grün, das endlich in verschiedene Stimmungen über die umgebenden Früchte zerrann. Dann glühte das ganze Becken in mildem grünen Feuer, und die schillernden Tropfen, die zwischen den Früchten hervordrangen, leuchteten und sammelten die verschiedenen Grade des Feuers in dem Boden des Beckens, das mit grünem Spiegel überzogen die immer gleiche Menge des Wassers mit einer zurückstrahlenden Seele belebte, und in dieser brannte das Ganze noch einmal reflektiert.

Wir standen alle erfreut vor dem großen Smaragde, der zu leben schien, und ich empfand in mir einen heftigen Eindruck, eine ganz wunderbare Sehnsucht.

»Ich wollte, das Ding schwiege still, erblaßte und verlöre seine Gestalt,« sagte ich, »denn eins allein von diesen könnte ich nicht sagen. Hier ist Ton, Farbe und Form in eine wunderliche Verwirrung gekommen. Man weiß gar nicht, was man fühlen soll. Es lebt nicht und ist nicht tot, und steht auf allen Punkten auf dem Übergange, und kann nicht fort, es liegt etwas Banges, Gefesseltes darin.«

»Aufhören wird es bald,« sagte Godwi, »wenn sich nur die Sonne wendet. In der Einrichtung liegt das Schöne, daß es mit dem himmlischen Lichte in Verbindung steht. Wenn die Sonne sich wendet, verliert es sein Leben und stirbt.«

Bald wechselte die ganze Beleuchtung gleichsam stoßend, einmal, zweimal, und alles war vorüber.

Godwi erzählte uns, daß der verborgene Teil des Kunstwerks von außen der Sonne ausgesetzt sei, die, wenn sie auf einem gewissen Punkte stehe, durch mehrere geschliffene Spiegel, die im Inneren sehr künstlich angebracht seien, das Becken so erleuchte. Sein Vater habe eine Zeitlang viele Künstler um sich[263] gehabt, denen er vieles verdanke, und unter ihren Arbeiten seien auch manche, die ihm selbst wohltäten.

Ich fragte ihn: »Warum nur manche, da doch jedes schöne Werk ein allgemeines Gefallen zur Bedingung hat?«

»Mein Vater,« erklärte er, »wollte nicht das Schöne der Kunst, er wollte nur ihre Macht. Sie sollte ihm dienen, denselben Eindruck, den er wollte, ihm auf alle Arten zu geben. Sie sollte ihm etwas, was er gern vergessen hätte und nie vergessen konnte, seinem unerreichlichen Wunsche zum Trotze auf allen Seiten hinstellen. Nehmen Sie an, er habe sich vor Geistern gefürchtet und sie seien oft neben ihm getreten, so sei er nun aus Verzweiflung ein zweiter Faust geworden, habe die Geister zu sich gezwungen, um ihm zu dienen, habe sich unter sie gestürzt, um sie nicht zu fürchten. So ist er mit der Kunst umgegangen; alles, was er arbeiten ließ, umfaßte einzelne Ideen, von denen eine mich in meiner Jugend schon peinigte, und die mich jetzt, da ich sie kenne, da ich mich kenne, und meine Bestimmung, nur dann und wann rührt.«

Hier hielt er ein, und ich durfte ihn nicht fragen, denn mit seiner Rede war sein Schmerz gestiegen; aber Haber durfte ihn fragen, weil seine Neugierde größer war als seine Schonung; – »und diese Idee?« – sagte er.

Godwi sah ihn an, und sprach lächelnd: – »und diese Idee habe ich in meinen Worten ganz allein verhüllt, weil ich sie nicht sagen wollte.«

»Dies Becken aber, das uns soeben erfreuete,« fragte ich, »wie kam er zu diesem, warum bauete er den wunderbaren Saal, in dem wir sitzen, und das ganze Jägerhaus?«

Godwi erwiderte: »Er tat dieses einer gewissen Kordelia 2 wegen, die sich hier aufhielt, und auch hier gestorben ist, einem sehr merkwürdigen Weibe, durch seine so einseitige Anhänglichkeit an die tote Natur, daß es alle Menschen, und besonders die Männer, vermied. Diese Kordelia brachte ihre letzten Jahre hier zu. Sie war ein Jahr vor meines Vaters Abreise nach Italien in meiner Abwesenheit hierher gekommen. Mein Vater ließ ihr dieses Haus nach ihrer Phantasie erbauen. Sie starb unter freiem Himmel, und liegt hier im Walde begraben. Ich erbrach [264] ihren letzten Willen, der nichts enthielt als die Bitte, den versiegelten Schrank in ihrer Schlafstube nicht eher zu erbrechen, bis ihr eigentlicher Name bekannt sei, der immer noch verborgen ist. Dies einzelne Werk, das Becken, kaufte ich von einer emigrierten Familie auf meiner Reise. Es ist von einem Straßburger Künstler aus dem funfzehnten Jahrhundert, der nicht bekannt geworden ist, weil er mit seltsamen, ganz eigentümlichen Zwecken arbeitete. Alle seine Werke sind in einem solchen phantastischen romantischen Stil, und bezeichnen seinen wunderbaren Gemütszustand. Dieses Becken war ihm eigen geblieben, und seine Erben kannten den Gebrauch durch ihn. Da die Wirkung mir gefiel, kaufte ich es, und schickte es meinem Vater, der es Kordelien zur Freude hier anbringen ließ. Zu gleicher Zeit habe ich mancherlei Papiere dieses Künstlers gekauft, die wir einmal miteinander durchlesen wollen 3

Über diesem war es Abend geworden, und Haber erinnerte an das Heimgehen vor Nacht.

»Wenn es Zeit ist,« sagte Godwi, »kömmt mein Jäger von selbst, uns zu rufen. Er kennt unsere gewöhnliche Zeit, und überdies ist Flametta so spröde gegen ihn, daß er sicher früh genug aufgebracht sein wird, und dann wird er uns schon abholen; es wäre unfreundlich, ihn jetzt zu stören, da er bei dem Apollo uns zuliebe schon so viele Zeit versäumt hat.«

»Erzählen Sie uns doch etwas näheres von Flametta«, sagte ich.

Er erinnerte aber, ich sei die Rede der Kreuzfahrer noch schuldig, ich möchte diese nur erst sprechen lassen; denn es wäre äußerst unartig, solche entschlossene Jünglinge länger in der Beratschlagung stehenzulassen.

Haber sagte: »Ihr letzter Satz war –«

»So schwebte, ruhend die Fittiche, in unentschiedenem Fluge ihr Geschick.«

[265]
Zehntes Kapitel

Drei Haufen standen die Edeln am Ufer des Weltmeers. Nebel lag um sie her, und die Treuen sahen sich kaum untereinander, doch erkannten sie sich immer noch, wenn hie und da ein Wort aller im Enthusiasmus der Redner lauter schallte. Von dem einen Haufen hörte man unaufhörlich die Worte:

Kraft, Ideale Natur, Individualität.

Von dem andern die Worte:

Streben in sich zurück, Selbsterkenntnis, Tiefe, Fülle.

Und von dem dritten hörte man:

Lebensgenuß, Zurückreißen der Natur in sich, Verindividualisierung.

Endlich nun erstand ein Redner aus jedem Haufen. Der Redner der Tapfersten trat hervor, und rief aus:

»Dränget euch aneinander, ihr Freunde, ein einziger Wille, ein Phalanx dem Nebel, der uns neidisch einander entreißen will, ich habe ein Wort der Kraft an euch zu reden, welches gleich einem Magnete alle reine eisenhaltige Herzen an sich ziehen und zu einer Individualität vereinigen wird.« Die anderen näherten sich, ihre Redner an der Spitze, und der erste fuhr fort:

»Stehet fest, fest meine Freunde! lasset euch nicht irren – es gilt jetzt –

Ihr habt in der Kraft eurer idealen Natur eure Selbsten einer Aufgabe geweiht; was darf euch berechtigen, sie fallen zu lassen, als die Anschauung ihrer Nihilität –

Ich sprach mit euch, da ihr noch schwach waret; jetzt müßt ihr entern – das nenne ich, mit eigner Kraft eurer Selbst eueren Vorsatz und alle selbstgefundenen Mittel fassen, halten, durchführen; nur so seid ihr für den heiligen Krieg – oder diesen Gedanken in euren Seelen in den Abgrund der Vergessenheit senken, und alle Wellen eurer alten Gedanken über ihm zusammenschlagen lassen, wie die Wellen des vor uns liegenden Weltmeers über unsre streitglühenden Körper hinschlagen werden; denn wer dem Weltmeere die Brust nicht bieten mag, der ist kein Sohn seiner Mutter, die es tut, der Erde –

O ihr habt mich so oft angestaunt, da ich in objektiver Ruhe [266] unter euch wandelte; erschrecken werdet ihr, wenn ihr schwach seid, und ich handelnd auftrete.

Ergründet schnell eure Subjektivität, und sprechet mit Klarheit, ob ihr fähig seid, mit mir zu handeln?«

Hier hielt der edle Mann ein, einige riefen bravo! viele murrten, dann sprach ein anderer Redner. Mit der zärtlichen Undeutlichkeit eines menschenliebenden, aber ganz in sich allein zurückkehrenden Gemütes redete er alle an, indem er sich zu dem vorigen Redner wendete:

»In der Tiefe deiner Brust bemerke ich eine apriorische Anschauung unsers Zustandes, die du mit Recht als ein Produkt von dir selbst giebst, weil sie falsch sein dürfte für die Intensität vieler, die hier stehen und erkannt haben den Ursitz der Welt, und die einzige Straße nach dem Besitze und der Gabe.

Ich spreche daher zu jenen Glücklichen unter uns, deren Wesen dem unendlichen tiefen Milchbrunnen gleicht, von dem ein kindlicher Aberglauben sagt, daß die unschuldigen Kindlein aus ihm herauskommen, – zu jenen spreche ich, welche die Schöpfung in der Brust, in dem reinen tiefen Spiegel ihres Herzens tragen, und welche mit mir die tiefen Worte des begeisterten Helden, der damals so feierlich zu dem Volke sprach, verstanden haben. – Er selbst hat sich nicht verstanden, und war nur ein Organ der Religion, wie hätte er sonst nach seinen eignen Worten:

›Glaubet aber nicht, das Grab Christi sei außer euch, und es stehe zu erlösen im Kriege fanatischer Waffen – in euch selbst ist das Grab des Herrn, von den Sünden des Unglaubens geschändet, nur in euch könnt ihr es befreien, und die äußerliche Tat ist nur gesellschaftlich, in euch ist die Tiefe, die Fülle, die Klarheit, strebet in euch zurück, kommet zur Selbsterkenntnis.‹

Wie hätte er sonst nach diesen seinen Worten hin ziehen können in Unendlichkeit und leerem Streben der Individualität ins Universum.

Wohin fliehet ihr, ihr Geister! – in die Unendlichkeit? Diese Kraft, euch aufzuschwingen, gab euch die Natur – aber sie treibt euch auch in die Endlichkeit zurück – schon die unfreundlichen Wellen dieses Weltmeers tun es, und sind, obschon [267] sehr lange, doch wohl lange noch nicht die Natur – o Freunde, die ihr in euch, wie ich, den Lampenfunken des heiligen Grabes brennen sehet, bleibt zurück, denn das heilige Grab ist in euch – o! verliert es nicht in den Wellen, weil ihr es erobern wollt. Flattert nicht über die Endlichkeit hinaus, sonst werdet ihr bald, der Unendlichkeit müde, in eure Leerheit zurückkehren – durch inneres Vergraben erwerbet euch das heilige Grab – und schreitet so in ewiger Vertieferung in die Unendlichkeit dieses Grabes.

Wo wollt ihr euch aber finden, als in der Endlichkeit! Wo könnt ihr Kraft anwenden, als in dieser! – Überfliehet ihr sie, so stumpfen sich eure Kräfte mehr und mehr ab, es ist kein Rückhalt da, der euch festhalte, es ist kein Schiff auf diesem Weltmeere, und euer endloses Streben, eure schwimmenden Arme werden endlich doch in einen Wallfischmagen verendlicht, oder gar endlich als Fischtran auf Schuhen und Stiefeln, oder Fischbein in Schnürbrüsten (schreckliche Beschränkung schöner Weiblichkeit!) verindividualisieret werden.

Greifet ein in die Endlichkeit – suchet in euch das Ideal des heiligen Grabes, das eurem Wesen harmoniert; dieses fasset ganz, und alle Äußerungen, wonach ihr die Unendlichkeit modifiziert, seien euch nach diesem Ideale bestimmt. So könnt ihr das heilige Grab in euch erlösen, und von seiner Fülle, die sich in der Blüte ewiger Herrlichkeit erneuert und füllt, die Wunder auf alle andere durch euch ausströmen lassen.«

»Bravo, heiliger göttlicher Ausleger!« schrieen viele Stimmen mit einem seufzenden sehnsüchtigen Tone.

Der dritte Haufen und seine Redner hatten sich währenddem über den Mundvorrat in den Körben der Esel hergemacht, sie lagen umher und schliefen.

Pumps, pumps, pumps, tat es drei Schläge ins Weltmeer, die wenigen Anhänger des mutigen ersten Redners stürzten sich hinein.

Die Anhänger des zweiten traten dicht zusammen und umklammerten, einer dem andern in den Armen ruhend, die heiligen Gräber; unter diesen waren jene innigen, dringenden, brünstigen Freunde.

Sie zogen wankend feldein, und man hat weiter nichts von [268] ihnen gehört, als in einigen Volksromanzen, welche die Fischer und Schäfer dort singen, allerlei Überbleibsel ihres selbstischen Wahnsinnes. Auch sollen durch ihre fernern Taten fast alle Arten von Aberglauben, fliegende Drachen, Beischlaf des Teufels mit Hexen und besonders das Alpdrücken bei jungen schlafenden Frauenzimmern entstanden sein.

Die Eingeschlafenen aber erwachten den folgenden Morgen, und gingen langsam nach Haus. Sie leben nun in einer Art von Traum, aus ihren Krisen und aus den Volksliedern habe ich die Geschichte dieser entscheidenden Gemütsschlacht zusammengetragen.

Das Weltmeer aber war nichts als ein sumpfichter Fischteich, die Tapfern brauchten gar nicht zu schwimmen, und auf der andern Seite stand ein Wirtshaus, in dem sie sich es recht gut schmecken ließen. Auch fanden sie dort einige zurückgebliebene Bagagewagen des heiligen Zuges. Sie setzten sich mit auf, und kamen auch in den Krieg. Doch hat man von ihren Taten bis jetzt noch nichts gehört.

»Das wäre nun so ziemlich die Geschichte des philosophischen Anflugs der letzten Jahre.« –

Haber näherte sich mir, und wollte mich umarmen, aber ich trat zurück und sprach:

»Verbannen Sie diesen fabelhaften Zug von inniger Freundschaft aus Ihrem Gemüte; ich bin Ihr Freund und aller derer, die nach dem Bessern streben, oder die schon weiter sind als ich.«

Hier kam der Jägerbursche herein und fragte, ob wir nun gehen sollten.

»Was macht Flametta?« sagte Godwi.

»Sie hat bis jetzt nichts getan,« erwiderte er, »als mir gepredigt, daß ich den Apollo so schlecht gemacht habe. Sie behauptete, wenn sie ihren Aktäon aufführen würde, werde ich die Szene, wo mir die Hirschgeweihe wachsen würden, besser spielen. Ich sagte, sie solle sich mir nur einmal nackt im Bade zeigen, für die Hörner wolle ich schon sorgen; da gab sie mir eine Ohrfeige, die, wäre sie nicht auf das Ohr gefallen, leicht die Grundlage eines Hornes hätte werden können – und für diese Ohrfeige gab sie mir denn wieder einen Kuß; weil ich so [269] geduldig gewesen sei, sagte sie; und sauste mir die Ohrfeige in den Ohren, als knacke einer die Welt wie eine Nuß auf, so schmeckte auch der Kuß wie der Kern jener Nuß. Jetzt ist sie in dem Walde mit den Hunden und den kleinen Mädchen des Försters, denen sie das Fürchten abgewöhnen will, und wir müssen wohl auch gehen, wenn uns der wilde Jäger nicht die Haare versengen soll.«

Haber drang auch sehr aufs Gehen, und wir verließen mit dem Jäger das Haus.

Elftes Kapitel

Wir gingen, und die Nacht ging mit uns; um uns her küßte sie den Schatten des Waldes, und lag in dämmernder Liebe in den Gebüschen. Auf lichten Stellen standen noch freundliche Sonnenblicke, als wollten sie uns Lebewohl! sagen. Durch die Tiefe des Waldes drang der rote glühende Himmel, der leise verstummte. Er sprach wie die jungfräuliche Scham, wenn sie der tiefsten Freude weicht, und die Natur bebte in leisen Schauer, wie Liebestod.

Alles verlor seine Gestalt und sank in Einigkeit. Es gab nur einen Himmel und eine Erde, auf ihr wandelte ich, und mein Fuß rauschte im Laube, in des Himmels mildem Glanze ging mein Auge und trank große herrliche Ruhe. O! wem hätte ich sagen können, wie mein Herz war, wer hätte mich verstanden, und das elende Fragment meiner Sprache entziffert, und wer hätte es verdient?

Ich achtete Godwi, und konnte ihm das nicht sagen, denn ich hätte ihm gesagt, was Freundschaft sich nicht sagen darf. Hier ist sie klein und erblickt sich nicht. Freunde schweigen in solchen Momenten, wo die Liebe sich vom Himmel niedersenkt, und gehen bange einher um die Freundschaft, und schämen sich, daß sie nicht Mann sind und Weib, um sich niederzusetzen und sich zu küssen.

Ich dachte an dich, die mich erwartet; »wo bist du, Geliebte?« sprach ich, »die so zu mir strebt, die in Waldesschatten atmet, und von dem Himmel mit goldenen Fäden mein Herz umspinnt[270] – wo bist du? die mich küßt im kühlen Abendwinde – soll ich nimmer zu dir und mit dir sein? wie der Abend, in dem ich deiner gedenke,« – ach alles sprach mit mir! auch die Brünette drängte sich leise an mein Herz, und sagte – »ich bin nun wie dir ist« – da sprach ich folgende Worte zu ihr:

An. S.
Wie war dein Leben
So voller Glanz,
Wie war dein Morgen
So kindlich Lächlen,
Wie haben sich alle
Um dich geliebt,
Wie kam dein Abend
So betend zu dir,
Und alle beteten
An deinem Abend.
Wie bist du verstummt
In freundlichen Worten,
Und wie dein Aug brach
In sehnenden Tränen
Ach da schwiegen alle Worte
Und alle Tränen
Gingen mit ihr.
Wohl ging ich einsam,
Wie ich jetzt gehe,
Und dachte deiner,
Mit Liebe und Treue –
Da warst du noch da
Und sprachst lächlend:
Sehne dich nimmer nach mir,
Da der Lenz noch so freudig ist
Und die Sonne noch scheint –
Am stillen Abend,
Wenn die Rosen nicht mehr glühen
Und die Töne stumm werden,
Will ich bei dir sein
[271]
In traulicher Liebe,
Und dir sagen,
Wie mir am Tage war.
Aber mich schmerzte tief,
Daß ich so einsam sei,
Und vieles im Herzen.
O warum bist du nicht bei mir!
Sprach ich, und siehst mich
Und liebst mich,
Denn mich haben manche verschmäht,
Und ich vergesse nimmer,
Wie sie falsch waren
Und ich so treu und ein Kind.
Da lächeltest du des Kindes
Im einsamen Wege,
Und sprachst: Harre zum Abend,
Da bist du ruhig
Und ich bei dir in Ruhe.
Dein Herz wie war es da,
Daß du nicht trautest,
Viel Schmerzen waren in dir,
Aber du warest größer als Schmerzen,
Wie die Liebe, die süßer ist
Als all ihr Schmerz.
Und die Armut, der du gabst,
War all dein Trost,
Und die Liebe, die du freundlich
Anderen pflegtest,
War all deine Liebe.
Einsam ging ich nicht mehr,
Du warst mir begegnet
Und blicktest mich an –
Scherzend war dein Aug
Und deine Lippe so tröstend –
Dein Herz lag gereift
In der liebenden Brust.
[272]
Freundlich sprachst du:
Nun ist bald Abend,
Gehe, vollende,
Daß wir dann ruhen
Und sprechen vom Tage.
Wie ich mich wendete –
Ach der Weg war so schwer!
Langsam schritt ich,
Und jeder Schritt wollte wurzeln,
Ich wollte werden wie ein Baum,
All meine Arme,
Blüten und Blätter,
Sehnend dir neigen.
Oft blickte ich rückwärts
Hin, wo du warst,
Da lagen noch Strahlen,
Da war noch Sonne
Und die hohen Bäume glänzten
Im ernsten Garten,
Wo du gingst.
Ach der Abend wird nicht kommen
Und die Ruhe nicht,
Auf Erden ist keine Ruhe.
Nun ist es Abend,
Aber wo bist du?
Daß ich dir sage,
Wie der Tag war.
Warum hörtest du mich nicht,
Als du noch da warst?
Nun bin ich einsam,
Und denke deiner
Liebend und treu.
Die Sonne scheint nicht,
Und die Rosen glühen nicht,
Stumm sind die Töne –
O! warum kömmst du nicht,
Willst du nicht halten,
[273]
Was du versprachst?
Willst du nicht hören,
Soll ich nicht hören,
Wie der Tag war?
Wie war dein Leben
So voller Glanz,
Wie war dein Morgen
So kindlich Lächlen,
Wie habe ich immer
Um dich mich geliebt,
Wie kömmt dein Abend
So betend zu mir,
Und wie bete ich
An deinem Abend.
Am Tage hörtest du mich nicht,
Denn du warst der Tag,
Du kamst nicht am Abend,
Denn du bist der Abend geworden.
Wie ist der Tag verstummt
In freundlichen Worten,
Wie ist sein Aug gebrochen
In sehnenden Tränen,
Ach da schweigen alle meine Worte,
Und meine Sehnsucht zieht mit dir.

Godwi sagte: »Am Abend erschließen sich alle Tore des Himmels, und die Ferne besucht uns freundlich.«

»Es ist kein schönerer Wunsch«, fuhr ich fort, »als Guten Abend! Es heißt, mögest du ruhig sein und liebend, in stillem Umgange mit allem, was du vermißt. – Am Abend erschließen alle Herzen sich selbst, und aus allen Tiefen der Seele kommen die geliebtesten Gedanken zu uns, und selbst die heftigen Begierden, und was uns mit Gewalt fesselt, kömmt zu uns und spricht: Lasse dir nicht bange sein um uns, wir sind nicht so feindlich, als du gedenkst.«

[274]
Zwölftes Kapitel

Haber ging mit dem Jägerburschen weiter vor uns, und unterhielt ihn in einem dringenden Gespräche. Es schien ihm etwas unheimlich im Walde zu sein. Der Jäger erzählte ihm allerlei Mordgeschichten, und vom wilden Heere. Das letzte wollte er nun gar nicht recht glauben, und sagte einmal über das andere Mal, das sei lauter Aberglauben. Im Walde ertönte dann und wann ein lauter Pfiff, und hatte Haber geschwiegen, so fuhr er dann schnell den Jäger an: »Hörst du? schon wieder, was mag das wohl sein, es lautet recht schön.«

»Was mag es sein,« sagte der Jäger, »Lumpengesindel; aus so einem Busche heraus fliegt einem mannichmal ein Knüppel an den Kopf, daß man gleich ans Verzeihen denken muß, ehe man sich noch recht geärgert hat.«

»Wieso?«

»Ei nun, was da pfeift, ist meistens niederträchtiges Volk, und schlägt einen tot; auf dem Todsbette aber muß man verzeihen – und wenns geschwinde geht, hat man keine Zeit sich zu ärgern.«

Haber ging hier mehr in der Mitte des Weges, aber es pfiff wieder, und rief;

»Was sprichst du böser Bube von Lumpengesindel?«

Es war eine wunderliche Stimme, halb erzwungen derb, halb ängstlich und kindisch. Wir näherten uns, Haber wollte schon auf einen Baum klettern, als unser Schrecken durch die Worte des Jägers im Gebüsche aufgehoben wurde:

»Du Waldteufelchen, für den Schrecken muß ich dich küssen.«

Nun kamen mehrere Mädchen und Knaben aus dem Gebüsche und lachten; die älteste ging auf Godwi zu, und bat ihn um Verzeihung; die kleine Räuberin sagte: »Flametta hat mir es befohlen; weil ich mich fürchtete, als Sie gegangen kamen, so mußte ich Sie zur Strafe attakieren.«

Hier kam Flametta auch mit dem Jäger, und Godwi sagte zu ihr, es sei nicht artig, die Leute zu erschrecken; aber sie lachte und bat ihn, ihr eine Buße aufzugeben.

»Du sollst uns ein Stückchen Wegs Geleit geben«, sagte Godwi, »und etwas singen.«

[275] »Ich will Ihnen meine kleinen Gesellschafter etwas singen lassen, und dazu dann und wann ein wenig auf dem silbernen Horne blasen.«

Sie zog an der Spitze ihres kleinen Heeres, und begleitete den Gesang mit ihrem Horne. Das größte Mädchen sang das Solo, und die Knaben das Chor.

Die Kleine sagte vorher: »Mein Lied ist das Lied einer Jägerin, deren Schatz ungetreu, und stellen Sie sich vor – ein Peruckenmacher geworden ist.«

Wir lachten, und der Gesang begann:


Chor:

O Tannebaum! o Tannebaum!
Du bist mir ein edler Zweig,
So treu bist du, man glaubt es kaum,
Grünst sommers und winters gleich.
Mädchen:
Wenn andere Bäume schneeweiß sein
Und traurig um sich sehen,
Sieht man den Tannebaum allein
Ganz grün im Walde stehen.
Chor:
O Tannebaum! o Tannebaum! etc.
Mädchen:
Mein Schätzel ist kein Tannebaum,
Ist auch kein edler Zweig,
Ich war ihm treu, man glaubt es kaum,
Doch blieb er mir nicht gleich.
Chor:
O Tannebaum! o Tannebaum! etc.
Mädchen:
Er sah die andern schneeweiß sein
Und schimmernd um sich sehn,
Und mochte nicht mehr grün allein
Bei mir im Walde stehn.
[276]
Chor:
O Tannebaum! o Tannebaum! etc.
Mädchen:
Der andern Bäume dürres Reis
Schlägt grün im Frühling aus,
Pocht er sein Röckchen, bleibts doch weiß,
Schlägt nie das Grün heraus.
Chor:
O Tannebaum! o Tannebaum! etc.
Mädchen:
Oft hab ich bei mir selbst gedacht,
Er kömmt noch einst nach Haus,
Spricht: Hab mir selbst was weiß gemacht,
Poch' mir mein Röcklein aus.
Chor:
O Tannebaum! o Tannebaum! etc.
Mädchen:
Und klopft ich ihn auch poch, poch, poch,
So fliegt nur Staub heraus;
Das schöne treue Grün kommt doch
Nun nimmermehr heraus.
Chor:
O Tannebaum! o Tannebaum! etc.
Mädchen:
Drum als er mich letzt angelacht,
Ich ihm zur Antwort gab:
Hast dir und mir was weiß gemacht,
Dein Röcklein färbet ab.
Chor:
O Tannebaum! o Tannebaum! etc.
[277]
Mädchen:
O Tannebaum! o Tannebaum!
Wie traurig ist dein Zweig.
Du bist mir wie ein stiller Traum
Und mein Gedanken gleich.
Chor:
O Tannebaum! o Tannebaum! etc.
Mädchen:
Du sahst so gar ernsthaftig zu,
Als er mir Treu versprach,
Sprich, sag mir doch, was denkest du,
Daß er mir Treue brach.
Chor:

O Tannebaum! o Tannebaum! etc.


So sangen die Kinder lustig in den Wald hinein, und das Wild, aufgeschreckt von dem Geräusche, stürzte tiefer in das Tal. Der Mond war aufgegangen, und schon in den Wald herein. Da wir auf der anderen Seite den Berg oben waren, sagten uns Flametta und die Kinder Gute Nacht, und wir hörten sie in der Ferne noch singen.

Wir standen oben und sahen über das leuchtende grüne Meer, in dem der Wald hin und her flutete. Stille Kühle drang mir ans Herz, ich hätte hier stehen und träumen können von Seen und Meeren, in denen die Götter hausten. Wenn die Bäume hin und her ihre Schatten wälzten, brausten und wie in geheimnisvollen, nächtlichen Festen taumelten, so schwoll es wie Ebbe und Flut an meinem Herzen.

O! der Mensch ist das Gestade, an das alle Wellen des Lebens schlagen, er steht ewig am Ufer und sehnt sich hinaus in das, was herüberwehet, seine Gedanken segeln kriegbrütend und goldsuchend wie mächtige Schiffe in die Ferne; was zu Hause bleibt im Herzen, steht und hoffet und trauert. Soll er hineinstürzen, oder werden die Wellen rächend zu forschen kommen, was ihnen vom Gestade herüberwehte?

Mit solchen Gedanken warf ich einen Blick zurück in diesen [278] untergegangenen Tag. Die Eiche, unter der ich die Dryaden angerufen hatte, ragte wie ein Tempel unter allen hervor; einige weiße Gestalten tanzten um sie herum, und man hörte ein leises Klingen, das durch das Brausen der Bäume manchmal hervortönte, als schwämme ein goldenes glänzendes Gefäß in Meereswellen. Ich machte Habern darauf aufmerksam.

»Sehen Sie die Waldgötter dort tanzen?« Er wunderte sich, und Godwi sagte, es sei ein Tanz, den er Kordelien zum Gedächtnisse gestiftet, Flametta und die kleinen Mädchen tanzten ihn alle Abend, wenn es schönes Wetter sei, und die Musik töne von zwei kolossalischen Äols-Harfen, welche Kordelia in den Gewölben des Baumes habe anbringen lassen. Es war gut, daß es bei meinem Gebete so windstille gewesen war, sonst hätte ich sehr erschrecken können.

Wir legten noch einen kurzen Weg zurück, als sich eine andere Gegend erschloß.

Dreizehntes Kapitel

Der Weg zog sich noch eine Strecke durch den Wald, aber man konnte unten durch die Stämme schon das freie Tal sehen. Es schien mir, als gingen wir langsamer, als zögen uns die Schatten des Waldes zurück.

Am Ausgange des Waldes trafen wir auf ein kleines Haus, neben dem ein größeres zerstörtes Gebäude stand, und ich bemerkte, daß auf dem Rauchfange des letztern das Storchnest war, welches ich den Morgen gesehen hatte. Aus dem Fenster der Hütte schimmerte ein Licht, und ich fragte, wer hier so einsam wohne. Godwi sagte: »In dem Hause wohnt kein Mensch, das Licht, das darinne brennt, ist eine Lampe, die alle zwei Tage angesteckt wird. Schon seit meiner frühesten Jugend erinnere ich mich, daß ich eine furchtsame Ehrfurcht vor diesem Hause hatte. Es ist ein Herkommen, daß dies Licht hier brennt. Wenn eine Jungfrau oder ein Jüngling unter den Mennoniten stirbt, welche meine Pächter sind, so wird er hier in diesem Hüttchen einen Tag und eine Nacht hingesetzt, und hier neben zwischen den Mauern des verfallenen Gebäudes begraben. [279] Warum die Stube ganz eingerichtet ist, als wohne eine Familie darin, weiß ich nicht; aber es ist eine freundliche Idee. Der älteste meiner Pächter hat den Schlüssel dazu; er steigt alle zwei Tage her auf, und steckt die Lampe an, und wenn er tot ist, so bekömmt der älteste wieder dies Geschäft, so daß es zu einem Sprüchworte unter ihnen geworden ist: Er trägt den Schlüssel. Die Alten selbst werden unten im Tale begraben, weil sie sagen: Er habe nicht mehr hinaufgekonnt, drum sei er unten begraben.«

Ich sah zum kleinen Fenster hinein, die Lampe stand in der Mitte der Stube auf dem Tische, an der Wand hingen männliche und weibliche Kleider, und die ganze Stube sah bewohnt aus; es lag ein ewiges Warten auf den Vater oder die Mutter, oder auf den Geliebten und die Geliebte in allem; ich wendete mich, und sprach: »Auch ich habe Ehrfurcht davor.«

Habern suchten wir mit Mühe dazu zu bringen, auch hineinzusehen. Er kehrte aber schnell um, als der Wind an den losen Fensterscheiben rasselte, und ging schweigend mit uns den Berg hinab; vor uns tiefer unten ging ein Licht, und der Jäger sagte:

»Das ist der alte Anton, der hat eben die Lampe angesteckt, wenn er sein Verslein noch nicht gesungen hat, so wird er es bald hören lassen.«

Bald darauf hörten wir auch eine zitternde Stimme singen, doch konnten wir sie nicht verstehen, weil sie undeutlich aussprach, und zu entfernt war. Wir gingen deswegen rascher, bis der Alte stillstand, weil ihm das Treppensteigen beschwerlich war, und wir hörten die zwei letzten Verse seines Gesanges.


Ich hab das Lämplein angesteckt
Zum langen Angedenken,
Und wenn mich kühle Erde deckt,
Mag Kind und Enkel denken:
Der Vater ruht im Tale aus,
Und kömmt nicht mehr ins stille Haus.
Lischst du, o Herr, mein stilles Licht,
Das tief herab schon brennet
Und werd vor deinem Angesicht
[280]
Ich nur ganz rein erkennet,
So geht mit Freude angetan
Erst recht mein schönstes Leuchten an.

Hier löschte der alte Anton sein Licht aus, und war vor uns zu Haus.

Das Gut lag zu unsern Füßen; von der entgegengesetzten Seite begrenzte es ein hoher Baumgarten, sonst war es einsam und sah öde aus. Die Wildnis über dem Berge, wo wir den heutigen Tag zugebracht hatten, schien mir bei weitem freundlicher. Dies äußerte ich Godwi, und Haber sagte, er habe die nämliche Empfindung.

Godwi sagte: »Ich bin von Jugend auf an diese Gegend gewöhnt, dennoch habe ich die nämliche Empfindung, so oft ich vom Jägerhause komme. Einsam und öde wird überhaupt alles, was der Mensch berührt, ohne es zu vollenden, nur der Mensch kann töten. Dieses ganze Tal nun ist das Bild einer Anstalt, die ins Stecken kam, alles verlangt nach einem Ende, und man könnte sagen, es gleiche einer interessanten Erzählung, die mitten durch ein Fragezeichen unterbrochen ist.

Es liegt etwas Derbes und Selbstständiges in der wilden Natur, sie ist voller Leben, und scheint sich den Teufel um den Menschen zu bekümmern; sie geht ihren Weg, ohne sich viel umzusehen, und treibt ihr Geschäft für sich und mit Kraft. Hierdurch rührt sie uns, und das Gefühl der Einsamkeit in ihr begründet sich auf die Schwäche des Menschen; man wünscht einen Freund neben sich zur Unterstützung gegen die Wildnis, die einem so frech in die Bildung hereintritt, das Echo der Felsen giebt uns kalt und spöttisch die Ausrufungen zurück, in denen man umsonst versuchte, dieser Natur etwas abzuschmeicheln; man möchte einen Freund, um seine Empfindungen genommen zu sehen; man wünscht sich ein williges liebendes Mädchen auf das Moos, um am Fuße der stolzen Eiche in lebendiger Beweglichkeit das höchste Opfer der Menschen zu feiern, und der tapfern barschen Natur zu zeigen, daß es im Leben nicht auf kolossalische, unbewegliche Grobheit ankömmt.« – »Aber hier,« fuhr ich fort, »was will man hier machen? Hier ist alles so zahm, da steht Kohl und dort steht Weißkraut und jenseits Korn und dort – wie heißen Sie?« wendete ich mich zum kleinen Dichter.

[281] – »Haber.«

– »Und dort steht Haber, und alles sieht aus, als wisse es schon, daß es nächster Tage werde gefressen werden, vielleicht gar als Futter unvernünftiger Tiere.«

»Ja,« sagte Godwi, »hören Sie ein paar Hofhunde klaffen, und einen Hahn krähen, und ein paar Kühe brüllen, so ist alles in Richtigkeit mit der genialischen Natur, und man muß sich dann meistens, weil es kotig ist, an dem Himmel halten.«

Es war ein schöner Himmel, und alles, was wir hörten, sahen, war still, müde und ruhend.

»Hier ist der Abend nicht viel anders«, sagte ich, »als Ruhe ohne alle Erinnerung, es ist keine Selbsttätigkeit in einem solchen Abend, und er sagt nichts als: nun ist es recht gut, nun geht es bald ins Bett.«

»Sie sind etwas zu unbändig,« sagte Godwi, »nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht werden wie diese öde Landschaft, welche hinlängliche Bildung hat, bei großer Fruchtbarkeit, um die Fruchtbarkeit zu unterjochen.«

Ich schwieg, und mein Gewissen drückte mich.

Wir kamen nun an das Gut selbst. Einige kleine Häuser bildeten eine Straße, auf der verschiedene Ackergerätschaften standen; es war stille, und Godwi sagte: »Lassen Sie uns ruhig sein, die Leute schlafen schon.« Das Tor des Landhauses stand offen, die Hunde sprangen freundlich an Godwi herauf, und wir traten in das bescheidene einfache Haus, in eine Stube gleich bei dem Eingange.

Godwi hieß uns willkommen, der Jäger brachte Licht, und das Abendessen ward bestellt. Godwi und Haber saßen auf dem Sopha, ich saß am Fenster auf einem Armstuhle, es herrschte eine allgemeine Stille unter uns, und jeder schien sich seinen Gedanken ruhig zu überlassen.

Die Bilder des ganzen Tages gingen mir vor den Augen herum, ich hatte eine seltsame Empfindung, in dem Hause Godwis zu sein, und mit ihm selbst so bekannt, von dem ich so vieles geschrieben hatte. Es schien mir unrecht und nicht redlich, wenn ich ihm nicht bald sagte, wer ich sei. Dann entwickelte ich, was ich von seiner Jugend aus seiner Erzählung an Otilien wußte, hier an der Stelle, wo es geschehen war, und indem ich [282] meine Gedanken so ins vergangene Geschichtliche hinüberspann, verlor ich mich immermehr ins Allgemeine, dachte an meine Jugend und alle Jugend, und an den erdrückenden Schmerz, unter dem die meisten guten Kinder ihr Bestes und Eigentümliches für einige Gesellschaftsregeln hinopfern müssen.

Die Grillen zirpten in den Mauern und der Perpendicul der Uhr ging ewig derselbe, nächtliche Fledermäuse schwirrten über den Hof, und das Licht war weit heruntergebrannt – mir war es tief im Herzen dunkel und traurig.

Hier trat ein alter Mann in die Stube, er hatte einen schönen gesunden Kopf, und einen langen weißen Bart, und war einfach in weißes Tuch gekleidet. Godwi grüßte ihn und sagte: »Verzeihet, Anton, daß ich so spät komme.«

Der Alte lächelte und sagte: »Sie sind der Herr und immer willkommen.« Dann deckte er den Tisch, trug einige kalte Speisen und etwas Wein auf, und wünschte gute Nacht.

Der Alte mit seiner Ruhe und seinem Barte schickte sich recht zu dem Ganzen und hatte mich sehr gerührt. Godwi sagte mir, daß seine Pächter aus einer Mennoniten-Familie beständen, die so lange auf dem Gute sei, als sie existiere, und daß dies nun der dritte Großvater sei, der hier lebe.

Wir setzten uns nun zu Tische, Haber war eingeschlafen; ich klimperte mit den Gläsern, um ihn zu erwecken, aber sein Erwachen war nicht hinlänglich, ihn zum Essen zu bringen, denn er war körperlich und geistig eingeschlafen; er hatte nämlich in einer Lage auf dem Sopha gelegen, daß mehrere Glieder seines Leibes seinem Hauptschlafe ungetreu auf ihre eigene Hand eingeschlafen waren. Wir aßen und tranken dann munter miteinander.

Das Mahl war vorüber, nur die Gläser waren noch ergiebig, und der Wein bringt in jede Stimmung, in der er mich antrifft, noch eine mutwillige phantastische Stimmung. Ich muß mich dann äußern, und empfinde etwas ganz wunderbar Frevlendes, Gewagtes in meinem Herzen; alles wird mir unter den Händen lebendig; was mein Leben Schmerzliches und Freudiges, Banges und Religiöses umfaßt, reiht sich an meine Worte, und zieht in einem wilden bacchantischen Zuge von meinen Lippen.

[283] In solchen Momenten verliere ich mich in meiner Rede, die mit sich selbst zu witzeln anfängt; eine Grundempfindung, Sehnsucht, unerkannte Liebe oder Druck in der Kindheit bleiben herrschend, alles andere wird zum frechen Witze, in dem eben diese Hauptempfindungen, die ich allein in einem bangen Drucke in der Brust fühle, mutwillig hin und her schwanken.

Diese Empfindung fühlte ich sich bei mir nahen, eine tiefe Rührung geht allezeit vorher. Es ist mir, als sollte ich bald mein ganzes Leben wie eine Braut umarmen, ich sei nun allem gewachsen, was mich einzeln erdrückte; ich fordere dann alle die Gestalten auf, stoße sie kalt von mir, oder reiße sie mit einer wilden Buhlerei in mich.

Vierzehntes Kapitel

»Warum so still,« sagte ich höhnisch zu Haber, »fürchten Sie sich vor Gespenstern?«

»Nein, aber das ganze Leben hatte heute etwas Schauerliches für mich.«

»Hatt' es? – mich rührt so etwas nur oberflächlich, und als der alte Anton zu sprechen anfing, ärgerte es mich, daß er kein Gespenst gewesen war – hören Sie, wie die Fahnen am Dache wehen – – o! das geht ewig so und nimmt kein Ende – und wie es dunkel ist – man möchte ersaufen in eigenen dummen Gedanken – in der Welt geschieht nichts – es ist der Tod draußen, und wir sind gezwungen, unsre abgetragenen Erinnerungen zu zerzerren, bis sie wie lumpichte Geister vor uns treten – sehen Sie, dort steht mein Vater, und dort meine Mutter, und dort meine Schwester – wie sie mit den Fingern auf mich zeigen – wie der Alte den Kopf schüttelt – o und du arme Mutter, du schöne Mutter – die Hände abgerungen – durch den weißen duftigen Busen blutet das warme rote Herz Liebe heraus zu mir – die Schwester sieht so witzig aus, und so arm mit ihrem liebesuchenden keuschen Leibe – ha! seid mir willkommen – das Leben ist ein geschwätziges breites Wesen, von dem man nicht weiß, wie es im Herzen aussieht.«

Haber sah starr in den Winkel, Godwi sah mich verwundert [284] an, meine Worte trugen mich fort, ich fühlte die kalte Glut in meinem Gesichte und sprach mit Tränen:

»Aber das dauert nicht lange, am Ende wird immer was Beßres daraus, das Vorige war matt – sehen Sie, unter diese war mein Leben geteilt, sie kommen und rinnen zusammen, so rann auch mein Leben zusammen, und da steht nun das Weib, dem ich es in die Arme legte, da steht es wie die schöne Sünde – aber sie hat mir es vor die Füße geworfen – o Sie können es in Ihren Garten pflanzen in den fettesten Boden, es schlägt nie wieder aus – es ist verbrannt, in der Liebe verbrannt – ha und noch ein Mensch – sagt nicht, er sei schwach – was ist er schwach? er ist sein Hallunke und sein Henker zugleich, und henkt sich nicht selbst, weil er seines Henkers Hallunke bleiben muß, und seines Hallunken Henker nicht werden will.«

Haber sprang hier wild auf und sagte: »Hören Sie auf, ins Teufelsnamen.«

»Ha! ha! ha!« lachte ich ganz heiter, »sind Sie so erschrocken; nun, ich will Ihnen was erzählen –«

Godwi bat mich, nicht so heftig zu sein. »Obschon ich Sie verstehe,« sagte er, »so ist die Wirkung davon doch weder gut für Sie noch mich.«

»Ich will Ihnen ein Lied singen, das hierher gehört, nur muß ich zuerst erzählen, wo ich es zuerst sang.

Ich ward in meinem sechsten Jahre von Hause entfernt, und von meiner Mutter, die es gut meinte, zu einer Anverwandten in die Kost getan, wo sich meine Schwester schon früher befand.

Bei dieser Frau lebte ich, Gott möge es sich selbst verzeihen, ein recht elendes Leben. Ihr Mann war ein ausschweifender Mensch, und sie ein eingebildetes, eigensinniges Geschöpf, eine von jenen Weibern, welche Hochteutsch-Sprechen für moralisch halten. Wir sahen sie nur morgens, mittags und abends zu unserm Schrecken. Denn morgens kam sie mit eiskaltem Wasser, stellte uns nackt vor sich, und ließ es uns aus einem Schwamme über den Rücken laufen. Ich habe sie nie lachen sehen, als wenn ich ihr die eiskalten Wasser-Gesichter schnitt; ob es übrigens gesund war, weiß ich nicht, nur weiß ich, daß ich abends immer großen Hunger hatte, und daß mein erster [285] Witz war, Morgenstund hat kalt Wasser im Mund. Mittags aßen wir unter den Aufmunterungen: ›Halte dich grad, die Hände auf den Tisch, hänge den Kopf nicht so, wie du wieder den Löffel nimmst!‹ etc. Nach Tisch mußte ich dem Lieblingshunde, der die Originalität besaß, Nüsse zu fressen, zehn Nüsse schälen, dafür bekam ich eine, die ich mit meiner Schwester teilen durfte; nun band man mir und meiner Schwester, die in eine Schnürbrust gezwängt war, die Ellenbogen hinten zusammen, und so mußten wir Rücken an Rücken gebunden, um unserer Muhme zum Nachtische einen Spaß zu machen, auswärts stehen, bis wir umfielen; dann wurde auch gelacht. Den übrigen Tag waren wir bei dem Gesinde oder einem Lehrmeister, der uns, während er dem Kanarienvogel des Bedienten die Augen mit einem glühenden Drahte blendete, und seine Stiefel wichste, die Hauptstädte von Europa auswendig lernen ließ und, wenn wir sie ihm zu früh wußten, uns strafte.

Vor die Haustür kam ich nie, und sah oft meine Schwester neidisch an, wenn sie die Magd von den Fräuleins zurückbrachte, zu denen sie in Gesellschaft ging. Die Muhme hielt mich so im Respekt, daß wenn sie mir abends die Hand nicht zu küssen gab, ich nachts im Bette weinte, und meiner Schwester keinen Schlaf gönnte, mit dem Ausrufe, daß ich ein Verbrecher sei.

Hinten am Hause war ein kleiner Garten, an dem ein großer Saal war, der voll Ölgemälde hing. Eines, welches das größte war, stellte das Urteil Salomons über die zwei Kinder der Buhlerinnen vor, grade wie der Kriegsknecht das lebendige Kind am Beine hält, und es entzweihauen will; das andere Kind lag tot und blau an der Erde; die rechte Mutter reckte ihm die Hände in die Höhe, die falsche saß ruhig am Boden und sah zu; der Kriegsknecht hatte einen recht blutroten Mantel an, und das ganze Bild war in Lebensgröße und mit grellen Farben gemalt. In diesem Saale war ich meistens, wenn ich allein war, und nährte meine kindische Phantasie an dem Bilde.

Da ich einmal von meiner Beherrscherin unschuldig viel böse Worte gelitten hatte, wurde ich weinend zu Bette geschickt; meine Schwester war noch zu Besuche; ich konnte nicht im Bette bleiben, und schlich herunter in den Gartensaal, um dort, [286] wie ich oft tat, vor einem kleinen Jesusbilde zu beten, daß er mich bessern möge, denn ich wußte nicht, was ich begangen hatte, und hielt mich doch für einen Verbrecher.

Als ich in den Saal trat, überfiel mich eine große Angst; es waren keine Scheiben in den Fenstern, und Weinlaub über sie gezogen. Der Mond schien herein, und alle die vielen Ölgemälde schienen zu leben durch das Licht, das sich durch das Schwanken des Weinlaubs über sie bewegte.

Ich sank in die Knie, es war kalt, und ich war im Hemde; o! wie war ich so unglücklich, ich betete laut, und fürchtete mich vor dem Schall meiner Worte.

›O lieber, lieber Gott, sage mir doch, was habe ich getan‹ –

Da trat meine Schwester herein; sie war zwei Jahre älter als ich, und ging schon allein zu Bette; sie hatte mich gehört, und sagte zu mir:

›Ei du! was machst du da?‹

Ich umklammerte sie heftig, aber sie verstand mich nicht, da führte ich sie vor das Salomonsbild, und sagte zitternd:

›Sieh, der auf dem Throne, das ist der liebe Gott; die Frau, die die Hände ausreckt, das ist unsre Mutter; die da so sitzt und ruhig ist, das ist die Muhme, und der Mann, der das Kind zerhaut, ist auch die Muhme, und das Kind bin ich, und das tote Kind, ach das bist du‹ –

Sie zog mich mit sich die Treppe hinauf, und brachte mich zu Bette. Sie erzählte mir vieles von den Fräulein, die sie besucht hatte, um mich zu trösten, aber ich weinte immerfort. Da stieg die liebe Schwester aus dem Bette auf, und setzte sich zu mir ins Bett, das am Fenster stand, wir umarmten uns, und sahen in den hellen Himmel; dann sagte meine Schwester: ›Wir wollen das Lied singen von dem Kinde, dessen Großmutter eine Hexe war, und das Kind vergiftete.‹

Wir sangen dies Lied immer, wenn es uns recht traurig war; meine Schwester sang die Worte der Mutter, welche das Kind fragt, und ich sang weinend die Worte des Kindes; in dem Liede lag uns Trost, wir trösteten uns mit der Liebe der Mutter und des Kindes Tod.


[287]

Mutter:

Maria, wo bist du zur Stube gewesen?
Maria, mein einziges Kind!
Kind:
Ich bin bei meiner Großmutter gewesen.
Ach weh! Frau Mutter, wie weh!
Mutter:
Was hat sie dir dann zu essen gegeben?
Maria, mein einziges Kind!
Kind:
Sie hat mir gebackene Fischlein gegeben.
Ach weh! Frau Mutter, wie weh!
Mutter:
Wo hat sie dir dann das Fischlein gefangen?
Maria, mein einziges Kind!
Kind:
Sie hat es in ihrem Krautgärtlein gefangen.
Ach weh! Frau Mutter, wie weh!
Mutter:
Womit hat sie denn das Fischlein gefangen?
Maria, mein einziges Kind!
Kind:
Sie hat es mit Stecken und Ruten gefangen.
Ach weh! Frau Mutter, wie weh!
Mutter:
Wo ist denn das Übrige vom Fischlein hinkommen?
Maria, mein einziges Kind!
Kind:
Sie hats ihrem schwarzbraunen Hündlein gegeben.
Ach weh! Frau Mutter, wie weh!
[288]
Mutter:
Wo ist denn das schwarzbraune Hündlein hinkommen?
Maria, mein einziges Kind!
Kind:
Es ist in tausend Stücke zersprungen.
Ach weh! Frau Mutter, wie weh!
Mutter:
Maria, wo soll ich dein Bettlein hinmachen?
Maria, mein einziges Kind!
Kind:
Du sollst mirs auf den Kirchhof machen.
Ach weh! Frau Mutter, wie weh!«

»Schrecklich, schrecklich!« sagte Haber.

Ich fing aber lustig an Ça ira zu singen, weil ich selbst weinte, und mir im Ça ira von jeher alle Adern freudig schwollen, denn ich liebe solche heftige Übergänge.

Haber wurde ganz wütend, und schrie, ich müßte der größte Teufel sein.

»Nein,« sagte ich, »lieber Haber, sehen Sie dort an der Türe die alte Großmutter stehen, mit der Giftschale in der Hand, wie ihr die Augen aus der Pelzmütze herausstieren; und dort sehen Sie die Mutter, die weinend im Stuhle sitzt, und der kleinen Maria, die vor ihr steht, und sie liebkoset mit wehe! ach wehe! Frau Mutter; wie sie dem einzigen Kinde das weiße Totenhemdlein anzieht; und hier sitze ich mit meiner Schwester« – ich setzte mich auf die Erde, und nahm ein Küssen in die Arme – »ach meine liebe Schwester, wie geht es mir so traurig« – hier sprang ich auf, es riß mich wie mit den Haaren in die Höhe – es war mir als hielt ich sie lebendig in den Armen, und ach! sie ist doch tot.

Godwi sagte: »Sie übertreiben es«; ich lachte, und ging munter zu Bette.

Haber fürchtete sich vor mir, er mußte mit mir in derselben Stube schlafen und ich ihm vorher feierlich beteuern, keine Nacht keine solche Streiche mehr zu machen.

Aber fröhlich war ich doch wohl nicht –

[289]
Fünfzehntes Kapitel

Haber stellte im Bette noch viele Betrachtungen an, und versicherte mich seiner Freundschaft; dann sagte er:

»Obschon ich noch nicht ganz von der Idee kommen kann, Sie für etwas böse zu halten, so halte ich Sie doch nicht mehr für platt. Sie haben ohnstreitig eine gewisse Macht über die Gemüter, doch sollten Sie sich mehr applizieren, und nicht so vom Beispiele hinreißen lassen.«

»Ich danke Ihnen, und bin eben im Begriffe, mich zu applizieren, nämlich abzuschlafen; das Beispiel tut bei mir, wie Sie sagten, leider alles, also schlafen Sie wohl.«

Ich versuchte hin und her, und Haber schnarchte schon; aber sein Beispiel, so stark es auch war, nützte nichts, und er hatte Unrecht; ich kam immer auf den Gedanken, ich müsse mich erst auf die Applikation applizieren, und so kam ich nicht zum Schlafe. Es war eine helle Nacht, und nicht sehr kühl, meine gereizte Stimmung ward mir nun selbst zur Betrachtung; alles was sie abends so kaudisch umfaßte, beschäftigte mich nun einzeln. Ich fühlte, daß ich auch mehr genossen als andere, und gab mich zufrieden über die Leiden. In solchen Gedanken schlummerte ich ein, und erwachte dann wieder.

Ich bemerkte Lichtstrahlen, die durch den Fensterladen fielen, und kleidete mich deswegen an, machte das Fenster auf, aber es war Mondschein und um drei Uhr.

Meine Aussicht war sehr reizend, das Fenster ging in den Garten, eine gebildete Wildnis, und mitten unter den träumenden grünen Bäumen stieg eine hohe weiße Marmorgruppe zum Himmel. Ich erkannte bald, es müsse Violettens Denkmal sein, denn ich bemerkte über dem Ganzen einen gehobenen Arm mit einer Lyra.

Der Mond stand hinter der Lyra, und es war mir, als ströme ein mildes leuchtendes Lied durch ihre Saiten. Ich stand, und suchte neugierig das Bild in der Dunkelheit zu enträtseln, aber es war zu unbestimmt, es war mir wie ein Wort, das man fühlt, und nicht sagen kann.

Meine durch das Wachen überreizte Augen wurden durch das stete forschende Blicken auf das mondglänzende Bild noch [290] unbestimmender, und bald schien mir der ganze Garten durcheinander zu wallen.

Ich lehnte, am Fenster sitzend, den Kopf auf den Arm, blickte mit sinkenden Augen hinaus, und der Eindruck der Aussicht verlor bald so sehr die Gewißheit einer Aussicht, daß ich nichts mehr vom Garten, noch von mir wußte, und es war mir, als wäre ich das alles zugleich und läge in einem gelinden Traume.

Da der Mond aber etwas gesunken war, und tief unter der Lyra stand, sah ich schöne runde, glänzende Hüften und zierliche Füße und sinkendes Gewand. Ich sah mit vieler Liebe nach den kernichten Hüften, und den netten feinen Füßen, und ärgerte mich mit vieler Aufrichtigkeit, daß ich den Busen nicht sehen konnte. Der Arm mit der Lyra lockte mich nicht, denn eine Leiergestalt ist sehr tonlos; aber solche weibliche, sanft und fest gewundene Formen können mir alle Saiten im Busen erklingen machen.

Ich ärgerte mich über den gehobenen Arm mit seiner Leier, und sagte im gierigen Unmute meiner Lust:

»Der kalte Genius, da hängt das göttliche nackte Leben an ihm, und er hebt die Leier stets gen Himmel; ha, wie wollte ich sie an die Erde werfen – da liege du alte Leier! – und das Weib wollte ich heraufziehen mit liebender Wut; in die Arme wollte ich sie nehmen wie ein Kind; der Mond sollte trunken durch die niederfließenden Locken blicken, als sei er freigegeben; stand er doch hinter den Saiten der Lyra, wie hinter einem Kerkerfenster; und opfern wollte ich sie emporgehoben, wie der Priester opfert; die ganze Natur würde niederknieen und ans Herz schlagen, wie das Volk, und hätte sie gesprochen, wie der Göttliche sprach – Nimm hin, das ist mein Leib – o wie sollte sie unter meinen glühenden Küssen in mich selbst zerrinnen, und ich in sie.«

Ich konnte nun nicht mehr länger auf der Stube bleiben, der ganze Garten schien mir wie lebendig und in wunderlichen fantastischen Wesen der Nacht begriffen.

Es war mir, als sähe ich auf den Markusplatz in Venedig in der Karneval, alles strömte durcheinander, und die einzelnen Farben, die unter verschiedenen Gestalten immer wiederkamen, flossen zusammen; Schatten und Licht rannen in spielender Beweglichkeit [291] durcheinander, und kaum verfolgte ich eine Gestalt, so war sie zu hundert andern geworden. Oben über allem hervorragend, wie die künstlich gewundenen Strahlen eines ungeheueren Springbrunnens, wie wundersam spielende Flammen eines weißen reinen Feuers zum Himmel, drang das Bild Violettens zum Himmel über alle das dunkle Gewirre empor, die Apotheose eines verlornen Kindes, die wohl auch einstens da unten mit Schmerz im Herzen, und wilder Lust in den Gliedern, herumwandelte, aus der verwirreten Freude die Grundlage aller Freude in einem Einzelnen zu entwirren – um zu leben – das ist schrecklich, und ich mußte nun hinunter, den armen Kindern Trost zuzusprechen, die vielleicht noch da wandelten.

Ich stieg das Fenster hinab an dem Rebengeländer, welches die Mauer bekleidete, aber unten verliert sich alle der Reiz, der nur bei der Ansicht von oben herab mit von oben herabkömmt. Nun stand ich zwischen den Bäumen, die sich bewegt hatten, da ich nur ihre Gipfel sah; sie wurzelten fest im Boden, alles war wieder von mir getrennt, und ich war allein und einsam.

Ich setzte mich auf die Stufen des Bildes und war ruhig.

Sechzehntes Kapitel

Ich mochte das Bild nicht ansehen – warum? das weiß ich nicht, vielleicht des Inhalts wegen – und dachte:

Was soll diese liebliche traurige Verirrung auf Erden, was hat so eine arme Violette getan? Warum sind die Dichter verstoßen von der Gesellschaft? bis sie die Gesellschaft mit ihrem Gesange zwingen, sie zu ernähren – warum sind die Dichterinnen mit dem Leibe verstoßen? bis sie Aspasien werden. – Da singt so ein armes Völkchen, weil es nur sein bißchen Kehle hat und von allem andern weniger – da liebt so ein armes Völkchen, weil sein Leib mächtiger ist als die Moral, – ist denn keine Welt für die armen Mädchen da, die lebendiger sind als die Pflicht, was haben die Kinder getan, und wer will das Fleisch strafen, daß es in üppigem Leben den engen Rock des Staates zersprengt, und hervortritt natürlich an die Sonne und die Liebe.

[292] Wo ich so ein armes Kind sehe, treten mir die Tränen in die Augen, und ich fluche, daß nicht Platz genug ist in der Ehre für das Leben.

O nennt sie nicht unverschämt, die nicht zugegen waren, als die Erbärmlichkeit siegte, und den Thron bestieg in Purpur der Scham. Sie sind nicht größer als die Scham, aber die Scham ist viel zu klein für sie.

Ich dachte mit einiger Bosheit an die Ehe, die nur in die Breite geht, und sich so breitmacht, die Fläche des Staates zu begründen, daß alles, was die Liebe nur in der Eile empfindet, und nicht in der Weile, in die Höhe muß, weil leider im Staate die Höhe allein noch nicht bevölkert ist.

Die Ehe kam mir vor wie eine unendliche Fläche mit dem tiefsten Haß gegen alles Streben in die Höhe. Und der Stand der freien Weiber kam mir vor wie eine senkrechte Linie zum Himmel, die nirgends fest stehen kann, weil die Ehe keine Höhe duldet.

Die arme senkrechte Linie muß daher immer tanzen, wie einer, dem der Fußboden glühend gemacht wird, und kaum richtet sie sich in die Höhe, so muß sie fallen. Zum rechten Winkel bringt sie es selten – immer findet man sie in kleinen schiefen Winkeln und immer zum Fallen bereitet.

Das Elend der Kinder war mir nun deutlich, wie ihre Freude, sie müssen stets an den brennenden Boden fallen, und ihre kleine Freude liegt in ihrer Bestimmung, aufrecht in den Himmel zu dringen, und man soll ihnen nicht länger Vorwürfe machen, daß sie sich unterstützen lassen, in die Höhe zu kommen, die ihr Element ist, da die Ehe den ganzen Boden gemietet hat, für ihr monopolisches Einerlei.

O wäre eine Fläche auf der Erde, wo die Liebe nicht zünftig wäre, und läge sie hinter der bürgerlichen Welt und ihren Gewässern, und wären alle die verlornen Kinder dort, könnte ich sie dann nicht abbilden in ihren verschiedenen Graden von Streben nach dem Himmel, wie die Strahlen einer aufgehenden Sonne – [nach] langer Nacht.

Und die kalte Zone der Ehe würde erwärmt werden, und erleuchtet – wir werden gesund sein, wenn wir unsere Organisation nicht mehr fühlen, wir werden einen Staat haben, wenn [293] sich die Gesetze selbst aufheben, wir werden eine Liebe haben, wenn wir keine Ehe mehr kennen. Bis dahin seien die Tiere des Waldes gepriesen, wegen ihrer Gesundheit, bis dahin seien die Freiheitsschmerzen edler Seelen geehret, bis dahin dulde man mein Bild der aufgehenden Sonne für die verlornen Mädchen.

Denn ich will ewig glauben, daß sich die Liebe in sie geflüchtet hat, in dieser Zeit der Ehe, wie alles Gute sich in die Poesie flüchtete zur Zeit der Barbarei, und sie stehen jetzt noch da, wie einst die romantische Poesie dastand.

So hatte ich gedacht, auf den Marmorstufen sitzend, den Kopf mit geschlossenen Augen in die Hand gelehnt.

Ich fühlte den kühlen Tau auf meinen Händen, stand auf und öffnete die Augen. Der Mond zerschmolz in das Licht des Morgens, und es war mir, da ich in die freudige Welt hineinblickte, als lächelte sie meiner Träume, und ich wäre aufgestanden wie eine Blume, die in dem Bach ihr Bild nur sieht, und tiefer den Himmel. Als ich auf die andere Seite des Bildes trat, lag die Röte des Morgens am Himmel.

Der Erde gehört dies Rot und nicht der Sonne. Bald drangen die ersten Strahlen meiner siegenden Kolonie zum Himmel, und küßten alle Tränen des Taues von der Erde; sind doch Tränen ihr einziges eignes Gedeihen!

Ich wendete mich nun zum Bilde, und es schien zu leben; das rote Licht strahlte dem Genius um Haupt und Herz, goß Leben und Blut durch das Ganze, und spielte dem nackten Mädchen um den Busen und den geheimnisreichen Schoß. Die Sonne wollte schneller in die Höhe, und jeder Strahl wollte das Denkmal der Schwester dem schamroten Lichte der Erde entreißen.

Vor mir war das Bild gleichsam geboren. Ich sah es in der Nacht wie in Liebe und Traum, im Mondlichte wie mit dem Begehren, erschaffen zu werden, in des Morgens Dämmerung wie in der Ahndung des Künstlers, mehr und mehr in den Begriff tretend, und ich stand vor ihm und sah, wie es hervordrang mehr und mehr in die Wirklichkeit, und endlich zum vollendeten Werke ward im Glanz der Sonne, getrennt von dem Schöpfer, der nur ein Gebärer ist, für sich selbst, mit allen Rechten seiner Gattung.

[294] Als es so vor mir stand, wie aus der Finsternis er stiegen, wie erblühet, gestaltet und frei, drang es heftig auf mich ein, und forderte von mir, was es war; es begehrte mit Gewalt, daß ich es erkenne, und ich fühlte mit Freude in meiner Brust, daß ich es erkannte, und daß es und ich in der Dunkelheit sein Begehren war, und daß sein Erlangen mit dem Lichte kam, in mir und in ihm.

Anfangs hatte ich nur den Totaleindruck seiner Eigentümlichkeit und so rein, als seine Vortrefflichkeit ihn geben mußte – Wollust, Jugend, Freiheit, Liebe und Poesie im Siege des Wahnsinns den Göttern geopfert. Da ich aber von seinem Ausdruck durchdrungen war, da ich es in mich aufgenommen hatte mit seinem Willen, da ich es liebte, forschte ich nun freundlich nach seiner Entstehung – wie ist dir? hatte ich zuerst gefragt; nun fragte ich: wie war dir, und wie ist dir so geworden? und es war, als sagte es:

Begreife die Bilder an den Seiten des schweren Würfels, von dem ich zum Himmel schwebe, und du wirst mein Leben erkennen, das ein schwerer Würfel war – doch mußte ich mit ihm um Glück spielen, bis der Gott das Glück fesselte. Ich selbst von der obern Seite des Würfels schwebend bin der Gewinnst. Die Liebe führt den spielenden Wahn zu den Göttern. Die untere Seite des Würfels ist meine Geburt; der Würfel war falsch, diese Seite mußte die Eins enthalten, aber sie enthält eine falsche Drei, ach! und nur so konnte der Würfel stehen, daß mein Sieg oben wohne.

Ich betrachtete die Reliefs der vier Seiten des Piedestals welche allegorisch Violettens Geschichte enthielten.

Das erste, wie sich das Kind zum Genusse entscheidet.

Das zweite, wie sich ihr die Jungfräulichkeit nicht anpassen will.

Das dritte, wie sie der Genuß besiegt, ihr den Gürtel löset und von dem Schoße um die Augen legt.

Das vierte, wie die Liebe sie besiegt, und sie in der Umarmung ihres Genius die Poesie nur noch im Wahnsinne erringt.

Die Gruppe auf dem Würfel aber, ihre Apotheose selbst, ihr Tod im Wahnsinne.

Über ihr schwebte der Genius, an seine Brust drängt sich der fliegende Schwan, in der einen Hand hebt er die Lyra [295] empor, und schauet selbst zu dem Himmel. Das Mädchen steigt nackt, halb ringend, halb schwebend und mit Schwere kämpfend, aus dem Gewande, das in schönen großen Falten auf den Würfel sinkt. Ihr Kopf ist auf den Busen sinkend und tot; der Genius hat die eine Hand in ihre Locken geschlungen, um sie heraufzuziehen; das Mädchen umklammert mit der Rechten seine Hüfte mit Liebe und Arbeit, und hebt die Linke matt und welk nach der Lyra, was man an den willenlos sinkenden Fingern dieser Hand erkennt. Die beiden Vorderseiten der Figuren sind aneinander gelehnt, so daß man von jeder Seite eine Figur ganz und eine halb sieht. Des Mädchens Brust ruht an dem Schwane, der die Mitte des Bildes erfüllt, und die beiden Figuren verbindet. Von der Seite des Genius sieht man den Unterleib Violettens, um den sich das Gewand noch gierig anschmiegt; ihren Busen und den schmerzlich liebenden Zug ihres Gesichts, den der Tod nicht ganz besiegt und der Wahnsinn wie ein letzter heftiger Reiz noch einmal ins Leben zu wecken scheint, sieht man von der einen Seite genug, damit das Bild seinem Sinne genüge; denn der ganze schöne Leib Violettens ist durch den einen schwebenden Fuß und den Zug der Hand des Genius in ihren Haaren auf ihrem andern, schwer an die Erde gebannten Fuße gewendet. Überhaupt ist es fein von dem Bildhauer gedacht, daß er die ganze Seite des Mädchens, mit deren Arm sie den Genius umklammert, sinkend und schwer gebildet und sie zum Anlehnen der Verbindung gebraucht hat, so wie er die andere, mit deren Hand sie nach der Lyra strebt, und deren Fuß sie hebt, ganz frei und in gelindem Schweben hielt. Von dieser Seite ist das Bild anzusehen. In der Mitte des Bildes, wo sich die Hand in die Locken windet, stirbt seine Wollust und Liebe, die mit dem Mädchen heraufdrang und löst sich sein Stolz und seine Hoheit, die vom Haupte des schwebenden Genius niederwallet, und erschließt sich gleichsam eine Wunde, die dem ganzen Einheit giebt, und in der sich beide schön durchdringen, und schön ist es, wie der Schwan sich an diese Wunde schmiegt, und den Schmerz des Anblicks lindert. Wenn ich sagen wollte, wo man das Bild im Leben fände, so würde ich sagen:

Gehst du in liebeheischenden Frühlingstagen abends durch [296] wunderbare kunstreiche Gärten, und suchst Liebe in der Dämmerung traulicher Lauben, und trittst du in eine, wo ein Weib so ganz ergeben in Schlaf oder Lust auf weichem Moose ruht, und trittst du hin, bebend in kühnem Rausche und banger Unerfahrenheit, stehst zitternd vor ihr; sie erwacht nicht; ein dünnes, formensaugendes Gewand bedeckt sie; der Busen hebt es nicht, und blickt durch das Gewand, wie deine eigene Lust durch deine bange Unerfahrenheit; du wendest deine Augen hin zum Haupte, und glaubst das Bild der Würde selbst zu sehen; dein Entschluß wankt, du sinkest nieder, küssest die schöne Hand, die auf der linken Brust gelinde zu ruhen scheint, und fühlest im Kuß der Hand des Busens ergebenden Widerstand, und wenn sich dann in allen deinen Gliedern das Leben regt, und alle Natur ein Bündnis schließt in deines Herzens Mitte gegen die Tyrannei der Furcht, der Sitte, und der Unerfahrenheit, und wenn du dann mit kühner Hand das Tuch, das dich so von der Liebe trennen will, verachtend, schüchtern, doch gelinde von den Füßen aufwärtsziehst, und immer höher in Seligkeit die lustbetränten Augen gleiten, und wenn das geschürzte Gewand das würdevolle Haupt schon längst bedeckt, den Busen du befreien willst, um hinzugehn in aller Freiheit in die Lust, wenn dann die schöne holde Brust – – – – – mit einer offenen Wunde blutgen Lippen zu dir spricht, was dir des Hauptes Würde nicht, und nicht des Schoßes heimliches Vertrauen sagte, wenn alle deine Lust in diese Wunde wie in ihr Grab dann sinkt, und hülfesuchend das Gewand du von dem ganzen schönen Leibe niederziehst, und von der schmerzenvollen Wunde aufwärtsblickst, hin nach dem Haupte, Gebet zu holen, und nieder über des süßen Leibes Zaubereien, mit dem Traume der irdischen Wonne deinen Schmerz zu lindern, wie in der Erinnerung des schönen Lebens die Trauer um den Tod sich mildert, und wenn du ewig zu der Wunde wieder hin mußt, bis endlich alles das in ihr zusammenrinnt, und Lust und Schmerz und Hoheit aus der Wunde blühen – so hast du voll des Bildes Eindruck, so stehst du vor dem Denkmal Violettens, und wendest du dich, und trittst ins enge dunkle Haus zu jenen Menschen, die du die Deinigen zu nennen pflegst, so fühlst du, was du dich vom Bilde wendend fühlest.

[297]
Siebzehntes Kapitel
Violettens Denkmal

Die vier Reliefs des Würfels und die Apotheose

Erstes Relief

Ein kleines Mädchen sitzet in der Mitte,
Die Arme schalkhaft über sich gerungen,
Hält sie ein junger Faun mit Lust umschlungen,
Sie sträubt sich ihm, der ihr mit wilder Sitte
Ein Tambourin mit Früchten reicht, die Bitte
Ist in des Mädchens Kuß ihm schon gelungen,
Doch nur die milde Frucht hat sie bezwungen,
Daß sie von ihm den wilden Kuß erlitte.
Denn von ihr abgewandt, die jungen Schmerzen
In Tönen lösend, singt ihr Genius,
Die Rechte in der Lyra, was im Herzen
Die Linke fühlt, es neiget von dem Kuß
Sich ihm des Mädchens Aug, voll schlauen Scherzen,
Sie hört sein Lied, doch sieget der Genuß.
Zweites Relief

Die Jungfrau steht, vor ihr ein Weib und zwinget
Die Freie, sich dem Gürtel zu bequemen;
Ihr, die sich schämt, der Nacktheit sich zu schämen,
Des Genius Arm die Füße hold umschlinget.
Indes dem Weib die Gürtung schon gelinget,
Scheint Neugier nur die Jungfrau zu bezähmen,
Sie sieht den Schwan vom Genius Speise nehmen,
Und hebt das Tambourin, das dumpf erklinget,
Hoch mit der Rechten, und mit scheuem Beben
Forscht ihre Linke, was im Spielwerk rauschet,
Und fühlet zarte Flügel kleiner Tauben;
[298]
Der Faun, der über ihr auf Felsen lauschet,
Beugt sich herab, die Tauben hinzugeben,
So konnte Lust ihr nur die Wildheit rauben.
Drittes Relief

Im Himmel irrt ihr Blick, und an der Erde
Ringt sie in wilder Blöße hingegeben.
In Lust ersterbend, voll von heißem Leben,
Übt sie, gereizt, so reizende Gebärde.
Auf daß ihm währe, was sie sich gewährte,
Legt schlau der Faun ihr, der in Lustgeweben
Nun gürtellos die freudgen Hüften schweben,
Den Gürtel um das Aug, wie Lust ihn lehrte.
In süßem Schmerz will sie die Arme ringen,
Und schlägt das Tambourin in wilden Lüsten,
Die Tauben buhlen auf den holden Brüsten,
Es bebt der Schwan in seines Todes Singen,
Es bricht in seines Liedes Lieb und Leiden
Der Genius der Lyra goldne Saiten.
Viertes Relief

Der Genius hält siegend sie umwunden,
Aus seiner Lippen liebevollen Hauchen
Trinkt Lieben sie, im Strahle seiner Augen
Trinkt sie den Tod in lusterschloßne Wunden.
Sie stirbt im Licht; die Binde losgebunden,
Muß sie in ewge Blindheit untertauchen,
Da ihre Küsse heilges Leben saugen,
Im Wahnsinn muß der Sinne Wahn gesunden.
Das Haupt verhüllt in loser Locken Fluten,
Streckt sie die Hand, die Lyra zu erlangen,
Die hoch erhebt, der Schwan reckt seine Schwingen,
[299]
Das Tambourin, in dem die Tauben ruhten,
Zertritt sein Fuß, den Faun sieht man gefangen
In jenem Gürtel an der Erde ringen.
Die Apotheose

Canzone

Gebet

Es ruht ein holdes Bild vor meinen Blicken
So kühn und mild verschlungen,
Wie Lieb und Lied, wie Kuß und Tod verwebet,
In Sehnsucht strebt es auf, weilt mit Entzücken,
Von Wollust ganz durchdrungen,
Des Bildes innres Heiligtum erbebet,
Still zu den Göttern schwebet.
Ich kniee an des Bildes Marmorstufen,
All meine Sinne rufen:
Gieb Liebe mir und Lied in Tod und Leben,
Laß mich mit dir zum stillen Himmel schweben!
Das Gewand

Die Jungfrau steigt von nackter Lust umflossen
Aus des Gewandes Falten,
Die halb in schöner Ungestalt herabgelassen,
Halb gierig noch, so buhlerisch ergossen,
Die üppigen Gestalten
Der Hüften ihr verräterisch umfassen,
Den holden Leib nicht lassen.
So zarte Hülle kann nur Dämmrung weben,
Will Phoebus sich erheben.
So küßt das Meer des Gottes goldne Füße,
Und fern noch glimmt die Glut der goldnen Küsse.
Violette

Ein schweres Leid strömt durch die holden Glieder,
Die Schwere kämpft mit Schweben,
Die Hüften ringen himmelan zu dringen,
Der Kopf sinkt sterbend auf den Busen nieder;
[300]
Um schneller sich zu heben,
Muß sie die Rechte um den Genius schlingen.
Hoch auf des Schwanes Schwingen
Schwebt er, zur Lyra ihre Rechte strebet,
Die seine Linke hebet,
Und mächtig hebt er sie mit seiner Rechten,
Verschlungen in der losen Locken Flechten.
Der Genius

Er, der am Boden freundlich nur geschienen,
Voll Huld und milder Treue,
Schwebt ernst empor in göttlichen Gedanken,
Des Sieges Feier strahlt von seinen Mienen,
Er läßt in stiller Weihe
Sich von des armen Kindes Arm den schlanken
Geschwungnen Leib umranken,
Ihn hebt der Schwan, und um sie nicht zu lassen,
Muß er ihr Haupthaar fassen.
Des hohen Werkes heilgen Schmerz entzündet
Die Hand, die er in ihre Locken windet.
Das Ganze

Das ganze Bild, in Einigkeit verbunden,
Gleicht rührendem Gesange,
Wie heilige Gebete aufwärts dringen.
Im Herzen glühen ihm so tiefe Wunden;
Mit schmerzenvollem Drange
Muß es nach Lieb und süßen Tönen ringen,
Zu Ruhe sich zu schwingen.
So hebt es sich, so strebt es nach der Leier,
So schwebt in hoher Feier
Der Gott empor und in des Bildes Herzen
Schmiegt sich der Schwan und reiniget die Schmerzen.
O harre, hebe mich empor!
Wie es in tiefer Andacht ganz erbebt
Und zu dem Himmel strebt. –
O Götter, löst den Schmerz in süßen Tränen,
Umarmt im kühlen Flug sein heißes Sehnen!
[301]
Achtzehntes Kapitel

Da ich diese Verse niedergeschrieben hatte, hörte ich Habern die Fensterladen unserer Schlafstube aufstoßen, und ging tiefer in den Garten. Ich sah Godwi in einer Allee mir entgegenkommen; es freute mich, und ich war entschlossen, ihm mein ganzes Verhältnis zu ihm zu erklären. Er sprach mit mir von gestern abend, und warnte mich nochmals ernstlich, mich solchen Stimmungen nicht hinzugeben; er sagte:

»Solche Stimmungen führen zu einer frevelhaften Ansicht des Lebens, und unsere Fähigkeit zu rühren erhält endlich so sehr das Übergewicht gegen jene, gerührt zu werden, daß wir der Welt hart und grausam vorkommen, wenn uns das Herz blutet – ich kenne dieselbe Empfindung, und es hat mir viele Mühe gekostet, ihre Narbe zu verlieren.«

»Sie haben Recht,« fuhr ich fort, »es liegt eine falsche Dramatik in diesem Zustande, und man zerstört sowohl sein Talent zu fühlen als darzustellen, wenn man die bloße unbestimmte Rührung durch den Witz gewaltsam zum Eindruck erhöht, und die Handlung genug zum Leiden herabstimmt, um dieses Mittelding von Rührung und Eindruck fantastisch äußern zu können. Übrigens habe ich einen solchen überwiegenden Drang zur Darstellung, daß ich mit großem Genuß in solchen Stimmungen verweile, und ich glaube wirklich, daß diese Art von Äußerung mir oft nützlich ist, da ich nichts weniger ertragen kann als das Stumme und Tonlose.«

Godwi wollte mich hierauf zu Violettens Grab führen. Ich sagte ihm, daß ich seiner Güte zuvorgekommen sei, und zwar indem ich zum Fenster herausgestiegen wäre.

Er lächelte, und sagte: »Ich danke Ihnen beinah dafür, denn dieses Bild ist mir mit vielen Schmerzen verbunden.«

»Auch mir ist es mit Schmerzen und Lust verbunden gewesen, ich habe in mir vieles an dem Bilde erlebt, und wenn es Sie freuet, so lesen Sie einige Verse, die mir der schöne Morgen in die Schreibtafel schrieb, als er mich und das Bild so vertraut fand.«

Ich gab ihm hier die Sonette und die Canzone; sie schienen ihn zu rühren, und ich dachte an die geringen Töne des Alphornes, [302] die dem Schweizer in der Fremde das Herz brechen können.

»Ich danke Ihnen«, sagte er, und drückte mir die Hand, es standen ihm Tränen in den Augen; »ich danke Ihnen für die Sonette, und erlauben Sie, daß ich sie abschreibe.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Tränen,« erwiderte ich, »welche die fehlende Pointe meiner Sonette so schön ersetzen, und erlauben Sie, daß ich diese Tränen abschreibe.«

»In einem Sonett? das wäre zu gedehnt – in meinem Leben? wenn Sie wollen, ja – ich bin Ihnen gut.«

»Und wenn ich schon manches aus Ihrem Leben abgeschrieben hätte, und Sie sähen meine schlechte Schrift, und meinen selbstischen Stil, würden Sie mir diese Tränen dennoch vertrauen?«

»Auch dann; Sie scheinen mir das Verwirrteste entwirren zu können. Sie haben Violettens Leben so treu in einer bloßen Darstellung ihres Grabmals geschildert, daß ich Ihnen zutraue, Sie könnten, wenn Sie lange mit mir umgingen, aus mir, dem Denksteine meines Lebens, meine Geschichte entwicklen.«

Ich zog hier den ersten Band dieses Romans aus der Tasche, und reichte ihn ihm mit den Worten hin:

»Ich halte Sie beim Worte.«

»Was ist das?« sagte er, schlug das Buch auf, las das Lied: »Und es schien das tief betrübte usw.«, sah mich an, blätterte weiter – »Römer – Godwi – Otilie – Joduno« – und lief mit dem Buche davon.

Ich reihte schon alle meine Entschuldigungen zusammen, als ich in mir durch die entschuldigende Ansicht meines Buchs auf die Geschichte seiner Sünden kam, welche aber nichts anders als eine Geschichte meiner Unschuld blieb, und diese Unschuld selbst hatte für mich ein so liebenswürdiges Ansehen, daß ich nicht zweifelte, Godwi mit einer naiven Darstellung dieser Unschuld ganz besänftigen zu können.

Hier bemerkte ich Habern, der langsam die Allee heruntergeschritten kam; er las in einem Buche, welches ich am Einbande für Goethens Tasso erkannte, denn ich hatte es morgens auf seinem Nachttische liegen gesehen. Er ging so langsam und nachlässig, daß ich vermutete, er lese die Worte der Prinzessin:


[303]
Schon lange seh ich Tasso kommen. Langsam
Bewegt er seine Schritte, steht bisweilen
Auf einmal still wie unentschlossen, geht
Dann wieder schneller auf uns los, und weilt
Schon wieder –

Ich zog mich in die Gebüsche zurück, um ihm einen Lorbeerkranz zu flechten, den ich ihm scherzhaft aufsetzen wollte, fand aber bald seinen eignen Hut, den er auf einen alten Aloetopf gesetzt hatte, und da er mich einholte, und mir guten Morgen sagte, nahm ich pathetisch ihm das Buch aus den Händen und las, indem ich seinen Hut berührte, der auf dem Aloetopfe hing, die Worte Alphonsens parodierend:


»Hat ihn der Zufall, hat ein Genius
Gefilzt ihn und gebracht? Er zeigt sich hier
Uns nicht umsonst. Den Aloe hör ich sagen:
Was ehret ihr den leeren Topf? Er hatte
Schon seinen Lohn und Freude, da ich blühte – «
Ich setzte ihm den Hut auf, und las, die Worte der Prinzessin parodierend, weiter:
»Du gönnest mir die seltne Freude, Haber,
Dir ohne Wort zu sagen, wie ich denke.«

Haber machte in seiner Verträglichkeit ein Meisterstück, er freute sich meiner Laune, und fügte hinzu, indem er den Hut wieder auf den Kopf setzte:


»O nehmt ihn weg von meinem Haupte wieder,
Nehmt ihn hinweg! er sengt mir meine Locken –

Denn ich habe ihn allein hierher gehängt, weil es mir zu heiß war. Übrigens sollten Sie mich nicht necken, daß ich die Idee habe, den Tasso zu übersetzen, Sie kennen meine Kunst noch nicht, und würden sicher mit ihr keinen Kampf bestehen –


Denn wer sich rüsten will, muß eine Kraft
Im Busen fühlen, die ihm nie versagt.«

»Ich gehe den Kampf zwar nicht ein,« sagte ich, »aber wir wollen doch zum Scherze ein italiänisches Lied miteinander [304] übersetzen, das ich für ziemlich unübersetzlich halte; es kommt mir eigentlich nur darauf an, daß das Lied übersetzt würde, heute abend wollen wir es beide Godwi vorlegen.«

Haber willigte ein, und ich schrieb ihm das Lied auf, dann ging er weg. Ich setzte mich nieder, und versuchte meine Übersetzung, aber ich ward mutwillig, und konnte es nur frei übersetzen. Ich brachte einen Teil des Vormittags damit zu, und da ich so ziemlich damit fertig geworden war, ging ich nach dem Landhause, eine Flöte Douce rief mich in die Familienstube des Pächters.

In der Stube stand ein Mann von etwa dreißig Jahren, der die Flöte blies; die Kinder waren um ihn versammelt, und hörten zu; ein besser gekleideter Mann stand vor ihm und sagte ihm: »Nun ist es bald genug.« Hier trat ich in die Stube, und er legte die Noten beiseite, putzte seine Flöte mit dem Schnupftuche sorgsam ab, und legte sie weg. Die Kinder in der Stube kamen nacheinander zu mir, und reichten mir die Hand, wie es die Mennoniten pflegen. Da ich glaubte, der Mann habe meinethalben aufgehört, so bat ich ihn fortzublasen; er versetzte mir: »Ja wenn es der Herr Doktor erlaubte! Sie selbst hätten mich nicht stören sollen, denn es ist lange, daß ich dies Vergnügen entbehre.«

Der Herr Doktor war der besser gekleidete Mann, und sagte mir, dieser Bediente Godwis, der Georg heiße, habe einen bösen Husten, darum habe er ihm das Flötenblasen untersagt; zugleich flüsterte er mir ins Ohr: »Schwindsucht, Schwindsucht, ist nicht herauszureißen«, machte dann seinen Diener und ging weg. Da er fort war, war die ganze Stube stille, und ich sah den armen Georg mitleidig an.

»Blase er immer noch eins«, sagte eine junge Frau, die am Spinnrade saß, »wir hören es gerne, und bei dem Doktor ist es ihm doch nicht recht vom Herzen gegangen.«

Georg schien mich mit seinen Blicken zu fragen, ob ich ihn nicht verraten wolle, und da ich ihn selbst darum bat, blies er, wie er sagte, sein Lieblingslied, und dann wolle er lange nichts wieder spielen. Die Tränen liefen ihm dabei aus den Augen, und mir auch; ich dankte ihm. Man rief mich zu Tische.

Dort fand ich Godwi, der lächlend meinen ersten Band zur [305] Seite legte, und mich fragte, warum ich so ernsthaft sei, ich solle sein Urteil nicht fürchten, obschon ihm vieles in dem Buche sehr lustig vorgekommen sei.

»So sehr mich Ihre Verzeihung auch rühren wird,« sagte ich, »so ist es doch jetzt Ihr Bedienter Georg, der mich so ernst gemacht hat. Warum muß der arme Mensch auch grade Flöte blasen zu seiner Brustkrankheit, und warum muß er die Musik so sehr lieben, als seine Krankheit sein Instrument haßt; wenn er unheilbar ist, so soll man ihm immer erlauben, früher an dieser schönen Leidenschaft zu sterben als an seiner garstigen Krankheit.«

»Sie haben recht,« sagte Godwi, »dieser gute Mann ist durch dieses Verbot unglücklicher als durch seine Krankheit, die er sehr gut kennt. Ich wollte, ich könnte ihn ein anderes Instrument lehren lassen, das zugleich tragbar wäre, denn er geht gar zu gern mit seiner Musik spazieren. Es freut mich, daß Sie mich daran erinnern, besinnen Sie sich doch, ob Ihnen nichts einfällt.«

Ich fragte ihn, ob er keine Laute oder Zither in der Gegend wüßte; ich wollte Georgen darauf Unterricht geben.

»Gut,« sagte Godwi, »eine Laute ist im Hause, und zugleich erfahre ich, daß Sie bei mir bleiben, worum ich Sie ohnedies bitten wollte.«

Ich entschuldigte mich, daß ich mein Hierbleiben so unvorsichtig vorausgesetzt hätte, versicherte ihn, wie gern ich es täte, und bat ihn, jemand in die Stadt zu schicken, der meine wenigen Gerätschaften herausbringe.

Georg wartete uns bei Tische auf, und freute sich sehr, da ich ihm sagte, daß ich ihn die Laute lehren wolle. Haber schien etwas unzufrieden zu sein; ich fragte ihn nach der Übersetzung, er klagte über die vielen italiänischen Wortspiele, übrigens gehe er nach Tische wieder daran. Wir setzten als Wette fest, daß der, dem die Übersetzung nicht gelänge, die Person in der Absingung des Wechselliedes übernehmen müsse, welche der andere bestimme. Haber entfernte sich bald wieder, und Godwi sagte:

»Es ist etwas boshaft von Ihnen, und doch sehr nützlich, daß Sie ihn beschäftigen; denn obschon ich ihn recht gern leiden [306] mag, so hat er doch nicht den Mittelcharakter, dem man sich vertrauen kann; sein Enthusiasmus wird meistens Hitze, und seine Ruhe Frost.«

»Ist es Ihnen heute nach Tische so vertraulich?« sagte ich, auf das Buch hinsehend.

»Ja,« erwiderte er, »wir wollen den zweiten Band miteinander machen.«

Ich ging mit ihm in den Garten, und er führte mich ans äußerste Ende in eine Eremitage. Auf unserm Wege zeigte er mir seitwärts einen Teich.

»Dies ist der Teich, in den ich Seite 146 im ersten Band falle.«

Dann traten wir in die Eremitage, er stieß den Laden auf, und das erste, was mir in die Augen fiel, war das steinerne Bild der Mutter, welches gleich neben diesem Fenster an dem Teiche stand.

»So ist es nun«, sagte er ruhig; »übrigens haben Sie mich in Ihrem Buche ziemlich getroffen, weniger Otilien und den Greis, und Sie sind zu entschuldigen, denn Sie hatten nichts über sie in Händen als die Worte eines glühenden Jünglings, die meinigen. Es muß Ihnen vor dem zweiten Bande sehr gebangt haben, denn wo sollten Sie mit Otilien, mit dem Alten, mit mir selbst hinaus.«

»Wahrlich ich konnte nur denken, daß ich den zweiten nie schreiben würde, weil ich den ersten nur schrieb wegen meiner Liebe zu Herrn Römers Tochter, und mußte ich ihn schreiben, nun so –«

»Ich danke, Sie hätten mich und die ganze Gesellschaft wohl vom Blitze erschlagen lassen.«

»Ungefähr so etwas, denn Sie muten mir doch nicht zu, daß ich Ihnen Otilien hätte zum Weibe geben sollen –«

»Nein, soviel nicht – aber ich hätte mich wenigstens umbringen müssen, weil sie mich nicht nehmen wollte oder konnte – einen anderen Ausweg wüßte ich nicht – ihr untreu werden? – das ganze Publikum hätte auf mich geschimpft – sie heiraten? – Sie hätten in geheimnisreichen, chemisch-poetischen und doch deutlichen Worten die Ehe hereinführen müssen, sonst hätte das Volk bei seiner armseligen Liebe immer noch gelacht, mich bei [307] Otilien im Bette zu wissen, bei dem sternenreinen Mädchen, die so fein ist, daß Ahndung und Erinnerung wahre Telegraphsbalken für sie sind. Ich kann mir Ihre Otilie kaum wie eine Hostie denken.«

»Sie ist freilich etwas sublime schlecht geraten, und ich hätte Sie nicht mehr lange oben bei ihr allein lassen dürfen, denn Ihre Phantasien wollten auch nicht endigen. Was sollte der Greis weiter vorbringen? von seiner Geschichte wußte ich nichts. Einigemal war ich entschlossen, durch Sie Otiliens Tugend angreifen zu lassen, nur um ihr etwas Stoff abzugewinnen, weil sie doch auch gar nichts tat, als unendlich zart sein. Es würde sicher zu einem solchen ehrenrührigen Komplott gekommen sein, hätte mir der Buchdrucker nicht so zugesetzt, daß ich nicht Zeit hatte, sie zu verführen. Ich mußte mich daher mit der Freude begnügen, alles, was sie gesagt hatte, mit etwas Bosheit durchstudiert zu haben, um auf irgend eine Zweideutigkeit zu stoßen, auf die ich den Baum ihres Sündenfalls hätte pflanzen können, damit ich nachher die verschiedenen vortrefflichen Partieen ihrer Sünde zu verschiedenen Zweigen verarbeiten könnte, welche wieder Äpfel des Guten und Bösen getragen hätten.«

»Und was wollten Sie Seite 153 mit den stillen Lichtern? Sie wollten doch nicht etwa dem Mädchen eine neue Art Mythologie geben?«

»So etwas für die lange Weile; aber ich fühlte zu sehr, daß ich die alte noch nicht verstehe.«

»Eine neue Mythologie ist ohnmöglich, so ohnmöglich wie eine alte, denn jede Mythologie ist ewig; wo man sie alt nennt, sind die Menschen gering geworden, und die, welche von einer sogenannten neuen hervorzuführenden sprechen, prophezeien eine Bildung, die wir nicht erleben.«

»Sie meinen also, es gäbe keine Mythologie, sondern überhaupt nur Anlage zur Poesie, wirkliche gegenwärtige Poesie, und sinkende Poesie. Mythen sind Ihnen also nichts anderes als Studien der dichtenden Personalität überhaupt, und eine Mythologie wäre dann soviel als eine Kunstschule, so wie eine hinreichende Mythologie eine hinreichende Kunst, und eine letzte endliche Mythologie nichts als ein goldnes Zeitalter wäre, [308] wo alles Streben aufhört und nichts mehr kann gewußt werden, weil dann das Wissen das Leben selbst ist; nicht einmal das Wissen kann dann gewußt werden, da wir keine Einheit mehr denken könnten, indem die Möglichkeit zu zählen in der bloßen Einheit, die allein noch übrig sein könnte, aufgehoben wäre.«

Godwi sah am Ende meiner Rede zum Fenster hinaus, und als ich schwieg, kehrte er sich mit folgenden Worten um:

»So ein paar Sachen, die ein jeder verstehen kann, wie er will oder kann, weil sie undeutlich sind, lassen Sie wohl auch im ersten Bande mit einfließen, aber im zweiten soll es nicht sein.«

Er nahm mehrere Papiere aus dem Schreibpulte, und sagte: »Diese Papiere enthalten die Geschichte meines Vaters in Bruchstücken, wie auch die meiner Mutter und das meiste der Jugendgeschichte des Alten und Mollys, von Kordelien nichts, auch von mir nichts; aus allem diesem nun müssen Sie Ihren zweiten Band zusammenschreiben und mir vorlesen, von den Nebenpersonen des ersten Bandes dürfen Sie nicht viel sagen, weil sie bald abtraten. Das Übrige meines Lebens, bis jetzt, will ich Ihnen dann erzählen. Sie können hier von dieser Zelle Besitz nehmen, und darin arbeiten. In der Zwischenzeit führe ich Sie in die Bildergalerie, welche zu Ihrem Buche hier in dem heiligeren Teile des Hauses sehr vollständig ist, denn mein Vater ließ beinah alle die Hauptszenen aus seinem Leben malen, daher waren auch immer so viele Künstler bei ihm. Ich habe diese Eigenschaft mit wenigen anderen nur insoweit von ihm geerbt, daß ich Violettens Denkmal verfertigen ließ, die bestimmendste Szene meines Lebens.«

Ich dankte ihm für seine Güte, und versprach ihm, es so gut zu machen, als ich könnte; dann las er mir hintereinander die Aufsätze vor, und ich bildete daraus, was die Leser nun hören werden.

Neunzehntes Kapitel
Geschichte der Mutter Godwis und ihrer Schwester

In einer Handelsstadt an der Ostsee lebte Wellner, ein wohlhabender Kaufmann, der seine beiden Töchter liebte, und fleißig über ihren Sitten und ihrer Bildung wachte. Er hatte seine [309] brave Hausfrau früh verloren, da Marie und Annonciata noch sehr jung waren, und ihr in der letzten Stunde versprochen, diese mehr zu hüten als sein Geld und Gut, was er auch treu vollbrachte; ja man könnte sagen, wirklich über Vermögen, denn er verlor in der Zukunft nicht nur sein Vermögen, und meistens durch die Liebe zu seinen Kindern, sondern er verlor auch beide Kinder selbst.

Er gesellte ihnen einen Jüngling zu, welcher elternlos war, und den er in seinem Hause unterhielt. Dieser, den ich Joseph nennen will, war immer mit den Mädchen, er hatte gute Schulkenntnisse, und gab ihnen den ersten Unterricht.

In der Blüte des Lebens, wo sich die Gattung in einer schönen Blume entfaltet, erklärte sich Marie als ein durchaus sanftes und argloses Geschöpf mit einem treuen warmen Herzen und einem hellen Geiste, der aber meistens in der Wahl das Gute dem Schönen vorzog.

Annonciatens Blüte war schwerer zu bestimmen, ein kühneres und doch harmonisches Gemisch von Farben ist nicht leicht denkbar. Alles liebte sie, und keiner mochte sie recht leiden. Man wagte seine Liebe selbst in dem Kinde schon nicht zu wissen, weil man eben dieses Kind nicht verstand. Sie selbst machte keine Forderungen an die Welt, und war doch nichts als Begierde; das meiste genügte ihr nicht, aber sie konnte es nicht sagen, weil sie die Armut der Gebenden schonte.

Dieser ganze Zustand war nur Zustand in ihr, denn sie konnte noch nicht überlegen, als sie schon so im Leben stand, und in der Folge meinte sie, es wäre wohl nicht anders, und dieses sei das menschliche Leben. Sie liebte nichts so sehr als Blumen und sang recht artig.

Wellner glaubte, ihr stilles und oft heftiges Wesen sei eine Folge eines geschlechtlichheftigen Temperaments, und er wünschte sie daher früh verheiratet zu sehen. Freilich hatte er in seiner Meinung nicht ganz unrecht; aber der gute Mann wußte nicht, welcher große Unterschied zwischen dem sogenannten heftigen Temperament und der von Grund aus reinen Weiblichkeit ist.

Marie war des Vaters Augapfel, denn sie war ruhig und bescheiden, und schien nichts zu wünschen, als was er ihr geben [310] konnte. Er hatte sich daher fest ent schlossen, sie spät oder nie von sich zu lassen. Da er allein für seine Kinder lebte, und alle seine Gedanken nur sorgend für ihr Wohl waren, so durchdachte er ebenso gern seinen Lebenskreis, sich für Marien eine Verbindung zu erfinden, als er viele Stunden überlegte, wie er Annonciaten glücklicher machen könne, als es die Welt überhaupt konnte.

Joseph, den er in seine Handlung genommen hatte, und der seine Töchter fleißig unterrichtete, ward ihm täglich unentbehrlicher, denn er war ebenso sehr fein und spekulativ als treu und anhänglich, und die Handlung stieg unter seiner Einwirkung ebenso schnell, als der Vater mit Freuden besonders Mariens Bildung sich entwickeln sah.

Mit Annonciaten war es nicht so, denn lebendige Früchte können in ihrer Gesundheit nur durch die Sonne reifen. Sie ermüdete leicht an Josephs Unterricht, und wo ihre Bildung vor sich ging, im inneren Heiligtume ihres Busens, da konnte Joseph nicht hinsehen. Der junge Mann ward oft durch ihre auffallenden Fragen gestört, und als sie ihn in einer solchen Verlegenheit recht von Herzen, wie sie oft pflegte, guter Joseph! nannte, beleidigte ihn dieses, und er klagte es Wellnern. Dieser stellte ihr diese Beleidigung recht herzlich vor, und obschon sie ihre Unschuld tief empfand, so bat sie ihren Vater doch mit bittern Tränen um Vergebung, und versprach, Josephen dasselbe zu tun.

Es kostete ihr vielen Schmerz, und Joseph konnte ihrer Rührung nicht mehr Einhalt tun, als sie Verzeihung von ihm erflehte, so daß er anfing, sie für etwas beschränkt zu halten, da er ihre heftige Ausrufung, wie keine Liebe und keine Freundlichkeit in der Welt sei, hörte, denn in dieser Opferung ihres Stolzes löste sich alles in ihrem Herzen, und indem sie um Verzeihung zu bitten glaubte, beschuldigte sie das ganze Leben.

Nach dieser Szene wendete Joseph sich immer mehr zu Marien, und auch Annonciata kehrte mehr in ihr Herz zurück, obschon sie edler als er ihn nichts davon empfinden ließ.

An einem vertraulichen Abend war Joseph noch spät auf der Stube Wellners, und sie sprachen vieles über die Lage der Handlung, und eine Reise, die Joseph übernehmen müsse, um ihr [311] mehr Selbstständigkeit zu geben, und sie den geldsaugenden Commissionairs zu entziehen. Von dieser Unterredung kehrte Wellner wie gewöhnlich auf das Schicksal seiner Töchter zurück, Joseph aber schwieg, als habe er etwas auf dem Herzen. Der Vater sagte:

»Es ist wunderbar, wie kein Geschäft auf Erden unserm Leben, unserer Tätigkeit Freiheit giebt, es mag noch so blühend sein, als es Fleiß und Einsicht machen können. Niemals wird die schöne Gewohnheit einer bezweckten Tätigkeit hinreichen, und wir kehren auf jedem Punkte, der eine Rundung der Ansicht erlaubt, in unser eignes armes Herz zurück, und bringen höchstens etwas Zerstreuung oder Stoff zu neuen Plänen mit, wenn wir zur Arbeit zurückkehren. Wenn ich nun Ihre Reise bedenke, und alle die schönen Vorteile derselben betrachtet habe, was habe ich am Ende gewonnen, was wird aus meinen Kindern werden, wenn ich mit ihnen allein bin? was, wenn Sie wiederkommen?«

Joseph hatte eine solche Minute erwartet, und sagte ihm gerührt:

»Ich ehre diese Empfindung in Ihnen, Ihre Güte hat mich Ihnen so nahe gebracht als Ihren Kindern; für Annonicaten weiß ich nichts, als daß es gut sein wird, sie bald zu verehlichen, um ihren unbestimmten Empfindungen die allgemeine Richtung des Weibes zu geben.«

»Und für Marien?« fuhr Wellner fort.

»Für Marien«, sagte Joseph, »kann ich nicht wählen, denn ich liebe sie.«

Dies Geständnis hatte ihm viel Mühe gekostet, weil er nur zu sehr fühlte, wieviel er Wellnern schon zu danken habe. Wellner fand dies nicht, er fühlte die Schuld, wäre je eine da gewesen, längst getilgt, und versprach ihm Marien mit Freuden, als Lohn seiner Treue, wenn sie ihn liebe.

Dies glaubte Joseph beinahe schon, oder wenigstens, daß sie ihn heftig lieben werde. Hierin irrte er sich, denn sie liebte ihn sehr; nur war sie keiner lebhaften Äußerung fähig; auch reizte sie nichts zum Geständnis, da ihr Herz wie ihr Leben voll stillen Glücks und voll Ruhe war.

Da nur noch wenige Monate bis zur Abreise Josephs übrig [312] waren, so wurde die Verbindung und seine Aufnahme in die Handelsfirma bis zu seiner Rückreise festgesetzt; doch entschlossen sie sich, ihm Marien näherzubringen, und zugleich für Annonciatens Versorgung zu denken. So hatten die beiden Freunde gesprochen, und verließen sich beide zufrieden, voll Hoffnung auf eine schöne Zukunft.

Als Wellner nach seiner Stube ging, und im Begriffe war, zu Bette zu gehen, hörte er seine Töchter, die über ihm wohnten, noch wach sein und im Gespräche. Er war noch ganz von den Worten, die er in Liebe zu ihnen mit Joseph gewechselt hatte, durchdrungen, und setzte sich an das offne Fenster, um ihnen zuzuhören. Die Mädchen, von der schönen Nacht ans Fenster gelockt, sprachen vertraulich mit einander, und von Dingen, die ihn sehr rührten.

»Wie ist dir?« sagte Marie zu Annonciaten, »wenn du so in den stillen Himmel siehst und den Mondschein –«

»Liebe Marie, wie mir dann ist, wenn ich dir das so recht beschreiben könnte, oder irgend einem Menschen, so wäre ich recht glücklich; ich denke oft daran, und ich würde dich nicht immer bitten, mit mir ans Fenster zu treten, wenn mir meine Empfindung dann klar und deutlich wäre, denn überall kann ich wohl einsam sein, wo mir etwas deutlich ist – o! dann kann ich immerfort so in mir allein denken, ja wohl ordentliche Gespräche mit meinen Gedanken halten; aber wenn der Mond in die Stube scheint, kann ich nicht ruhen, und muß ans Fenster hin. Es ist mir, als rufe er mich, ich müsse ihn wieder ansehen, die ganze schöne Nacht spräche mit mir, und frage mich scharf aus; die Antwort aber liegt mir tief im Herzen begraben, und es ist mir oft, als müsse mir das Herz brechen, damit ich es nur sagen könnte.«

»Das ist seltsam, da bist du wieder ganz anders als ich, in mir ist es nicht so.«

»Wie ist dir dann, was möchtest du tun, was möchtest du haben? Jetzt, da du siehst, daß es draußen ganz anders in der Welt ist, was möchtest du, das auch dich verändere? damit du wieder ruhig würdest, und mit der Welt zusammenstimmtest; denn wenn du schläfst, ist es dir doch nur wohl, weil du nichts von der Nacht weißt.«

[313] »Ich verstehe dich nicht, du bist wohl wieder melancholisch, – wenn ich schlafe, ob ich da nichts wisse; nun das weiß ich nicht. Manchmal träume ich auch, und wenn ich hier bei dir stehe, und du sprichst nicht, oder ich bin schläfrig, so wünsche ich, Joseph wäre bei mir, und spräche vertraulich mit mir, wie er nun bald abreise und wir Briefe mit einander wechseln wollen. Auf diese Briefe freue ich mich sehr, denn ich habe noch an niemand geschrieben; es ist mir wie ein neuer Sinn, der mir aufgehen soll, und ich denke schon oft ganze Briefe an ihn aus.«

»Du bist glücklich, du liebst Josephen wohl.«

»Ich denke meistens an ihn, liebe ihn lieber als den Vater, und kann denken, daß ich gern mein ganzes Leben mit ihm sein möchte: wenn dies Liebe ist, so hast du recht.«

»Ich habe recht, das ist Liebe, das ist deine Liebe.«

»Meine Liebe? giebt es denn mehr als eine Liebe.«

»Es giebt vielleicht nur eine, aber jeder Mensch hat wohl doch eine andre. Mir ist nicht so wie dir, wenn ich hier stehe; es ist mir, als müsse ich mich verlieren in ein anderes Wesen, wie die Bäume dort sich ineinander verlieren; ich möchte nicht immer Annonciata sein, und doch weiß ich nicht, wie ich das soll; ich kenne niemand, in den ich mich verwandlen könnte; ich möchte oft sterben, um nicht mehr alleinzusein, und sterben für wen? das kann ich auch nicht sagen, und das ist es, was ich immer empfinde, und abends mehr als sonst; das ist es, was mich im Herzen drückt, und wenn so der kühle Wind weht, wird mir es besser, ich fühle dann in meinem Herzen, als sei ich gut, als tröste ich mich mit der Ruhe da draußen in der Nacht und dem Glücke der Natur.«

So sprachen die beiden Mädchen noch lange, Wellnern flossen die Tränen über die Wangen; er hätte noch gerne zugehört, aber er konnte die kühle Luft nicht vertragen. Er schloß deswegen das Fenster mit Geräusch, damit seine Kinder ihn hören und auch schlafengehen möchten. Marie zog sich zurück, denn sie hatte einen stillen verstehenden Gehorsam, Annonciata aber blieb allein wach.

Einige Stunden nach Mitternacht hörte sie den Vater Josephen klingeln, und diesen auch zu ihm kommen. Da sie ans Kamin trat, welches ihre Stube mit der des Vaters verband, hörte [314] sie, wie der Vater am Fenster gesessen, ihre Unterredung gehört habe, und daß ihm nicht ganz wohl sei. Er erzählte Josephen von Marien, wie sie von ihm gesprochen, mit Freuden; auch von ihr hörte sie ihn sprechen, wie sie seltsame Dinge gesagt, die ihn sehr bekümmerten, und daß er sie mit dem jungen Genueser, der hier sei, bekannt machen wolle; es schien ein reicher kluger Mann zu sein, und es würde ihn glücklich machen, wenn sie ihn lieben könne.

Annonciata hörte das alles mit Ruhe an, freute sich des Glücks ihrer Schwester, und da sie glaubte, es wäre wohl recht hübsch, wenn Marie auch unten wäre, so näherte sie sich ihr und sagte, um sie zu wecken: »Liebe Marie, stehe auf, und gehe hinab zum Vater; ich glaube, es ist ihm nicht wohl, er hat jetzt noch Josephen rufen lassen; frage ihn, was ihm fehlt, und pflege ihn; ich weiß, daß du es ihm besser tun kannst als ich, und daß es ihm viel Freude macht.«

Marie dankte ihr, zog sich schnell an, und ging hinab. – Annonciata aber weinte –

Wellner freute sich herzlich der Aufmerksamkeit Mariens, sie saß so freundlich auf seinem Bette, und Joseph still an der Erde: da konnte er sein Herz nicht mehr erhalten, und legte ihre Hände in dieser Nacht für die Zukunft versprechend zusammen, und gab ihnen beiden zwei goldne Ringe, die sie vor ihm verwechselten.

Zwanzigstes Kapitel

So weit hatte ich geschrieben noch diesen Nachmittag, nachdem mich Godwi verlassen hatte. Da ich fertig war, kam er zu mir, und ich las es ihm vor. Dann führte er mich durch den sehr ausgedehnten Garten nach einer andern Seite, die ich noch nicht kannte, und sagte, daß er mir die Bilder zu meiner heutigen Arbeit zeigen wolle. Dieses freute mich sehr, und ich versicherte ihm, daß es mich aufmuntern würde. Bald standen wir vor einem alten Gebäude, welches das Aussehen einer verfallnen Dorfkirche hatte. Da er die große Türe mit rasselnden Schlüsseln aufschloß, sagte er scherzend: »Es ist mir immer, als sei ich das Gespenst eines alten Küsters, welches die gewohnten Wege [315] schleicht, wenn ich diese Kirchtüre aufmache. Ich mag diese Anstalt nicht leiden, sie hat etwas Abenteuerliches, und wäre sie von meinem Vater nicht in einem Zustande der größten Verschlossenheit und Verstecktheit gemacht worden, und nur für ihn allein, so würde ich gar nicht böse sein, wenn die Leute ihn einen Narren nennen. In meinem Knabenalter lag diese Kirche schon wie ein unerträgliches Geheimnis vor mir, und es schauderte mir immer, wenn mein Vater mit einem der fremden Künstler hineinging, und wieder allein herauskam, als habe er ihn ermordet.« Die Treppe, welche grade der Türe entgegenkam, führte in einen ovalen Saal, in dessen Mitte eine mit Tuch verkappte Figur stand; ähnliche standen an den Wänden umher.

Godwi blieb neben mir in dem Saale stehen, und sagte: »Kann man sich etwas Tolleres denken, als sein ganzes Leben in Stein hauen zu lassen, und so in einer Stube zusammenzustellen?«

»Es liegt etwas Fürchterliches darin, und eine wunderbare Eitelkeit im Dunkeln, wo einen niemand sieht; es ist, als prahle einer um Mitternacht so recht auf seine eigne Hand.«

»Sie sind zu streng«, sagte Godwi; »Eitelkeit war es nicht, und nicht Prahlerei; toll bleibt es ziemlich, doch hat diese Tollheit eine edle Quelle, die bitterste Reue mit der Idee, sich alle diese Figuren wie Richter herzustellen, welche ihn seines Lebens anklagten, das zwar kein Verbrechen, aber große Verirrungen umfaßte, bis auf eine Handlung, die zwar auch ein Kind seiner Leidenschaft, doch bestimmter bösartig war; diese hatte den Scheiterhaufen angezündet, auf dem er hier in ewiger Reue brennend lebte. Jetzt ist er ruhig.

Meines Vaters Bisarrerie war die schöne Bisarrerie, das Böse, welches nie gut gemacht werden kann, schön zu machen; seine Idee war, das Gute sei in der Zeit, und das Schöne im Raum, und die Möglichkeit des Ersatzes einer verderbten Jugend sei, ihr in reiferen Jahren Gestalt zu geben. Er sagte, jede Handlung wird zu einem Denkstein, der mich beschuldigt, und den ich nimmer umwälzen kann; aber ich kann diesen Stein zwingen, zu einem schönen Bilde der Handlung zu werden, die er bezeichnet.«

[316] »Die Idee Ihres Vaters ist groß, und man sollte nie sagen: ich will es wieder gut machen; denn dies bleibt nur Vorsatz, und ist das Wort der Reue; man sollte sagen: ich will es schön machen. Auch liegt unstreitig in dem Gedanken, daß Böses und Gutes in der Zeit liege, viel Tröstliches; wir dürfen dann nur unsere Handlungen als Folgen denken, so haben wir bloßes Leben.«

»Jeder Mensch,« sagte Godwi, »der in sich selbst groß werden will, sollte in sich den Stoff und den Geist auffinden. Alles, was in ihm bloß Geschichte wäre, müßte ihm Stoff zu Idealen seiner selbst werden. So bliebe ihm der größte Teil seiner Jugend unverloren, und ein herrlicher Gewinn. Er hätte dann in sich eine eigne Welt der Kunst und Natur, und büßte er auch alle seine Sinne ein, so könnte er doch in sich fortbilden, denn in ihm läge ein Universum, und er könnte sich lieben und anbeten.

Mein Vater tat dieses mit einer großen Anstrengung, auch kam er dadurch immer mehr und mehr zur Ruhe. Doch fing er zu spät an, und hatte seine Unbefangenheit schon zu sehr verloren. So erschuf er diese Bilder mehr in phantastischer Buße als in Liebe zu sich. Endlich ward es ihm zur selbstischen Gewohnheit, ja zur Bequemlichkeit, und hätte sich sein Geschick nicht gelöst, so würde es ihm zum Laster geworden sein, denn er erhob der Notwendigkeit halber, eine Form zu erfüllen, oft seine kleinsten Fehler zu Verbrechen, und seine ganze schöne Leidenschaft war auf dem kürzesten Wege, Pietisterei oder Pedanterei zu werden. Doch wir wollen uns zu dem Unsrigen wenden.«

Wir traten zur rechten Seite des Saales in eine Stube, an deren Wänden mehrere verhüllte Gemälde hingen. Godwi blieb vor einem stehen, zog den Vorhang in die Höhe, und sprach:

»Hier ist Annonciata, die Jungfrau, einer Umgebung, dem Spiegel ihrer Seele, gegenüber.«

Das Bild war warm und voll Allegorie, der ganze Ausdruck leise vordringend, und von allen Punkten gleichmäßig ausströmend; es war mir, als walle eine laue leichte Luft von den Farben auf mein Herz, und ich stand mehrere Minuten voll leichtatmender Lust; doch stieg meine Empfindung mit der Dauer, und das Gemälde schien fortschreitend erhöht.

[317] »Es wehet wie aus warmen Tälern zu mir herauf,« sprach ich, »mir ist wohl, ich werde mild berührt, und in mir erhebt sich ein körperlicher Reiz, der unbestimmt und doch allgemein ist. In Stunden, in denen ich liebte und nicht fühlte, wie ich leise auf wolkichten Träumen hinabzog in ein anderes Wesen, wo die Ströme lieblicher unausgesprochener Rede schneller flossen, und die gestaltlose Flut der Seele fromm von dem schweigenden Mädchen empfangen wurde – wo die Liebe schon verstummte, und keinen einzelnen Sinn mehr hatte; wo meine Brust schon hörte und mein Auge küßte, wo mir die stille Woge ihres Busens begegnete, und ich so trunken war in dem Widerspruche der milden Annäherung, da war es mir so. – Doch nimmer weilt solches Leben – wohin, wohin gleitet die sehnende Fahrt? o Heimat! fliehe ich dich, eile ich dir entgegen? – wie löst sich aller Besitz! ist die Welt mein, und bin ich ein Bettler? wo ist mein Vaterland, wo ist meine Liebe? – ach! bist du nicht für die Erde? Annonciata! wer löst dir die Zauberei des Frühlings, wer löst dir dein Herz? das in Sehnsucht bricht; will keine Sonne kommen? die tiefen dunkeln Augen der Gedanken zu öffnen, die aus deinem Herzen steigen, und ist dein Busen eine Wiege der Kinder, die hier nicht leben dürfen? Schmerz, Schmerz! brennendes Verlangen, wer bricht dir das Siegel im Herzen, und welchem bist du gesendet? du dunkler Edelstein im Diademe der weissagenden Zeit – Wunderkind!« –

Hier ließ Godwi den Vorhang niederrollen. – »Es war genug, lieber Maria, der Maler hat seine Schuldigkeit getan, und Sie waren auf dem besten Wege, den Eindruck des Bildes auf Sie und nicht das Bild zu betrachten.«

»Verzeihen Sie, ich dachte bei dem Bilde an ein Mädchen, das ich sehr liebe, und diesem Bilde gleicht. Lassen sie mich das Bild nur wieder sehen; Gott weiß, wann mich das unselige Selbstbewußtsein ohne Geistesgegenwart verlassen wird; ich komme nimmer dazu, etwas wie ein vernünftiger Mensch zu betrachten.«

»Sie wissen wohl von dem Bilde gar nichts mehr«, sagte Godwi.

»Nein, das ist ja eben das Unglück, daß ich mich mit jeder Erscheinung begatte, und der Mutter ewig ungetreu eine Menge [318] unehelicher Kinder habe; nimmer komme ich zu einer honetten Haushaltung in meiner Seele.«

Godwi zog den Vorhang wieder in die Höhe, und ich nahm mich recht zusammen:

»Abend-Dämmerung, rechts sinkt die Sonne, links dunkler Vorgrund, ein kleiner Hügel mit fetten großblättrichten Gewächsen, auf dem sich eine Rebenhütte erhebt. Annonciata, ohngefähr vierzehn Jahre alt, sitzt unter dem Rebendache, weiß gekleidet, das schwarze Lockenhaar wallend, ihr Gewand mehr als malerisch, wirklich bürgerlich nachlässig; ihr Blick ruht in der Minute, wo sich der Himmel und die Abendröte durchdringen; um ihre Stirne schlingt sich Orangenblüte, sie umfaßt mit beiden Händen ein Körbchen voll roter Früchte, das auf ihrem Schoße steht, so daß sie die jungen keuschen Brüste etwas in die Höhe drängt, und der Flor sich liebevoll öffnet. Sie sitzt ohne Schamhaftigkeit, keine Spur von Zucht; sie will nichts, sie wird gewollt; das Leben verlangt sie; von allen Seiten glüht Liebe und Lust zu ihr hin; alle Blätter gießen ihre hoffenden Flammen über sie aus; die Blumen geöffnet blicken ihr in die Augen, und die Kräuter schmiegen sich um ihre Füße; die Sonne will nicht sinken, und das schwellende Herz der Nacht sinkt schwerer voll Lust nieder, sie will zu ihr herab. Die Ferne dringt zu ihr herüber, und die Nähe lehnt sich dieser siegreich und stolz entgegen. Sie selbst atmet nur, sie ist nicht gefangen in diesem wunderbaren Kampfe der Liebe; in ihrem Herzen ist Andacht, und ihr Antlitz ist Gebet. Neben ihr steht eine Urne, in welcher Aloe blüht; auf dem steinernen Geländer einer Treppe und vor der Urne sitzt ein Pfau, der den goldnen glühenden Hals der Sonne nachrufend ausstreckt, aus seinem sinkenden Schweife blicken köstliche Augen von Saphir und Gold nach den Sternen, die still am Himmel heraufblühen.«

»Dies Bild«, fuhr Godwi fort, »ist mit einer wunderbaren Resignation gemalt, man kann es nicht recht geduldig ansehen; der Maler tat auch gar nichts für den Betrachter.«

»Ja,« versetzte ich, »Annonciata nur allein kann es betrachten, und wir nur Annonciaten, denn alles ist nur für sie gemalt, oder vielmehr sie malt es in jedem Augenblicke. Wenn ich bedenke, daß diese milde Glut der Sonne, der schwermütige Himmel und [319] die freundlichen Sterne, daß die ganze rührende Melodie des Bildes nur die aufgelöste Annonciata ist, und Annonciata nichts als die menschliche Gestalt dieser Umgebung, so erkläre ich deutlich in mir ein Gefühl, das mich in der Natur begleitet; sie beunruhiget mich, es ist mir, als könne ich sie nicht betrachten, als belausche ich sie nur in einem stillen treibenden Geschäfte der Wandlung, und es giebt wenige Gegenden, die nicht einen andern Menschen als mich bedürften.«

»Nur der allgemeinste Mensch,« sagte Godwi, »nur ein Mensch, der groß, glücklich und gesund ist, kann ohne Druck den ganzen Umfang der Naturanschauungen ertragen. Jeder Einzelne hat seine eigne Natur, vor der er gleich einem höheren Bilde steht, welches mit Rührung auf seine Geschichte zurücksieht. Ich empfinde mit Freuden, wie ich seit einiger Zeit mehrere Arten der Aussicht liebe, die mich sonst verwundeten, und dies ist mir eine Erfahrung, welche mir eine Erweiterung meiner selbst versichert.«

»Mir ist noch nicht so,« sagte ich, »ich kenne nur eine Aussicht bis jetzt, und habe noch keine Landschaft gesehen, die mir wohl tat, als diese, und wäre meine Gestalt von meinem Gemüte ganz durchdrungen, könnte ich überhaupt jemals mich selbst vorstellen, so hätte in diese Landschaft ein Maler keine Figur als die meinige stellen dürfen, um nicht aus der Haltung zu fallen.«

»Wo ist diese Aussicht?« fragte Godwi, »wenn Sie sie nicht wie eine Geliebte verbergen.«

»Am Rhein, auf einer herrlichen Stelle.«

»Gut, so habe ich sie wahrscheinlich auch gehabt, und es sind wirklich Gesichtspunkte am Rhein, die ich nicht auszusprechen wage.«

»Ich saß höher als der höchste Berg der Gegend, auf der Spitze eines jungen Baumes, den eine mutige Hand in die höchsten Trümmern eines zerstörten Turmes gepflanzt hatte; über Untiefen von Wald, die wie Katarakte und stürmende Heere unter meinem Blicke auf und nieder stürzten, brauste der herrliche Fluß des üppigen Friedens und der trotzigen Ruhe. Ringsum weit die Städte und Flecken hingesäet, viele tausend Blicke auf meinen Standpunkt gerichtet, in tiefer Einsamkeit, Vor- und Nachwelt um mich aufgelöst in ein unendliches [320] Gefühl des Daseins. Ich hatte ein trauriges Herz voll verschmähter Liebe da hinaufgetragen, so recht gar nichts da oben erwartet, und ging mit einer sehr breiten Resignation durch den Wald. Aber der Mensch ist so enge in sich selbst gefangen, daß er sich meistens selbst verzehrt, wo er die Welt verzehren sollte. Ich weinte, als sich die Aussicht mir erschloß, vor Scham, und fühlte, wie meine Tränen gelinde auf der Wange trockneten, und sich meine Seele wie der Duft einer Blume zum Himmel hob; mein Körper wuchs in den Stamm, der mich trug, und meine Arme streckten sich wie Zweige in die Luft: da war mir wohl, und ich sah den Zugvögeln nach, die neben mir vorüberreisten, wie Freunden, die noch nicht zur Ruhe gekommen sind, und wünschte ihnen glückliche Reise.«

»Es ist recht hübsch, daß grade welche vorbeiflogen«, sagte Godwi; »doch wollen wir jetzt das Bild Mariens betrachten, ehe es dunkel wird.«

Godwi enthüllte ein anderes Bild, und sagte scherzhaft:

»Nehmen Sie den Hut hübsch höflich in die Hand, stauben Sie die Schuhe ab, und sein Sie artig, wir wollen zu einem lieben Mädchen gehen. Welcher Kontrast? Dies ist Marie, Annonciatens Schwester. Welche Ruhe, welcher Frieden; man schweigt, sie atmen zu hören, und wünscht, daß die Taube in ihrem Schoß den Flügel senke, um sie aufmerksam zu machen. Wehet denn kein Lüftchen durch das enge Fenster? daß die Lilie sich bewege und dem Mädchen sage, wir seien da, damit sie uns mit den lieben Augen erblicke, die sie so fleißig auf den Stickrahmen niedersenkt; nur die Lilie darf zusehen, wie sie Blumen stickt, sie senkt den Kelch stille zu ihr, und tut wie die vertraute Freundin. Wie die Sonnenstrahlen so nachbarlich zu dem kleinen Fenster hereinsehen; wenn die Sonne sinkt, so sieht sie uns wohl an, indem sie dem Glanze ausweicht; oder wird sie nach dem Bilde des jungen Mannes schauen, das an der Wand hängt, und so recht behaglich und mit Ansprüchen da zu hängen scheint? Ich beneide ihn, er ist sicher mit des Mädchens Vater einverstanden, und die Sache geht den einfachen Weg. Lebe wohl, Marie, wir wollen nicht vor dich treten, da wir deiner begehren müssen, denn du bist schon einem gegeben, der dir genug ist.« Hier ließ Godwi den Vorhang fallen.

[321] »Dies ist ein Mädchen,« sagte ich, »zu dessen Vater auch der zügelloseste Mensch sagen könnte: Mein Herr, da ich in den Stand der heiligen Ehe zu treten gesonnen bin usw. Ich habe noch nirgends ein häusliches Gemälde im Ideal gesehen, dies ist es, Friede. Und dieses ist Ihre Mutter?«

»Dies ist sie; ziehen Sie von diesem Bilde bis zum steinernen Bilde eine Linie, so haben Sie das Unglück meiner Mutter ermessen.«

Hier verließen wir die Stube, und gleich darauf den Bildersaal, nachdem Godwi zuvor ein ruhiges Abendlied auf der kleinen Orgel gespielt hatte, die noch in der Kirche von ihrer ersten Bestimmung her übriggeblieben war. Die Töne der Orgel gingen feierlich wie ein betender Geisterzug um die stummen steinernen Bewohner des Hauses herum, und schienen sie zu trösten. Ich trat dann an Godwis Seite gerührt in den Garten, und es tat mir im Herzen wohl, wieder im Freien zu sein; es war ein freundlicher Abend, und wir freuten uns, noch den ganzen Park durchgehen zu müssen, ehe wir in das Landhaus kamen.

An der Türe kam uns Haber entgegen, den ich sogleich um seine Übersetzung fragte, aber er klagte über seine Zerstreutheit, und daß einer der Pächter unter seinem Fenster geschlachtet habe, und daß das Geschrei des sterbenden Tieres dem italiänischen Ton und Wortspielen sehr entgegen sei –

»Sie haben also die Wette verloren, denn ich habe es übersetzt, und wir wollen nun bald an die Aufführung des Liedes gehen, Sie müssen die Laura vorstellen, und ich den Hiazinth – schreiben Sie sich die Rolle ab, nach Tisch, wenn die Lämpchen am Himmel angesteckt sind, und Luna uns souffliert, müssen Sie vom Fenster herunter mir den Korb geben, ich will die Laute erst in Ordnung bringen, und ein wenig dazu klimpern.«

Haber wollte nicht daran, und entschuldigte sich, besonders mit seiner schwachen Stimme.

»Desto besser,« sagte Godwi, »Sie können dann noch einen Vers anhängen, in dem Sie ihn ausschimpfen, daß er Ihnen einen Schnupfen zugezogen hat. Doch ich will sehen, ob die Laute angekommen ist.«

[322]
Einundzwanzigstes Kapitel
Annonciatens Bild
Am Hügel sitzt sie, wo von kühlen Reben
Ein Dach sich wölbt durchrankt von bunter Wicke,
Im Abendhimmel ruhen ihre Blicke,
Wo goldne Pfeile durch die Dämmrung schweben.
[329]
Orangen sind ihr in den Schoß gegeben
Zu zeigen, wie die Glut sie nur entzücke,
Und länger weilt die Sonne, sieht zurücke
Zum stillen Kinde in das dunkle Leben.
Der freien Stirne schwarze Locken kränzet
Ihr goldner Pomeranzen süße Blüte,
Zur Seite sitzt ein Pfau; der in den Strahlen
Der Sonne, der er sehnend ruft, erglänzet.
Mit solchen Farben wollte das Gemüte
Von Annonciata fromm ein Künstler malen.
Mariens Bild
Im kleinen Stübchen, das von ihrer Seele
An reiner Zierde uns ein Abbild schenket,
Sitzt sie und stickt, den holden Blick gesenket,
Daß sich ins reine Werk kein Fehler stehle.
Was ihres Busens keuscher Flor verhehle
Und ihre Hand in stillem Fleiße lenket,
Die Lilie an ihrer Seite denket,
Das Täubchen dir in ihrem Schoß erzähle.
Durchs Fenster sehen linde Sonnenstrahlen,
Die Josephs Bild, das eine Wand bedecket,
Mit ihrem frohen Glanze heller malen,
Und wär der Schein der Taube zu vereinen,
Die sie herabgebückt im Schoß verstecket,
Marie würde Mutter Gottes scheinen.

Ich ging früh nach der Eremitage an meine Arbeit, und als ich zum Fenster hinausblickte, und die Fische in dem hellen Teiche munter hin und wieder spielen sah zu den Füßen des Marmorbildes, wünschte ich recht herzlich, auch nicht mehr von ihm zu wissen als so ein Hecht oder Karpfe, denn eine Geschichte aus bloßem Respekt gegen den Leser zu schreiben, ist unangenehm; überhaupt bin ich ein großer Feind von Arbeiten, wenn die anderen Geschöpfe alle zum frohen Müßiggange aufstehen. Die Vögel sangen, die Bäume säuselten, die Fische plätscherten im Wasser, und ich mußte schreiben.

[330]
Zweiundzwanzigstes Kapitel

Fortsetzung der Geschichte der beiden Schwestern


Annonciata hatte dem Glücke ihrer Schwester mit Freuden zugehört; in ihrem Busen aber war Schmerz, sie verbarg vieles, und hatte keinen Freund.

Solche Menschen werden nie glücklich, denn das gewöhnliche Leben allein befriedigt die Bedürfnisse, und ist es gleich so schön, wenn eine Seele in reinerm, höherm Umgange der Liebe steht, so sind diese Wesen doch nur arme Kinder, denn vom Himmel kömmt nur Begierde, und zwar die unendliche Begierde, die auf Erden keine Hülfe, keinen Frieden findet. Wer das Haupt im Himmel trägt, dem verwelket das Herz in der drückenden, niederen Sphäre.

Annonciata hatte vieles im Herzen, dessen Vertraute sie selbst nicht war. Zwar hatte sie eine Freundin an einer Witwe, die von einem kleinen Vermögen in der nämlichen Stadt lebte; aber auch diese würde keinen Sinn für ihren Zustand gehabt haben, denn sie erschien bei ihr nur als ein lebhaftes gutes Wesen. Ob sie ihr nicht mehr vertrauete, oder ob diese Freundin sie nicht verstand, weiß ich nicht.

Annonciata besuchte sie manchmal abends, wenn der Bruder der Frau Helsing zugegen war, welcher sehr gut vorlas, um ihm zuzuhören. Dieser Bruder war der Hofmeister eines jungen Edelmanns gewesen, der hier in der Gegend lebte. Er sprach oft mit Enthusiasmus von seinem ehemaligen Zöglinge. Die Weiber hörten ihm gerne zu, und in Annonciatens Herz wurzelte diese Beschreibung wie in einem fruchtbaren Boden. Wenn Helsing aufgehört hatte, vorzulesen, so war sie immer die erste, die das Gespräch auf den jungen Edelmann lenkte, so daß Helsing, der sich in seiner Erzählung gefiel, weil er von alle dem Guten immer etwas einerntete, bald nichts mehr wußte, und bis zu seinen pädagogischen Beobachtungen über des Jünglings früheste Jugend zurückkehrte, um Annonciaten zu befriedigen.

Sie brachte hier meistens die Abende zu, während Marie die letzte Zeit, welche Joseph noch in Deutschland war, mit ihm in Liebe teilte. Annonciata war gern zu Haus, und daß sie jetzt [331] öfter als gewöhnlich ausging, war, um Marien nicht zu stören. Dieses erkannte man übrigens nicht. Es lag in ihrem Charakter, Gefälligkeiten, Wohltaten und alles, was sie in den Augen anderer erheben konnte, durch eine oft künstliche, mühsame Vorbereitung unscheinbar zu machen; denn nichts tat ihr weher als Lob; doch erkrankte ihr Gemüt in diesem selbstbereiteten lieblosen Zustande.

In dieser Zeit empfing sie einen Brief von ihrer Taufpate, einer in der Gegend wohnenden Gräfin, die sie schon vor einiger Zeit besucht und mit deren Tochter sie einen freundlichen Umgang angeknüpft hatte. Die Gräfin bat sie dringend, sogleich zu ihr kommen, weil ihre Tochter Wallpurgis gefährlich krank sei und sehr nach ihr verlange.

Annonciaten bestürzte diese Nachricht, sie hatte sich, als sie den vorigen Abend wie gewöhnlich am Fenster stand, so lebhaft nach dem Schlosse gesehnt, und nun rief sie eine so traurige Nachricht hin.

Sie brachte den Brief ihrem Vater, der es ihr gern erlaubte, und nachdem er sich bei der Kammerfrau der Gräfin, die mit einer Kutsche gekommen war, Annonciaten abzuholen, über die Krankheit erkundigt und erfahren hatte, daß sie in einer bloßen tiefen Melancholie bestehe, so sprach er mit Annonciaten noch einmal allein, wie man mit Melancholischen umgehen müsse, machte sie aufmerksam auf ihren eignen Tiefsinn und beurlaubte sie mit den Worten: »gehe mit Gott, mein Kind«. Annonciata ward durch die Rede ihres Vaters sehr gerührt, die letzten Worte nämlich, »gehe mit Gott, mein Kind«, bewirkten ihr eine heftige Bewegung, denn in diesen selbstgebildeten Ausdrücken des Herzens, die wie die Wünsche: Guten Morgen! Guten Abend! die Frage: Wie geht es? bei den meisten Menschen durch die Gewohnheit ganz bedeutungslos werden, lag für sie eine tiefe Bedeutung, und ich glaube dieses mit Recht für den Zug eines kindlichen und tiefen Gemüts halten zu dürfen, welches fromm an das Wort glaubt, und dem der Sinn nie verloren geht.

Annonciata fiel dem Vater um den Hals, und konnte vor Tränen nicht sprechen. Wellner verstand dies nicht; er dachte nach, ob er sie gekränkt habe, und da ihm nichts einfiel, so legte [332] er auch das zu seiner allgemeinen Idee von ihr zurück, und seine Sorge ward erhöht. Zu Marien ging Annonciata auch, wo sie Joseph fand. Auch hier fühlte sie sich tiefer gerührt, als der Zufall es erforderte, und sie erstaunte selbst über das Wesen ihrer Trauer.

Joseph redete viel Freundliches zu ihr, und viel von der Zukunft, aber das war es grade, was ihr das Herz zerbrach.

»Die Zukunft!« rief sie, »die Zukunft, o wäre sie vorüber!«

Dann schnitt sie sich eine Locke über der Stirne ab, und gab sie Marien, die dasselbe tat. Joseph und Marie sahen ihrem ganzen Betragen mit banger Aufmerksamkeit zu, denn sie hatten sie nie so vertraulich und so freundlich gesehen.

Annonciata brachte Marien noch ein kleines Orangenbäumchen auf die Stube, und bat sie, es treu zu pflegen und ihrer oft zu gedenken abends, wenn sie nun nicht mehr bei ihr am Fenster stehe. Dann reiste sie ab, nachdem sie alle Leute des Hauses noch gegrüßt hatte, und ihre Trauer verbreitete sich über alle die Zurückgebliebenen, als sollte sie nie wiederkehren.

Das ganze Haus war nun mit den Zubereitungen zu Josephs Abreise beschäftigt. Er selbst aber suchte die genauere Bekanntschaft des jungen Genuesers, den sich Wellner für Annonciaten ersehen hatte. Dies war ihm nicht schwer, denn jener war ein offener, lustiger Mann und ihm schon durch mehrere Geschäfte bekannt. Er wohnte in dem Hause eines seiner Schuldner als eine Art Exekution, da er den Mann nicht zahlbar gefunden hatte.

Eigentlich war er kein bestimmter Kaufmann, sondern bloß der Erbe einer großen aufgelösten Handlung, und reiste, um die Schulden dieser Handlung einzutreiben. Joseph entschuldigte seinen Besuch bei ihm durch den Vorwand, daß er ihn um einige genuesische Kaufleute fragte. Da der Italiäner ihm hierüber Auskunft gegeben hatte, begann er, mit vielem Feuer über sein Vaterland zu sprechen, und geriet in eine lange Auseinandersetzung der Staatsverfassung von Genua, bis es Josephen bange ward, er möge seinem Zwecke heute nicht näherrücken. Der gesprächige Italiäner kam endlich auch auf die Weiber zu sprechen. Er klagte über die unsittliche Sprödigkeit der Deutschen, und sagte:

»Ich wollte meinem Hausherrn gern die halbe Schuld erlassen, wenn er nur eine weise Tochter mit schwarzen Augen [333] und Haaren hätte, die ich ein wenig lieben könnte; nun aber ist kein Mitleid im ganzen Hause, denn die Tochter hat rote Haare, und ich muß hier sitzen und unbarmherzig sein. – Ihnen geht es wohl besser, mein Freund, denn ich habe jüngst bei Ihnen so im Fluge ein paar hübsche Mädchen bemerkt.«

Joseph erzählte ihm von Marien und Annonciaten, und der Italiäner versprach, ihn nächstens zu besuchen.

Den folgenden Tag war er schon morgens bei Wellner, und abends aß er dort. Wellnern gefiel er sehr wohl, denn er hatte ein großes Talent, alte Leute zu unterhalten. Er ward bald der tägliche Besuch, und man freute sich immer recht auf ihn. Abends kam er meistens während dem Essen, setzte sich nieder und plauderte, erzählte italiänische Komödien, und machte die Touren des Harlekins, Pantalons und Scaramuz. Marien lehrte er auch ein wenig die Colombine zu machen, und sie spielten manchmal kleine Szenen aus dem Stegreif, um Josephen zu necken, dessen Liebe er immer hineinzumischen wußte. Marie gewann manche Reize durch ihn, er lehrte sie tanzen, und all' amore spielen, doch mochte sie ihn nicht leiden, denn er hatte oft im Spiele zu ernste Bewegungen.

Wellner glaubte nun, das sei der rechte Mann für Annonciaten, bei ihm werde sie den Tiefsinn schon verlieren, und wünschte sehr, sie möge hier sein. Er hatte soeben mit Joseph davon gesprochen, ob man sie nicht rufen sollte, als Marie einen Brief von Annonciaten brachte.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Annonciata an Marien


Was machst du, liebe Marie? Mir muß es nicht gut gehen, denn ich frage, was du machst, und weiß es doch. Du bist glücklich und liebst Josephen; o! schreibe mir doch und frage, wie mir ist, recht mit Liebe frage, vielleicht wende ich mich dann in mich, und erfahre, wie mir ist.

Jeder Tag wie der andere, Wallpurgis geht dem Grabe entgegen. Ach sie ist so liebenswürdig in ihrem Sterben, das Leben will sie nicht lassen, denn sie ist allem so freundlich. Es ist, als [334] stände der Frühling zu Füßen ihres Lagers, und wolle sie nicht sterben lassen. Sie ist krank wie ein Weib, und wird auch so sterben, sie fühlt es und ist ruhig; aber was sie zerreißt, ist das Leben, denn sie liebt ohne Hoffnung.

Ich erzählte ihr gestern von dir und Josephen, wie ihr so glücklich seid; sie bat mich dringend darum, und der Arzt will, daß man ihr allen Willen tue. Als ich fertig war, gab sie mir die goldne Halsnadel für Josephen, und die Ohrringe für dich, die hier beiliegen; sie nahm beides von sich, und weinte dann sehr. Sie liebt einen jungen Edelmann, der es auch verdienen soll; aber wer verdient, daß die Jugend um ihn sterbe?

O! es ist ein Jammer, Marie, wie Wallpurgis aussieht, bleich und abgezehrt, die schönen langen Haare verwirrt, und die herrlichen Augen erloschen. Die Gräfin möchte verrückt werden vor Kummer. Mir tut es nichts, es ist mir nur fremd zu Mute; wenn ich es selbst wäre, würde ich noch ruhiger sein.

Das Schrecklichste ist, wenn sie oft plötzlich auflebt, und der Gedanke an den Tod ihr fürchterlich wird. Sonst weilt sie oft halbe Tage in einer ruhigen Betrachtung des Todes, und spricht mit einer schönen Rührung von ihm, so daß man gern sterben möchte, wenn es so ist; aber dann faßt sie plötzlich der Gedanke, wie das Leben lächelte, da ihre Liebe noch jung und er mit ihr war. In einer solchen Minute sagte sie jüngst zu mir:

»Ach ich kann doch nicht sterben, so sterben ohne Freude, ohne Liebe; wenn du wüßtest, Annonciata! wie ich meine Kinder lieben könnte, wie sie schön sein würden und freundlich, und sich die ganze Welt ihrer freuen müßte – aber das ist alles nicht, und ich muß wohl sterben, nicht wahr, Annonciata!«

Was soll ich dann sagen? ich, die unbekannt ist mit Leben und Tod, und mit Liebe – »Alles ist schön in einem solchen Herzen, Wallpurgis,« sage ich dann, »nur die Trennung ist Schmerz, und alles Erreichte ist Glückseligkeit und Schönheit.«

Da erwiderte sie:

»Schweige, Annonciata, ich werde nichts erreichen, auch über dem Grabe nichts, ich werde auch dort herumgehen, und so fort immer sterben.«

Jüngst sagte sie auch:

»Ich quäle dich recht mit meinem Elend, aber wenn du jenen [335] Mann kenntest, du wärest auch so. Gott gebe, daß ich nach dem Tode hier sein könne, so will ich dir alles vergelten, ich will dich mit sanfter Stille erfüllen, und dich stärken gegen die Liebe; denn sieh, wir Mädchen sind recht arm in der Liebe, wenn wir lieben können. Wir sind wie die Blumen, die nimmer sagen können, wie es ihnen ist; wir blicken den Himmel mit schönen Farben an, und sterben.«

Solchen Worten soll ich Trost geben? solchen Worten? die mein Trost sind – »Du hast recht, Wallpurgis,« sage ich, »auch ich fühle, wie es sich in meinem Herzen regt, und wie sich meine Gedanken ausbreiten in einer andern Welt, auf welche die Blume nur hinweist, und dann verwelkt. Doch ist mein Herz stolz auf dieses Zeugnis eines höhern Zusammenhangs, und ich will mich seiner als eines edleren Gedankens erfreuen, wenn mich keiner lieben sollte.«

Gestern war sie mit mir im Garten, sie sprach kein Wort, und setzte sich mit mir mitten unter die Blumen. Es war rührend zu sehen, wie sie leise mit den müden Augen über sie hinblickte, bei einzelnen sinnend verweilte, und keine Träne in ihr Auge kam.

Da ich sie fragte, warum sie so nachdenklich sei, sprach sie lange, und erklärte mir ihre Gedanken; es war ihr schon oft so bei den Blumen gewesen, und sie gab mir nachher ihr Tagebuch, wo sie folgendes hineingeschrieben hatte:

»Ich weiß nicht, woher es kömmt, aber es ist wunderbar, was ich vieles empfinde, wenn ich so über die mancherlei Blumen hinsehe. Mein Denken verliert sich dann, in jedem Kelche ertrinken einige Begriffe von mir, und ich fühle mich leichter als vorher, und willenloser müde. Manchmal sehe ich meinem Gedanken ordentlich zu, wie er sich auf dem sanften Rande der Lilie kindisch schaukelt; aber bald ängstigt ihn die Welt um ihn herum, es ist ihm, als wären alle Bäume und Berge, ja alles, die ganze Erde eine Kette von gebundnen Ewigkeiten, und er hält sich bange am samtnen Blumenblatte fest. Dann fühle ich, wie er die Blicke aufwärtshebt, und sich nicht mehr erhalten kann; es ist ihm, als stürze er in den Abgrund der Höhe, über ihm schwimmt das öde Meer des Rausches, der noch in keiner Traube war, und der Liebe, die noch in keinem Körper webte, [336] und dieses Meeres Wogen brausen ohne Ton, und Gestaltenstrudel ohne Umriß wühlen in ihm. Aus allen Tiefen streckten glänzende Polypen ihre Arme nach dem Gedanken aus, und wo sich die wilden Wogen trennten, war es, als stürzten blitzende Pfeile nach ihm herüber, die ihm das Innre mit süßem Tode impften, und näher, wo das Meer ihm um die Locken spielte, da trennt es sich, und öffnet sich ihm ein heller Schacht durch den öden wühlenden Kampf, in den er gelinde hinabsinkt. Von allen Seiten drängen blühende Gestalten aus des Schachtes Wänden, und alle grüßen ihn wie einen Freund von Ewigkeit, und jede reicht die Arme nach ihm aus, und er ruht in aller Armen, auch will ihm jede der Gestalten einen ewgen Weg zeigen; doch weilt er nicht, und sinkt hinabgezogen in dichterischer Wollust immer tiefer, bis daß er in dem Grunde ruht. Er schaut nun aufwärts durch den Schacht, und alle die Gestalten sieht er wie zwei Säulen emporsteigen, zwei herrliche Bäume, auf deren einem holde Mädchen wie Blüten und Früchte auseinander dringen, und auf dem andern Jünglinge; und wie die beiden tausendarmichten Leben ineinander rauschen, verschwinden ihm die Blicke, er fühlt um sich ein wunderbares Weben, das höher ist als alle die Gestalten, die nun ein einziger Baum vor ihm zu werden scheinen, und er fühlt, wie sich des Baumes Wurzeln unter ihm regen, und umarmt bange den lebendigen Stamm, damit ihr geheimnisvolles Treiben ihn nicht verschlinge, und blickt er aufwärts, so betet er, und blickt er nieder, so schwindet er in dem Gewirre der Wurzeln, die wie lichte Schlangen um ihn wühlen, und schafft, und wo er schuf, dringen goldne Blitze aufwärts, klingend schießen sie in die Höhe, und leuchten an dem herrlichen Stamme bis zu dem Gipfel empor, der in der Glut sich wieder in die beiden ersten Leben löst. Da fühlt er sich nicht mehr, die leuchtenden Schlangen der Wurzeln umschlingen ihn, und eine freundlicher und dringender schmiegt sich um seine Brust, flößt aus dem wollüstig gewundnen Leben, das sie in tausend Lüsten um ihn windet, den süßen Tod verwandelnd ihm in die Lippen – da sah ich ihn nicht mehr, hinab blickte ich in den Kelch der Blume, wo er im stillen Tode lag, und der Auferstehung harrte, welche goldne Bienen singen werden.«

[337] So sprach sie, und fuhr fort:

»Sieh, Annonciata, und als ich weiter blickte, so war ich immer weniger, denn an jedem Kelche mußte ich ein Kind meiner Seele zurücklassen als ein Opfer des Todes. Als ich bei einer Blume niederblickte dem traurigsten Gedanken nach, denn er hatte alle andere überlebt, so war mir, als sähe ich mich selbst im Kelch der Blume liegen, eine andere Blume blickte nieder in mein zartes Grab, in das sie kühle Tränen träufelte, und ich empfand Erinnerung über den Rand der Blume hinüber wie Ahndung in mir weben.«

Da Wallpurgis so gesprochen hatte, war sie sehr schwach, und ich trug sie in meinen Armen nach ihrer Stube. Ich konnte nicht begreifen, daß sie bald nun nicht mehr sein würde, jetzt noch in meinen Armen warm liebend und denkend, und bald alles das vorüber, – schon die leuchtende Schlange der Wurzel sich um sie schlingend, ihre blassen zarten Lippen schon offen dem süßen verwandelnden Tode.

Da ich in der Stube war, legte ich sie nieder, und fühlte mich zu ihren Lippen gezogen, ich wollte sie küssen, aber sie erschrack heftig dabei und drängte mich mit den Worten zurück:

»O lebe! lebe! daß die Meinige zurückbleibe, denn zwei solche können nicht sterben, nicht leben, laß uns die Welten verbinden.« Sie war heftig gereizt, ich rief den Arzt, der nun im Hause wohnt, er war über ihren Zustand sehr verlegen. Ich konnte nicht mehr zugegensein, ihre Mutter ging zu ihr, und ich trat in den Garten. Da ich an die Stelle kam, wo wir gesessen hatten, fiel mir Wallpurgis Rede ein, und ich betrachtete die Blumen aufmerksam. Da steht ein Rosenstock, den sie einstens selbst gepflanzt, und seither immer gepflegt hatte, in der letzten Zeit aber, da sie der Liebe erlag, vernachlässigte sie ihn, und er war umgekommen bis auf einen Zweig, der eine weiße Rose trug, die dem Verwelken nahe war. In dieser Blume schien sie sich gesehen zu haben, denn neben ihr steht eine Lilie, die ich pflanzte, als wir uns das erstemal sahen, die Lilie beugt das Haupt nieder, und leert ihren Kelch über der Rose aus sie ahndete ihren Tod, und mir ist es ebenso.

Mir war eigentlich nur stille zu Mute, traurig nicht, dies Wesen ist nun schon ganz mein Leben, und man kann in jedem [338] Leben zur ruhigen Erhebung gelangen. Ich setzte mich in das Gartenhaus, dessen Fenster auf die Landstraße geht, und schlief allmählich ein. Ich möchte vergehen, Marie, vor Ärger, plötzlich störte mich etwas, ich erwachte: ein Mann hatte mich vertraulich umschlungen, und küßte mich, ich schrie um Hülfe, und er sprang zum offen stehenden Gartenfenster mit einer lächerlichen Leichtigkeit hinaus. Es war so närrisch, daß ich mich umsehen mußte, da hörte ich ihn in den Büschen singen:


Non gridate per aiuto
O lo farò senz' ogn' aiuto.

Ich empfand nie einen lächerlichern Widerwillen, die Bedienten der Gräfin liefen ihm nach, aber sie fanden niemand.

Ich habe dies gleich nach dem abgeschmackten Vorfalle geschrieben, und jetzt will ich Wallpurgis noch gute Nacht sagen. Lebe wohl! grüße Joseph, und sag dem Vater, ich wäre wieder ruhig. Ich bin gerne hier, denn dieser Aufenthalt stärkt mich für mein ganzes Leben.

Annonciata


Marie ward sehr traurig durch diesen Brief, so auch Joseph und der Vater; dieser sagte:

»Man sollte nicht denken, was die Umgebung der Mutter auf das Kind für einen Eindruck machte. Einige Monate lang vor Annonciatens Geburt war ihre Mutter sehr traurig über den Tod ihrer Eltern, und bald darauf des jungen B. wegen, der sich aus Liebe zu ihr das Leben nahm; so ist das Mädchen in Kummer und Ängsten geworden, und muß nun ewig das Zeugnis davon in ihrem trüben Gemüte tragen.«

Bald hierauf kam noch ein Brief von der Gräfin selbst: sie bat Wellner, ihr Annonciaten noch zu lassen, weil ihre Tochter gewiß früher ohne sie sterben würde; sie lobte dabei sehr Annonciatens vortreffliche Seele und versprach, ihr einstens alles zu vergelten.

Da einige Tage nachher die Zeit von Josephs Abreise sehr nahe war, und der Vater sehr gern den Genueser mit Annonciaten bekannt gemacht hätte, so nahm er den Vorwand, daß Joseph sie noch einmal sehen müsse, und fuhr mit ihm, Marien und dem Italiäner nach dem Gute.

[339]
Vierundzwanzigstes Kapitel

Ich hatte gegen das Ende meiner Beschäftigung etwas im Gebüsche rauschen hören, und da ich sah, daß es Georg der Diener war, der am Teiche stand und die Fische fütterte, rief ich ihn herein, um ihm Unterricht auf der Laute zu geben. Als ich ihn die ersten Töne und einige Akkorde gelehrt hatte, begriff er es gar bald, und wünschte nur, daß er besser singen könnte. Ich bat ihn, leise und gelinde eine Melodie zu singen; er weigerte sich auch nicht lange, und sang folgendes Lied mit einem wehmütigen Tone:


Ein Fischer saß im Kahne,
Ihm war das Herz so schwer,
Sein Liebchen war gestorben,
Das glaubt' er nimmermehr.
Und bis die Sternlein blinken,
Und bis zum Mondenschein
Harrt er, sein Lieb zu fahren
Wohl auf dem tiefen Rhein.
Da kömmt sie hergegangen
Und steiget in den Kahn,
Sie schwanket in den Knieen,
Hat nur ein Hemdlein an.
Sie schwimmen auf den Wellen
Hinab in tiefer Ruh,
Da zittert sie und wanket;
O Liebchen, frierest du?
Dein Hemdlein spielt im Winde,
Das Schifflein treibt so schnell;
Hüll dich in meinen Mantel,
Die Nacht ist kühl und hell.
Sie strecket nach den Bergen
Die weißen Arme aus,
Und freut sich, wie der Vollmond
Aus Wolken sieht heraus.
[340]
Und grüßt die alten Türme,
Und will den hellen Schein
Mit ihren zarten Armen
Erfassen in dem Rhein.
O setze dich doch nieder,
Herzallerliebste mein!
Das Wasser treibt so schnelle,
O fall nicht in den Rhein.
Und große Städte fliegen
An ihrem Kahn vorbei,
Und in den Städten klingen
Der Glocken mancherlei.
Da kniet das Mädchen nieder
Und faltet seine Händ
Und seine hellen Augen
Es zu dem Himmel wendt.
Lieb Mädchen, bete stille,
Schwank' nicht so hin und her,
Der Kahn, er möchte sinken,
Das Wasser treibt so sehr.
In einem Nonnen-Kloster
Da singen Stimmen fein
Und in dem Kirchenfenster
Sieht man den Kerzenschein.
Da singt das Mädchen helle
Die Metten in dem Kahn,
Und sieht dabei mit Tränen
Den Fischerknaben an.
Der Knabe singt mit Tränen
Die Metten in dem Kahn,
Und sieht dabei sein Mädchen
Mit stummen Blicken an.
So rot und immer röter
Wird nun die tiefe Flut,
[341]
Und weiß und immer weißer
Das Mädchen werden tut.
Der Mond ist schon zerronnen,
Kein Sternlein mehr zu sehn,
Und auch dem lieben Mädchen
Die Augen schon vergehn.
Lieb Mädchen, guten Morgen!
Lieb Mädchen, gute Nacht!
Warum willst du nun schlafen?
Da schon die Sonn erwacht.
Die Türme blinken helle,
Und froh der grüne Wald
Von tausend bunten Stimmen
In lautem Sang erschallt.
Da will er sie erwecken,
Daß sie die Freude hör,
Er sieht zu ihr hinüber
Und findet sie nicht mehr.
Und legt sich in den Nachen
Und schlummert weinend ein,
Und treibet weiter weiter
Bis in die See hinein.
Die Meereswellen brausen
Und schleudern ab und auf
Den kleinen Fischernachen,
Der Knabe wacht nicht auf.
Doch fahren große Schiffe
In stiller Nacht einher,
So sehen sie die beiden
Im Kahne auf dem Meer.

Die Tränen standen ihm dabei in den Augen, und als ich ihn fragte, warum er so traurig sei und das Lied ihn so bewege, sagte er:

»Die Weise ist von des einen Pächters Tochter; sie sang es oft, [342] ich war dem Mädchen gut, und sie ist nun gestorben; es ist mir nur immer, als trieb ich auch in die weite See.«

Ich spielte ihm einige naive lustige Lieder, um ihn zu trösten, denn das Naive ist der Trost einfacher Seelen. Dann gab ich ihm einiges, was er lernen sollte, und ging nach Godwi.

Ich fand Flametta bei ihm: es schien uns in ihrer Gegenwart allen wohlzusein. Das Mädchen ist so fest, so rein und kalt wie Marmor, und dabei doch so unendlich beweglich und lebendig. Ihre Figur ist vollkommen die der Atalanta, und ich habe eine große Liebe für diese Figur. Es ist mir, als könne man sie noch erbitten, und als habe sie in dem Charakter ihrer Gestalt einen überwindlichen Gegensatz.

Sie kam, um Godwi eine kleine dramatische Arbeit vorzulegen, und um seine Erlaubnis und Unterstützung bei der Aufführung zu bitten; auch bat sie uns, an allen männlichen Rollen zu ändern, wo es uns gut dünke, weil sie, so sagte sie lächelnd, dies Geschlecht täglich weniger begreife.

Godwi sagte scherzend: »Das ist doch schon ein Beweis, daß Sie über dieses Geschlecht studieren, und Sie werden es vielleicht einstens wohl gar umfassen.«

Wir nahmen uns dann vor, ihr Gedicht zu lesen, und Godwi gab ihr die Erlaubnis, eine kleine Summe für die Aufführung anzuwenden. Sie bat sehr um unser Mitspielen, wir konnten es ihr nicht versagen, und versprachen, bald zu kommen, sie möge nur einstweilen die Zubereitungen vollenden. Das Gedicht hieß: Vertumnus und Pomona.

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Fortsetzung der Geschichte der beiden Schwestern


Die Gesellschaft fuhr fröhlich nach dem Gute hinaus; der Italiäner war vergnügt, sang scherzhafte Lieder, und schnitt den Bauernmädchen Gesichter aus dem Wagen; als sie aber den Schloßhof hineinfuhren, ward Wallpurgens Sarg in den Leichenwagen geschoben, die schwarzen Männer bewegten sich, und stille, wie das Geschäft einer andern Welt, ging der Zug an ihnen vorüber.

[343] Sie konnten alle kein Wort sprechen, Joseph und Marie hatten sich angesehen, da der Wagen vorüberging, und dann nicht wieder.

Nach dieser Pause sprang der Italiäner aus der Kutsche mit den Worten: »Das war dumm.« – Dann folgten die andern. Joseph erkundigte sich im Hause, und brachte die Nachricht, daß die Gräfin mit Annonciaten, gleich nach dem Tode ihrer Tochter, auf ihr anderes Gut gereist sei. Sie entschlossen sich daher, sogleich zurückzukehren, nachdem sie einige Erfrischungen eingenommen hätten, für welche der Hausmeister sorgte.

Sie waren in den Garten gegangen: Wellner und den Italiäner reizten einige Statuen, einen andern Weg einzuschlagen, und die beiden Liebenden setzten sich in eine Laube. Anfangs sprachen sie nicht; es war, als seien sie ganz fremd geworden, und müßten sich ihre Liebe von neuem gestehen, so war der Tod der armen Wallpurgis zwischen ihnen durchgefahren. Morgen war nun der Tag, an dem Josephs Abreise festgesetzt war, und wie traurig der Abend vorher. Er war herausgefahren, um Annonciaten noch manches zu sagen, was ihm das Herz schwer machte, denn er hatte in der letzten Zeit vieles verstehen lernen. Er wollte die Beiden heute in der weihenden Abschiedsstunde sich und einander fester verbinden, damit sie sich in seiner Abwesenheit gegenseitig unterstützen könnten, und nun mußte er sie in solcher Zerrüttung verlassen.

Der Hausmeister deckte zwei Tische im Garten, welche nur eine Taxuswand trennte; an den einen setzte sich unsre Gesellschaft, ohne zu wissen, wer den andern einnehmen werde. Es war schon dunkel, und man aß mit brennenden Lichtern; doch blieben sie nicht lange ungestört, und Wellner, Joseph und Marie verließen den Tisch, als sie die Leichenträger Wallpurgens sich an der andern Tafel versammeln sahen, ihren herkömmlichen Schmaus zu halten; der Italiäner allein blieb zurück.

Die ganze Begebenheit mit dem Leichenwagen und dem Schmaus war ihm äußerst fatal; er nahm sich daher ganz allein für sich vor, sich an den schwarzen Männern zu rächen. Um dieses zu bewerkstelligen, ging er nach dem Tore, einen der Gesellschaft, der noch kommen sollte, zu erwarten und zu seiner Absicht zu gebrauchen. Er hatte die übrigen sehnlichst nach [344] diesem verlangen hören, weil er der vierzehnte war, und sie nach einem alten Aberglauben, daß einer von dreizehnen, welche miteinander essen, sterben müsse, diesen Retter von Tod und Hunger wie den Messias erwarteten.

Der Italiäner empfing diesen am Tor, und bezahlte ihn so gut für einen Botengang, den er ihn eine halbe Stunde weit machen ließ, daß er ihm seinen schwarzen Mantel hingab, und sich sogleich auf den Weg machte. Er aber hüllte sich in den Mantel, und ging zu den übrigen hin. Diese machten ihm Vorwürfe über sein Ausbleiben, er schwieg; sie fuhren fort, ihren Unwillen zu äußern, und er, stumm zu sein; dann setzten sie sich nieder, um zu essen. Es war dunkel, sie hatten nur eine Lampe, welche an der entgegengesetzten Seite des Tisches an einen tiefen Ast des Baumes gehängt war, der neben dem Tische stand, und der Italiäner saß völlig im Schatten.

Da der Becher herumging, und die Reihe an ihn kam, zu trinken, war er weggeschlichen, ohne daß man ihn bemerkt hatte. Die Leichenmänner stutzen hierüber nicht wenig, denn sie waren nun wieder zu dreizehn, und einer stand deswegen auf, ihren Kameraden zu suchen und zu prügeln. Die Zurückgebliebenen aber ließen es sich indessen recht gut schmecken.

Als der dreizehnte weg war, setzte sich der Italiäner wieder hin, und da sie ihn bemerkten, fingen sie an sich zu zählen, indem sie ihre Namen hintereinander her nannten, und als die Reihe an ihn kam, warf er mit einer Erdscholle die Lampe vom Baum, und schrie laut: eccomi. – Die Leute erschracken hierüber so sehr, daß sie auseinander liefen, um ihren Kameraden zu rufen, er aber nahm die große Leichenbrezel, kletterte, indem er sie um den Hals hängte, den Baum hinauf, und erwartete den Ausgang.

Bald kamen die Leute mit großem Lärm zurück, sie hatten einen Fremden in ihrer Mitte, der sich lebhaft verteidigte. Da sie sich dem Tische genähert hatten, und einer ausrief, daß die Leichenbrezel auch fort sei, fragte der Fremde, wer gestorben sei, und als er den Namen Wallpurgens hörte, sank er an die Erde. Nun kam der Hausmeister mit Fackeln gelaufen, auch Wellner, Joseph und Marie kamen herbei, der Italiäner aber stieg bestürzt vom Baume, und ging nach der Kutsche, welche schon angespannt war, ließ die andern rufen, und sie fuhren weg.

[345] Joseph erzählte, daß er in der Verwirrung gehört habe, der junge Mensch sei der Mann, um dessenwillen Wallpurgis gestorben sei; er habe sie besuchen wollen, und von ihrem Tode noch nichts gewußt, und als er zur Hintertüre des Gartens hereingekommen, sei er auf so eine lärmende Weise von den Leichenmännern empfangen und von ihrem Tode unterrichtet worden, daß er fast vor Schreck gestorben sei; doch habe er sich nicht zurückhalten lassen, und sei gleich weitergeritten. Der Italiäner sagte nichts, und der ganze Tag hatte sich traurig und polternd geendigt.

Den folgenden Morgen trennten sich Joseph und Marie unter vielen Schmerzen, sie und der Vater begleiteten ihn bis an den Hafen, und da das Schiff schon weit weg war, und sie nicht mehr ihre winkenden Schnupftücher sehen konnten, bedeckten Marie und der ferne Joseph sich die Augen und wendeten sich.

Sie und der Vater waren beide sehr niedergeschlagen durch die ganze letztere Zeit, und die Munterkeit des Italiäners ward ihnen unangenehm. An Annonciaten und die Gräfin schrieben sie mehrmal, um sie zu bewegen, zurückzukommen, aber die letzte bat dringend, ihr Annonciaten zu lassen, und eröffnete zugleich ihren Willen, das Mädchen an Kindesstatt anzunehmen, wenn er seine Einwilligung dazu geben wolle. Sie schrieb:

»Annonciata soll nichts davon wissen, es würde ihren gereizten Sinn vielleicht kränken; aber lassen Sie es uns im Stillen über sie verhängen.«

Von dem Mädchen lag folgender Brief dabei.


Lieber Vater!


Deine Sorgen um mich sind nun meine einzigen Sorgen – Wallpurgis ist tot, und ich bin ruhig. Jemand so sterben sehen, giebt Ruhe, denn ein solcher Tod ist gastfrei, und wer zugegen ist, genießt alles mit: ich bin mit ihr ruhig geworden. Du sollst deswegen auch nicht mehr um meinen Zustand bekümmert sein, denn alles, was Bangigkeit und Unruhe in mir war, ist mit ihr hinübergegangen, und sie wirft einen stillen Abglanz ihrer Seligkeit in mein Herz zurück; sie war immer ein freundliches, teilendes Wesen, und hat sich auch im Himmel nicht verändert. Es ist mir, wenn ich an sie denke, als stehe sie vor mir, empfange [346] meine Gedanken, und gebe sie mir in einen stillen wohltätigen Strom von Ruhe gelöst zurück.

Du kannst es nicht glauben, lieber Vater, was das für eine Empfindung ist; mit allem bin ich versöhnt, und kann so glücklich hier im Garten herumgehen, denn in jeder Blume liegt mir das ganze Leben. Ich will deswegen recht offen mit dir reden, denn ich bin nun so, daß ich nichts mehr zu verbergen brauche, da auch in dieser Einigkeit meiner Seele jenes Verbergen ein Ende nahm: ob ich denke oder spreche, das ist einerlei.

Ich weiß, wie du mich liebst, und wie du immer um mich besorgt bist. Die Erziehung ist etwas, was der Erzieher immer weiß, und ein Gemüt ist etwas, was er nicht weiß; da er aber doch mit der sorgenden schönen Liebe, die ihn treibt, erziehen muß, so wird er sehr traurig, wenn er niemals das werden sieht, was er bezweckt. So warst du und Joseph immer traurig um mich, und ihr würdet noch viel trauriger geworden sein, wenn ich nicht die Hälfte des Verdrusses in mich genommen hätte, und obschon ich dadurch eure Einwirkung auf mich scheinbar wirkender machte, so erlag ich doch oft sichtbar dieser doppelten Tätigkeit des Selbstbildens und Sichbildenlassens, so daß dieser Betrug, den ihr in mir bemerktet, euch wieder kränkte.

Sei versichert, lieber Vater, daß alles aus mir werden wird, was aus mir werden kann, denn ich bin ernsthaft und unbefangen. Was man erkennen kann, erwäge ich und gebe ich mir mit Sorgfalt und Verstand, und alles, was über den Menschen schwimmt, wie die Luft über der Pflanze, giebt mir das Leben: ich bin fromm und andächtig, es zu empfangen, denn fromm ist der, der das Schöne und Reine mit Liebe sucht und emsig betet, wenn er vor der Natur und schönen Werken steht, und andächtig ist der, welcher über seinem Denken nicht ein trennendes Ende fühlt, sondern einen leisen Übergang in die unendliche Liebe. Die Andacht ist ein gelinder Rausch, der unsre geschlossene Gestalt von allen Seiten eröffnet, und uns unsere Verwandtschaft zeigt mit vielem, das wir nie sahen, noch wußten. So sind die halben Töne in der Musik, und die milden Farben des Übergangs in der Malerei, und die Wellenlinie in der Gestalt fromme Züge, denn alle sie stehen an der göttlichen Pforte des Überganges. – So auch ist mein ganzes Herz ein[347] frommes Herz, denn ich stehe zwischen meinem Leben und Wallpurgis Tod – o! lasse mich diesem Herzen ruhig folgen.

Ich fühle auch schon, wie ich mich ins Leben zurückwende, und bald ganz froh sein werde. Sicher hat dir die Gräfin schon geschrieben, wie mein Mut wohl oft zum Mutwillen wächst – daß ich durch den Tod eines lieben Mädchens so geworden bin, ist nicht wunderbar, denn durch ihn habe ich erfahren, was ich erdulden muß – ich bin in meiner Jugend schon mit meinem Tode verbunden, und stiftete Freundschaft und Vertraulichkeit mit ihm, damit er einstens wie mein Spielgeselle zu mir komme, wenn er kömmt.

Lasse mich bei der Gräfin; die arme Frau hat niemand auf der Welt, und sie liebt mich.

Es ist vor einigen Tagen ein italiänischer Lautenist hierhergekommen, und hat vor der Gräfin gespielt. Sie wünschte, daß ich es lerne, und der Mann bleibt nun einige Wochen hier, mir Unterricht zu geben. Die Gräfin hat mir eine schöne Laute dazu geschenkt, und ich werde dir einmal viel Freude damit machen.

Ich lese der Gräfin viel aus dem Shakespeare vor, und finde es sehr nützlich, denn es härtet mich gegen meine Empfindlichkeit ab. – Ich fürchte mich ordentlich vor seinen Personen, und vor denen immer am meisten, die ich besonders liebe. Wenn ich abends allein im Garten gehe, gehe ich oft schnell oder langsam, und möchte beides zugleich, denn irgend ein Wesen aus diesen Gedichten geht mir entgegen, und verfolgt mich. In vielen einzelnen finde ich mich wieder, und erkenne eine ganze Welt in ihnen.

Könnte ich das nur zusammenstellen und richtig aussprechen, so würden Begriffe und Erfahrungen draus werden. Nun aber bleibt es immer Empfindung, denn die ganze Natur um mich her wirkt eben so auf mich, und noch stärker, jede ihrer Erscheinungen strömt mit diesen Empfindungen zusammen, und dadurch scheinen sie mir so drückend werden zu können. Jede Beleuchtung des Himmels und jede berührendere Zusammenstellung von Landschaft erhält für mich ein phantastischeres Leben, indem sie sich mit diesen Männern und Frauen Shakespeares verwebt, und nicht mehr allein wie ein hingebotener [348] Genuß daliegt, sondern in eine Art von Handlung, von dramatischem Leben tritt.

Sogar meine Empfindungen selbst bestehen so, ja selbst in diesem Briefe sind Anklänge dieser Hinneigung zu einem bloßen allgemeinen Verkehr mit allem, was lebt, und einer völligen Unfähigkeit, mich bestimmt zu einem einzelnen Wesen zu wenden.

Lieber Vater, ich hoffte nicht, daß es dich schmerzen wird, dies so aufrichtig von mir zu hören, denn es ist mir sehr wohl, indem ich es schreibe, auch will ich nur immer an dich schreiben, du kannst dann Marien vorlesen, was dir gut dünkt, daß sie es wisse.

Lebe herzlich wohl.

Annonciata


Obschon für Wellner viel Unverständliches und Fantastisches in diesem Briefe war, so rührte ihn doch das Vertrauen Annonciatens, und er entschloß sich, sie noch bei der Gräfin zu lassen.

Der Italiäner war weggereist, ohne Abschied zu nehmen, das verdroß Wellnern, und es tat ihm nun doppelt wohl, keiner Verbindungen mehr zu bedürfen, da er mit Mariens Glück auf dem Reinen war, und auch Annonciata glücklich und zufrieden schien.

Sein Leben mit Marien währte so einige Monate fort, in einer einsamen Stille. Dann und wann unterbrachen es die Briefe Josephs, die der Vater mit Marien freundlich teilte. Annonciatens Briefe wurden seltener, kürzer, und hatten weniger Verhältnis zueinander, in einigen war sie helle Glut, in andern schien sie zu verlöschen, und dann schrieb sie wieder ruhig und getröstet.

Von Joseph erhielt Marie den letzten Brief aus England, in dem er seine Überfahrt nach Amerika meldete. Dieser Brief war sehr rührend, und Marie war lange nicht zu trösten. Sie beschäftigte sich nachher meistens mit Bildern aus diesem Weltteil, sie las ihrem Vater nichts als Reisebeschreibungen durch Amerika vor. Ihren Geliebten suchte sie unter jeden Umständen dieses Landes auf, und lebte in der Neuen Welt.

Dies gab ihrer Phantasie ein bestimmtes Übergewicht über [349] ihre Ruhe, und neigte sie zu einem anderen sehnsüchtigen Dasein hin. Wellner bemerkte mit Verdruß diese Veränderung, die doch bloß eine höhere Entfaltung war, denn sie ward so mannichfacher, und machte auf ihrer Gedankenreise viele merkwürdige Entdeckungen für ihre Liebe. Sie lernte nun erst wissen, daß sie liebe, berechtigte sich dazu, und beschützte sich dies Recht.

Da ihre Einsamkeit aber immer tiefer ward, und es sehr lange her war, daß Annonciata geschrieben hatte, so entschloß sich Wellner, mit ihr nach dem Gute der Gräfin zu reisen.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Als ich so weit geschrieben hatte, führte mich Godwi nach dem Bildersaal, wir traten vor ein großes Gemälde, er zog den Vorhang in die Höhe, und wir sahen es stille an; es stellte Wallpurgis und die Blumen vor, und war von dem nämlichen Künstler, der das Bild Annonciatens gemalt hatte, in demselben Stil, doch mystischer gearbeitet, so wie jenes Allegorie des Lebens, so dieses Hindeuten auf den Tod. Jenes Bild hatte mich heftig bewegt, und in diesem löste ich mich auf.

»Vor diesem Bilde«, sagte ich zu Godwi, »kann ein liebes Mädchen ruhig sterben. Alles schwindet, es ist, als vergehe es unter meinen Augen. Die Farben sind beweglich, sie fliehen alle gegen die ferne Glut des Himmels, und scheinen schon im Nachklang zu wallen. Ich habe nicht gedacht, daß der Abend so könne gefesselt werden, wie er hier aus den dunklen Gewölben der Bäume dringt. Seine geheimnisreichen Seelen schleichen über den dicht belaubten Boden, fließen mit leisen Schimmern an den schlanken Blumen hinab und hinauf, aus deren Kelchen zarte Geister an der größten holdesten Blume des ganzen Bildes, dem stillen liebe- und lebenmüden Mädchen, hinaufsteigen. Es herrscht um das Mädchen eine wunderbare Haltung des Lichtes, die Farben werden gleichsam zu verschiedenen Form-Atomen, und scheinen nur im Lichte zu schwimmen, besonders wo die Blumen ihr näherstehen, gegen ihren Busen wird es schon einiger, um ihre Wangen und Lippen verschwimmt es [350] ganz, und aus ihren Augen strömt wieder völlige Einheit des Lichts, doch ein anderes, unbeschreiblicheres. Ihre Stirn und ihre Locken aber brennen in den Flammen des sinkenden Tages, der von oben durch die geöffnete grüne Pforte der Bäume niederbricht, ringsum die Zweige in grüne Glut setzt, und den großen Früchten, die schwer aus ihnen niederblicken, feurige Blicke giebt.«

»Ich habe vergessen,« sagte Godwi, »Ihnen zu sagen, daß diese Gemälde von Franzesko Firmenti sind, dessen traurige Schicksale im ersten Bande Ihres Romans Seite 165 sein Bruder Antonio an meinen Vater schreibt, der ihn wieder gefunden hatte; es ist derselbe, von dem Römer Seite 50 schreibt, daß er seine Stelle ersetze und mit meinem Vater viel allein sei. Ehe er sich in die Handlungsgeschäfte einließ, an denen er seinen Geist wieder systematisieren wollte, hat er hier auf dem Gute diese Bilder gemalt. Es war damals eine begeisterte Melancholie in seiner Seele, in der sich seine Verrücktheit gelöst hatte. Doch wir werden mehr von ihm hören.

Alle seine Bilder haben einen eignen Charakter, und zwar den, daß sie eigentlich nicht sind, sondern ewig werden, und dies entsteht durch eine Manier, in dem er das Licht der Pflanzen, des Himmels und des Fleisches in verschiedene Haltungen setzt, obschon nur eine Beleuchtung stattfindet. In Bildern dieser Art macht dieses oft einen glücklichen Effekt.«

»Ja,« fuhr ich fort, »es ist auffallend, denn eben hierdurch entsteht diese Bewegung, ich möchte sagen, dieses leise Wogen der Farben über das Ganze, das Auge wird vor seinen Bildern ein feines Gehör, das die Schwingungen der einzelnen Töne durch den vollen Akkord hört, und ich möchte seine Malerei rhythmisch und deklamatorisch nennen: es ist, als wallen die Wellen sanfter Jamben durch das Gemälde.

Es ist wunderbar dargestellt und gemalt, was ich für unmöglich hielt, ein Bild, das nicht historisch ist, keinen Moment erfüllt, sondern die fortdaurende stille Bewegung eines dichten Gemütes vorstellt. Ich sehe, daß das Mädchen spricht, obschon ihre Lippen nur leise geöffnet sind; ich sehe, daß sie sich den Blumen vergleicht, und die Blumen sich, denn nur auf ihren Lippen, in ihren Augen wird sie Jungfrau; ihr schlanker Leib [351] hebt sich in leidendem Streben wie eine Pflanze, ihre Arme gleichen zarten Zweigen, ihre Brüste drängenden sehnenden Knospen, welche gelinde vorstreben, und um die sich die samtenen Blätter lebendiger regen. Über diesem Throne des milden Herrschens wallt ihr Antlitz wie Duft; auf den Lippen wird alles ein stiller Erguß; die Augen sind reflektierendes holdseliges Sinnen, und das Haupt ergießt sich mit den Locken in das flammende Element des Himmels. Alles, was sie empfindet, steht in dem Lichtgrade, in dem ihre Empfindung selbst steht und es beleuchtet.

Aber ich werde nimmer fertig, das Bild wächst unter meinen Augen, und hänge ich an den Formen des Mädchens, und suche sie zu enträtseln, so rufen mich die Blumen, als sollte ich sie hinaufheben, an ihr keusches begehrendes Herz; gehe ich nieder, um die stummen Kinder zu brechen, so werde ich zur Biene, und schwebe über ihren Kelchen, deren Süßigkeit sie selbst nie leeren, dann zieht mich wieder der feurige Himmel hinauf, und meine Empfindung verliert alle Gestalt. Diese Geschichte meines Anschauens aber beruhet allein auf diesen drei Lichtern, die in dem Bilde herrschen und sich auf allen Punkten auswechseln.«

»Es scheint,« sagte Godwi, »als wären die Blumen in einem Opfer entzündet, und alles andere sei nur ein Gedicht, das sich in ihren Dampfwolken gebrochen habe, um zu erscheinen, und als wäre das Mädchen nur der Mittler zwischen ihnen und dem Himmel, denn in diesen Blumen liegt ganz der Charakter von Wallpurgis Gestalt und des Himmels. Es ist, als seien die Blumen nur die Darstellung ihres Leidens, das schon stille geworden, und ihre traurigen Blicke ins Leben, so wie der feurige Himmel ihr brennendes Begehren nach dem Tod. Nach dieser Ansicht ruht der Mittelpunkt des ganzes Bildes in ihrem Busen, dessen Schmerz und Andacht ich deutlich in mir fühle; ist es nicht, als sähe man, wie ihr Herz bricht? Ihr ganzes Haupt bis auf die Brust wird gierig vom Himmel angesogen, und von da, wie es schwer niederdringt, als zögen es Bande des Blutes hinab.«

»Und dennoch ist auch hier kein Ruhepunkt,« sagte ich, »denn auch die Glut des Himmels ist die Mutter des Ganzen: ist diese Röte des Abends nicht reine Sehnsucht im Äther reflektiert, und ist Sehnsucht nicht Abendrot in der Empfindung, [352] und ist das Bild etwas anders als Sehnsucht im Äther, Sehnsucht in der Pflanze, und Sehnsucht im Mädchen?«

Godwi sagte: »Es ist schön, wie die Natur unsere Ansicht begleitet hat, es ist nach und nach dunkel geworden, das Bild hat sich doppelt bewegt, in seinem Lichte, und in der Beleuchtung des Tages. – Die stille Fackel des Mädchens ist verloschen, die Blumen sind gestorben, die Schatten der Bäume haben ihre Arme um den Schmerz gelegt, die glänzende Pforte des grünen Gewölbes schließt sich der schönen Bahn, auf der die ganze Bescheinung hingezogen ist, nun ruhet das arme Herz, lebe wohl, Wallpurgis!«

Es war dunkel geworden, und wir hatten es nicht bemerkt. Wir verließen nun die Stube, um ein anderes Gemälde zu besehen, das den Geliebten Wallpurgis' vorstellt, wie er abends unter den Leichenmännern die Nachricht von ihrem Tode empfängt. Godwi sagte mir, daß dieses Bild sehr gut bei Licht gesehen werden könne, weil es selbst ein Nachtstück sei, und er steckte zu diesem Zwecke eine Lampe an, die an der Decke angebracht war.

Vorher teilte er mir aber noch ein Gedicht mit, welches Franzesko, während er das vorige Gemälde verfertigte, gemacht hatte. Es ist italiänisch, und in dieser Sprache wirklich voll Wärme, doch gleicht es seiner Schwester, dem Gemälde, bei weitem nicht; ich habe es den folgenden Morgen zu übersetzen gesucht, aber es war durch die Eigentümlichkeit seines Ausdrucks ebenso schwer, als das Gemälde zu kopieren sein würde. Diese Übersetzung füge ich hier bei und bitte, daß Sie immer Ihre Augen auf das Bild wenden, während Sie sie lesen.

Über dem Gedichte standen folgende Worte in Prosa, als Einleitung:

Es wollte Abend werden, da saß ein alter Harfenspieler an einem öffentlichen Spaziergange, um ihn her wandelten Jünglinge und Männer, die sich teils geschäftig bewegten, teils gravitätisch schritten und sehr nachdrucksvolle Bewegungen machten; einige lächelten auch bedeutend, oder sahen gerührt gegen den Himmel; keine Jungfrau war zugegen, die Schüchternheit hatte sie zurückgeführt in ihre Wohnungen, sie saßen in dem einsamen Garten des Hauses oder an dem Fenster ihrer Kammer, [353] und sehnten sich, wie sich die Jungfrau Gottes sehnte, ehe der Geist über sie kam. Das wußte der Greis, denn es war ihm sein liebstes Kind gestorben, ach! und er wußte ja nichts als das. Sie sagten von ihm, wenn sie an ihm vorübergingen, er sei ein schwärmerischer Mann, der nur Ideale im Kopf habe, und dem es an respektablen Gefühlen mangle. Er aber sang folgendes Lied zu seiner Harfe.

Der Abend
Nach seiner Heimat kühlen Lorbeerhainen
Schwebt auf der goldnen Schale
Schon Helios, es glühen rings die Wellen,
Der Ozean erschwillt in frohen Scheinen,
Die wie mit Blitzesstrahle
Die ernste Nacht der fernen Ufer hellen,
Und über alle Schwellen
Ergießt der Gott die stillen Feuerwogen
Zum ewgen Himmelsbogen,
Daß von den Bergen durch das dunkle Leben
Des Tages Flammen wiederhallend beben.
Hoch auf den Bergen wehen seine Flammen,
Den raschen Mann zu führen,
Der seiner Reise Ziel noch nicht errungen,
Er strahlet mit dem Glanze stets zusammen,
Wenngleich die Füße gleiten,
Bleibt von dem Lichte doch sein Haupt umschlungen.
Nie von der Nacht bezwungen,
Lenkt ruhig nach der Sterne heilgem Feuer
Das ernste Schiff den Steuer
Und wandelt heimwärts durch die dunkeln Fluten,
Vertrauend auf des Leuchtturms hohe Gluten.
Vom kühnen Felsen rinnen Lichter nieder,
Die Täler zu ergründen,
Und wo des Feuers milde Quelle ziehet,
Verglimmen bald des Haines wilde Lieder,
Denn alle Töne schwinden,
Bis sie des Abends Flammen rein geglühet –
Und welch ein Lied erblühet –
[354]
Es flicht die Nachtigall die goldnen Schlingen
Und süß gefangen ringen
Im Liede Liebesschmerz und Schmerzes-Liebe,
Daß Schmerz in Liebe, Lieb in Schmerz sich übe 4.
So drang der Töne Frühling aus dem Schweigen,
So auch in reinen Seelen
Des Tages wilde Kämpfe bald zerrinnen,
Wenn Lieb und Schmerz sich hold zusammenneigen,
Die Zwietracht zu verhehlen,
Und rührend doch den ewgen Streit beginnen.
Ach keine mag gewinnen! –
Ein Wundergift fließt beiden von den Pfeilen,
Zu töten und zu heilen –
Denn er muß stets an ihrem Pfeil gesunden,
Und sterbend lebt sie nur in seinen Wunden.
Doch bald wird nun die Ruhe niederschweben,
Daß alle Schmerzen fliehen,
Den heißen Kampf die stillen Schatten kühlen,
Dann mag der Sehnsucht ungelöstes Leben
In heilgen Phantasieen,
In schönen Träumen dichtend sich erwühlen.
Könnt ihr solch Leben fühlen?
So will, mit seinem Rausch euch zu erfüllen,
Mein Bild ich gern enthüllen,
Mein Bild, wie in des Abends Heiligtumen
Die Jungfrau redet mit den holden Blumen.
Die Jungfrau und die Blumen
Wo leis des Gartens dichte Schatten rauschen
Und in den dunklen Zweigen
Die reifen goldnen Früchte heimlich schwellen,
Gleich holden Engeln, die in Wolken lauschen
Und freundlich sich bezeigen,
Seht ihr die weiße Jungfrau sich erhellen.
Des Lichtes letzte Wellen
Umfließen sie. Sie sitzt, und ihr zu Füßen
[355]
Unschuldge Blumen sprießen;
Sie spricht zu ihnen, weckt mit ihren Blicken,
Die schon die Augen schließen, schlafend nicken.
Es scheint ihr Wort sie mehr noch einzuwiegen;
Was ihre Lippen sprechen,
Wallt längst im Traum um ihre zarten Seelen
Und wohnt in ihrem Leben still verschwiegen –
Die Stummheit zu zerbrechen,
Sind sie zu schwach, und könnens nicht erzählen;
Doch sie kann nichts verhehlen,
Der stille Abend löst die keuschen Banden,
Die ihren Schmerz umwanden,
Sie klaget leis, und mit den blauen Augen
Will Antwort sie aus ihrer Stummheit saugen.
»Ihr blinden Kinder, wenn der ewge Schlummer
Von euren Augen weichet,
Wenn eure Lippen seufzend sich erschließen,
Ein warmes Herz euch bebt und eurem Kummer
Die Götter Worte reichen,
Erblüh ich eine Blume euch zu Füßen.
Ihr werdet still mich grüßen
Und für der Liebe jungfrauliches Bangen
Der Blume Trost verlangen,
Denn wir sind Schwestern, sind im harten Leben
Der tiefen Liebe frühem Tod gegeben.
Was, Lilie, keusch in deinem Kelche webet,
Was, Rose, rot dich malet
Und eure Augen, stille Veilchen, sagen,
Auch keusch und bang in meinem Busen strebet,
Von meinen Lippen strahlet
Und still und mild die blauen Augen klagen.
Uns faßt ein gleich Verzagen,
Ach! nimmer kann des Herzens still Verbrennen
Der keusche Mund bekennen,
Ach! nimmer will die wilde Welt verstehen,
Was unsrer Düfte stumme Lippen flehen.
Wenn linde Sonnenstrahlen niedersehen,
Sich laue Weste regen,
[356]
Erkennen wir aus uns mit dunklem Sehnen,
Doch nimmer wissen wir, wie uns geschehen.
Was wir im Innern hegen,
Ist süßes Träumen und ein kindisch Wähnen.
Es fließen alle Tränen
Noch leicht herab, und weilen keine Schmerzen
Im unerschloßnen Herzen,
Bis von der ewgen Liebe tiefen Quellen
Das Herz sich dehnt, und leis die Knospen schwellen.
Im Busen keimet heimliches Begehren,
Und mildes Widerstreben,
Und wie sie liebend miteinander walten,
Erzeuget sich ein hoffendes Entbehren;
Der Blüte junges Leben
Will nun die zarten Blätter schon entfalten.
Die freundlichen Gestalten,
Die in verborgner Werkstatt noch gefangen,
Nach Freiheit sehr verlangen,
Bis uns des Morgens goldner Pfeil erschließet
Und der geheimen Wunde Träne fließet.
Nun lösen sich die rätselhaften Triebe,
Und zu dem reinen Throne,
Der aus dem Herzen froh heraufgedrungen,
Steigt schüchtern und verschleiert unsre Liebe.
Es hat die bunte Krone
Der sanften Königin das Licht geschlungen.
Sie hat das Reich errungen,
Und blickt in ihres Sieges junger Wonne
So freudig nach der Sonne,
Die freundlich sich in ihrem Schoß ergießet
Und sie mit goldnen Strahlen froh begrüßet.
Dir arme Königin, wie wird dir bange,
So einsam und verlassen,
So arm siehst du hinaus, ins weite Leben,
Die eignen Düfte küssen deine Wange,
Du mußt dich selbst umfassen,
Kein Volk, kein schöner Freund dir Liebe geben.
Die zarten Säulen beben,
Auf denen sich dein leichter Thron beweget,
[357]
Vom Weste selbst erreget.
Die Nacht flieht lieblos dir in dunklen Träumen,
Am Morgen Tränen deine Blicke säumen.
Sind nicht dein Thron des Busens junge Wogen,
Dein Purpur, rote Wangen,
Dein Diadem, der Locken goldne Schlingen?
Ach bald sind all die Wellen weggezogen,
Der Purpur bald vergangen,
Gelöst die Flechten, die dein Haupt umfingen.
Der Liebe Pfeile dringen
Vom Himmel, und der Schmerzen glühes Wühlen
Im Herzen zu erkühlen,
Löst du in stillen Tränen dein Geschmeide;
Der Tränen Weide wirst du, Augenweide!
Du arme Königin! so ohne Wehre
Sollst schweren Kampf du führen,
Will keiner für die holde Braut denn streiten,
Will keinen, daß die Glut sie nicht verzehre,
Solch zarte Schönheit rühren,
Des Schattens liebend Dach um dich zu breiten?
O stummes bittres Leiden!
Welch Leben, wo die Liebe ungedinget
Dir keine Hülfe bringet,
Und wolltest du den dichten Schleier heben,
So würde dir des Schatzes Geist entschweben.
Und heißer, immer heißer dein Begehren,
Und leiser deine Klagen!
Die Farben schon, die deinen Schmerz verkünden,
Der Düfte leise Worte sich verzehren,
Um lauter stets zu sagen,
Wie dich die wilden Flammen ganz entzünden.
Die Hülfe zu ergründen,
Willst du vom freien Throne niedersteigen,
Dem Frevel dich zu neigen?
Noch elender ein Handwerk voller Wehe,
Umzunfte dich der schnöde Tod, die Ehe. –
Nein! solcher Ärmlichkeit dich hinzubieten,
Wird Armut dich nicht zwingen;
[358]
Die freie Liebe läßt sich nicht umarmen;
Wo sie den Kuß in Zweck und Absicht schmieden,
Wo Trieb und Freiheit ringen
Und alle Lüste an der Not verarmen,
Dem Handwerk zum Erbarmen,
Wo zwei geübte Langeweilen weilen
Und Pflicht und Notdurft teilen,
Darfst du dich nicht ergeben – heilig Leben!
Dein Bild nicht in des Haushalts Linnen weben.
O könntest ruhig du dein Sterben leben,
Die Andern nicht erkennen,
Die alles Lebens eine Hälfte fassen,
Sich stille wandelnd hohes Ansehn geben
Und hin und wieder rennen,
Als wäre ohne sie die Welt gelassen.
Ach wohl! sie ist verlassen,
Das Leben ist zur Selbstbetrachtung worden,
Die Liebe zu ermorden,
Und forscht die Schönheit tötend nach Gesetzen,
Die Liebe und die Schönheit zu ersetzen.
Sie wähnen gar, die Liebe sei verloren,
Weil sie sich selbst vermissen
Das Leben in Verzeichnisse schon bringen,
Als würde fernerhin nicht mehr geboren,
Als bräch aus Finsternissen
Der Tod herauf, die Mutter zu verschlingen.
Mit solchen Wunderdingen
Vermeinen sie die längst verlornen Grenzen
Der Liebe zu ergänzen,
Und ordnen uns und stellen nach den Flammen
Dem Tode in Systeme uns zusammen.
Wie schöner Sieg! Wir können hier nicht sterben,
Denn hier war uns kein Leben,
Ein Frühling nur, wir sind es selbst gewesen,
Erblühen und Verglühen – kein Verderben
Kann unser Bild entweben,
Nur Opfer kann der Liebe Fessel lösen,
O freudiges Genesen!
Erhebe, sanfte Königin, den Schleier
[359]
Dem reinen Himmelsfeuer;
Will liebend nicht das Leben dich erringen,
So laß vom stillen Gotte dich umschlingen.
Wie glüht der Mittag heiß, in tiefem Schweigen
Eröffnet sie den Schleier,
Der Liebe Heiligtum muß sie enthüllen,
Und zu dem Throne glühe Strahlen steigen,
Des stillen Gottes Freier,
Die wachen Schmerzen tötend ihr zu stillen.
Sie reicht dem mächtgen Willen
Die Liebe hin, und löset ihre Krone
Und breitet auf dem Throne
Die duftenden Gewänder, an den Gluten
Des Bräutigams sich opfernd zu verbluten.
Mir ist das schöne Opfer bald verglommen,
Es wallt das letzte Düften
Dem lichten Gott, der mit der Krone fliehet,
Er wand sie mir, er hat sie hingenommen,
Und in den reinen Lüften
Das bunte Leben mit ihm heimwärts ziehet,
Mein stiller Abend glühet,
Und wo des hohen Glanzes reine Wellen
In heißem Purpur schwellen,
Da brechen sich der Sehnsucht letzte Wogen,
Und ist der Streit der Liebe hingezogen.«
O Nacht! so voller Liebe,
Ergieße deine dunkle Flut der Bangen,
Umfange ihr Verlangen,
Laß kühlend um die kämpfenden Gestalten
Das stille Meer der ewgen Liebe walten!

Godwi zog nun den Vorhang des Nachtstückes in die Höhe. Das Bild nahm die eine Wand der kleinen Stube ganz ein, wir saßen gegenüber auf einem Sopha. –

Der ganze Moment des Bildes war heftige Spannung, Männer mit schwarzen Mänteln ringsum, immer dunkler gegen den Rand. Mitten unter dem Baume ragt eine Fackel heraus, welche grelle Lichter über die hagern plumpen Gesichter der Leichenmänner wirft; von ihren Hüten fallen schwarze Flöre, welche [360] schön durchsichtig dem hellen Scheine eine Halbtinte entgegensetzen. Etwas entfernt von den Fackeln, doch allein in ganzer Beleuchtung, lehnt der Jüngling ohnmächtig im Arme eines Dieners, sein Kopf sinkt abwärts, so daß er von oben beleuchtet wird; er hat schöne blonde Locken, und einen edlen Gesichtsschnitt; der Bediente zieht ihm das Halstuch ab, und hat ihm die Kleider geöffnet, ein grüner Mantel fällt von seinen Schultern, und antwortet dem Grüne des Baumes, der durch die Fackel von unten erleuchtet wird; in dem Baume sieht man den Italiäner dunkel sitzen. Im Ganzen sind keine heftigen Farben, nur starker Kontrast von Dunkel und Licht.

Es war, wie dumpfes Murren in den dunkelsten Stellen, um die Flamme der Fackel einige lauten Schreie, um den Jüngling stille Bangigkeit, und er selbst leises Atmen und Seufzen. – Man meinte, es müsse sich nun bald ändern, sie müßten bald auseinandergehn.

Godwi ließ den Vorhang wieder fallen, und ich sagte: »Gut, es war Zeit, lange konnten die vielen Menschen nicht hier in der kleinen Stube sein, der Atem ward mir schwer.«

Wir verließen den Saal, und ich besuchte Georg, den Diener, der sehr krank war.

Sechsundzwanzigstes Kapitel. Fortsetzung der Geschichte ...
Sechsundzwanzigstes Kapitel

Fortsetzung der Geschichte der beiden Schwestern


Marie und der Vater waren sehr stille auf ihrer Fahrt nach dem Gute der Gräfin; sie waren lange nicht im Freien gewesen, ihre Gemüter waren gleich ruhig, sie hatten sich nichts mitzuteilen, und es war ihnen beiden, als wären sie allein; doch fühlten sie eben durch dieses stillschweigende doppelte Dasein ineinander dies Alleinsein nicht. –

(Dies mag wohl das eigentliche Wesen der Freundschaft sein, das so selten lebt, ohne wirkliche Vermischung – bloßes stilles wohltätiges Gefühl der schönen Umgebung, das Nebeneinanderströmen harmonischer Töne. Der Freund kann nichts, als unser Selbstgefühl aufheben, in dem er das seinige verliert, und sich wohl befindet. Wo man die Freundschaft selbst fühlt, [361] giebt einer oder der andere zu viel oder zu wenig, und hat die Sache ihr Ende. Sie ist bloße Verstärkung des Daseins, und Verminderung des Selbstgefühls im allgemeinen Medium des Lebens; aus den Einzelnen macht sie eine Summe, stellt sie dem Mächtigen entgegen, und macht den Begriff Volk allein ehrwürdig, im Gegensatze des Begriffes Herrscher, Weiser, Dichter. – Sie setzt in der höchsten Unschuld keine Notwendigkeit der eignen Gattung voraus, der natürliche gesunde Mensch ist ebenso Freund mit dem Licht und dem Dunkel, den grünen Bäumen, seinen Werkzeugen, Werken und Gedanken, als seinem menschlichen Freunde; ja die Freundschaft mit dem Menschen insbesondere ist Folge der verlornen Unschuld, es liegt ein Zusammentreten gegen die Natur, etwas Feindseliges und Boshaftes in der bloßen Freundschaft mit seiner Gattung, und sie folget dem Verluste der Eigentümlichkeit und der Kraft des Einzelnen, der die Natur nicht mehr zwingen kann und eine Menge gegen die größte Einheit bilden will, um sich ihr entgegenzustemmen. –

Zwischen zwei Menschen, von denen einer sich die Welt nimmt, und der andre sich der Welt giebt, kann sie nie stattfinden, denn in ihr kann sich keiner geben und kann keiner nehmen, sie ist bloßes Dasein ohne Tätigkeit. – Sie ist daher bloß im Frühling und Winter des Lebens, im Spiel und der Ruhe – wo uns der Zweck beherrscht, kann sie nicht sein.)

Am Abend kamen sie dem Schlosse näher, und ihre Begierde, Annonciaten zu sehen, war größer; Marie hatte lange nach dem milden Lichte des Himmels gesehen, und sagte zu ihrem Vater, mit Tränen in den Augen:

»Wo mag jetzt Joseph sein? Es ist mir oft, als wäre er doch gar zu weit von uns, als würde er nicht wiederkommen. – Annonciaten verstehe ich jetzt viel mehr, Vater! und es ist mir, als habe sich eine stille Ähnlichkeit mit ihr in mir gebildet – ich kann es nur nicht so sagen, ich bin nicht so stark« –

»Warte nur, bis Joseph wieder kömmt,« sagte Wellner – »Du sehnst dich nach ihm« –

»Wohl sehne ich mich nach ihm, aber es ist noch mehr; mit ihm ist es nicht all – Wie wohl Annonciata sein wird? Vater, [362] sie hat uns lange nicht gesehen, ihr Herz, ist so gut, sie wird recht gerührt sein, uns wiederzusehen.«

Unter solchen Worten fuhren sie den Schloßhof hinein. Es machte ihnen ein alter Diener auf, und sie wunderten sich, daß in dem Hause der reichen Gräfin so wenig Geräusch war.

Der Alte führte sie langsam die Treppen hinauf, es war ihnen unheimlich zu Mute. Man brachte sie in das Zimmer der Gräfin; – diese saß allein bei einem Lichte auf dem Sopha, und als sie Wellnern und Marien hereintreten sah, schrie sie laut auf, – »o Gott, o Gott!« – und sank ohnmächtig auf die Kissen, – Marie kam ihr zu Hilfe, ein Kammermädchen trat herein und vereinigte sich mit ihr, und Wellner stand in einer großen Angst an das Fenster gelehnt –.

Als sich die Gräfin zu erholen anfing, bat das Kammermädchen Wellnern und Marien, in das Vorzimmer zu treten –

Hier waren sie stille, ohne ein Wort zu sprechen, Marie setzte sich nieder, und konnte vor Schreck nicht weinen –. Eine kleine Weile drauf brachte man sie in eine Stube, wo sie die Nacht zubringen möchten; Wellner fragte nach seiner Tochter, und die Dienerin verließ mit dem schmerzlichen Ausruf die Stube: »Ach das ist es, daß Gott erbarm, das ist es!«

Wellnern war es nun gewiß, daß sein Kind gestorben sei, Marie war untröstlich, und wurde sehr krank in der Nacht; eine Wärterin und Wellner blieben bei ihr, der Arzt wurde aus der Stadt geholt. –

Die Wärterin erzählte Wellnern, daß Annonciata nun schon zehn Tage verloren sei; man wisse nicht, wo sie hingekommen sei; sie sei abends in den Garten, wie gewöhnlich, allein gegangen, aber nicht wiedergekommen; und wie man den Teich abgelassen habe, aus der Vermutung, sie sei hineingefallen; wie alle Leute der Gräfin nun zum zweitenmal abgereist seien, da sie das erstemal keine Nachricht erhalten hätten.

Die Gräfin sprach den folgenden Tag mit Wellnern, und beruhigte sich, da er sie gern schuldlos erkannte. Sie konnten keine andre Idee fassen, als Annonciata sei geraubt, weil sie bei jeder andern Art von Entweichung sicher einigen Trost für die Zurückbleibenden dagelassen hätte.

So war dieser traurige Abend –

[363]

Alle Nachforschungen wurden verstärkt, ein ganzes Jahr hindurch emsig fortgesetzt, aber umsonst –

Wellner grämte sich sehr über diesen Verlust, und Marie ward immer stiller und schwermütiger; sie stand oft abends an ihrem Fenster allein, wo sie sonst mit Annonciaten gestanden, und fühlte nun alles, was ihr jene damals gesagt hatte.

Von Joseph fehlten schon elf Monate die Briefe: der Vater wußte gar nicht, was er Marien sagen sollte, wenn sie nach Briefen fragte. Diesen beiden Menschen war alles zerstöret, was sie mit der Zukunft verband, und sie erschraken vor jedem Stundenschlag.

Marie war wohl noch trauriger als Wellner, doch versteckte sie ihren Schmerz, und suchte ihn zu erheitern –. Annonciaten wiederzufinden, gaben sie die Hoffnung beinahe auf – und auch der Gedanke an Joseph ward schon dunkler und trauriger –. Wenn Wellner in den Handlungsbüchern blätterte, und sah, wo er geschrieben hatte, kamen ihm oft die Tränen in die Augen. –

Es war nun schon beinahe anderthalb Jahre, daß Joseph nicht geschrieben hatte, als Godwi 5, ein Engländer, der Sohn einer reichen Handlung, nach dem Wohnort Wellners kam. Er war ein schöner feiner Mann, von seiner Familie mit einem Kredite empfohlen, der beinah Wellners Vermögen überstieg, und dabei sehr einfach und erst bei aller seiner Freimütigkeit; er gefiel diesem sehr wohl, und auch er befand sich gut bei Wellnern und Marien, und brachte seine meiste Zeit bei ihnen zu. –

Er wußte sich bald ihres Vertrauens zu bemeistern, und zog nach einiger Zeit ganz ins Haus. Marie war ihm gut, und er liebte sie schon sehr – doch war es nicht zum Geständnis gekommen, weil er zu oft Zeuge ihrer schmerzlichen Erinnerung an Joseph gewesen war. –

In Wellnern regte sich oft das Gefühl, daß er nicht mehr lange leben würde, dann sah er mit Trauer auf Marien, und sehnte sich heftiger nach Josephen – aber dieser blieb aus, und alle Nachricht von ihm.

Manchmal, wenn er sah, wie Godwi sich um Marien bewegte, faßte er den Mut, an die Möglichkeit zu glauben, der reiche [364] Engländer nähere sich seinem Kinde mit ehrlicher Liebe, leichter aber hielt er es für Freundlichkeit oder Sitte.

Er ward nun täglich stumpfer, und hatte wenig Freude mehr an seinem Geschäfte. Bald aber erhielt sein Glück den heftigsten Stoß, mehrere fehlgeschlagene Operationen und ein großer Banqueroutt machten ihn unzahlbar, – er war in der größten Verzweiflung – und beinahe auf dem Wege, sich sein Leben zu nehmen. Diese Gemütsstimmung empfand Marie schmerzlich: sie hatte schon einige Tage bemerkt, daß er sehr traurig war, ihr auswich, und wenig bei Tische aß. Die Verschlossenheit ihres Vaters gegen sie bei einem sichtbaren Leiden war ihr sehr drückend; sie hatte es nie erfahren, und konnte nur glauben, sie selbst sei schuld daran, sie müsse ihn sehr gekränkt haben, daß er nicht einmal mit ihr sprechen könne. Wenn sie auch alles überdachte, so konnte sie nichts in ihren Handlungen finden, bis sie endlich vermutete, ihrem Vater mißfalle ihre unbefangene Vertraulichkeit mit Godwi, und er denke Böses von ihr.

Dieses bewog sie zu einer Kälte gegen den Engländer, welche er sehr unverständlich fand. Zwei Tage war diese allgemeine Spannung im Hause –, als es endlich zu einer Erklärung kam.

Wellner, Godwi und Marie saßen abends zu Tische, alle stumm und traurig. Gegen das Ende konnte Marie es nicht mehr verbergen. Wellner hatte sie sehr wehmütig angesehen, sie konnte ihren Schmerz nicht mehr halten, die Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie verließ laut weinend die Stube. Wellner folgte ihr mit den Ausrufungen »Gott, Gott! du armes Kind!« in die Nebenstube. Godwi saß nun allein an dem Tische, spielte mit dem Messer, und fühlte jene fatale Ruhe der Selbstverachtung, um die sich schöner Schmerz bewegt –, er sang ohne zu wissen die Worte: God save the king, und setzte mit einem fürchterlichen Bewußtsein die Worte: and damn me, dazu. –

Er stand auf, ging schnell nach der Türe, und blieb starr vor ihr stehen, als er Mariens Worte hörte: –

»O lieber, lieber Vater, ich liebe ihn nicht, ich liebe Godwi nicht, o denkt nichts Böses von mir –«

Er hörte erstaunt folgendes Gespräch, und in seinem Herzen waren viele schmerzliche Anklänge, die wir bald verstehen werden –

[365] »Liebe Marie, das ist es nicht, was mich ängstigt; o wie konnte ich deinem armen Herzen diesen Schmerz lassen!«

»Wir sind sehr unglücklich, lieber Vater, Annonciata ist verloren, Joseph ist verloren, ach und euer Vertrauen ist verloren, ach mein Vater, gebt mein Einziges nicht so hin!«

»Das ist es nicht, Mädchen, das nicht, (hier hob er hart und kalt die Stimme) aber ich bin ein Bettler, bald, bald, und du die Tochter eines ehrlosen Bettlers.« – Der Engländer bebte, und ward ruhiger, eine Zeitlang hörte er nicht mehr sprechen, – dann erhob Marie ruhiger die Stimme –

»Lieber Vater, nur das, o das ist es nicht, ich verstehe es vielleicht nicht, aber das wird uns nicht unglücklich machen. – Leben, – das bißchen Leben wollen wir gewinnen, und nach uns wird doch niemand kommen, der von uns begehrt; wir werden allein sein, und lebt nur ruhig, sterbt ruhig, ich will ruhig nach euch sterben.« –

Godwi verließ die Stube, und ging nach seinem Zimmer, wo er alles empfand, was ein Mensch leidet, dem das Leben durch innere Fülle und äußeren Überfluß lange so leicht als Tugend und Laster war, und der mit wenigem geretteten Selbstgefühl in die Geschichte einfacher liebender Menschen tritt, ohne doch von diesen eigentlich als ein Wesen anerkannt zu werden, das wirklich teil an ihnen hat.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Der Godwi, den ich hier nannte, ist unsers Godwis Vater. Ich las diesem vor, was ich schrieb, und er gab mir einige Blätter seines Vaters, die er in der Zeit seines Lebens bei Wellner, und auch an jenem Abend niedergeschrieben hatte: sie könnten eigentlich alle an diesem Abend, geschrieben sein, weil sich an ihm alles sammelte, was er damals empfand. Diese Blätter sind lauter Bruchstücke von Erinnerungen aus seinem Leben, die ihm zu Empfindungen wurden, und die sein Sohn historisch selbst nicht genau kannte. –

Ich setze davon das Merkwürdigste hieher, um seine Geschichte aus seinen Empfindungen den Lesern vermutlich zu [366] machen. – Es wird ihnen um so leichter werden, dieses zu tun, als es sehr viele Menschen giebt, denen alles leicht und das Bedürfnis dringend war. Ich lasse diese Fragmente ohngefähr so folgen, wie sie mir in der Zeit gefolgt zu sein scheinen –.


»Ich möchte oft lachen und weinen über meine sogenannte Ungeschicklichkeit im Leben, die doch nichts als eine wunderbare Überzeugung bleibt, daß alle Geschicklichkeit lächerlich ist – ich bleibe immer stehen, komme nicht weiter, wenn ich irgend eine Geschicklichkeit erlange, denn ist Geschicklichkeit etwas an ders? als: bei einer Sache länger verweilen zu dürfen, als es schicklich ist. –«


»Es zieht mich alles an, aber ich stehe immer im Zweifel, ob ich willkommen bin; nähere ich mich einer Sache, so möchte ich meine Verlegenheit nicht merken lassen, und mache alle Wissenschaften in mir irren; wenn ich dann sehe, daß sie sich in mir geirrt, so sage ich etwa, kann ich die Wissenschaft betrügen, so kann sie das Leben auch betrügen, und sie weiß wohl nicht, was sie will. Ich achte ihren guten Willen, aber ihr Wissen kommt mir verdächtig vor.«


»Mit ist sehr wohl über alles, was ich nicht weiß; was ich weiß, finde ich unnütz, weil es wohl kann besser gewußt werden; ich wollte, ich lebte nicht, mein Leben könnte auch besser gewußt werden.«


»Das ganze Leben ist eine Geheimniskrämerei, eine Delicatesse aller Existenzen gegeneinander, daß mir es oft ängstlicher drinne ist als bei tugendhaften Mädchen, die in jeder Stunde heuraten können, wenn nur ein Priester die Gelegenheit vom Strauche bricht.«


»Es ist wahrhaftig nicht der Mühe wert, sich Mühe zu geben, die Sache bleibt ewig dieselbe; bohre ich ein Loch mit meinem Verstande in die Welt, so muß es sich des allgemeinen Gleichgewichts halber wieder zustopfen, und es ist recht unhöflich, die Natur der Dinge so zu bemühen.«


[367] »Vor vielen Dingen soll man Ehrfurcht haben, man soll sie ehren, und nirgends möchte ich so gerne laut sprechen oder pfeifen als in der Kirche, nicht um gehört zu werden, sondern um es zu hören, – ich möchte auch wohl gerne in einem lüderlichen Hause beten, und über eben diese Gelüste kann ich sehr traurig werden. –«


»Tugendhaft sein, wie man es heißt, ist, was ein Brownianer schlecht recipieren nennt; – ich möchte oft toll werden über alle die Dinge, die dazu nötig sind, und die ich oft gar nicht auftreiben kann.«


»Am Ende sind alle Menschen nur Formeln, um ein Stück Weltgeschichte herauszubringen; denn warum hielt ich einst nichts auf Tugend, und fange jetzt wieder an, was drauf zu halten?«


»Ich habe immer eine große Anlage gehabt, Weibern, die sich mit ihrer Tugend breit machten, etwas die Ehre abzuschneiden, und ihre Tugend zu schmälern, damit die andern sich nicht so ängstlich drücken müßten, die ihre Tugend selbst schmälerten, und das tat ich vielleicht gar des Wortspiels wegen.«


»Gott weiß, daß meine Wahrheit mein Unglück war! Ich hörte immer schon dann auf zu lieben, wenn ich merkte, daß meine Geliebte den Engel und den Menschen getrennt hatte, und habe manchem Menschen seinen Engel genommen, und ihn allein stehen lassen; das ist bös, aber es war so: ich habe alle Chemie erschöpft, die Unschuld wieder mit dem Mädchen zu vermischen, aber es ging nicht, und die Unschuld erschien mir endlich nicht schuld an der Schuldlosigkeit.«


»Eine Zeitlang trieb ich das Leben rückwärts, und tat alles nicht, was ich getan hatte; ich glaubte, das sei Besserung, aber ich kam mir bald so komisch vor wie ein Riese, der Alt singt, und ein alter Mann, der die Leute mit seinen Kinderjahren unterhält – da machte ich denn das gebesserte Stückchen schnell [368] wieder schlecht, und alle Besserung kam mir vor, als schüttelte ich ewig das Kissen auf, auf dem ich mit meinem Liebchen ruhe, müsse es immer wieder niederdrücken, und käme nie zur Ruhe selbst, oder man rasiere mich so langsam, daß mir der Bart immer unter dem Messer wachse.«


»Ich habe nun so mancherlei getan, viele Freunde gehabt, viel Geld ausgegeben, viele Mädchen geliebt, viele Ewigkeiten verloren, und das alles ist vorbei, es bleibt nichts als die Narbe, und die schmerzt, wenn sich das Wetter ändert. Was soll ich mit allen den süßen Erinnerungen, die vorbei sind, und was mit aller der Gegenwart, die vorbeigeht, – so raisoniere ich jetzt; sonst war dieses keine Empfindung, es war Handlung: ich ärgerte mich einmal darüber, daß Jenny eine so liebenswürdige Dirne war, weil ich glaubte, das Laster müsse häßlich sein; ich gab mir alle Mühe, sie häßlich zu machen, aber das Mädchen ward der Tugend zum Trotz immer artiger. – Ich glaubte nun, wenn sie tugendhaft würde, würde sie ein Engel sein, weil ihre Schönheit größer war als ihr Laster: das Mädchen bot mir Hände und Füße zur Tugend, und ich bekehrte sie so gründlich, daß sie sich die Haare und Schleppen abschnitt, damit ihre Tugend wachsen solle; aber sie ward bald so langweilig und so häßlich, daß ich riet, die Bußtränen in Reuetränen über die verlorne Sünde zu verwandlen, und ich brachte sie mit Mühe soweit zurück, daß ihre Haare wieder wuchsen, und ihre Röcke wieder schleppten.«


»Ich habe auch wohl sechshundert große Wohltaten getan, viele kleine abgerechnet, aber empfinde, daß Taten nur Taten sind, und daß bei den Wohltaten ich nur durch Danksagungen langweilt ward, mich aber irgend ein dummer Streich sehr amüsierte, weil die Leute so lustig drauf schimpften.«


»Manchmal ist mirs, als befände ich mich allein schlecht, weil ich andern Leuten zu sehr traue: sie machen einen Lärm von der Schönheit der Natur, als wäre es eine Seltenheit, und streichen gewisse Empfindungen so heraus, als wären sie nicht bloß reingebürstete Stellen des Lebens; sie haben eine Aufrichtigkeit in [369] allem diesem, daß ihnen die Knöpfe vom Rocke springen, als sei alles dieses etwas anders als Nacktgehen – und stelle ich mich hin und rüste mich und strecke die Arme wie ein Fechter hinaus, ich warte und warte auf die entsetzliche Vortrefflichkeit der Dinge, als sollte nun bald ein Felsenstück auf mich niederrollen, und am Ende ist es immer das Alte, was sich von sich selbst versteht, ich werde unwillig, und vergnüge mich in irgend einem Winkel der Erde, solange es geht –.«


»Es wäre mir recht angenehm, Weib und Kind zu haben, aber ein Weib vom Vater oder von sich selbst begehren, langweilt mich, und das Stehlen ist verboten.«


»Marie Wellner liebe ich, aber es ist mir leid für sie, ich habe kein Recht auf sie, und sie alle auf mich: ich will warten, ob sie diese Rechte gebraucht; ich befinde mich wohl in diesem stillen Leben, ich glaube, es könnte gut werden; ob ich gut werden kann? Gott weiß, wer schlecht ist.«


(An dem Abend, als die Szene zwischen Wellner und Marien vorfiel, fand sich Godwi sehr ergriffen: er vergaß alles, was vor diesem sein Leben umfaßte, und entschloß sich fest, Marien zu besitzen, an ihr und dem guten Alten ein einfaches ruhiges Leben zu erbauen, und ruhig zu werden –, er schwor sich selbst, nur von dem Besitze Mariens aus zu leben, und alles anzuwenden, sie zu erhalten. Die Lage des Vaters schien ihm dazu eine Hülfe zu bieten, weil er reich war und ihn durch ein Darlehn decken konnte; er hoffte auf die Dankbarkeit der Tochter, und faßte die Hoffnung, Joseph werde nicht zurückkommen –, wie ihn dieser Plan rührte, wie er jetzt schon wieder auflebte, und eine ganz andre Ansicht seines Lebens bekam, ist leicht aus folgenden Zeilen zu sehen, die er schrieb, und die mehr Selbstgefühl als Selbstverachtung atmen.) –

»Ich habe lange auf den gewartet, der mich dem ewigen Zweifel an ein besseres Leben in mir entrisse, und endlich ist sie erschienen, die mich zur Einzelnheit erheben kann. Marie hat sorgenvoll mit mir gespielt, und wenn sie ihren eignen Schmerz an meinen Mängeln wegschneidet, so kann ich immer schöner[370] werden und einst ihr Glück, das sie verlor, ihr in mir, ihrem Werke, zeigen.«


(Dieses wenige war mir verständlich, alles andere zeigte mehr oder weniger Bitterkeit und Selbstverachtung, mitunter eine Art von Mutfassen, die einer gewohnten Frivolität sehr ähnlich war, dabei doch guten Willen, aber selbst für diesen guten Willen Verachtung.) –

Er schrieb nach diesem ein Billet an Wellner, bot ihm eine ansehnliche Summe an, und ließ einige Zeilen einfließen, wie er sehr wünsche, mit ihm in eine nähere Verbindung zu kommen. Wellner nahm die Summe an, und wünschte auch, daß ihn Marie lieben möge –.

Auch dies fand sich. Godwi war mehr um sie, er hatte ihren Vater gerettet, sie war ihm dankbar, es kamen Briefe, Joseph sei tot, sie war sehr traurig, und dem Vater war es die letzte Erfahrung: er ward krank, und wünschte Marien noch bei seinem Leben mit Godwi verbunden zu sehen, sie reichte ihm die Hand, es war an derselben Stelle, wo er sie einst Josephen versprochen hatte – bald darauf starb er. –

Godwi besaß nun die ganze Handlung, und führte sie unter Wellners Firma fort. Marie war nicht glücklich und nicht unglücklich mit ihm, aber sie liebte ihn nicht – sie liebte immer nur Josephen. –

Abends ging sie oft, mit ihrem kleinen Sohne auf dem Arm, am Hafen allein spazieren, und sah noch dahinaus, wo ihr lieber Joseph hingefahren war, und weinte.

Als sie auch einmal so da ging, kam ein Schiff gefahren, vorn auf dem äußersten Rand stand ein Mann, der aussah wie Joseph; er hatte ein Fernrohr in der Hand, und sah nach ihr, und winkte mit einem Tuch, sie bebte, und trat ganz hervor an das äußerste Ende des Ufers, so daß der Knabe sie bang um den Hals faßte. –

Der Mann sprang in ein Boot, und kam näher, ach er sah immer aus wie Joseph! Er rief laut: »Marie, Marie!«

Es war Josephs Stimme, es war Joseph selbst, und er sah, wie Marie die Arme nach ihm ausstreckte, wie ihr Kind und sie in die See stürzte –.

[371] Joseph wurde gerettet, das Kind wurde gerettet, aber Marie war tot.

Godwi nahm den Knaben und floh, Joseph blieb krank zurück, er litt sehr an seinem Verstande. Als er genas, erzählte man ihm, daß Marie verheuratet gewesen. Dies brachte ihn zu einem fürchterlichen Ernste, er fand ein Testament Wellners, in dem er eröffnete, daß Godwi das ganze Vermögen gehöre, weil er darin seinen Banqueroutt bekannt machte –.

Er verließ die Gegend, und lebte herumziehend von dem wenigen, was er in Amerika erworben hatte –.

Dieses ist die Geschichte von Godwis Eltern, und die Leser werden nun die Stellen im ersten Bande, wo Werdo Senne Seite 73 singt, manche Stellen aus Otiliens Brief an Joduno und die meisten dunkeln Stellen in den Reden Werdos gegen Godwi verstehen, denn Werdo Senne ist niemand anders als dieser Joseph. Er erkennt in Godwi den Sohn Mariens, und dies bewegt ihn so heftig.

Achtundzwanzigstes Kapitel

»Gott sei Dank,« sagte ich zu Godwi, »nun bin ich mit den Papieren fertig, und es ist nun die Reihe an Ihnen zu erzählen, was Sie wissen« –

»Ich spreche von dem meisten nicht gern,« erwiderte Godwi, »was ich von meinem Vater weiß, und es ist das einzigemal, daß mir es Mühe kostet, Ihnen bei Ihrem Buche zu helfen; Sie werden mir daher verzeihen, wenn ich mich sehr kurz fasse; überhaupt schreiben Sie ja meine und nicht meines Vaters Geschichte; ich will Ihnen also nur einiges aus dem Leben meines Vaters, ehe er nach Deutschland kam, erzählen, und etwas von Josephs fernern Schicksalen, damit ich nachher frei bin, und Ihnen die wenigen Schritte noch aufschreiben kann, die ich von da, wo Sie mich im ersten Bande ließen, bis hierhin tat, von dem steinernen Bilde der Mutter bis hierher an Violettens Grabmal. Der Weg scheint lang von dem Denkmale einer Mutter bis zu dem eines Freudenmädchens; er ist es nicht, aber er umfaßt dennoch mein Gemüt. Sie haben im ersten Bande [372] das Lied von der Marmorfrau, mit dem das Buch hätte anfangen müssen, hätten Sie die Geschichte meines Lebens, das ist meiner Empfindungen, schreiben wollen, und mit dem, was Sie von Violetten sangen, mußten Sie aufhören. –

In diesem Marmorbilde lag all mein Schmerz gefangen, ich lag wie das Kind in den kalten Armen des Bildes: was in dem Teiche sich bewegt, das ist dasselbe immer wieder, nur im beweglichen Leben gesehen; aber was dort über den grünen Büschen in die Höhe strebt, das ist meine Freiheit; in Marien lag der Schmerz und die Liebe gefangen, in Violetten ward das Leben frei. –

Doch ich will die fatalen Geschichten, die nicht zwischen diesen zwei schönen Polen, diesem Aufgang und Untergang, liegen, schnell erzählen, damit Sie, lieber Freund, mit meiner Geschichte fertig werden, und wir miteinander eine bessere lebendige des eignen Lebens anfangen können.

Mein Vater war früh elternlos und sein eigner Herr, leidenschaftlich und voll Enthusiasmus. Aber reich und frei gab er seinem Enthusiasmus keinen Zweck. Er ergriff alles mit ihm, was ihm in die Hände kam, die ganze Welt brannte ihm in einem reinen Feuer, so oft er sie auf einem neuen Punkte berührte, aber nur seine Leidenschaft berührte sie. Er liebte früh, und ward bewundert, nie geliebt; es konnte sich kein Wesen an ihn hängen, denn er sprach im Arm der Liebe vom Universum, wo er es hätte sein sollen.

Die armen Geschöpfe, die er fallen ließ, wenn sie sich an seine Brust gelegt hatten und er, des Mädchens vergessend, die Arme nach der Weiblichkeit ausstreckte, fielen unsanft, und mußten schmerzlich empfinden, daß er sie nur dann wieder erheben konnte, wenn er seine Arme eben zufällig nach dem Elend ausstreckte. –

So ward ihm nichts, was ihn erquickte, denn der wird sich nie an einem kühlen Bronnen im einsamen schattichten Tale menschlich erfreuen, der immer die Idee der alten Philosophen im Kopfe hat, daß das Wasser das Erste und Höchste sei, von dem alles komme, zu dem alles kehre. –

Er war daher sehr unglücklich, denn er sehnte sich nach Liebe und Freundschaft, aber nicht nach Menschen. – [373] Es blieben ihm wenig Freunde, aber er hatte immer eine Menge; er war nie ohne eine Geliebte, aber er hatte immer eine verloren – die armen unbefangenen Weiber sehnten sich nach dem Höchsten, wenn er einige Wochen hohe Worte vor ihnen gesprochen und alles, wovon sie lebten, klein gemacht hatte; sie sehnten sich nach dem Höchsten, aber er zerbrach ihnen alle tiefere Sprossen der Leiter: da gaben sie sich hin, um mit ihm das Höchste zu erringen, aber sie gaben ihm ihr Höchstes hin – er machte sich ein Gedicht aus der Sache, sprach von der Göttlichkeit der Liebe so göttlich, daß die Menschen zu Idealen der Kunst zu werden strebten und die Bildsäulen sich begattet hätten, wenn sie es wie jene gehört hätten. –

Wer ihn nehmen konnte wie ein Element, wie einen Sommer, dem konnte er wohltun, denn man konnte ihn durch mancherlei Arten von Verehrung dazu bringen, dies oder jenes Wetter zu erschaffen; wer ihn aber nahm wie ein angewandtes Feuer, oder einen Gärtner, und sich von ihm in der Landwirtschaft unterrichten ließ, der konnte mit Weib und Kind verhungern. –

Er wickelte sich bald mit sehr großmütigen Gefühlen von den Menschen los, und kam nach Oxford, um zu studieren: dort ergab er sich dem Skeptizismus, und sein Enthusiasmus, den er doch nun nicht mehr ablegen konnte, ward zu einem entsetzlichen, viel bösern Ding, zum schwärmenden Spotte. –

Er zweifelte an allem; doch schien dieses, durch seinen Enthusiasmus gemildert, lauter Bescheidenheit, und alle Menschen waren so lange von ihm entzückt, bis sie sich selbst an ihn verloren; dann nahm er ihre von ihm begeisterten Körper in den Arm, hob sie zum Himmel, opferte sie der ganzen Natur, schlachtete sie mit seinem Spotte, mit der Träne der Rührung, daß es ihm verliehen sei, sie in so göttlichem Rausche ohne Schmerzen zu töten, verbrannte sie dann mit schönen Gebeten im reinen Feuer des Enthusiasmus, streute ihre Asche in alle vier Elemente, und verspottete sich hintennach selbst.

Sein Enthusiasmus nahm nun immer mehr ab, und ebenso wuchs sein Spott. Vorher hatte er die Men schen zernichtet, weil er sie Engel nannte, jetzt zernichtete er sie, weil sich die schöne Täuschung gelöst hatte – er, der vorhin mit so großen [374] herrlichen Wesen öffentlich war gesehen worden – wie konnte er nun mit den schlechten Menschen umgehen! –

Er war noch eitel, und genoß nun in der Verachtung, und wenn er vernichtete, war er in seinem Berufe. –

Und bei allem dem so unglücklich! – Oft hatte er helle Minuten, und das waren die traurigsten: was hatte er nur verbrochen? daß die Welt so schlecht war, und er so vortrefflich – warum war er nicht wie die andern schlechten Menschen, unter deren Hand alles aufblühte, warum mußte er zerstören? –

Wenn er solche Momente gehabt hatte, gab er das Gold haufenweise an die Armen, oder setzte sich zu Pferd und ritt im Lande herum – denn das war ihm gleichviel.

Man kannte ihn um ganz Oxford herum, denn er kehrte oft bei den adlichen Familien auf solchen Fahrten ein, weil er doch nicht lange mit der Natur allein sein konnte, die ihm die Wahrheit zu sehr sagte. –

Bei diesen Gesellschaften nahm er manchem guten Fräulein die Ruhe, denn er legte es drauf an, und war ein schöner liebenswürdiger Mann. –

In Oxford ging er mit ausschweifenden Mädchen um, und bekehrte, was andere verführt hatten, um sie auf eine richtigere Art zu verführen.

Alle hielten ihn für einen sehr gefährlichen Mann, und fielen doch gerne in seine Schlingen, denn es waren die, in denen es Mode und gleichsam honett war, einmal gefallen zu sein – und es war auch bequem, denn er war diskret aus Hochmut.

Er machte auf einer seiner kleinen Reisen die Bekanntschaft eines sehr schönen, in der ganzen Gegend als ein Wunder von Verstand bekannten Mädchens: auch sie war lange auf ihn begierig gewesen, sie war stolz, siegreich, und wußte nicht, wie sinnlich. Sie hatte es lange gewünscht, sich mit ihm zu messen, aber so hatte sie ihn nicht vermutet.

Sie saß am Tische neben ihm, und koquettierte mit Todesangst, er aber war kalt, ohne allen Witz, beißend verständig, zerlegte ihre Reize und ihre Worte sehr ruhig vor der ganzen Gesellschaft, und sah dabei aus wie ein Engel der Güte – diese Gattung war seine Hauptstärke. –

Das arme Mädchen war in der schrecklichsten Not, ihr ganzer [375] Ruhm stand auf dem Spiel. Sie war daher fest entschlossen, ihn zu besitzen – und fing an, alle seine kalten Reflexionen, seinen edlen Spott mit einer scheinbaren Unschuld aufzunehmen und ihr Verstehen vor der Gesellschaft in sehr gefühlvollen Auslegungen zu entwickeln.

Es tat seine Wirkung, die Gesellschaft, besonders die Weiber, welche sich anfangs gefreuet hatten, daß sie endlich doch da gescheitert sei, wo alle scheiterten, verstanden bald das Gespräch der beiden nicht mehr, und sahen nur mit Eifersucht die gelogene Zufriedenheit Mollys von Hodefield. –

Godwi merkte das alles recht gut, und er war zu beschäftigt, seinen Ton fort zu halten und zugleich auf einen letzten vernichtenden Schlag zu sinnen, als daß er hätte empfinden können, wie liebenswürdig Molly war. –

Aber ihr blieb heute der Sieg, denn sie stand schnell vom Tische auf, und sagte, daß sie zu einer Freundin müsse, die krank sei; zugleich wendete sie sich, mit einer ziemlichen Vertraulichkeit zu unserm Spötter, und sagte unbefangen:

»Ich hoffe, lieber Freund, Sie heute abend überzeugt zu haben, wie ich Sie sehr gut verstehen und wie ich gar nicht begreifen kann, daß man Ihren Grundsätzen einen so bösen Ruf gegeben – wahrlich, wenn Sie in Ihrer Güte fortfahren, mich so wenig zu besuchen, weil Sie glauben, es könne meinem Rufe schaden, so übertreiben Sie; ich kann nicht begreifen, warum Sie mich nicht öfter besuchen sollten; wir sind immer so ungestört als das letztemal, denn Sie wissen, ich bin allein und ganz mein Herr – Sie wackrer Mann, wie kann man Sie gefährlich nennen? Es ist umgekehrt, Ihnen ist alles gefährlich; doch ich verspäte mich, denken Sie an den Weg zu mir.« –

Sie hatte Godwi nie gesehen, trat ihm dabei auf den Fuß, den er mit einem spottenden Nichtverstehn zurückzog; aber das störte sie nicht, sie legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter, und verließ die Stube.

Ihm war ein solches Weib interessant, er hatte lange keinen so ehrenvollen Kampf gehabt – und er nahm es stillschweigend an. Ihre Sicherheit schien ihm nur Sicherheit, aber sie hatte ihn doch um ihre Verlegenheit betrogen. –

Als sie weg war, war es nun seine Sache, die Anwesenden [376] zu quälen; er sprach deswegen mit Begeisterung von der Liebenswürdigkeit Mollys, und ließ nachher jede einzelne Liebenswürdigkeit für sich über die Klinge springen. –

Neunundzwanzigstes Kapitel

Den folgenden Morgen ritt er schon nach Mollys Landhaus. Als er an ihrem Garten vorbeikam, und sie in einer offnen Laube mit einem andern Frauenzimmer sitzen sah, rief er ihr zu: »Ich komme nun öfter« – und sprengte dem Tore hinein.

Molly war sehr überrascht, ihn zu sehen, und wußte nicht, ob sie sich freuen oder bedauern sollte; aber sie fühlte sich schon in den bezauberten Strom, den jede Liebe unter exzentrischen Umständen bildet, hingezogen.

»Arme Molly! ist dieser die Ursache deines Schweigens seit gestern«, sagte Kordelia 6 zu ihr, und verließ sie.

Godwi kam nun den Garten herauf, und da er sah, wie Kordelia Molly verließ, so beugte er um eine Allee herum, um ihr zu begegnen. Dies tat er, um Mollys Stolz zu mildern, indem er sie sehen ließ, daß er nahe bei ihr noch einen Umweg nehmen konnte, um irgend einem andern Weibe zu begegnen. Kordelia grüßte ihn nicht, als er an ihr vorüberging – er stand einige Minuten still und sah ihr nach, bis sie ihm aus den Augen kam. Dieser Moment ist ihm ein Stillstand seines Lebens geworden, er wußte nie, warum; aber er hat nie vergessen, wie er stillstand, und sie an ihm vorüberging.

»Verirren Sie sich nicht«, hörte er Molly rufen, und seine wunderbare Rührung bei Kordeliens Anblick ward schnell ein Mittel, diese zu demütigen; er trat vor sie mit den Worten:

»Ihre Freundin ist so schön, so stolz, daß man leider verloren ist, ohne den Genuß zu haben, sich zu verlieren.« –

Molly fühlte die Spitze, und erwiderte ihm, daß sie ihn wieder suchen wolle, um ihm die Freude zu machen, sich zu verlieren. –

Es spann sich bald ein Gespräch zwischen ihnen an, wie es zwischen dem schönen stolzen Spötter und der stolzen sinnlichen [377] Enthusiastin sich weben konnte. Godwi erkannte ihre Schwäche, und ihre Stärke, er fand, daß er ihren Kopf entwaffnen müsse, um sie zu demütigen, und wie leicht war ihm das – denn sie antwortete schon auf seine Schönheit, als sein Verstand noch allein mit ihr koquettierte. –


Seine Besuche wiederholten sich, er schien ihr anhänglich zu werden, denn er faßte schon oft ihre schöne Hand bei diesen Unterhaltungen, und zählte seine Ursachen an ihren Fingern her.

Ihr Umgang erhielt auch schon jenen geheimnisvollen verführenden Reiz, wo sich das Geschlecht in die entferntesten Ideen mischt, sie waren schon so vertraut, daß sie hier und da manches sagten, was sie nicht recht ausgesprochen hatten, ihr Wort fing an Fleisch zu werden. – Molly wehrte sich, und Godwi ergötzte sich dran, wie sie in dieser Glut stets so heilig, und er immer witziger ward. –

Sie liebte ihn nun wirklich: wenn er nicht zugegen war, weinte sie oft heiße Tränen, und hatte in ihrer Liebe den sehnlichen Wunsch, an ihrem Herzen diesen Mann der Welt wiederzugebären; aber sie wollte ihn eigentlich nehmen, wie er war.

Er war der einzige Mann bis jetzt gewesen, der ihr Punkte vorschreiben konnte, die sie denkend nicht zu überschreiten wagte, und wenn das sinnliche Mädchen an ihrer Toilette saß und ihre Locken ringelte, so riß sie oft alle die schönen Schlingen wieder auseinander, faltete die Hände, drückte sie gegen ihren entblößten Busen, und sagte mit heißen Tränen in den großen Augen: »Ach sollte der kalte Spötter hier an diesen beiden Leben nicht wieder zum Enthusiasten erwarmen können?«

Kordelia entfernte sich immer mehr von ihr –.«


»Ich will Ihnen«, unterbrach sich hier Godwi, »nicht weiter erzählen, wie mein Vater dies Weib verführte.« –

Bald lag er an diesen beiden Leben, aber er war nicht wieder zum Enthusiasten erwarmt, er spielte mit ihnen, wie mit allen Leben, nahm alles, was die volle Blüte ihm entgegendrängte, [378] schwor ihr, er habe mehr genossen, als er vermutet habe, und verließ ihr Bett; sie faßte ihn mit ihren zarten Armen und verstand ihn nicht.

»Löse deine Bosheit im einzigen Ergeben, lieber Godwi,« sagte sie, »o zürne nicht, daß du ein Mensch bist, hat dich doch das Leben noch geliebt; ach du glaubtest nicht, daß noch solche Einheit bestehe« –

Sie kniete vor ihm, umschlang ihn, ihre holde Blöße bewegte ihn nicht.

»Fräulein,« sagte er, »Sie erniedrigen sich, schonen Sie Ihrer Gesundheit, Sie werden sich verkälten,« und eilte aus der Stube. –

Sie lag noch lange auf den Knien, und konnte am Morgen nicht mehr weinen. –

Als Godwi durch den Garten ging, stand er in einem Gebüsche still, er sah Kordelien im Mondscheine stehen, ruhig wie eine Bildsäule: er war wunderbar erbittert, und kalt, als er sie sah, er konnte sie nicht erdulden – und konnte er etwas Schlechteres tun, als zu ihr hingehen und sagen: »Guten Abend, Miß, noch so spät, mit der Natur beschäftigt? gehen Sie doch zu Ihrer Freundin, sie befindet sich nicht ganz wohl – sehen Sie, es war nicht gut anders möglich, ich konnte nicht anders –«.

Kordelia hatte nie mit ihm gesprochen; aber Molly hatte ihm ihr wunderbar andächtiges Gemüt in ihren Umarmungen verraten.

Kordelia floh erschrocken vor ihm, und er ritt weiter. Wie es ihm war, weiß Gott – er konnte nicht begreifen, als er so vor sich hin ritt, warum er ein so schlechter Mensch sei, und warum er sich nicht mit Molly verbunden habe: da fing er an, schneller zu reiten, und wußte nicht, warum er sein Gewissen durch einen starken Trab überreiten konnte. –


Molly fühlte sich so erniedrigt, als es ein Weib je werden kann, die sich nicht hinbietet: sie hatte Kordelien alles vertraut, und diese ließ die merkwürdigen Worte fallen:

»Das kenne ich wohl –«.

Kordelia konnte ihre Freundin nicht trösten, denn sie wußte, daß nichts trösten kann, wo das Edelste zertrümmert ist – und zu jener Erhebung des Gemütes, zu der sie selbst sich gerettet [379] hatte, war Molly nie fähig, da sie zu feste durch die Sinne ans Leben gebunden ward –.

Molly verließ nun ihre Wohnung nicht mehr, und ihre Trauer bewegte sich in der einförmigsten Umgebung; hätte sie weniger Leben in sich gehabt, sie würde wohl den Verstand verloren haben – aber sie sehnte sich dennoch nach Liebe, obschon nicht nach der ewigen; sie bildete neue Reize in sich, die weniger witzelten und herrschten, jenen stummen tiefen Reiz, dem man sich ergiebt wie dem Schlummer an heißen Tagen, und dem man am kühlen Abend rüstig entgeht –.

Sie konnte diese Schwermut nicht bewegen, und war selbst leidend, wenn sie reizte, – dabei ein Bewußtsein bei allem diesem, das sie zur Frevlerin machte.

Ihre Liebe zu meinem Vater war nicht ohne Leben geblieben, sie gebar einen Sohn, (Sie kennen ihn unter dem Namen Römer), und liebte ihr Kind –.

In der Nacht seiner Geburt verschwand Kordelia von dem Landhause, ohne daß irgend eine Nachricht von ihr zu finden war.

Nun war sie ganz allein, und sehr unglücklich: sie schrieb mehreremal an meinen Vater, ohne Antwort zu erhalten, er möge sich ihrer erbarmen; aber von seinem Kinde meldete sie nichts: sie gehe auf bösen Wegen, schrieb sie, ihre Ehre sei verloren, und sie werde noch tiefer sinken ohne ihn, er möge sie wieder aufrichten; sie erhielt keine Antwort –.

Um der Verzweiflung zu entgehen, zog sie in die nahgelegne Stadt, machte vielen Aufwand, und war eine galante Frau, mit einem armen zerrissenen Herzen.

Man gewöhnt sich an alles, sie gewöhnte sich an den freien Umgang mit Männern, an ihren üblen Ruf und seine Folge, ihren üblen Beruf, sie hörte ihr Leben auf und fing eine Lebensart an.

Sie war also keine exemplarische Frau, aber dennoch eine vortreffliche Mutter: ihr Sohn erhielt die schlichteste reinste Erziehung, von ihr getrennt; jährlich sah sie ihn mehrmal, und wer sie in den Minuten gesehen hätte, wo sie ihn in den Armen hielt, er hätte ihre Lebensart eine Lügnerin gescholten.

So lebte sie mehrere Jahre: ihr letzter Günstling war Carl von Felsen, ein Deutscher; er brannte so heftig für sie, und die [380] schönen Trümmer ihres ehemaligen Gemütes rührten ihn so tief, daß er sie verließ, ohne ihr zu sagen wie er meinen Vater aufsuche, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen; – er reiste ihm lange nach, denn er hatte keinen festen Aufenthalt mehr. –

Molly konnte das plötzliche Verschwinden ihres Geliebten nicht begreifen, und es schmerzte sie um so mehr, da sie den Entschluß gefaßt hatte, sich mit ihm zu verbinden, und in ihm ihr unruhiges Leben zu lösen. Einige Monate nach seiner Entfernung besuchte sie ein Mann, den Felsen empfohlen hatte wie seinen einzigen Freund, dieser war niemand als Joseph, der aus Deutschland nun einige Monate weg war –.

In dem Briefe, den er von Felsen mitbrachte, standen folgende Zeilen –

»Geben Sie diesem Menschen Ihr ganzes Vertrauen; ich hoffe, daß er vieles in Ihrem Herzen wieder er bauet, was ich nicht kenne, und doch vermisse, denn ich liebe Sie: aus seinen Händen empfange ich Sie gern, er soll unser Mittler werden.«

Joseph konnte ihr nicht sagen, wo Felsen war, er hatte seinen Brief in London ohne Anzeige seines Aufenthalts erhalten –.

Wie Joseph auf sie wirkte, wissen wir aus ihrem Briefe im ersten Bande dieses Romans, Seite 81 –. Sie ging als ein neues Wesen aus seiner Hand hervor, und war entschlossen, einstens in Deutschland zu leben, wo er sein werde. –

Joseph reiste nun nach Amerika. Molly harrte und harrte auf Felsen, aber es sollte ihr nicht werden, sich ihm als ein ruhiges entschloßnes Weib zu geben.

Felsen hatte meinen Vater gefunden, hart mit ihm gerechtet, und es kam zum Zweikampf: mein Vater wäre so gerne totgeschossen worden, aber er sollte seinen Gegner töten –.

Molly erhielt diese Nachricht, ohne zu erschrecken; sie sagte nur: »Warum mußte dieser sterben, und ich darf leben?« – Denn sie hatte nur gehört, daß er getötet worden sei: da sie aber einen Brief von meinem Vater erhielt: »daß er ihren Geliebten erschlagen habe, und nun sehr gestraft sei für das, was er an ihr begangen habe«, wollte sie verzweifeln –.

Mein Vater floh nun nach Deutschland: er hatte sich fest entschlossen, alles in sich zu verschließen, und ruhig ein neues einfaches Leben zu beginnen.

[381] Sie wissen, was er tat, aus Mariens Geschichte; Sie müssen aber noch wissen, warum Joseph ausblieb. Er hatte einen Sturm erlitten, war lange verschlagen gewesen, und fing dann wieder an zu schreiben. – Diese Briefe hat mein Vater aufgefangen, und der Totenschein war falsch. – Als Joseph nach England kam, besuchte er Molly, er fand sie wieder auf ihrem Landhause, mit wenigen Freunden umgeben, und hörte Carl von Felsens Tod durch Godwis Hand. Mit Molly traf er die Verabredung, ihr aus Deutschland zu schreiben, ob und wo sie hinkommen solle –.

Was er dort fand, wissen Sie. –

Dreißigstes Kapitel

Joseph war eine Zeitlang umhergeirrt, verband sich endlich mit der Tochter eines Amtmanns in einem kleinen Städtchen, arbeitete mit seinem Vater zugleich: da dieser und bald darauf sein Weib gestorben war, zog er auf den Berg, wo wir ihn unter dem Namen Werde Senne kennen gelernt haben.

Godwi wendete sich hier lächelnd mit folgenden Worten zu mir:

»Sie sind wunderbar mit dem guten Joseph im ersten Bande umgesprungen, Sie haben einen so geheimnisreichen Grabstein aus ihm verfertigt, daß kein Mensch raten sollte, wen er bedeckt, ebenso mit Otilien.«

»Ich kann mich nicht entschuldigen,« erwiderte ich, »aber ich wollte, es reute mich nicht, und ich hätte meine Geschichte ausschreiben dürfen, ich wollte immer an einem Himmelfahrtstage einen sterben und am Allerseelen-Tage seine Nachkommen beten lassen, und alle hätte ich am Allerheiligen-Tage noch einmal im Himmel schlecht grouppiert – doch, Lieber – erzählen Sie fort, damit wir das Volk nach und nach vom Halse bekommen; ich versichere Sie, es schleppt sich noch wie ein Leichenwagen, und ich glaube, ich werde ruhig sein, wenn die ganze Geschichte aus ist, fahren Sie fort.« –

»Molly zog nun nach Deutschland in die Nähe von Josephs Aufenthalt, ihr Sohn blieb noch in England in einer Handlung.«

[382] Auf ihrem Wege begegnete ihr folgendes, was wieder einen Knoten in Ihrem ersten Bande löset.

In einem Gasthofe hörte sie neben ihrer Stube sehr heftig weinen und klagen, es war eine Italiänerin. Molly ging zu ihr und bat sie, sich ihr zu vertrauen. Die Italiänerin erzählte ihr nun unter vielen Ausrufungen, daß sie von einem jungen Manne gegen den Willen seiner Eltern aus dem Kloster sei entführt worden, daß sie nun hier angekommen und ohne allen Unterhalt seien, sie sei hier in einem lutherischen Lande getraut worden, und fühle nun den ganzen Fluch ihrer Kirche: »Ach! sagte sie, Madam, hätte ich nur mein Kind geboren, ich wollte gerne sterben.« –

Molly versprach Hülfe, sie hörte, daß ihr Mann ein Maler sei, und verschaffte ihm Arbeit in der Stadt. Sie selbst verließ die junge Frau nie – und schwor ihr, für ihr Kind wie eine Mutter zu sorgen.

Die Italiänerin brachte einen Sohn zur Welt, und starb. Der Mann kam in die Stube, sah sein totes Weib, verließ das Haus und war nicht mehr zu finden. – Das Kind erhielt den Namen Eusebio – und Molly nahm es als das ihre an. – Nachdem sie den kleinen Eusebio zwei Jahre erzogen hatte, und er immer sehr kränklich gewesen war, brachte sie ihn zu Joseph hinauf, damit ihm die freie Luft gedeihen möge. –

Auch aus diesem Knaben haben Sie ein recht abenteuerliches Geschöpf zu machen gesucht, mein Freund!« sagte Godwi hier zu mir.

»Ich verdiene das alles,« erwiderte ich, »aber fahren Sie fort, jedes Wort der Geschichte langweilt mich so, daß es mir wirklich mehr Strafe ist, sie anzuhören, als alle mögliche Vorwürfe.« –

»Sie werden einsehen, lieber Maria,« fuhr Godwi fort, »daß dieser Maler Franzesko Firmenti, und das junge Weib seine Cecilia ist, von denen Antonio Firmenti an meinen Vater schrieb. Seinen Brief haben Sie allein unverfälscht gelassen.

Ich wende mich nun wieder etwas zu meinem Vater. Dieser hatte während dem, was ich Ihnen erzählte, sich hier in der nahgelegenen Stadt etabliert, und dieses Landhaus gekauft. Mariens Tod, Josephs Elend hatten einen mächtigen Riß in sein [383] Leben gemacht, er ward sehr melancholisch und überließ sich der Reue in einem fürchterlichen Grade. Er floh mich, und ich verzweifelte in den Händen der Lehrer. Einen Freund hatte ich, der einige Jahre älter war; er war als elternlos meinem Vater aus England geschickt worden, denn er hatte jemand gesucht, um mir einen Gesellschafter zu geben –. Dieses ist Römer, Mollys Sohn. Sie wußte es wohl, sie wollte Godwi zwingen, Vater zu sein, und hatte durch Römer einen Faden angelegt, sich wieder mit meinem Vater zusammenzuspinnen. –

Ich führte ein trauriges Leben, bis mir endlich mein Vater erlaubte, zu reisen, er wünschte, ich möchte nach Italien gehn –; aber Sie wissen, wie ich reiste, die Freiheit war so wunderbar, so süß, daß ich oft in einem Dorfe einen halben Tag zubrachte.

Als ich nach B. kam, ward ich mit Molly bekannt, von deren Zusammenhang mit mir ich nichts wußte.

Die Frau war noch sehr schön, und es hatte mich vorher noch kein Weib in die Arme gefaßt. Sie öffnete mir einen ganz neuen Sinn fürs Leben, ich habe von niemand mehr gelernt als von ihr.

Sie ward sonderbar durch mich erregt, ihre Schwärmerei besiegte ihre Erfahrung, und sie beweist in ihrem Briefe an Joseph, den Sie im ersten Bande Seite 81 mit Ihren undeutlichen Kunststücken verdorben haben, daß keine sogenannte Besserung möglich sei, wenn man das als Sünde annimmt, was unmittelbar aus dem Zentrum unsers Daseins aufflammt. Sie war als ein sinnliches Weib erschaffen worden, und war so unschuldig geblieben, wie sie Gott erschaffen hatte, das heißt sinnlich; und hatte ihr die Natur nicht einen Fingerzeig gegeben, sollte sie etwa begehrend und liebenswürdig geblieben sein länger als die meisten, um das Rettungsmittel der Moral anzuwenden, da sie nicht zu Grunde gegangen war?«

»Es klingt paradox,« sagte ich, »aber es ist doch wahr: wer zur Wollust geboren ist, und sie nicht übt, führt ein recht lasterhaftes Leben. Es ist nichts Unkeuscheres als ein recht sinnliches Mädchen, das keusch ist, und eine Violette, die sich bekehrt, verliert ihre Unschuld. Der Staat aber ist nur auf eine Gattung eingerichtet, und besteht aus sehr schlechten Menschen, weil ein Teil gut und der andere schlecht werden muß, um tugendhaft zu sein, wie es der Staat will –«.

[384] »Doch siegte das schlechte gute Prinzip in ihr, und sie schickte mich weiter. Wie ich zu Joduno und dann zu Otilien kam, wissen Sie.

Es bleibt mir noch etwas zu lösen, es ist die Erscheinung der weißen Frau mit dem Kinde im Arm, die Sie im ersten Bande Seite 157 so unerklärt erscheinen lassen; es ist niemand anders gewesen als die Engländerin, die ihren Pflegling Eusebio besucht hatte, ohne mir doch begegnen zu wollen. Sie trennte sich eben im Walde von ihm: als ich mit Otilien auf die kleine Wiese hervortrat, hielt sie ihn in den Armen, und was Sie, mein lieber Maria, zu den stillen Lichtern gemacht haben, ist nichts anders gewesen als eine kleine Handlaterne, mit der sie Eusebio zu ihrem Wagen zurückbegleitete –.«

Einunddreißigstes Kapitel

»Der Mann, welcher sich bei meinem Vater aufhielt,« fuhr Godwi fort, und von dem ich Ihnen schon gesagt habe, daß er Annonciatens Bild, wie auch das von Marien und Wallpurgis, malte, war Franzesko Firmenti, wie Sie wissen.

Er war in London in einem Irrenhause von seiner Verrücktheit geheilt worden. Wie er hingekommen sei, wußte er nicht, und da er wiederhergestellt war, wollte er nach Deutschland, um eine gewisse Dame aufzusuchen, die, wie er sich erinnerte, an dem Todesbette seiner Frau gesessen habe; – wie sie hieß, konnte er sich nicht entsinnen.

An meinen Vater war er empfohlen worden, und arbeitete bei ihm, während dieser sich umsonst bemühte, jene Dame auszukundschaften.

Ein glücklicher Zufall führte ihn endlich: er wollte, Franzesko sollte ihm Molly malen, nach einem kleinen Gemälde das er noch aus jener Zeit besaß. Franzesko erkannte Molly, und da ihm mein Vater ihren Namen sagte, so war er gewiß, daß sie seine Wohltäterin gewesen war.

Er war nun nicht mehr zu halten, und reiste zu ihr hin. Sie freute sich innig, dem kleinen Eusebio seinen Vater wiedergeben zu können – und freuen Sie sich, lieber Maria, freuen Sie sich«, unterbrach sich Godwi. –

[385] Ich fragte ihn verwundert, warum?

»O es giebt nun bald einen herrlichen Zug, eine Völkerwanderung, die uns Luft machen wird! Sie erzählten mir, wie Sie auf dem hohen Berge am Rhein auf einem Baume saßen, und den Zugvögeln glückliche Reise wünschten, solche Zugvögel werden gleich an uns vorüberziehen.

Durch Franzesko kamen Molly und mein Vater wieder zusammen. –

Sie können sich denken, wie ich überrascht ward auf meiner alten Burg, da mein Vater und Molly ankamen, ich kannte alle diese Verbindungen nicht –.

Mein Vater reichte mir zuerst die Hand, da er hereintrat.

»Ich hätte dich nirgend lieber gefunden als hier,« sagte er, »wo ich alles wiederfinde«, – dann wendete er sich zu Joseph mit folgenden Worten –

»Joseph, ich bin zu alt, um vor dir niederzuknien, und dich um Verzeihung zu bitten, reiche mir deine Hand, meine kann nichts Böses mehr tun, und deine kann noch verzeihen, ich habe schwer gebüßt.« –

Der alte Joseph stand ruhig auf, weinte, und umarmte ihn: »Wenn die Folgen sterben,« sprach er, »ist keine Ursache mehr.«

Otilie stand ruhig neben mir, auch ich stand ruhig –.

»Lieben sich unsre Kinder?« sagte mein Vater zu Joseph. –

Ich umarmte Otilien gerührt, und beide sagten wir ruhig: »Nein.« –

Franzesko saß mit seinem Kinde im Arm stumm in einem Winkel.

»Es fehlt noch einer,« sagte Molly zu meinem Vater, »dein Pflegesohn Römer, – wisse, er ist unser Kind! Du hast einen guten Menschen aus ihm erzogen; darum verzeihe ich dir so gern, daß du mich nicht mehr liebtest, als ich ihn gebar.«


»Nun geht es zu Ende,« unterbrach sich Godwi freudig, »nun sind wir gleich auf dem hohen Baume am Rhein, und aller Druck stürzet hinab, wir werden gleich der ganzen fatal verwickelten Geschichte los sein, die Zugvögel regen schon ihre Schwingen –.«

Ich erhielt von meinem Vater den Auftrag, nach F. zu reisen, [386] Römern vorzubereiten, und ihn dann zurück zu seinen Eltern zu bringen. –

Ich traf ihn aber schon unterweges, und zwar mit Joduno, es war in einem kleinen Wirtshause, nahe bei Eichenwehen.

Wir umarmten uns herzlich, Joduno kam mir freundlich entgegen, und küßte mich; sie sah sehr blaß aus, und ich fragte, ob sie krank gewesen sei.

»Römer wird Ihnen alles erzählen«, sagte sie; »und ich hörte nicht ohne Rührung von Römer, daß er in seinem letzten Briefe an mich nur zu wahr geweissagt hatte, denn er sagte mir:

»Die Brünette ist gestorben, sie hat unsre Liebe gestiftet, meine und Jodunos Liebe, das war die letzte und schönste Tat ihres Lebens; was sie am Allerseelen-Tage, da Joduno in F. ankam, gesagt hatte, als sie mit ihren Geschwistern vom Grabe ihrer Mutter zurückkam, ist wahr geworden. Es hat sie leise hinabgezogen, sie ist vorige Woche gestorben –«.

Römer sagte mir noch, daß er Joduno nach Hause begleite, um ihrem Vater seine Liebe darzustellen, und dann hänge es von der Güte meines Vaters ab, ihn zu unterstützen, damit er sich irgendwo ehrenvoll niederlassen könne. –

Hier sagte ich ihm nun, daß sein Vater und seine Mutter gefunden seien, und ihn auf der Burg erwarteten. Wir eilten dahin. –

So wunderbar verbunden waren nie Menschen wie diese, aber ich fühlte, daß ich nicht zu ihnen gehörte.

Mein Vater ging selbst nach Eichenwehen, um bei dem alten Edelmann die Tochter für Römer zu begehren, und sie ward ihm gegeben –. Römern aber übergab er seine Handlung, die dieser nach B. hinzog, damit Joduno näher bei ihrer Heimat sei –.

Mir ward dieses Gut und ein beträchtliches Vermögen zuteil, und mit dem kleinen Eusebio an der Spitze zog nun der Zug nach Italien.

An der Spitze flog Eusebio, hinter ihm Franzesko und Otilie, und hinter diesen mein Vater nebst dem alten Joseph, in ihrer Mitte aber Molly von Hodefield, so piramidalisch, wie die Störche fliegen – adieu –.«

»Glückliche Reise,« sagte ich, »kommt um Gotteswillen nicht wieder –!«

[387] »Nein,« sagte Godwi, »eine gute Partie ist davon gestorben. – Otilie lebt noch, sie hat sich Franzesko vermählt.«

Nun sind wir mit dem verzweifelten zweiten Bande fertig – ich kniete mich vor meinen Freund, und bat ihn herzlich um Verzeihung. »Ich will es nicht wiedertun,« sagte ich. –

»Eins noch habe ich vergessen,« hob er zu meinem Schrecken wieder an, »ich muß noch einiges erzählen, was ich auf meinem Gute fand.

Ich reiste zurück frei und frank, und so gesund an Leib und Seele, wie ich es nimmer gehofft hatte. Da ich in dem Walde ankam, fand ich das neu angelegte Jägerhaus, und in ihm Kordelien: wie sie hierhin gekommen war, habe ich nie erfahren, sie rechtfertigte sich durch ein Legat von meinem Vater, das ihr hier freien Unterhalt bis zu ihrem Tode versicherte. –

Auf dem Gute selbst brachte ich noch einige Zeit zu, und beschäftigte mich teils mit den Gemälden und Statuen, die seit meiner Abwesenheit entstanden waren, teils mit meinem Gemüte.

Nachdem ich dann mit den Wiedertäufern meine Rechnungen abgeschlossen und das Gut völlig übernommen hatte, entschloß ich mich, an den Rhein zur Weinlese zu reisen.

Nun sind wir eigentlich fertig.« –

Hier nahm mich Godwi am Arme, wir gingen aus der Eremitage zurück, und fanden Habern schon beschäftigt, seine Rolle in Flamettens Lustspiel auswendig zu lernen. –

[388]
Fragmentarische Fortsetzung dieses Romans
Fragmentarische Fortsetzung
dieses Romans

während der letzten Krankheit des Verfassers, teils von ihm selbst, teils von seinem Freunde


Georg, der Bediente Godwis, ist vorgestern gestorben. Als man ihn begrub, wo seine früher verstorbene Braut ruht, war es mir sehr traurig, ich konnte nur wünschen, auch da zu schlafen. – Warum man dieses wünschen kann, weiß kein Mensch. Meine Freunde sind wie Engel an meinem Lager, und sprechen mir freundlich Trost zu.

Godwi hat mir heute manches von seiner Reise an den Rhein erzählt, was ich niedergeschrieben habe, so gut es meine Krankheit erlaubt.


Godwi reiste mit frohem Mute nach dem Rhein, trank mit den fröhlichen Weinlesern, und küßte die schönen lustigen Mädchen, wenn er mit ihnen getanzt hatte. Es war ein herrliches Leben, eine einzelne Liebe war nicht möglich, der Mensch konnte sich nicht zum einzelnen Menschen neigen, es war alles wie in einer goldnen Zeit, man liebte alles und ward von allem geliebt. – Die Berge waren nicht zu hoch, und die Täler nicht zu tief, und der Rhein nicht zu breit, die Freude und Gesundheit ebnete und einigte alles zu einem mannichfaltigen Tummelplatze glücklicher Menschen. In einer Abtei, die er besuchte, fand er recht lustige Mönche, die ihn gern unter sich behalten hätten, denn er trank mit ihnen herzlich, und sang ihnen muntre italiänische Arien zur Orgel.

Bald aber drängte sich ihm alles zusammen. Er ritt auf einem Streifzuge durch das freudige Land abends durch die Weinberge, rings schallten die Gesänge der zurückkehrenden Arbeiter, aus den Gärten brannten Feuerwerke in die Höhe, und jauchzende Stimmen tönten von allen Seiten. Alle Herzen waren erschlossen und hingegeben, aber er entbehrte doch einen Standpunkt, von dem er das alles hätte übersehen können. Er wünschte sich einen dunkeln vertraulichen Vorgrund zu [389] dem freien hellen Gemälde, und eilte aus einem Zirkel in den andern.

Wie konnte er ein solches Bedürfnis nur auch in andern voraussetzen unter diesen unbefangnen Menschen, die das Fest des fröhlichen Gottes versammelt hatte, sie lebten ja nur im Herbste, und waren zu dieser Freude aus dem ganzen Lande zusammen gezogen, und was wollte er dann, warum lachte und scherzte er, und ging dann finster weg, konnte er nicht genug haben, wo alle Überfluß fanden?

Das sind ganz öffentliche Fragen; er aber sehnte sich nach Heimlichkeiten, er wünschte alle die Freude aus Liebchens Fenster zu sehen, und still vor sich hinzudenken: mein Herbst klingt nicht, und singt nicht, aber ich gebe ihn nicht um den eurigen.

Er hätte zwar sehr leicht ein Liebchen finden können, aber er wollte kein sehr leichtes, und hätte er sich Mühe gegeben, er wäre auch zu gediegneren Verbindungen gelangt, aber er fürchtete die Dauer.

Genießen wollte er, und wie gern war es ihm zu verzeihen, der so lange in traurigen Familien-Geschichten verstrickt war. Mit Bequemlichkeit wollte er genießen, das Leben oben auf dem Berge hatte ihn mit Bedürfnissen bereichert.

Otilien und den Greis und Kordelien, und Gott weiß, wie die verschrobenen edlen Seelen alle hießen, vergaß er gleich bei dem zweiten Becher Wein, bei dem dritten schwor er, nie ihre Gesundheit zu trinken, und dem vierten, sich selbst zu bewegen, und nun einmal ohne alle Barmherzigkeit zu leben.

Da er so abends am Rheine hinabritt, gesellte sich noch ein Reiter zu ihm. Es dämmerte schon, er konnte ihn nicht erkennen; doch bemerkte er an dem Tone, mit dem er ihn grüßte, daß es ein sehr junger Mensch sein müsse.

Man fragte sich, wo der Weg hingehe, Godwi sagte recht aufrichtig:

»Mein Weg geht schnurstracks irgend wohin, wo ich Vergnügen zu finden denke.« –

»Vergnügen? Was nennen Sie so, wollen Sie etwa auf dem nächsten Dorfe mit ein paar Bäschen irgend eines Weinhändlers Lotto spielen, oder sich von einem konservierten Mainzer Offizianten alle Weinjahre herzählen lassen? – oder« –

[390] »Nein, ich bitte Sie, zum Ekel, das habe ich genug! Aber ich reite immerzu, und käme ich nach Holland, ich suche, was ich eben nicht aussprechen kann, ich weiß nicht, ob es links oder rechts liegt, ich suche ein Verhältnis.« –

»Ein Verhältnis?«

»Nun ja, ich möchte gern lieben, und geliebt werden, und ohne Not und Angst, ohne Sorgen und Mühe, denn ich fürchte mich vor nichts mehr als der Zärtlichkeit, einen geschwornern Feind von der sentimentalen Welt können Sie sich nicht denken: ich habe heute abend einige rührende Gedanken bemerkt, die mir aus dem Herzen heraufkletterten, wenn die meiner nicht gedenken, so weiß ich nicht, ich habe ihnen gleich eine solche Quantität Wein entgegengeschickt, daß ihnen Hören und Sehen verging, und sie Kopf über hinabstürzten.« –

»Sie scheinen noch recht begeistert von Ihrem Siege, und verdienen einen Lorbeerkranz, – reiten Sie mit mir links, ich will Sie in eine Gesellschaft bringen, wo Sie sicher alles finden werden, was man von Weibern verlangen kann.« –

»Ich reite mit.« –

Nun wendete der Begleiter sein Rößlein feldeinwärts, den Berg hinan, und sang mit einer hübschen Stimme dieses Volkslied. –


Ein Ritter an dem Rheine ritt
In dunkler Nacht dahin,
Ein Ritterlein, das reitet mit
Und fragt: Wohin dein Sinn?
Mein Sinn, der steht nach Minnen,
Ich hab mich rum geschlagen,
Und konnt doch nichts gewinnen,
Und mußt das Leben wagen.
Ei, hast du nicht die Ehr davon?
Die Ehr ist hohes Gut –
Ich hätt die liebe Zeit davon,
Die Ehr ist mir kein Gut. –
Mein Blut ist hingeflossen
Rot zu der Erde nieder,
[391]
So warm ich es vergossen,
Giebt mirs die Ehr nicht wieder.
Da sprach das kleine Ritterlein:
Daß Gott sich dein erbarm!
Du mußt ein schlechter Ritter sein,
Weil deine Ehr so arm. –
Ich will nun mit dir rechten,
Weil du nicht ehrst die Ehre;
Mein Ehr will ich verfechten,
Setz deine nur zur Wehre.
Des Ritters Unwill war sehr groß,
Drum er vom Rosse sprang,
Auch machet sich der Kleine los
Und sich zur Erde schwang. –
Da fühlt sich der Geselle
Von hinten fest umwinden.
Es ist die Nacht nicht helle,
Sie streiten wie die Blinden.
Und sinken beide in den Klee –
Ei sprich! wer hat gesiegt!
Der Ritter ohne Ach und Weh –
Bei einer Jungfrau liegt.
Ei hast du nicht die Ehr davon?
Die Ehr ist hohes Gut –
Ich hätt die liebe Zeit davon,
Die Ehr ist mir kein Gut. –

Godwi erfreute sich an dem muntern Liede seines Gesellschafters, und folgte ihm recht guten Mutes, und mit dunklen Hoffnungen.

An dem halben Berge lag ein altes Schloß, das noch bewohnt war, obschon es nicht ganz so aussah, denn es waren keine Lichter in den Fenstern, die Tore standen weit auf, und im Hofe regte sich weder Hund noch Mensch.

»Steiget ab, mein Freund, und laßt Euer Pferd nur laufen,« sagte der kleine Geselle, herunterspringend.

[392] Godwi war es manchmal zu Mute, als wäre der kleine Mann ein Gespenst aus alter Zeit, denn er hatte einen Federhut auf, und war in einen Mantel gehüllt. –

»Aber wird mein Pferd nicht fortlaufen, wenn es kein Diener anhält – die Tore stehen ja sperreweit offen – mein Freund.«

Der kleine Reiter aber machte nicht viel Komplimente faßte Godwi beim Arm, zog ihn die Treppen hinauf, und lachte, wenn er anstieß.

Oben sagte er: »Nun legt Euren Mantel ab, nehmt den Hut in die Hand – wir sind an der Türe, gleich werden wir in der Gesellschaft sein.« –

Godwi tat, wie er ihm sagte, der Kleine machte die Türe auf, stieß ihn in die dunkle Stube, in der er in seinem Leben nicht gewesen war, und schloß die Tür ab.

Vor der Türe sang er lautlachend, indem er wegging:


Es ist die Nacht nicht helle –
Sie streiten wie die Blinden –,
Da fühlt sich der Geselle
Von hinten fest umwinden.
Zweiunddreißigstes Kapitel

Godwi stand nun in der Mitte der Stube, und wußte nicht, wie ihm geschehen, er sah gar kein Licht, die Fenster schienen verschlossen zu sein. Um sich nur ein wenig zu orientieren, tappte er an den Wänden herum, und was er fühlte, waren abenteuerliche Schränke mit einer Menge Säulen, dazwischen Teller und Porcellain-Figuren.

Er verfolgte seine Entdeckungsreise rechts an der Wand herum, und stieß auf eine Gipsstatue; das war ihm nun schon interessanter, seine Hand gleitete leis auf und nieder, und er verweilte hie und da mit mehr Anteil, er konnte auch kein Stückchen Gewand entdecken, und fand, daß es eine Venus sei.

Es tat ihm leid, daß er sie nicht ganz zugleich auffassen konnte, um den reinen Kunsteindruck zu haben, aber sie war nur zu fühlen, und es ging ihm wie gewissen Kunstforschern, die das Gefühl der Antike in den Fingern haben, und um sich die Vortrefflichkeit [393] der Formen einzuprägen, vom Nacken mit der Hand niedergleiten, am Hintern aber etwas modern werden, und einige freundliche Schläge mit Schalkheit drauf fallen lassen. –

Er verspätete sich allerdings etwas bei der Venus, und hätte er nicht etwas leise rauschen hören, so würde er über ihr alles vergessen haben, außer was er vermißte, daß sie lebendig sei. –

Unruhig tappte er weiter, und berührte einen seidnen Bettvorhang: da er den Stuhl, der vor dem Bette stand untersuchte, fand er weibliche Kleider, ein gestricktes kurzes Röckchen, und ein gestricktes Jäckchen, seidne Strümpfe: unter das Bett faßte er mechanisch, und faßte ein paar niedliche Schuhe.

Als er den Bettvorhang zurückzog, hörte er atmen, das setzte ihn in keine geringe Verlegenheit, und da er untersuchen wollte, wer es sei, knurrte ein Hund, und machte große feurige Augen. Er wollte nun nach dem Fenster hin, um die Laden aufzustoßen, sein Fuß berührte etwas Tönendes, er faßte nieder, es war eine Guitarre, die am Stuhle lehnte, er klimperte darauf, aber das Atmen neben ihm ward nun doppelt, er schritt etwas vorwärts und fand, daß irgend ein Ausgang sein müsse, denn es herrschte ein Luftzug.

Da er drauflos ging mit den Händen, wie mit Fühlhörnern durch die dicke Finsternis, fuhr er heftig zusammen, seine Finger berührten einen Menschen, er zog die Finger zurück, und bald waren sie wieder vorwärts; er gleitete über kühlen festen Armen aufwärts, zu einem sehr schmalen Ärmel, eilte über diese Brücke, und es zitterte unter seinen Fingern, lachte und floh, er wollte nach dem Luftzug, da schlug eine Türe zu, die ihm dicht an der Nase vorbeiflog.

Er ging nun unwillig quer durch die Stube, rannte einen Tisch mit Gläsern um, und trat bald in einen erhobenen Erker, öffnete die Fensterladen, und sah glühend in die kühle Nacht hinein. Sein Herz pochte heftig, er war ungeduldig, und immer fühlte er nur noch seine Fingerspitzen.

Da stand er nun in einem dunklen Vorgrund zu dem hellen Gemälde, aber war dies Liebchens Fenster?

Es rauschte der breite Rhein nur noch als Musik aus der Ferne, aus den Dörfern und dem naheliegenden Städtchen klangen [394] die lustigen Walzermelodien, unordentlich doch gleich taumelnd und kreisend zusammen. Der süße Mostgeruch drang unter seinem Fenster von dem Weinberge herauf, der nahe Wald säuselte, und in der herrlichen trunknen Landschaft schossen jauchzend Schwärmer und Raketen in die Höhe, und zerplatzten noch fröhlich im Tode – aber Godwi konnte seinen bösen Mut nicht bezwingen. Es war ihm wie einem alten Popanz aus den Kindermärchen, der Menschen gewittert hatte.

Nun wendete er sich von dem Fenster, um zu versuchen, ob er nicht eine Klingel in der Stube finden könnte, einigen Lärm zu machen; auch erinnerte er sich der Gläser, die er umgeworfen hatte, und endlich war er entschlossen, zu Bette zu gehen, wenn sich nicht bald jemand sehen ließe: als er aber die Stufe des Erkers herabsteigen wollte, faßten ihn zarte Hände, und zogen ihn auf einen kleinen Sopha, der an der einen Seite des Erkers angebracht war. –


So weit hat mir heute Godwi erzählt.

Es ist mir traurig zu Mute, ich muß die Begebenheiten der überfließenden Gesundheit in Mensch und Natur beschreiben, und mir löst sich dieser Gegensatz immer mehr; ich schreibe mechanisch nieder, um meine Begräbniskosten herauszubringen. –

Lieber Leser, wenn du wüßtest, wie traurig das ist, singen, fröhliche Lieder singen, und kaum die Lippe, viel weniger das Herz rühren zu können.

Während ich beschreibe, wie Godwi den herrlichen Rheinwein trank, muß ich große Arzneigläser leeren, und reicht mir Freund Haber Gerstenschleim.

Wenn ich schreibe, wie er in der dunklen Stube an der Venus den Kunsteindruck nur einzeln hatte, habe ich den Eindruck der häßlichen Wirklichkeit an einer alten Wärterin ganz; – wenn er am seidnen Bettvorhang rauscht, und die freundlichen Kleidungsstücke mustert, sehe ich traurig über die Blumen der kattunenen Bettdecke; – für seine Empfindung, wie ihn der Hund mit glühenden Augen knurrend ansah, habe ich wohl noch einiges Mitgefühl in schweren Träumen, wenn mich das Alp drückt; aber ich stoße erwachend nicht an eine tönende [395] Guitarre, wider den Boden des trägen Bettes stößt mein Fuß, meine Hände klimpern nicht auf den Saiten, sie spielen auf der Bettdecke hin, und Haber sieht die alte Wärterin bedächtlich an, weil dieses kein gutes Zeichen sein soll.

Wo Godwi den süßen Schrecken hatte, und seine Finger über den zitternden warmen Busen hingleiteten, macht man mir schwerfällige Umschläge auf die Brust – wenn ich aus dem Bett spränge, würde ich nicht volle Weinflaschen mit dem freundlichen Tischchen umwerfen, leere Arzneigläser auf dem traurigen Nachttische würde mein schwankender Tritt erschüttern.

O! öffnet mir die Vorhänge, öffnet mir die Fenster, daß ich die grünen Bäume sehe, die kühle Luft hereinwehe, daß mein Auge sich an dem hohen Himmel ergötze. – Aber mir wird nicht besser, die Krankheit ziehet mich mit kalten Armen auf die Kissen nieder.

Die lustigen Musikanten
Da sind wir Musikanten wieder,
Die nächtlich durch die Straßen ziehn,
Von unsren Pfeifen lustge Lieder
Wie Blitze durch das Dunkel fliehn. –
Es brauset und sauset
Das Tambourin,
Es prasseln und rasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern,
Um Kling und um Klang,
Um Sing und um Sang
Schweifen die Pfeifen, und greifen
Ans Herz,
Mit Freud und mit Schmerz.
Die Fenster gerne sich erhellen,
Und brennend fällt uns mancher Preis,
Wenn wir uns still zusammenstellen
Zum frohen Werke in den Kreis.
[396]
Es brauset und sauset
Das Tambourin,
Es prasseln und rasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern,
Um Kling und um Klang,
Um Sing und um Sang
Schweifen die Pfeifen, und greifen
Ans Herz,
Mit Freud und mit Schmerz.
An unsern herzlich frohen Weisen
Hat nimmer Alt und Jung genug,
Wir wissen alle hinzureißen
In unsrer Töne Zauberzug.
Es brauset und sauset
Das Tambourin,
Es rasseln und prasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern,
Um Kling und um Klang,
Um Sing und um Sang
Schweifen die Pfeifen, und greifen
Ans Herz,
Mit Freud und mit Schmerz.
Schlug zwölfmal schon des Turmes Hammer,
So stehen wir vor Liebchens Haus,
Aus ihrem Bettchen in der Kammer
Schleicht sie, und lauscht zum Fenster raus.
Es brauset und sauset
Das Tambourin,
Es rasseln und prasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern,
Um Kling und um Klang,
Um Sing und um Sang
Schweifen die Pfeifen, und greifen
Ans Herz,
Mit Freud und mit Schmerz.
[397]
Wenn in des goldnen Bettes Kissen,
Sich küssen Bräutigam und Braut
Und glaubens ganz allein zu wissen,
Macht bald es unser Singen laut.
Es sauset und brauset
Das Tambourin,
Es prasseln und rasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern,
Um Kling und um Klang,
Um Sing und um Sang
Schweifen die Pfeifen, und greifen
Ans Herz,
Mit Freud und mit Schmerz.
Bei stiller Liebe lautem Feste
Erquicken wir der Menschen Ohr,
Denn holde Mädchen, trunkne Gäste
Verehren unser klingend Chor.
Es brauset und sauset
Das Tambourin,
Es rasseln und prasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern,
Um Kling und um Klang,
Um Sing und um Sang
Schweifen die Pfeifen, und greifen
Ans Herz,
Mit Freud und mit Schmerz.
Doch sind wir gleich den Nachtigallen,
Sie singen nur bei Nacht ihr Lied,
Bei uns kann es nur lustig schallen,
Wenn uns kein menschlich Auge sieht.
Es brauset und sauset
Das Tambourin,
Es rasseln und prasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern,
[398]
Um Kling und um Klang,
Um Sing und um Sang
Schweifen die Pfeifen, und greifen
Ans Herz,
Mit Freud und mit Schmerz.
Die Tochter:
Ich habe meinen Freund verloren,
Und meinen Vater schoß man tot,
Mein Sang ergötzet eure Ohren,
Und schweigend wein ich auf mein Brot.
Es brauset und sauset
Das Tambourin,
Es rasseln und prasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern,
Um Sing und um Sang,
Um Kling und um Klang
Schweifen die Pfeifen, und greifen
Ans Herz,
Mit Freud und mit Schmerz.
Die Mutter:
Ists Nacht? ists Tag? ich kanns nicht sagen,
Am Stabe führet mich mein Kind,
Die hellen Becken muß ich schlagen
Und ward von vielem Weinen blind.
Es sauset und brauset
Das Tambourin,
Es rasseln und prasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern,
Um Sing und um Sang;
Um Kling und um Klang
Schweifen die Pfeifen, und greifen
Ans Herz,
Mit Freud und mit Schmerz.
[399]
Die beiden Brüder:
Ich muß die lustgen Triller greifen,
Und Fieber bebt durch Mark und Bein,
Euch muß ich frohe Weisen pfeifen,
Und möchte gern begraben sein.
Es sauset und brauset
Das Tambourin,
Es rasseln und prasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern,
Um Kling und um Klang,
Um Sing und um Sang
Schweifen die Pfeifen, und greifen
Ans Herz,
Mit Freud und mit Schmerz.
Der Knabe:
Ich habe früh das Bein gebrochen,
Die Schwester trägt mich auf dem Arm,
Aufs Tambourin muß rasch ich pochen –
Sind wir nicht froh? daß Gott erbarm!
Es brauset und sauset
Das Tambourin,
Es rasseln und prasseln
Die Schellen drin;
Die Becken hell flimmern
Von tönenden Schimmern,
Um Kling und um Klang,
Um Sing und um Sang
Schweifen die Pfeifen, und greifen
Ans Herz,
Mit Freud und mit Schmerz.
Dreiunddreißigstes Kapitel

Mit sanften Händen zog es ihn nieder, und er setzte sich gerne.

»Ich weiß es nicht anders zu machen, lieber Freund,« sagte das Mädchen, »es war mir angst und bange vor Ihnen. Da Sie [400] so wild ans Fenster stürzten, glaubte ich, Sie wollten hinausspringen.«

»Aber um Gottes willen, ich weiß ja gar nicht, wo ich bin, wie von einem Gewitter in ein fremdes Haus, in eine dunkle Stube getragen, und ich glaubte, in eine große Gesellschaft zu kommen.« –

»Haben Sie eine solche Freude an großer Gesellschaft?«

»Nein! aber ich mache gern alle Bekanntschaften bei vielen Lichtern, im Lichte will ich leben, und in der Nacht sterben.« –

Mit diesen Worten nahm er das Mädchen freundlich bei der Hand, und zog sie ans offne Fenster.

»Kommen Sie ans Sternenlicht, meine Liebe.« –

Das Mädchen sah schüchtern an die Erde, er faßte sie unter das Kinn, und hob ihr das Köpfchen in die Höhe: da sah sie ihn freundlich mit ihren großen dunklen Augen an, und es rollte eine Träne auf seine Hand – die Träne fiel Godwi aufs Herz. –

Es war ihm, als habe er das Mädchen schon gesehen.

»Sie weinen«, sagte er freundlich zu ihr.

»Ach, mein Herr! es tut mir so manches leid, so leid, das Herz möchte mir brechen.« – Da wendete sie sich schnell von ihm, und setzte sich auf das Sopha und weinte laut. –

Godwi stand am Fenster, er war so verlegen, so gerührt, er machte sich Vorwürfe, und wußte nicht warum, hatte er die Unschuld verführen wollen? Er hatte ja an keine Unschuld der ganzen Welt nur gedacht – warum weinte das Mädchen nur, warum war sie da, warum hatte sie ihn zu sich gezogen?

Er näherte sich ihr, und sprach mit sanfter gelassener Stimme:

»Meine Liebe, weinen Sie nicht! ich weiß ja nicht, warum und wie ich herkomme. – Auch will ich Ihnen gar nichts tun, – sagen Sie mir, wo bin ich, wer sind Sie, wer hat mich hierher gebracht?«

Da richtete sie sich in die Höhe und sagte: –

»Ach, mein Herr, ich bin Violette, die Tochter der Gräfin von G., und das ist unser Gut. Sie haben mir auch nichts getan, und das ist es nicht; aber ich muß doch weinen.« –

»Was fehlt Ihnen nur, und wer hat mich nur hierhergebracht?«

»Meine Mutter hat Sie hergebracht.« –

»Ihre Mutter? es war ja ein Reiter.« –

»Meine Mutter reitet immer wie ein Mann gekleidet.«

[401] »Aber waren Sie denn in der Stube, als ich hereintrat?« –

»Nein, meine Mutter schickte mich erst herein! Sie sagte, ich sollte Sie unterhalten, bis sie käme: dort neben dem Bette war die Tür offen, da kam ich herein, Sie rührten mich an, ich war fast des Todes vor Schrecken, und ich durfte doch nicht fortlaufen, da schlug ich die Tür zu und lief hierher.« –

»Aber ich hörte Sie ja nicht laufen.«

»Ach, das ist es eben, ich bin mit bloßen Füßen.« –

Das Mädchen drängte sich in den Winkel und sagte:

»Ach wie schäme ich mich.« –

Godwi wußte nun gar nicht, was er mit ihr anfangen sollte. –

»Sind Sie denn nicht gerne hierher gegangen?« –

»Gewiß nicht, gewiß nicht, heute nun gewiß nicht – die Mutter jagte mich aus dem Bette, ich war schon eingeschlafen, sie sagte: junge Mädchen müßten immer lustig sein, und ich sollte mich nicht so kindisch betragen, wenn sie mich nicht wie ein Kind behandle – sie sei so freundlich gegen mich und wolle mir eine Freude machen, nun solle ich auch nicht eigensinnig sein; – ›ach, liebe Mutter,‹ sagte ich, ›es macht mir sicher keine Freude;‹ – ›zier dich nicht, Violette,‹ sagte sie dann, – ›tue mir den Gefallen, und gehe hin, und sprich mit dem Manne, sag ihm, ich käme bald: es ist der artige Mann, der jüngst so freundlich mit dir tanzte‹, da zog sie mir die Decke weg, und lachte mich aus, ich mußte herüber, ich konnte mich nicht einmal ankleiden.« –

»Ihre Mutter ist ein seltsames Weib; glaubt sie denn wirklich, daß Ihnen so etwas Spaß mache?« –

»Wohl muß sie es glauben, und ein andermal würde es mich auch so nicht betrüben – aber heute –«

»Waren Sie denn heute so müde?«

»Das nicht, aber ich bin lange nicht so zufrieden zu Bette gegangen, ich hatte den ganzen Tag überdacht, ja zwei Tage, und es fiel mir gar keine Sünde ein; ich habe am Sonntage erst gebeichtet, und ich verglich mein ganzes Tun mit dem, was mir der Pater gesagt hatte, und es war auch kein Fleckchen zu finden, ich betete noch, wie ich es nur machen sollte, der Mutter immer gehorsam zu sein – da kam sie, da mußte ich herüber, und nun ist alle meine Freude hin.« –

»Meine Liebe, halten Sie es denn für Sünde, bei mir zu sein?« –

[402] »Ich weiß nicht, aber gut ist es nicht. Die Mutter hat mir es schon einmal so gemacht, da küßte mich der Mann, und war so heftig – mein Herr, ich kann es nicht vergessen, – ich konnte es lange nicht vergessen, und seit jener Zeit bin ich nicht mehr ruhig, ich kann an nichts allein denken, es sind immer andre ängstliche Gedanken dabei, die ich nicht verstehe – als ich es beichtete, schmälte mich der Pater sehr, und sagte: ich sollte mir solche Gedanken aus dem Sinne schlagen, – sie führten zum Verderben – das wären böse weltliche Gedanken.«

»Und ist Ihnen das gelungen?«

»In der Beichte hatte ich gar nicht daran gedacht, daß ich nicht wisse, was das sei: aus dem Sinn schlagen, aber ich war des Paters Worten recht getreu, und gab mir alle Mühe, – doch ich konnte so gar nicht recht Reu und Leid erwecken vor den Gedanken, und je mehr ich mich quälte, je größer und wunderlicher wurden die Bilder in mir, – ich wußte mich nicht zu lassen, und gab mir alle Mühe – meine Mutter bemerkte es, – denn ich schnitt manchmal ordentlich Gesichter, – da ich ihr sagte, was es sei, lachte sie mich aus und sprach: ich sollte froh sein, daß ich einmal zu denken anfange, der Pater meine das nicht so, wenn er sage: ›Schlage dir es aus dem Sinn‹, so heiße das: ›Lasse dir nicht bang drum sein.‹« –

Godwi war fest entschlossen, sobald er mit der Mutter zusammenkomme, sie recht ernstlich darüber zu Rede zu stellen, und sie dazu zu bewegen, das Mädchen lieber von sich zu entfernen. Er wendete sich wieder zu ihr und sprach:

»Liebe Violette, Ihr Unglück tut mir sehr weh, wenn ich Sie irgend erschreckt habe, so sollen Sie mir es verzeihen; ich will auch mit Ihrer Mutter sprechen, und mich bemühen, daß sie Sie mit allen solchen Anmutungen verschont – reichen Sie mir die Hand darauf, nicht wahr, wir sind gute Freunde?« –

Violette gab ihm zitternd die Hand, und näherte sich ihm vertraulich. –

»Ich gebe Ihnen gern die Hand, und sind Sie so, wie Sie scheinen? Wie froh wäre ich, wenn Sie mein Freund sein wollten, ich bin recht verlassen hier.« –

Hier ward sie wieder stumm, und lehnte die Stirne an seine Schulter. – Godwi umfaßte sie leis, und sagte:

[403] »Gutes Mädchen, wie alt sind Sie?« –

»Ich bin funfzehn Jahre alt; wie alt sind Sie denn?«

Diese Frage störte ihn etwas, und er antwortete lieber nicht darauf.

»Ihr Vater lebt wohl nicht mehr, und Sie haben keine Geschwister?«

»Mein Vater ist schon einige Jahre tot, ich habe aber noch eine kleine Schwester, sie ist nun fünf Jahre alt. Ich erinnere mich meines Vaters noch wohl, er war ein kleiner Mann, und nie recht freundlich; – zweimal erinnere ich mich recht deutlich, wie er aussah, ich meine, ich sähe ihn noch. – Er saß hier, wo wir sitzen, und zankte mit einem Pächter. Der Pächter stand in der Mitte der Stube, und sagte immer: ›Ich kann nichts davor, gnädiger Herr, – die gnädige Frau hat mir gesagt, sie würde mich von Haus und Hof peitschen lassen, wenn ich dem Jungen noch einmal einen Schlag gäbe, was soll ich nun machen?‹ – ›Er soll den Burschen unter die Soldaten schicken, oder ich schicke ihn hin‹ – da kam meine Mutter herein, und mein Vater schwieg still, schickte den Pächter weg, und sagte: ›Es ist gut.‹ –

Meine Mutter aber sagte: ›Was haben Sie wieder mit dem Manne gehabt, wollen Sie denn mit aller Gewalt einen Gerichtshof aus meiner Schlafstube machen? Ich muß genug wesentliche Schwächen hier von Ihnen ertragen, sparen Sie Ihre unwesentlichen.‹ –

›Ich sorge für meine Ruhe und die Ihrige, Madame‹, sagte mein Vater. –

Meine Mutter aber lachte; ›Sie müssen sehr ruhig sein,‹ sagte sie, ›daß Ihnen der Sohn dieses Bauren so viel Unruhe macht; aber er soll nun bald immer um Sie sein, damit Sie sich an den armen Jungen gewöhnen, ich habe ihn heute als Jokei angenommen‹, – da ging sie auf meinen Vater zu, und küßte ihn mit den Worten; – ›Sei nicht so kümmerlich, alter Mann, da du ein junges Weib hast, mußt du auch hübsch freundlich sein‹, – dann ging sie weg, – o ich weiß es noch recht gut, und kann es nicht vergessen! Ich saß hier auf der Stube des Erkers, und spielte mit dem Joli, der dort auf dem Bette liegt, er war damals noch ganz klein, – aber ich glaube, ich hätte es nicht so behalten, wenn nicht geschehen wäre, was gleich darauf folgte. –

[404] Mein Vater saß so traurig da, und das tat mir leid: ich näherte mich ihm, und sagte: ›Sieh, Vater, der kleine Hund tanzt‹; da stieß er mich mit dem Fuße, daß der Hund schrie, und ging zur Türe hinaus. –

Das anderemal, daß ich mir ihn ganz vorstellen kann, ist das letztemal, er saß auch hier und hatte mich auf dem Schoße; er war still, und ich las in einem Buche; meine Mutter saß dort auf dem Stuhle am Bette, und zog lederne Beinkleider an – sie wollte spazieren reiten, – er sah dann und wann traurig nach ihr hin, und da sie es bemerkte, hielt sie ein, und sagte fragend, ›Eh bien?‹ –

›Ich freue mich über Ihre schönen Beine, Madam.‹ – ›Das ist sehr freundlich und gut gemeint‹, sagte sie. –

›Alle Bauern und Bürger freuen sich auch drüber‹, fuhr mein Vater fort, – ›das ist ein Beweis von Sinn‹, erwiderte die Mutter – ›und der Säckler von Mainz‹, versetzte der Vater, ›hat auch Sinn, denn er erzählt allen Domherren von Ihren Beinen, und das ganze Rheingau hat Sinn, denn jeder sechzehnjährige Bursche, der Sie reiten sieht, sagt: ich will ein Säckler, ein Hosenschneider werden, wenn die Gräfin sich neue Beinkleider machen läßt.‹

›Ja,‹ sagte sie, ›das ganze Rheingau hat Sinn; aber Sie sind ein Sonderling, und streben nach dem Gegenteil‹, da knallte sie mit der Peitsche, stellte sich vor den Spiegel, kam zu meinem Vater, und sagte, indem sie ihm die Wange hinbot: ›Embrassez votre petit Cavalier – adieu!‹ und war zur Türe hinaus. –

Mein Vater schwieg still, ich knöpfte ihm die Weste auf und zu, – ›Vater,‹ sagte ich, ›warum hast du denn eine so weite Weste an?‹ – ›Mein Kind,‹ sagte er, ›das kommt von Kummer und Sorgen, die Eltern haben immer viel zu sorgen – und davon wird man mager, und die Kleider werden zu weit‹; – ich sagte – ›wenn ich nähen kann, will ich dir eine Falte hineinlegen‹, – da ritt meine Mutter lustig zum Tore hinaus und der Jokei mit ihr. – ›Sieh, was deine Mutter lustig reitet‹, sagte mein Vater, – da setzte meine Mutter mit dem Pferde über den Schlagbaum, und Friedrich hinterdrein, und fort waren sie um die Bäume herum; – ›die wird so lange über die Schranken setzen‹, sagte mein Vater, – ›bis sie den Hals zerbricht‹ – und ging weg.« –

[405] »Das sind lauter traurige Sachen, meine Liebe« – sagte Godwi – »aber erzählen Sie fort.«

»Mein Vater starb bald darauf, – und die Mutter war nicht sehr traurig. – Friedrich lebte auch nicht mehr lang, er war immer nach meines Vaters Tode um die Mutter herum gewesen. – Da er krank war, kam die Mutter nicht von seinem Bette, und da er tot war, mußte ich einen Kranz von Rosen flechten, den setzte sie ihm auf; – er ist in unserm Garten begraben, und über dem Grabe ist ein Gartenhäuschen erbaut, in dem die Mutter oft von fremden Herrn besucht wird. – Das Leben geht nun immer so fort, ich habe wenig Freude, auch lerne ich nicht viel: für mich allein, wenn ich sehr traurig bin, schreibe ich manchmal meine Gedanken auf und zerreiß es dann wieder. Meine kleine Schwester heißt Flametta. Man sagt, sie sei Friedrichs Kind, und meine Mutter liebt sie sehr. – Ich bin immer allein, und denke über meine Mutter und mich.« –

»Was denken Sie denn von Ihrer Mutter und von sich?«

»Von meiner Mutter? Warum niemand mit ihr umgeht, warum die Leute sagen, sie habe keinen guten Ruf, warum ich gar keine Mädchen sehe, – und von mir, ach! da denke ich immer in die Zukunft, und muß manchmal ausrufen: es wird kein gut Ende nehmen! Und dann weine ich. – Sagen Sie mir, was ist das nur?« –

Hier nahm sie Godwi bei der Hand, trat mit ihr ans Fenster: er hatte sie umschlungen, und ihre Wange lehnte an der seinigen, es war ihm sehr wohl, und sehr bang. –

Der Mond stand über der ruhigen Gegend, und wußte nichts von des Kindes Schmerz, und seiner Rührung, – da sang Violette mit ihrer freundlichen Stimme folgende Verse eines katholischen Liedes.


Was heut noch grün und frisch dasteht,
Wird morgen schon hinweggemäht,
Die edlen Narcissen,
Die Zierden der Wiesen,
Die schön Hiazinthen,
Die türkischen Binden.
Hüte dich, schöns Blümelein!
Viel hunderttausend ungezählt,
Was nur unter die Sichel fällt,
[406]
Ihr Rosen, ihr Lilien!
Euch wird man austilgen,
Auch die Kaiser-Kronen
Wird man nicht verschonen,
Hüte dich, schöns Blümelein!
Das himmelfarbne Ehrenpreis,
Die Tulipane gelb und weiß,
Die silbernen Glocken,
Die goldnen Flocken,
Sinkt alles zur Erden,
Was wird daraus werden?
Hüte dich, schöns Blümelein!
Ihr hübsch Lavendel, Rosmarin,
Ihr vielfarbige Röselin,
Ihr stolze Schwertlilgen,
Ihr krause Basilgen,
Ihr zarte Violen,
Euch wird man bald holen. –
Hüte dich, schöns Blümelein! –

Godwi hatte dem kindischen Totenliede schweigend zugehört – – »Das ist ein trauriges Lied, Violette«, sagte er. –

»Traurig? es ist ja ein Ernte-Lied – ich kann auch ein Lied vom Säemann, das fängt an –: Es ist ein Säemann, der heißt Liebe –.«

Godwi küßte das Mädchen, sie erwiderte es freundlich, aber es war kein Kuß, der sich getreu blieb, er verweilte so lange, daß die Gemüter sich wechselten, da klingelte es –.

»Ich muß nun fort, Lieber,« sagte Violette, »die Mutter klingelt, ich gehe jetzt schlafen, – ich werde von Ihnen träumen.«

Godwi führte sie an die Tür, und sie umarmten sich innig. –

Aber die Tür ging auf und die Mutter trat herein. –


Die Tür ging auf, der Arzt trat herein. Ich soll mich ruhiger halten, nicht soviel schreiben, sonst sei seine Mühe umsonst, – grade das Gegenteil, wenn ich gar nicht schreibe, wird seine Mühe umsonst sein, denn ich werde ihn nicht bezahlen können.

Es kränkt mich sehr, daß wegen meiner Krankheit Flametten ihre Komödie verdorben ist, sie ist schon zweimal bei mir gewesen[407] – um zu sehen, ob ich bald gesund sei – und um mich zu erlustigen, sagte sie mir Stücke aus ihrer Rolle her. – Das Spiel heißt »Vertumnus und Pomona«, und die Erfindung ist recht artig, – Flametta gefällt sich sehr als spröde Pomona. – Um ihren Garten, der mit hohen Zäunen umgeben ist, liegen zweihundert Zwerge, zwölf Riesen, fünfunddreißig Satyren, zwei Dutzend Faunen, dann noch Pan und Priap und Hanswurst. Alle diese zusammen halten ein großes Geschrei, machen ihr die Kur, und werben um sie, oder prügeln sich untereinander; Hanswurst ist des Vertumnus Nebenbuhler, beide können sich verwandeln, und können allein in den Garten kommen.

»Das Theater«, sagte Flametta, »wird mein Garten sein, der ringsum mit hohen Hecken umgeben ist, und ich habe immer alle Hände voll zu tun, die Freier abzuwehren; bald stehe ich mit einem Äpfelhaken da, und schneide den Riesen die Nase ab, wenn sie herübergucken, und wenn die Zwerge unten durchkriechen, treten sie in Fuchsfallen, da nehme ich sie dann, stecke sie in die Erde, inokuliere ihnen Äpfel und Birnen, und sie wachsen wie Zwergobst. –

Sehn Sie,« sagte Flametta, »so lautet meine erste Szene. –


Und was ich treibe, was ich tue,
Ich komm doch nimmermehr zur Ruhe,
Meine Schönheit ist so weit bekannt,
Daß die ganze Welt in mich entbrannt.
Aus dem Tale und über die Berge,
Kommen Riesen, Satyren und Zwerge,
Viele hundert Waldteufel und Faunen –
Es ist ordentlich zu erstaunen,
Wo sich die Leute her beschreiben,
Zu Haus können sie sich doch nicht gleich auftreiben.
Ich kann kaum den Himmel mehr sehn,
So muß ich täglich den Zaun erhöhn –
Daß mich die plumpen Riesen
Nicht gar zu Tode niesen,
Wenn sie mit ihren großen Perucken
Über den Zaun herübergucken. –
An der Türe ist ein ewiges Klopfen,
Und ich kann nicht genug Löcher zustopfen,
Daß nicht die Zwerge hereinschlüpfen,
[408]
Die draus wie Frösche herumhüpfen. –
Von den vielen Seufzern wird die Luft verderben,
Und meine Bäume wollen schon absterben;
Ich mag noch so viel faule Äpfel hinausschleudern,
Das hilft nichts bei den mancherlei Bärnhäutern.«

Das hatte sie recht lustig deklamiert, und ihr lautes Sprechen hatte einige von den Mennoniten ans Fenster gelockt.

»Sie sehen,« sagte sie, »da sind die bärtigen Waldmänner wieder«, da warf sie einige Äpfel auf die Zuschauer, und lief mit den Worten fort:

»Nun werden Sie nur gesund, – ich halte es nicht länger bei kranken Leuten aus.«


Godwi besuchte mich heute abend, er hatte selbst weiter geschrieben, und las mir vor, wie folgt. –

Vierunddreißigstes Kapitel

Alles, was Violette gegen mich geäußert hatte, war sich so ungleich, und wendete so schnell zwischen Heftigkeit und Geschämigkeit; was sie von ihren Eltern erzählt hatte, war so wenig die Rede eines ganz unschuldigen Mädchens, ihr ganzes Betragen ergriff mich so schnell, und stieß mich so leicht wieder zurück, daß ich in einer wechselnden Bewegung während ihren Worten bald Mitleid, bald Unwillen empfand.

In jedem Falle mußte ihre Mutter ein höchst wunderbares Weib sein, und ohne allen Charakter, das Mädchen hätte sonst nimmer so schwankend sein können, und ich entschloß mich fest, diesen Ort schnell wieder zu verlassen; aber es gelang mir nicht.

Ich entschloß mich schon in einzelnen Augenblicken meines Gesprächs mit Violetten dazu, denn ich befand mich in einem widrigen Streite von Lust und Schonung. Sie webte ihre Tränen, ihre Naivetät und ihre frevelhaften Reden über ihre Mutter so verwirrt durcheinander, und in ihrem Betragen dabei erschien die Lüsternheit und Heftigkeit so durch Blödigkeit und Unerfahrenheit gestört, daß mir es sehr abgeschmackt zu Mute [409] war. Ich konnte sie nicht bedauren, und nicht liebenswürdig finden, und dabei war ich doch so gespannt und gereizt durch meine ganze Lage, daß ich wünschte, das Mädchen wäre nicht so, und ergäbe sich ohne Prätension ihrer und meiner Freude.

Ich hätte mich gerne bemühet, ihre Verwirrtheit für sie und mich zu lösen, aber ich fürchtete mich vor irgend einem Hinterhalt, der mir hier gelegt sein und mich zu einer Verbindung zwingen könnte, die mich ewig zum Sklaven um eine kurze Freude gekauft hätte.

Ich verhielt mich während ihren Äußerungen ganz leidend, und eben dadurch schien sie mir einigemal wahr zu werden: die Verse, die sie von dem Totenliede: »Es ist ein Schnitter, der heißt Tod«, sang, sang sie nicht ohne Rührung, und ihr Übergang auf das Lied: »Es ist ein Sämann, der heißt Liebe«, war er vielleicht auch nicht ganz ohne Vorsatz, war doch sehr artig. –

Was sie von ihrem Streit in der Beichte erzählte, war der Punkt, der mich eigentlich zuerst aufmerksam machte: ein unschuldiges Mädchen kann nicht von der Beichte reden, und ein Mädchen von funfzehn Jahren streitet nicht mehr so kindisch mit ihrem Gemüt, oder sie müßte in der reinsten Umgebung gelebt haben.

Alle diese Betrachtungen begleiteten mich, und verdarben mir sogar ihre Küsse, indem sie ihrem ganzen Plan ungetreu recht herzlich und mit Bewußtsein küßte.

In dieser Verwirrung fand mich ihre Mutter, die ich mit einigem Unwillen behandelte, aber sie war nichts weniger als so verwirrt und widersprechend wie das Mädchen.

Ich fand in ihr ein leichtsinniges und fröhliches Weib, mit einer Freiheit ohne Grenzen, die doch nicht ins Gemeine fiel. Sie hatte gar keine Absicht als zu leben, und lachte alle meinen Unmut hinweg, dabei nahm sie in ihrem Raisonnement so tollkühne Flüge, daß es eine Lust war, sie anzuhören.

Das Mädchen hatte sie aus reinem Mutwillen herübergeschickt, und da ich ihr vorstellte, wie ihr Kind zu Grunde gehen würde, machte sie die Einwendung, daß das Mädchen so sinnlich sei, daß sie sich an der ganzen schönen Welt festhalten werde; auf dem festen Boden der Sinnenwelt gehe niemand [410] zu Grunde, und wenn Violette nur einmal aus den Schwärmereien komme, so werde sie recht glücklich werden.

Sie äußerte dabei ganz wunderbare Ideen über Religion, und verlor sich in einen Strom von Phantasien, daß sie mich wirklich ergötzte.

Violette, behauptete sie, sei bei weitem nicht so unschuldig als sie selbst, und was das Mädchen von ihrem Streite mit der Andacht vorbringe, sei alles eine Folge davon, daß sie nicht recht beten könne.

So bisarr mir alles das schien, so behauptete sie es doch mit einer trotzigen Lustigkeit, und hatte sich ordentlich ein kleines System erraisoniert. Ich will ihre Äußerungen so getreu hierherschreiben, als ich mich ihrer entsinne, denn mich mit der Gräfin selbst redend einzuführen, wage ich nicht gern, da ich einer langweiligen Beschreibung ihres ganzen Betragens dabei nicht ausweichen könnte, und doch in die Gefahr kommen dürfte, nicht verstanden zu werden, oder mich der Beschuldigung auszusetzen, als suche ich meine Schwachheit zu entschuldigen, indem ich ein heftiges frevelndes Weib als ein bloß mutwilliges schwärmendes hinstellte. –

Es schien allerdings, daß sie einstens in einer ähnlichen Verwirrung wie Violette gewesen sei, und nur ihre Erfahrung aus ihr sprach, wenn sie sich über diesen Zustand ihrer Tochter so kalt zeigte.

Sie war im strengsten Katholizismus erzogen, und Violetten hatte der verstorbene Graf ebenso erziehen lassen. Sie führte ihre eigne jetzige Lebensart, ihre Fröhlichkeit und Freiheit trotz aller Umgebung, auf ihre Religion zurück, denn sie sagte, diese habe ihr den ersten Antrieb zu allem gegeben, und der einzige Mißgriff in ihrem Raisonnement war der, daß sie sich in der Religion voraussetzte, da sie doch die Religion in sich annehmen mußte, wenn sie je welche wollte gehabt haben.

Es ist mir leid, daß ich alles das nicht so scherzend und so lustig ernsthaft sagen kann, denn sie parodierte sich selbst in jeder Minute, überraschte mich plötzlich mit einem Kusse, wenn ich Einrede tun wollte, und war ich darum unwillig, so fuhr sie so pathetisch fort zu predigen, bis ich lachen mußte, und war dabei so beweglich, daß sie bald aufsprang, ihre Bilder selbst[411] vorzustellen, bald sich so schnell wieder niedersetzte, daß sie mir einigemal etwas unsanft begegnete, dann bat sie mich sehr zärtlich und kindisch um Verzeihung, und das alles war so rasch und bunt hintereinander, daß ich ein freudiges, reizendes, freies Weib sein müßte, und mir gegenüber ein junger mehr ungeduldiger, als gesetzter Mann, wenn ich es so hinstellen sollte, wie sie es tat. –

Sie behauptete:

Der sinnliche Mensch werde erbärmlich, wenn er, wie man es nimmt, tugendhaft würde, denn er übe dann Tugenden, die von seinem ganzen Leben verachtet würden. Er müsse sich zwingen, und werde eben dadurch lasterhaft, denn er gäbe, um zu leben, endlich die Tugend hin, und schweife, um sich zu trösten, nach Prinzipien aus.

Religion sei nichts als unbestimmte Sinnlichkeit, das Gebet ihre Äußerung.

Andacht sei es, wenn man nicht mehr als Mensch bete, wenn man als Weib oder Mann bete; doch könne der Mann es nie zur Andacht bringen, weil das Menschliche das Männliche bei ihm überwiege.

Der schlechteste Moment im Leben sei, wo weder Jungfrau noch Jüngling recht wisse, woran sie seien, und ein verderblicher Streit zwischen Glauben und Wissen sich erhebe; in diesem stehe Violette.

In der Religion sei es ebenso, es komme den Menschen heutzutage eine boshafte Lust an, sich ihrer selbst zu bemächtigen, um sich zu befreien, aber nur der sei ein Sklave, der sich selbst besitze, nur im allgemeinen wäre Freiheit, und in der Person die höchste Tyrannei.

In diesem schlechten Momente höre der Mensch auf zu glauben und meine, Wissen sei etwas anderes als ein langweiligeres Glauben, das einen erst mit einer kleinen Reihe von Schlüssen hinhalte, ehe es einen glauben lasse, denn endlich müsse man doch glauben, was man wisse.

Das allererbärmlichste Aberwissen sei, die unbefleckte Empfängnis für einen Aberglauben zu halten; wer denn irgend eine Empfängnis wisse? und dieses sei grade der Punkt, wo der Mensch recht überführt werde, daß alle Seligkeit nur Glauben [412] ist, und kein Bewußtsein, und nur der sei ein Ketzer und Freigeist, der bei der Empfängnis noch denke, und sich selbst besitze, denn jeder fühle das Wissen erbärmlich, der aus solchem Glauben kehre.

Sie bete oft, weil sie ein Weib sei, und wer nicht sinnlich sei, habe keine Religion, und eine Religion, die nicht sinnlich sei, habe keine Menschen.

Sie sei eine Heidin, habe viele Götter, und auch Heroen, alle jung, kräftig, und in der Liebe menschlich.

Die Heiligen könnten sie so ziemlich rühren, aber sie hätten keine Religion, wären nichts als angehende Philosophen, welche die Liebe bestritten, die sie nicht bestreiten könnten, das heißt, der sie nicht gewachsen wären.

Der Gott der Katholiken sei zu geistig, und substanzlos, und ohne die Menschwerdung gar nicht da; aber es sei keine rechte Menschlichkeit in der Menschwerdung, es sei nichts als eine Allegorie auf Leben, Gedanken und Wort, eine Lehre, die zum Lehrer geworden.

Jeder Gedanke sei eine unbefleckte Empfängnis, und jedes Wort eine Menschwerdung.

Doch sei die katholische Religion keine Religion des Lebens, sondern eine Religion der Auferstehung und Erinnerung – der untergegangenen herrlichen Welt der Götter und Menschen werde in ihr ein festliches Totenopfer gebracht.

Die protestantischen Religionen seien nicht gottlos, aber heillos, denn sie duldeten keine Heiligen – sie seien keine Religionen, sondern bloß bequemliche Anstalten, keine Religion zu haben, – Konsistorien, wo keine Liebe mehr sei, um die Ehe zu unterstützen – auf Noten gebrachte Ehescheidungen zum Absingen – Religionen für Eunuchen, Amphibien und Hermaphroditen. –

Die christliche Religion werde vor dem Leben zu Grunde gehen, die heidnische aber werde länger sein als das Leben, weil sie Leben und Tod umfasse.

Einmal rief sie aus:

»Ach, arm ist der, der nur im Tode selig wird – die Erde sei ein Jammertal! – Ich stehe auf den Bergen und bin glückselig, denn der lebt nicht, dessen Haupt nicht im Himmel steht, auf [413] dessen Brust nicht die Wolken ruhen, dem die Liebe nicht im Schoße wohnt, und der Fuß nicht in der Erde wurzelt. Mein Haupt steht ewig im Himmel, und klage ich, so hören es die Götter allein, daß mir keine Liebe im Schoße wohnt, und wohnt mir die Liebe im Schoße, so sehen nur die Götter meines Auges Andacht, weiter wird die Welt, denn mein Busen hebt den Himmel höher, und die Erde drängt sich bebend unter meinen regen Füßen zusammen.«


Sie bekehrte mich, aber ich glaubte nichts, als daß sie ein schönes, reizendes Weib sei, da die Decke des Zimmers sich öffnete, und eine dämmernde Alabaster-Lampe niedersank, und der Glauben bald das Wissen besiegt hatte. –


An den Leser


Die Krankheit meines Freundes nimmt zu und ist mir um so schmerzlicher, als sie boshaft ist. – Sie hätte keine unglücklichere Stelle erwählen können, um ihn mir noch bei seinem Leben zu rauben, sie hätte keine glücklichere Stelle nehmen können, um die letzten Ergießungen seines liebevollen Herzens gegen mich zu hemmen. – Es ist eine bösartige Zungenentzündung, an der ihm das Band mit allen seinen Freunden erlahmt. – Ich versichere seine menschenfreundlichen Leser, daß ich viel Schmerz an seinem Lager ertrage, und oft gerührt bin, wie sehr er das Publikum achtet. Er schrieb mir gestern mit Tränen Folgendes an die Schiefertafel, die neben seinem Bette hängt, damit er sich deutlich machen kann, und ich kann nicht umhin es Ihnen mitzuteilen, weil ich fühle, wie sehr sich sein Charakter hier ans Licht stellt, und wie die Worte eines mit Ruhe dem Tode entgegensehenden jungen Mannes sicher die Verleumder zum Schweigen bringen werden, die sein reines fühlendes Herz und sein aufrichtiges frohes Gemüt hie und da zu beschmutzen suchen – o diese Zungen sind giftig und entzündeter als die meines Freundes! O daß sie die Krankheit erlähme! die mir das freundliche Gespräch meines Maria raubt.

Zugleich bitte ich den Leser, die Darstellung meines Lebens [414] zu entschuldigen, ich bin nicht geübt, vor das Publikum zu treten, und es verhindert mich auch der Anteil, den ich an meinem Freunde nehme, an größerer Aufmerksamkeit auf meinen Stil. –

Godwi


»Was mich mehr drückt, als meine Krankheit, ist der Rückblick auf ein fruchtloses Leben; – mit dem vollen fröhlichen Mute des Jünglings habe ich versäumt, eine Spur zurückzulassen, daß ich da war: – ich wußte nicht, daß der Tod meiner Jugend schon folgen werde, ich hätte sie sonst geschmückt und Künste gelehrt, damit ihm eine freudige Braut geworden wäre; dann hätte Sie der schöne Kranz am Wagen erfreuen sollen, der jetzt ungeschmückt die tiefen Gleisen mit mir hinschleichen wird, die wir mit Recht die Runzeln unserer alten Mutter Erde nennen dürfen. –

O! hätten mich die Menschen besiegt, wäre ich im Kampfe um hohen Preis überwunden, so würde man mich mit dem Sieger nennen, und sein Wert wäre mein Grabstein und drückte mich nicht. – Aber das Leben hat mich besiegt, nicht mich, – nein, nur den Jüngling wie viele – denn ich war noch nicht, und warum sollte ich nicht werden?

Jetzt, da mein Herz sich öffnen wollte, um alles zu umfassen, was lebt und liebt, legt sich der Tod ihm in die Arme. –

Ich habe vieles noch zu tun, so vieles – und soll sterben – die Menschen wissen nicht, daß ich ihr Bruder bin, und daß ich es verdiene – o mein Freund! wenn Sie wüßten, was ich verlasse; Einer nur wird wissen, was ich verlasse, und er wird es nicht glauben. –

Ich soll das Leben aufgeben? der die Liebe noch nicht aufgegeben, die ihn aufgab – dies ist kein schöner Tod – es bricht, es löst sich nicht. –

O! es ist ein großer Unterschied zwischen dem Traume der Liebe und der Liebe des Traumes. – Der Traum der Liebe ist in der Liebe, aber die Liebe des Traumes ist nur im Traume. –

Wenn die Liebe einschlummert und träumt, träumt sie den Traum der Liebe, und dieser Traum ist jener stille schöne Schmerz, jenes Bangen, ich möchte sagen, die Seele aller Sehnsucht, und die sentimentale Poesie der Liebenden. –

[415] Mir ist jede unvollendete Harmonie in den Naturerscheinungen, jenes Streben des Formlosen und Toten nach Gestalt und Leben, wo Seele und Stoff mit innerm Drange zueinander streben, und der Stoff von dem Strahle des Geistes nur erglüht und schmerzlich wieder in den Tod zurücksinkt, so ein Traum der Liebe. –

Verstehen Sie mich? – nein. –

So ist mein Ausdruck selbst ein Beispiel eines solchen Traumes der Liebe, in dem der Gedanke und das Zeichen nicht zum Worte wurden. –

Ich glaube es Ihnen aber deutlicher zu sagen, lieber Godwi, wenn ich schweige, und Sie bitte, ans Fenster zu treten. – Sie sehen die roten Flammen des Abends, wie die Berge von ihnen entzündet werden und Feuer zu duften scheinen, und wie diese Flammen sich mannigfach gestalten, und ganze Landschaften zu werden scheinen. – Was ist die Flamme anders als die Gestalt des Feuers, und das Feuer anders als die Gestalt der Wärme, und diese als die Gestalt des Lichts?

Sie sehen, wie sich das Licht von dem Stoffe ergriffen zur Flamme zu bilden scheint, und wie die Flamme den Berg und den Wald entzündet, und sich die ganze Gegend nach dem Lichte sehnt; es ist, als sei nichts in Ruhe, und das innere willenlose Treiben kehre sich heraus, und doch ist alles Ruhe, eigentliches Gefühl der Ruhe, in dem sich die Ruhe aufhebt. – Dies ist ein Traum der Liebe. Und ist Liebe in Ihnen, so müssen Sie einstimmen in diesen allgemeinen Traum, auch Sie ergreift die allgemeine Sehnsucht; aber Ihre Sehnsucht ist nur die Ihrige, – und wer keine Liebe hat, möchte sterben in dieser Minute. –

Aber es giebt einen Traum des Lebens, der Liebe zu umfassen glaubt; aber Liebe ist nur Wahrheit – und jene luftigen unbestimmten Seelen, die es nur zum Reize und nie zur Schönheit bringen, träumen dieses Leben, und ihre Liebe ist eine solche Liebe des Traumes, – sie ist ohne Bestimmung, mit unendlichem Reize, ohne Ziel, wo sich alle diese Mittel zu einer Schöpfung vereinigten.

Wer sich ihnen hingiebt mit seiner Liebe, muß mit diesen Blumen verwelken – lieben darf man sie als Frühling und Poesie, aber nie als einzelne Blumen.

[416] Nur das starke gesunde Gemüt wagt nichts mit ihnen, es blickt auf sie nieder, wie auf die Blumen, die es seiner Geliebten bricht, die es in den Triumph seines Lorbeers flicht, damit der Ernst auch lächle, und schützt sie sogar wie zarte Kinder, wie lieblose Unschuld, und nimmt sie wie ein reines Bild der bloßen Schönheit.

Wendet er aber seine Liebe zu diesen hin, die sich nach seiner Liebe wenden müßten, so ist es, als wende sich die Sonne nach der Blume, und die Blume nicht nach ihr. –

Ihr Leben ist eine bloße Allegorie, ihre Liebe nur leiser Erguß, nicht der Schöpfung, nur des Todes. –

Mir, lieber Godwi, sollte ich sterben, sollen Sie einen einfachen Stein setzen, und darauf die letzte Terzine dieses schlechten Sonetts.« –

Sonett
O schwerer heißer Tag, ihr leichtes Leben
Schließt müde weinend seine Augenlider,
Schon senkt der Schlaf das tauende Gefieder,
Um solche Schönheit kühl ein Dach zu weben. –
Von ihren Lippen leise Worte schweben,
»Du Liebe süßer Träume, kehre wieder!«
Da läßt sich ihr der Traum der Liebe nieder,
Um ihres Schlummers kranke Lust zu heben. –
»Du Traum!« – »Ich bin kein Traum,« spricht er mit Bangen,
»O laß uns nicht so holdes Glück versäumen!«
Da weckt er sie, und wollte sie umfangen. –
Sprecht! Wessen bin ich? Wer hat mich besessen?
Ich lebte nie – war eines Weibes Träumen –
Und nimmer starb ich. – Sie hat mein vergessen.
Fünfunddreißigstes Kapitel

Als ich erwachte, blickte ich durch die Stube hin. Nach der Gräfin zu sehen, hatte ich den Mut nicht. Es war eine ganz eigne Empfindung, wie ich mich mit allem verwandt fühlte, [417] mit den alten Schränken und dem Gipsbilde, den Sesseln und mit dem kleinen Sopha im Erker.

Meine Augen liefen an den sauren Gesichtern der Ritterbilder und den süßlich ernsten der neuern Ahnherrn auf und ab, wie auf meinen Verwandten; ich ergötzte mich ebenso an den Damen, und wunderte mich, wie freundlich ihre Schnürbrüste aus einem Gesichtspunkte waren; ich nahm sie nämlich als cornu copiae und freute mich der schönen Früchte, die aus ihnen hervordrangen, und hier und da zierlich mit Blumen zusammengestellt waren.

Es war mir, als hätte ich von allen den Leuten erzählen hören, und konnte mich nicht enthalten, dem Bilde des verstorbenen Grafen, der mir gegenüber hing, ein kleines lächelndes Kompliment zu machen, denn ich erinnere mich nicht, daß es mir je so leicht und so lustig zu Mute war. –

Nachdem ich alle fremde Geschäfte besorgt hatte, wendete ich meine Gedanken auf meine eigne Person, und bekam keine geringe Hochachtung vor ihr. –

Zuerst in welchem herrlichen, ja herrschaftlichen Bette, vielmehr Schlafgebäude, Schlummerpalast, Ruhetempel befand ich mich, wenn ich heute nacht sollte geschnarcht haben, – die hochwürdigen Herrn des Klosters, das ich am Anfange meiner Herreise besuchte, konnten in ihren Chorstühlen so ehrenvoll nicht gesungen haben, – ein wahrer Krönungssaal schien dieses vortreffliche Ehebett zu sein.

Hierauf die wackere Bettdecke, deren Lob ich keineswegs verschweigen darf, denn ich fand sie den schwebenden Gärten der Semiramis zu vergleichen, meine Augen lustwandelten durch die tausend Irrgänge ihres damastnen Grundes, und ergötzten sich an dem prächtigen verschlungenen Namen des Grafen und der Gräfin, der in der Mitte allegorisch gestickt war.

O! und ich selbst – ein blauatlaßner Schlafrock, mit roten Aufschlägen, an dem Ärmel mit dem kleinen gräflichen Wappen gezeichnet, sollte ich nicht stolz sein, in so ehrenvoller Uniform? Ich drückte die Füße zusammen, um mich zu überzeugen, daß ich keine Stiefel anhabe, denn ich hatte die Empfindung, als wäre ich in Diensten, aber ich sah bald ein, daß es Interimsuniform war. –

[418] Vor dem Bette knieten vier Untertanen, recht zärtlich abwechselnd, ein Pantoffel von mir, und dann ein Pantöffelchen, sie harrten untertänigst, daß wir sie mit Füßen treten sollten.

Ich wendete mich nun gegen meine Gemahlin, und bemerkte, wie witzig das batistene Bettuch mit Spitzen durchbrochen war, und wie naiv ihre weiße Schulter durchblickte. –

Ach welche reizende Gemahlin habe ich, wie hinreißend, wie fesselnd, es ist ordentlich unangenehm, und erschwert einem die Menschenfreundlichkeit, sie ruhig schlafen zu lassen. – Wie glücklich, und wie unglücklich bin ich! – muß ich nicht eifersüchtig sein?

Aber was liegt vor mir auf dem Stuhle, ein schwarzer Frack, lederne Beinkleider, und dort ungrische Stiefeln, ein runder Hut auf dem Tische, das sind ja meine Kleider nicht. – Welcher junge Herr hat sich hier ausgekleidet, – habe ich nicht Ursache, eifersüchtig zu sein? – Ich sehe ja meine kaiserliche Uniform nirgends; sollte ich diese Nacht betrogen worden sein, sollte mein Weib ihre Untreue hier in meiner Gegenwart – der junge Mann hat in der Dunkelheit meine Kleider vielleicht ergriffen? –

Da bewegte sich die Gräfin, und meine Einbildung, als sei ich der verstorbene Graf, verschwand. –

Ich stellte mich schlafend, und beobachtete durch die Augen blinzend, was die Gräfin für Betrachtungen den meinigen entgegensetzen würde.

Aber sie setzte die Betrachtung meiner Person mei nen Betrachtungen entgegen.

Sie lehnte den Kopf auf ihren weißen Arm, und blickte mich freundlich an, und ich betrog das Glück, das mir im Schlafe zu kommen glaubte, ich nahm ihre Küsse stille hin.

Ich biß auf die Zunge, um nicht zu lächeln, ich biß auf die Zunge, um die Lust zu ertragen, wie andere es tun, um den Schmerz.

Moralisch freute ich mich, als ich merkte, daß sie aufstand, ohne mich zu wecken, denn es war wirklich ein Beweis eines sehr liebenden Herzens, daß sie mich schlafen ließ, da sie wußte, daß ich nicht zu Leiden erwachen würde; ja es lag mir in dem Augenblick viel Unschuld in dieser Handlung, sie konnte noch denken, daß der Schlaf süßer sei als die Lust. –

[419] Wie sie sich leise in die Höhe richtete, als erstehe ein tugendhaftes Weib zur Seligkeit, wie sie mit Grazie und schüchterner Lust auf mich niedersah, daß ihr zarter Fuß mich nicht berühre. – Wie die Wurzeln unter der Rose lag ich und drängte ihr Liebe entgegen, – wie sie über mich hintrat, stand mein Puls still und mein Leben hielt ein, als griffe ein schöneres Leben in seine Räder. – Ich ruhte wie die Asche eines Geweihten unter den Säulen des Tempels der Liebe. –

Und leiser soll mein Geist einst nicht über das Grab meiner Geliebten schweben, als sie über mich hinschritt. –

Sie schlüpfte in ihre Pantöffelchen, und zeigte mir, indem sie sich sorglos vor mir ankleidete, mehr keusche Blöße als eine tugendhafte Jungfrau, die ganz allein sich auskleidet.

Da sie ihre männliche Kleidung angelegt hatte, schrieb sie mit Bleistift ein Zettelchen, kam vor das Bett, kniete nieder und steckte es mir mit einer Nadel auf das gräfliche Wappen, das am Ärmel meines Schlafrocks war, dann verließ sie in Stiefeln und Sporn die Stube.

Auf dem Zettelchen standen folgende Worte –:

»Guten Morgen, schöner Freund! gut geschlafen? Ich habe ein moralisches Kunststückchen gemacht, Sie nicht zu erwecken; was kann man von einer Heidin, gegen die man als Frauenzimmer doch galant sein muß, mehr begehren, wie kann man seinen Tag besser anfangen? Doch Scherz beiseite – Sie schlafen aber auch, ich habe Sie herzlich geküßt – und nicht zu erwachen – ei, wo will das hinaus? – Denken Sie nicht, ich sei eine Zauberin, und noch nicht von der Fahrt zurückgekommen, wenn Sie sich allein finden, – ich habe nie etwas mit dem Kamine zu tun gehabt, als daß es mich wärmte und einmal einen Liebhaber zu mir brachte – ich reite nur ein wenig spazieren, und zwar auf Ihrem Pferde, um an seinen Launen den Mann kennen zu lernen. Adieu, heio popeio – ich bin eine Heidin, und will mein Morgengebet unter freiem Himmel verrichten.« –

Ich ergötzte mich an der muntern Laune der Gräfin, und war ich verführt, oder idealisierte ich? ich weiß nicht, aber ich fand sie sehr liebenswürdig, oder sie liebte ein wenig. –

Ich konnte immer noch nicht aufstehen, obschon ich sonst kein Schläfer bin, aber ich lag wie an Ketten geschlossen in [420] einer ewgen Betrachtung meines lustigen Zustandes: ich konnte manchmal gar nicht begreifen, wie ich hiehergekommen sei, und hatte einen recht deutlichen Begriff, wie es sich so schön breit auf einem Throne sitzt, und wie unausstehlich es sein muß, Kron und Zepter hinzureichen. – –

Wie einem Kinde, das zum erstenmal Komödie gespielt hat, und die bunten Kleider nicht ausziehen mag, war mir zu Mute – nein, sagte ich, du kannst den vortrefflichen Schlafrock gar nicht wieder ausziehen, und wünschte wirklich sehnlich, es möchten ein paar Diebe hereinkommen, und meinen schwarzen Frack und die ledernen Beinkleider stehlen. –

Da ging die Türe neben dem Bette leise auf, ich schämte mich ein wenig. –

»Ach, er ist noch nicht auf!« sagte eine weibliche Stimme; der Vorhang über meinem Kopfe wurde zurückgezogen. Ich machte die Augen zu, wie der verfolgte Vogel Strauß mit dem Glauben den Kopf versteckt, wenn er nicht sehe, werde er nicht gesehen, und es ergoß sich ein Körbchen mit Blumen über mein Gesicht. –

Da ich hörte, daß die freundliche Geberin forteilte, nachdem sie mir ihren Liebesdienst erzeigt hatte – sprang ich aus dem Bette und verriegelte die Tür.

Ich trat in meinem Ornate vor den Spiegel, und freute mich meiner kindischen Eitelkeit, dann guckte ich etwas zum Fenster hinaus: die Arbeiter waren wieder rings in den Hügeln und Gärten beschäftigt, ich war recht froh, und die Natur viel schöner als mein Lebtage – ich sagte recht von Herzen:

»Dies ist Liebchens Fenster, und ich sehe nun in das heitere Gemälde aus einem traulichen Vorgrund; leset nur eure Weinbeeren, Küsse sind doch süßer; mein Herbst klingt nicht, und singt nicht, aber ich gebe ihn doch nicht um den eurigen.« –

Dann kleidete ich mich schnell an, und wie ich den seidnen Schlafrock ablegte, legte ich viel frohen Mut ab, und als ich in meinem schwarzen Fracke steckte, war ich wieder voller Grundsätze –, aber ich ärgerte mich drüber.

[421]
Sechsunddreißigstes Kapitel

Ich verließ die Stube und ging durch die langen Gänge des Hauses, und betrachtete die verschiedenen alten Bilder. Da ich neben eine Tür vor ein solches Bild trat, hörte ich in der Stube sprechen, und erkannte Violettens Stimme, die mit einem kleinen Mädchen sprach, das Kind sagte: –

»Violette, nun habe ich dir helfen die Blumen suchen, nun lehre mich auch singen.«
»Nun komm her, Flametta,« sagte Violette, »aber höre auch hübsch zu, und singe mit.«
Da es das Kind versprochen hatte – sang Violette mit ihm folgendes Kinderlied: –

Anne Margritchen!
Was willst du, mein Liebchen?
Ich trinke so gerne
Gezuckerten Wein.
Zwei Pfund Zuckerchen,
Ein Pfund Butterchen,
Schütt es ins Kesselchen,
Rühr es mit dem Löffelchen.
Zwei Maße Wein,
So muß es gut sein.
Anne Margritchen,
Was Zipfel ist das?

Eine Weinsupp, eine Weinsupp!


»Nun kann ich es,« sagte Flametta, »nun will ich auch wieder mit in den Garten gehn, – aber sage mir, warum hast du so ein Holz in deinem Bettchen liegen?« –

»Das Kissen ist mir zu niedrig,« sagte Violette. –

Hier trat ich an die Tür, die nur angelehnt war, und fragte: »Darf ich mit in den Garten gehn, Violette?«

Als sie meine Worte hörten, sprangen sie hinter die Tür, die ich leise eröffnete: vor mir stand Violettens Bett, in dem ich ein scharfes eckichtes Scheit Holz liegen sah. – Violette sprang [422] plötzlich hervor, und riß den Vorhang des Bettes zu, sie glühte über und über vor Scham.

»Fort, fort, aus der Mädchen-Stube!« rief sie dann heftig. »Jage ihn fort, Flametta.« –

Flametta nahm einen kleinen Stecken, und ging auf mich los, mit den Worten:

»Fort, fort, aus der Mädchen-Stube!«

Einer solchen Übermacht konnte ich nicht widerstehen, und verließ die Kinder. Vor der Türe rief ich:

»Violette kommen Sie doch zu mir in den Garten.«

Da rief sie heraus: –

»Vielleicht – ja, ja ich komme.« –

Im Hause sah ich wenige Diener, nur zwei hübsche Mädchen in der Küche: sie lachten, als sie mich sahen, und versteckten sich, ich mußte mich zusammennehmen, und rief der einen zu: –

»Guten Morgen, Mädchen, war heute nacht dein Schatz bei dir?«

»Ei gewiß!« sagte sie. –

Ich ging über den geräumigen Hof nach dem Garten, und sah unterwegs mit einem seltsamen Gefühle zum Tore hinaus, durch das ich gestern abend in diese neue Welt eingegangen war.

Da ich durch den Garten an einem Seitengebäude des Schlosses hinging, wurden mir aus einem Fenster einige Kränze von Weinlaub auf den Kopf geworfen, und da ich hinaufblickte, sah ich Violetten und Flametten, die sich lachend zurückgezogen. –

Auf der rechten Seite des Gartens war ein großer Teich, in dessen Mitte ein hoher alter Turm stand; da ich näher hinging, bemerkte ich noch auf der andern Seite des Turms eine kleine Insel, auf der ein weißes, mit Laub umzogenes Häuschen durch dichte Gebüsche hervorsah, aber ich mochte mich nicht in den gebrechlichen Kahn wagen, um hinüberzufahren – ich ging deswegen nach dem großen Gartenhause, das vor mir auf einer Terrasse stand.

Da ich in den Saal trat, erblickte ich einen jungen Kapuziner-Mönch, der mit einem Teller voll Trauben in der Hand essend auf und nieder ging: wir grüßten uns. –

Ich: Guten Morgen, Ihr Hochwürden!

[423] Er: Ich wünsche Ihnen, wohl geschlafen zu haben. –

Ich: Sie genießen den angenehmen Morgen. –

Er: Ich bin des Gärtners Bruder, und trete manchmal hier ab, wenn mich mein Beruf vorüberführt: Sie sind wohl der Herr, für den das gnädige Fräulein die Blumen holte. –

Ich: War es das Fräulein, die mir die Blumen brachte? –

Er: Kennen Sie sie noch nicht? Sie sagte mir doch, sie habe gestern abend mit Ihnen gesprochen. –

Ich: Ich lag noch im Bette.

Er: So! – Ich habe viel Gutes von Ihnen durch das Fräulein gehört.

Ich: Ich nehme immer Anteil an der Familie meiner Freunde.

Er: Sind Sie anverwandt mit der gräflichen Familie? –

Ich: Nein, ich bin der Freund der Gräfin.

Er: Der Gräfin? –

Ich: Wundert Sie das?

Er: Sie verzeihen, Sie müssen mich verstehen; ich vermute, daß Sie der Gräfin sicher das Bessere raten – und besonders in Hinsicht der Fräulein.

Ich: Die Gräfin ist Mutter, und eine kluge Frau. –

Er: O, sie ist eine Dame von vielen Gaben, nur etwas weltlich gesinnt – und das Wohl ihrer Kinder könnte ihr mehr am Herzen liegen. –

Ich: Sie hat mir mit vielem Anteil von Violetten gesprochen. –

Er: Sprechen – sprechen – aber das Kind geht zu Grund! Ich will nicht sagen, als solle sie den Katechismus auswendig können, und alle Heiligen glauben, die Welt ist weiter gegangen, aber die Moral –

Ich: Sie scheinen aufgeklärt, das ist selten in Ihrem Rocke.

Er: Sie sind gütig, sollen wir ewig fort in altem Unsinn brüten? –

Ich: Nennen Sie die Geheimnisse Ihrer Religion alten Unsinn, Herr Pater? – das ist neuer Unsinn. –

Hier trat die Gräfin herein.

Sie ging auf mich zu und küßte mich – der Mönch zog sich zurück – und die Gräfin wendete sich zu ihm mit den Worten: –

»Ei, Pater Sebastian! sein Sie nicht böse, daß ich Sie nicht auch küsse; ich hätte es wohl getan, aber Sie verdienen es nicht.«

[424] Der Mönch sagte beschämt: –

»Frau Gräfin, ich verdiene solche Freundlichkeit nicht, weil sie mein Stand verbietet, aber Ihren Unwillen verdiene ich auch nicht.« –

Die Gräfin erwiderte hierauf gelassen: –

»Herr Pater, Sie verderben meine Violette, Sie setzen dem Mädchen Gespenster in den Kopf, und nehmen ihr den schönen Teil ihrer Religion, der für Kinder gemacht ist. – Sie geben ihr für die goldnen Früchte des Himmels leere moralische Nußschalen, und verführen mein Kind.« –

ER: Verführen! Frau Gräfin, das ist ein schändliches Wort. –

SIE: Kein Wort ist schändlich, die Tat ist schändlich! Sie quälen das Mädchen, und fragen sie nach allen sieben Sachen, so daß sie keine Ruhe mehr vor sich hat, und sich allerlei unreif einbildet, was sich reif ausbilden sollte – und so rauben Sie ihr ihre Unschuld – und verführen sie – ich bitte Sie daher, dem Seelenheil meiner Violette nicht länger nachzustellen, denn ihre Seele ist gesund, hat kein Heil nötig, und Sie stiften hier wahres Seelenunheil – wenn Sie es gut meinten, so kann ich nichts dafür, daß Sie es schlecht machten. – Leben Sie wohl. –

Der Mönch ging weg; – die Gräfin rief den Gärtner und sagte ihm: –

»Er kann heute nachmittag in die Stadt gehen, und seinem Bruder ein Dutzend Schnupftücher kaufen; sage Er ihm dabei, ich und Violette hätten sie gesäumt, und schickten sie ihm zum Danke für seine Bemühungen: aber kaufe Er feine weiße, und bitte Er ihn, Er möge mir zuliebe sich das Tabakschnupfen abgewöhnen, es steht ihm zu seiner feinen Miene und zu seinem hübschen Barte gar nicht gut.«

Der Gärtner lächelte und ging weg. –

Ich war über die Heftigkeit der schönen leichtfertigen Frau verstummt, aber ihr munterer Nachsatz an den Bruder des Gärtners tat mir wohl, sie gewann durch diese Szene sehr in meinen Augen. – Da der Gärtner weg war, nahm sie mich bei der Hand, und sagte, indem sie mich fortzog:

»Sehen Sie, wie ich zanken kann, sollte man sich es vorstellen? Sie sind wirklich erschrocken, daß das, was ich Ihnen gestern von meinen Grundsätzen sagte, mein Ernst zu sein [425] scheint. – Gott weiß, woher ich die Grundsätze habe, sie sind, glaube ich, meine Natur; ich glaube, es sind solche, die man nicht für Grundsätze hält, und das ist das Beste.« –

Sie hing an meinem Arm, und lief mit mir die Terrasse herab. Violette und Flametta begegneten uns, und die Gräfin führte uns alle nach dem Teich.

»Sie sollen mich nun auch nach meinem politischen Glauben kennenlernen«, sagte sie, als wir an den baufälligen Kahn kamen. Sie machte Anstalt hineinzusteigen. –

»Er wird uns nicht alle tragen.« –

Die Kinder sprangen mit ihr hinein.

»Nun, mein Kind,« sagte sie freundlich zu mir, »willst du allein draus bleiben, adieu, so fahr ich fort.« –

Sie sagen das so liebenswürdig – »Und wenn wir miteinander untergehen, wär es ein freundlicher Tod.« –

Mit diesen Worten stieg ich in den Kahn, die Gräfin ruderte, und sagte:

»Dies ist meine ganze Seemacht, ich wollte Sie mit meinem politischen Glauben bekannt machen, auf der Insel wird sich es aufweisen: – damit Sie sich aber zuerst etwas abhärten, wollen wir einmal um den Teich fahren. Violette, singe ein Liedchen!« –

Violette sang folgendes Lied: –


Zu Bacharach am Rheine
Wohnt eine Zauberin,
Sie war so schön und feine
Und riß viel Herzen hin.
Und brachte viel zu schanden
Der Männer rings umher,
Aus ihren Liebesbanden
War keine Rettung mehr.
Der Bischof ließ sie laden
Vor geistliche Gewalt –
Und mußte sie begnaden,
So schön war ihr Gestalt.
[426]
Er sprach zu ihr gerühret:
»Du arme Lore Lay!
Wer hat dich denn verführet
Zu böser Zauberei?«
»Herr Bischof, laßt mich sterben,
Ich bin des Lebens müd,
Weil jeder muß verderben,
Der meine Augen sieht.
Die Augen sind zwei Flammen,
Mein Arm ein Zauberstab –
O legt mich in die Flammen!
O brechet mir den Stab!«
»Ich kann dich nicht verdammen,
Bis du mir erst bekennt,
Warum in diesen Flammen
Mein eigen Herz schon brennt.
Den Stab kann ich nicht brechen,
Du schöne Lore Lay!
Ich müßte dann zerbrechen
Mein eigen Herz entzwei.«
»Herr Bischof, mit mir Armen
Treibt nicht so bösen Spott,
Und bittet um Erbarmen,
Für mich den lieben Gott.
Ich darf nicht länger leben,
Ich liebe keinen mehr –
Den Tod sollt Ihr mir geben,
Drum kam ich zu Euch her. –
Mein Schatz hat mich betrogen,
Hat sich von mir gewandt,
Ist fort von hier gezogen,
Fort in ein fremdes Land.
Die Augen sanft und wilde,
Die Wangen rot und weiß,
[427]
Die Worte still und milde,
Das ist mein Zauberkreis.
Ich selbst muß drin verderben,
Das Herz tut mir so weh,
Vor Schmerzen möcht ich sterben,
Wenn ich mein Bildnis seh.
Drum laßt mein Recht mich finden,
Mich sterben wie ein Christ,
Denn alles muß verschwinden,
Weil er nicht bei mir ist.«
Drei Ritter läßt er holen:
»Bringt sie ins Kloster hin;
Geh, Lore! – Gott befohlen
Sei dein berückter Sinn.
Du sollst ein Nönnchen werden,
Ein Nönnchen schwarz und weiß,
Bereite dich auf Erden
Zu deines Todes Reis'.«
Zum Kloster sie nun ritten,
Die Ritter alle drei,
Und traurig in der Mitten
Die schöne Lore Lay.
»O Ritter, laßt mich gehen
Auf diesen Felsen groß,
Ich will noch einmal sehen
Nach meines Lieben Schloß.
Ich will noch einmal sehen
Wohl in den tiefen Rhein,
Und dann ins Kloster gehen
Und Gottes Jungfrau sein.«
Der Felsen ist so jähe,
So steil ist seine Wand,
Doch klimmt sie in die Höhe,
Bis daß sie oben stand.
[428]
Es binden die drei Ritter
Die Rosse unten an,
Und klettern immer weiter
Zum Felsen auch hinan.
Die Jungfrau sprach: »Da gehet
Ein Schifflein auf dem Rhein,
Der in dem Schifflein stehet,
Der soll mein Liebster sein.
Mein Herz wird mir so munter,
Er muß mein Liebster sein!« –
Da lehnt sie sich hinunter
Und stürzet in den Rhein.
Die Ritter mußten sterben,
Sie konnten nicht hinab,
Sie mußten all verderben,
Ohn Priester und ohn Grab.
Wer hat dies Lied gesungen?
Ein Schiffer auf dem Rhein,
Und immer hats geklungen
Von dem drei Ritterstein: 7
Lore Lay, Lore Lay, Lore Lay,
Als wären es meiner drei.

Als wir an der Insel ausgestiegen waren, sagte die Gräfin: »Der Kahn ist so schlecht, aber ich liebe ihn und mag keinen andern, ich bin oft recht vergnügt auf ihm gefahren.«

Nun kamen wir an das kleine runde Haus, es war ganz mit Epheu überzogen, auf dem runden Dache stand ein geflügeltes Pferd, das sich in die Höhe bäumt, auf ihm ein nackter Jüngling, und vor ihm zwei Liebesgötter, die das Pferd am Zügel niederziehen, auf dem Fußgestell aber war die Inschrift:


[429] Friedrich dem Einzigen


»Sehen Sie meinen politischen Abgott, ich freue mich oft über meinen Witz, ich wollte den neugierigen Baumeister nicht in mein Geheimnis sehen lassen, denn eigentlich müßte es heißen, Friedrich dem Meinigen.

Doch Lieber! sei'n Sie nicht böse, weil ich Sie wissen lasse daß ich vor Ihnen schon liebte.« –

Wir gingen in das Häuschen, in dem es recht freundlich war aber da ich wußte, daß ich über einem Grabe saß, was mir die Gräfin verschwiegen hatte, konnte ich nicht ganz froh werden, – und das zubereitete Frühstück schmeckte mir nicht recht. –

Siebenunddreißigstes Kapitel

In dieser Umgebung lebte ich zwei Monden, während denen ich mehrere Streifzüge an den freudigen Ufern des Flusses und in das Land einwärts machte.

Ich trat stets mit einer eignen Empfindung solche Wallfahrten an, denn die bunte Einsamkeit des Lebens bei der Gräfin machte mich immer zu einem weltfremden Menschen wenn ich durch die ruhige große Natur ging, die gar keine Gattung von Prinzipien hat, und deren Lust und Leid sich in einen schönen Wechsel von Jahreszeiten flechten.

So oft ich zurückkehrte, behauptete die Gräfin, ich sei ein ganz neuer unbekannter Mensch, sie habe aber eine Ahndung oder Erinnerung von einer alten Bekanntschaft mit mir. –

»Gott, wie werde ich alt,« sagte sie einmal, »schon wieder jemand, der mir bekannt scheint, und ich weiß gar nicht, wo ich Sie zum erstenmale gesehen habe.«

»Es war am Abend, Madame; war es nicht in der Dämmerung, begegneten wir uns nicht zu Pferde am Rhein?«

»Sie haben ganz recht, seien Sie mir willkommen.« –

Dann küßte sie mich freundlich, ich schien wieder so ernsthaft als das erstemal, und sie bekehrte mich wieder sehr emsig.

Violette war immer stiller geworden in der letzten Zeit, und schien sich mit einer schmerzlichen Zuneigung an mich zu hängen. Das Mädchen machte mir bange und jetzt, da ich [430] meine ganze damalige Lage ruhig übersehe, bemerke ich mit Scham und Reue, warum ich diese Bangigkeit zu vermeiden suchte. –

Violette mochte sein, wie sie wollte, war nicht der erste Abend im Schlosse, und meine Unterhaltung mit ihr, das einzige, auf das ich mit reiner Freude zurücksehen konnte? – Wie hatte sich die Jungfrau in ihrem Streite mit der Lust mit ihrem Reinsten in mich gerettet, und was versprach ich ihr, das ich ihr nicht hielt! – Die Gräfin mochte sein, wie sie wollte, aber mit ihrem Kinde zusammen war sie schlecht. – Das Leben eines genialischen Menschen kann aus sich selbst hervorgeführt, mit eigner Kraft verteidigt und durchgesetzt, ein gutes selbstgedeihliches Leben sein, denn es ist das Leben der Eigentümlichkeit, aber die Jugend kann sich an ihm nicht entwickeln; sie ist eine Allgemeinheit, und muß an dem Frühling und nicht am Menschen hervorwachsen; denn das letztere heißt der Psyche die Flügel auseinanderzupfen, oder ihr mit einem künstlichen Lichte die Sonne ersetzen wollen, ohne die Rücksicht, daß sie hineinfliegt und stirbt. –

Brachte ich Violetten nicht zur völligen Uneinigkeit mit sich, indem mein Verhältnis mit ihrer Mutter immer ihrer unschuldigen Neigung zu mir entgegentrat? –

Ich konnte in der letzten Woche gar nicht mehr offen mit ihr reden, denn ich bemerkte, daß sie stets verlegener ward, wenn ihre Mutter in ihrer Gegenwart mit mir vertraulich war. –

Diese Empfindung war es, die zu meinen Spazierritten mitwirkte, und ich wünschte sogar einigemal, wieder zu Hause zu sein.

Das letztemal, da ich ausritt, nahm ich meinen Weg nach einem der schönsten Punkte am Rheine, dem Ostein, einem schönen Lustschlosse auf dem Niederwald, einem hohen Berge, dem Städtchen Bingen gegenüber; dieser Berg macht den Winkel, um den sich hier der Rhein scharf herumwendet.

Der Besitzer des Schlosses war nicht gegenwärtig, und obschon ich den Mann zu kennen wünschte, der eine solche Anlage bloß zu seinem Vergnügen machen durfte, war es mir lieb, daß er nicht hier war. Ich hätte ihn hier meines Dankes ohne einigen Neid nicht versichern können.

[431] So tröstete ich mich und dachte, er habe dieses Werk vollbracht, wie jeder, wenn er es gleich nicht weiß, durch irgend etwas ein höchst wichtiger Mensch ist, so daß ich mir hieraus die Ursache erkläre, warum die Worte: Es war ja ein gemeiner Mensch, keinen Totschlag entschuldigen. Diese Wichtigkeit des Lebendigen ist mir der einzige Grund irgend eines Rechtes, so wie mir der einzige Grund der Moral ist, daß der Mensch aus den Augen heraussieht, daß er ein Repräsentant des Lebens ist. – Doch ich kehre zurück. –

Das kleine Lustschloß ist ein wahres Lustschloß, denn es ist voll lustiger Einrichtungen, voll geheimer Türen, verborgner Treppen und doppelter Wände; man kann darin herumirren, wie ein verwünschter Prinz, und ich finde diese luftige, scherzende Gattung von Bauart hier recht angebracht, denn es würde in jedem Falle eine Stümperei geworden sein, hätte man hier ein gediegenes Gebäude hersetzen wollen, wo selbst kaum des Menschen Herz sich erhalten kann, gegen die vollen reichen Ansichten der Natur.

Wo die Architektur der Natur so erhaben ist, zwischen den Massen der Felsen, den Ergüssen der Aussichten, den brausenden Wäldern hätte nicht leicht ein Gebäude stehen können, ohne plump und mühselig auszusehen, das im mindesten affektieren konnte, als wolle es etwas bedeuten. Ja ich glaube, es ist ein äußerst trotziger, melancholisch hoffärtiger Gedanke, auf solchen herrlichen Gesichtspunkten der größten und reichsten Natur, die durch unendliche mannigfaltige Freiheit harmonische Unordnung der Aussicht mit einer prahlend wichtigen Bausymmetrie äffen zu wollen, die in solcher Zusammenstellung nur unverdaute Mathematik an der Stirne trägt.

Ein leichtes luftiges Freudengezelt müßte hier aufgeschlagen werden, ein ergötzlicher Feenpalast, voll Mutwill und koquetter Mädchenhaftigkeit, doch ohne Prüderie und Sittenpedanterei, – und so ist es hier; man möchte sich umsehen, wo die fröhliche Gesellschaft geblieben ist, die hier in voller fürstlicher Freude, mit Maitressen, Haiducken, Laufern, Opernmädchen und einem witzigen Hofnarren, gehaust hat. – Wo ist die junge etwas schmachtende Gräfin, die hier an den militairisch schönen Prinzen denkt? – wo ist der muntere Dichter, der hier Singspiele dichtet, und Elegien schreibt, weil er in die junge Gräfin verliebt[432] ist? – Ich wandelte durch die Stuben mit großen Spiegeln in buntgemalten Bretterwänden – verirrte mich auf den kleinen Treppen von Boudoir zu Boudoir; in den Weiberstuben berührte ich mit Herzklopfen umherliegende Kleinigkeiten, zerrissene Liebesbriefchen, Locken, und gemachte Blumen, welche die holden leichten Wesen von Frühling zu Frühling, wie den bunten Staub der Schmetterlingsflügel, abstreifen. –

Und verzeihen Sie – aber es ist nicht anders – wenn ich es hin und her überlegte und, das ganze lustige Haus in einem Zuge zu genießen, mir einen Plan erdachte, so war es der, mit einem Schock nackter Mädchen, voll Freude, Witz, Tanz und Sing-Talent, drinne Haschen zu spielen.

Auf dem höchsten Punkte des Schlosses steht ein Belvedere, und ein gutes Perspektiv, für die, welche das ganze Buch nicht verstehen, einzelne Stellen erklären wollen, und gerne wüßten, ob auch dieses oder jenes Städtchen mit hier notiert wäre.

Dieses Türmchen ist die Spitze des Schlosses, und die Pointe des ganzen epigrammatischen Gebäudes, das wie ein guter freundlicher Einfall hier oben hingeflogen ist, und mir wie das Lied eines Turmdeckers auf dem Münster vorkömmt.

Das Schlößchen scheint sich, wie ein fröhliches scherzhaftes Mädchen in den Mantel von Königen, hier in die herrlichen Berge zu verstecken, mit den Worten: Ich bin auch da, liebt mich; am Ende, wenns Nacht wird und nicht grade der Mond scheint, wenns draußen stürmt, kommt ihr doch zu mir. –

Ich sprach von dem Schlosse zuerst, weil es heißer Mittag war, da ich heraufkam, und ich mich in den kühlen Stuben erfreute.

Als sich der Abend nahte, ging ich in den Wald, der, auf wenigen Punkten von der Kunst berührt, doch nichts von seiner Schönheit verlor. Seine Grenze um den Berg herum ist die unbeschreibliche Aussicht, die alle Worte übersteigt. Man kann nicht zurück, der dunkle Wald liegt ängstlich hinter einem. Nirgends ward mir meine Geschichte so erbärmlich und so klein. Ich glaubte, hier zu stehen, sei der Zweck und das Ende meines Lebens. – Wie ein kleiner Bach sich durch dunkle Täler, durch Klippen und Felsen stille oder nur brausend hinwindet, weil seine Ufer ihm weichen, oder ihm widerstreben, wie er [433] endlich sich in eine unabsehbare See, sich selbst vernichtend, hinstürzet, so stand ich hier.

Alles, alles freudig hingeben, Freude und Lust, Freundschaft und Liebe, alle stolze Leiden der Demut, alle Träume und Pläne freudig hingeben in dieses Wehn der Luftströme, diese Tiefe voll großer Natur, diese freundlich herandringende Ferne, war meine letzte Reflexion, meine Begierde war Schweben, und ich sah mit gefährlichem schwindelnden Neide den wilden Tauben nach, die sich freudig hinabstürzten, wo der Rhein den Fuß der grünen Berge küßte, deren Häupter von seiner rauschenden Umarmung trunken zu drehen schienen, und es war mir, als walle die Seele des kräftigen Stromes herauf durch die Adern des Berges, wie warmes lebendiges Blut, und der Boden lebe unter mir, und alles sei ein einziges Leben, dessen Pulsschlag in meinem Herzen schlage.

Hier hat alles sein Ende, und alles ist gelöst, hier ist alles vergessen, und ein neues Leben fängt an. – Der Mensch ist das Höchste nicht im Dasein, sonst wäre keine Mühe in ihm, und keine Stufung der Vollkommenheit: der Mensch ist nicht frei, er könnte sonst nicht wieder zurück ins enge dunkle Haus, er stürzte sich eher hier hinab. – Gefangen sind wir, wie das Weib, das ewig nach den Schmerzen der Geburt sich gerne wieder zum Werke der Lust hinwendet, gefangen sind wir, wie Leichtsinn und Schwermut, zwischen Schmerz und Lust, und die Freiheit besteht in der Wahl zwischen zweien, wo uns das eine schon so ermüdet, daß wir das andere gern ergreifen – und was ist endlich die heiligste stolzeste philosophische Ansicht als die Krankheit der Flamme, die zu verlöschen droht, um sich selbst zu sagen: Ich bin das Licht und entzünde alles. – Man kann höchstens so eine traurige Ansicht haben, wenn man nach Hause geht, und sich mit Hoffart trösten will, oder wenn man kömmt und sich vornimmt, doch etwas Besseres zu sein; – aber was hilft es endlich, wenn man hier steht, da muß das traurige Zeug, der konsequente eitle Trost doch zurückbleiben, denn wahrlich, er ist das verdienstliche Bemühen der schweren Arbeit, und es wäre für jeden, der hier steht, eine sehr mitleidswürdige moralische Betrachtung, an die Verdienste der Philosophen und Gelehrten zu denken. –

Fast möchte ich glauben, daß das ruhige volle Genießen des [434] einfachen unschuldigen Menschen der Gipfel des Lebens ist, und ich will mich bestreben, ein Trinker zu werden, und mir meine Weingärtner zu halten.

Der Punkt, wo ich stand, war ein kleiner runder Tempel auf fünf Säulen, die voll von den Namen der Menschen standen, die eine solche Minute in ihrem Leben hatten – und wenn unter den vielen Hunderten nur einem zu Mute war wie mir, so sind zwei Menschen hier ruhig geworden, und besser. –

Etwas später ging ich nach einem andern Punkte, einem alten Turme, der auf dem Winkel steht, der den Berg macht und den Punkt bestimmt, auf dem sich der Rhein schnell und heftig wendet.

Die Aussicht ist hier nicht so ergossen, sie ist nicht ein ruhiges, willenloses Meer, das wie ein lebendiges unendliches Element ohne Fortschreiten durch die Größe schon fern und nah ist. Sie ist tätiger, drohender gegen den Stolzen, umarmender und erwärmender für den Liebenden.

Dort wird man vernichtet, man vergißt sich, und muß trunken ertrinken; hier drängen sich die Berge heran, die beiden Ufer wollen sich die Arme reichen oder die Stirne bieten, die Brust der Berge will zusammendringen, um den reißenden Fluß zurückzuhalten, der ihnen hier zu entfliehen scheint.

Dort ist man hingegeben, hier rückt die Natur heran, und bietet einem die kräftigen Hände, und man rüstet sich im Herzen, die Riesin zu empfangen.

Der alte Turm ist mit einem bequemen Saale versehen, der ganz in dem derben Geschmacke jener braven Zeit eingerichtet ist, und auf einem kleinen Pulte am Fenster fand ich das Heldenbuch, und in einem Schranke in der Wand eine schöne Sammlung der neuern Werke, welche die Reste der Poesie des deutschen Mittelalters enthalten. –

An die Wand hatte der Graf selbst die Worte geschrieben: »Was waren das für gesunde Menschen, welche solcher Natur gegenüber stark warden, die uns heutzutage nur rührt und erschüttert.« –

Der Wechsel der Aussicht machte einen sehr wohltätigen Eindruck auf mich, ich war mir hier als ein besserer Mensch zurückgegeben. Ich war dort mit unruhigem Gemüte hinausgesegelt, [435] und hier setzte mich das Meer geprüft und reich ans Land. Ich erkannte hier, wie viel Anteil der Mensch an der Natur hat, denn hier, wo alles näher an mich herantrat, sah ich in den eignen Busen, und fühlte, wie ich größer geworden war, seit wenigen Stunden. –

Der Sonnenuntergang, zwischen den Felsen und Wäldern, war eine Zwischenrede der Natur in mein Leben, ich war entzückt, wie ein Heiliger, die Flammen und Gluten brachen sich so geisterisch, so tausendfaltig lebendig, gestaltlos und beweglich in der heftig und rauh gruppierten Wildnis, und das Rauschen des Rheins stieg so mächtig in der allgemeinen Stille, als höre ich das Sieden der flammenden Geister um mich her, die in einem geheimnisvollen feurigen Tanze sich gaukelnd über die dunkeln Wälder und Schluchten hinschleuderten. –

Ich sah mit einer mir noch unbekannten Ruhe zu, wie ein Licht nach dem andern dem Schatten wich, und fühlte, wie sich zugleich im Ebenmaße mein Gemüt veränderte.

Jedem weichenden Lichte zog eine Erinnerung nach, und es schien mir, als bezeichne ich die Stellen, von denen eine Farbe des Glanzes geschwunden war, mit Dingen, die mir lieb gewesen oder noch waren.

Nun war es ganz ruhig, nur glänzte noch die Pforte, durch die alle die Flammen hingezogen waren, und auch diese schloß sich mit der Aussicht –, ich dachte an Violetten, und entschloß mich fest, nicht wieder zu der Gräfin zurückzukehren. – Ich nahm mir vor, graden Weges von hier zurückzureisen, denn ich schämte mich meines Verhältnisses mit der leichtsinnigen Frau, sie schien mir so weit unter mir, und ich konnte nicht begreifen, wie sie mich verblendet hatte.

Hier rief mich ein Diener aus dem Schlosse zurück, er sagte mir, daß jemand angekommen sei, der mich sprechen wolle. –

Ich ging mit ihm zurück, und fand Violetten; der Gärtner hatte sie auf ihr dringendes Begehren hierher geführt. –

Sie überraschte mich auf eine unangenehme Art, und der gütige Eindruck der Natur auf mein Gemüt ward durch sie gewaltsam unterbrochen. –

Als wir allein waren, blieben wir noch lange stumm, bis sie sich mir mit Tränen näherte, und mich um Verzeihung bat, daß [436] sie hierherkomme, um meine Freude zu stören – sie müsse mir Vorwürfe machen, daß ich ihr Hülfe versprochen, und sie noch tiefer verstrickt habe.

Sie zeigte mir mit geschämiger Umständlichkeit, wie ich so verderblich für sie mich ihrer Mutter ergeben hätte, wie sie nun ihre Mutter hassen müsse, die ihr ihren einzigen Freund genommen: – »Ach,« sagte sie, »Sie selbst sind mir ein peinlicher Gedanke, ich muß immer an Sie denken, und Sie haben mich doch so sehr gekränkt!« –

Ich sprach ruhig mit ihr, und sagte, was ich für wahr hielt, wie ich das alles empfände, und wie ich mich herzlich schämte, mich so hingegeben zu haben; – doch gestand ich ihr auch offen, wie sie selbst einigen Teil dran habe, obschon in aller Unschuld, denn ihre Äußerungen gegen mich hätten so zwischen kindischer Naivetät, Frömmigkeit und Sinnlichkeit geschwankt, ihre Reden gegen mich hätten am ersten Abende schon eine solche Unbestimmtheit verraten, daß ich oft nicht gezweifelt habe, sie sei eine angehende Koquette, und schon so gut als verloren. –

Violette hörte das alles ruhig an. »Sie haben recht geglaubt,« sagte sie, »hätte ich mich nicht in Ihnen betrogen gefunden in jener ersten Unterhaltung, so wäre ich es wohl geblieben; aber ich erwartete, daß Sie mich lieben würden, und da ich eben dieser Liebe meine Mutter aus dem Wege rücken wollte, zeigte ich mich Ihnen in einem unschuldigen Gewande, um Ihnen meine Mutter verhaßt zu machen; aber ich konnte mich gegen Ihre einfachen Antworten und Fragen nicht erhalten, und Sie wurden, was ich nicht wollte, nur gerührt; ich fühlte selbst, daß ich, als ich von meinem Vater und meiner Mutter sprach, mehr sagte, als ein Kind sagen kann; dennoch konnte ich mich nicht mehr fassen, und redete gradeheraus, wie es mir mein Verdruß eingab; ich war in meinem Leben nicht so wunderbar zerrüttet als an diesem Abend, ich fühlte, wie ich so gar nichts tauge, um zu lügen. – Meine Mutter hatte mich wirklich zu Ihnen geschickt, und ich stellte mich, als ging ich ungern, um ihr allen Verdacht der Eifersucht zu nehmen – aber wie ist alles geworden? – Es ist wahr, daß jene Angst in mir war, und ich habe lange gestritten mit der Andacht, aber das ist nicht mehr – meine [437] Mutter kennt mich nicht, sie glaubt mich teils schlechter, teils besser, als ich bin. – Sie haben etwas Fürchterliches in mir hervorgebracht, – ich faßte mich wieder zusammen und wendete mich mit Gewalt zu Gott. – Ich habe die ganze Nacht gebetet und geweint nach jenem Abend, – und als ich Sie am Morgen sah, mußte ich mich meiner und Ihrer schämen. – Doch ich muß Ihnen noch sagen, Sie sind nicht zufällig zu uns gekommen, meine Mutter hat Sie aufgesucht, – wir haben Sie auf einem Balle gesehen, und sie entschloß sich gleich, Sie zu besitzen, und auch ich faßte meine kindischen Anschläge. – Ich habe in der letzten Zeit Ihren Mißmut bemerkt, und so sehr es mich schmerzte, daß Sie mir aus dem Wege gingen, so sehr war es mir lieb, daß Sie über Ihre Lage zu reflektieren schienen. Ich fühle, daß ich zu Grunde gehen werde, – ich fühle, daß Sie mir helfen können.« –


Ich breche hier Violettens Worte ab, die sich immer mehr verwirrten – sie konnte bald nicht mehr sprechen, und brach in bittre Tränen aus. –

Meine Verlegenheit konnte nicht kleiner sein als die ihrige, ich fühlte, daß sie auch diese Rede mit einer Standhaftigkeit und einer ernsten Gleichheit reden wollte, der sie, wie jener naiven, unschuldigen Rolle, nicht gewachsen war; ihr armes verwirrtes Gemüt, das mit Leidenschaft, Selbstverachtung, und Unschuld, und Vorsatz stritt, – kam endlich zu Tage. –

Dies arme Geschöpf war auf eine traurige Weise in die Höhe getrieben worden – ich konnte nichts erwidern, denn auch ich stand sehr unwürdig, ja unwürdiger als sie, da –

Sie kniete vor mir nieder, und bat mich heftig, sie mitzunehmen, oder sie umzubringen; sie wolle mir wie eine Magd dienen, ich solle sie mißhandeln, aber zu ihrer Mutter könne sie nicht zurück. –

Ich fragte sie, ob ihre Mutter wisse, daß sie hier sei, und erfuhr, daß ihre Mutter es nicht wisse, daß sie verreist und sie gleich nach ihrer Abreise hierher gegangen war, um mir alles zu sagen, wie es ihr Gott in den Mund legen würde. –

Ich dachte nun nach, wie ich in der Sache handlen sollte, aber ich fand keinen Ausweg, immer verirrte ich mich in unnütze [438] Betrachtungen, oder ertappte mich auf einer Bequemlichkeit, mich herauszuziehen.

Währenddem war es ganz dunkel geworden, Violette hatte sich mir weinend zu Füßen gesetzt, und meine Hand ergriffen, und wir waren beide in jene dumpfe Sorglosigkeit gefallen, die einen geselligen Schmerz unter so vertraulichen Umständen leicht begleitet.

Ich fuhr auf, denn ich hörte ein Pferd im Hofe ankommen, ich sah zum Fenster hinab, und es war die Gräfin. –

»Violette! Ihre Mutter«, sagte ich bestürzt; »wir müssen uns nicht verraten, Ihr Hiersein wird Sie leicht entschuldigen, sei'n Sie froh und munter, so gut Sie es können, ich will für Ihr Wohl denken.« –

Violette sprang von der Erde auf. –

»Gott! Gott!« sagte sie, und ging mit mir ihrer Mutter entgegen. –

Diese war, wie immer, leichtfertig und zierlich gemein, sie scherzte mit Violetten, und freute sich, sie hier zu finden: »Dies ist dein erster Geniestreich,« sagte sie, »und ich hoffe für dich.« –

Wir brachten den Abend so gut zu, als ich und Violette heuchlen konnten – der Schloßvogt wies uns einige Stuben zum Schlafen an – und wir trennten uns.

Dies war die fürchterlichste Nacht meines Lebens: ich wußte mir nicht anders zu helfen, als daß ich der Mutter einen Brief schrieb, in dem ich ihr alles sagte, was ich empfand, und sie dringend bat, ihre Tochter von sich zu entfernen.

An Violetten schrieb ich auch und suchte sie aufzurichten, und ihren Entschluß zum Guten zu befestigen. Dann ging ich hinab, bezahlte den Schloßvogt, es war drei Uhr des Morgens, und ritt weg. –

Von meiner Reise lassen Sie mich schweigen, ich reiste Tag und Nacht nach Haus und war mehr tot als lebend.


Ich zweifle nicht, daß viele meiner Leser unwillig sein werden, daß ich Violetten verließ, jetzt bin ich selbst unwillig darum, aber damals war es nicht anders möglich, wenn ich nicht selbst zu Grunde gehen wollte, ich hatte mich zuerst zu retten.

Man soll hier nicht denken, als habe mich mein Leben mit [439] der Gräfin um seiner selbst willen gereut, nichts weniger, aber ich fühlte, daß dies freie Leben einen Charakter annehmen wollte, und darüber erschrak ich.

Die freie Luft ist wohltätig, aber eine gebundne Unbändigkeit, die mich mit Zügellosigkeit zügelt, ist das Verderblichste und alles Gute geht dadurch zu Grunde.

Achtunddreißigstes Kapitel

Als ich zu Hause eintraf, fand ich Kordelien sehr krank, und sie starb bald darauf in der freien Luft, unter der Eiche, am hinteren Eingange des Haines, der das Jägerhaus umgiebt; sie hatte sich dort hinbringen lassen. –

Ich war auf dem Gute, als sie starb, denn meine Gegenwart war ihr auf dem Jägerhause beschwerlich. – Als ich sie einige Tage vorher besuchte hatte, reichte sie mir, ohne mehr als einige Worte zu sprechen, einen versiegelten Brief, den ich nach ihrem Tode erbrechen sollte.

Sie war während meiner Abwesenheit mehreremal am steinernen Bilde meiner Mutter gewesen, und der alte Anton sagte, er habe sie einmal dort heftig weinend gesehen.

An der Eiche hatte sie nachts oft gestanden, und sie war überhaupt ihr liebster Aufenthalt. Sie hatte mehrere große Äolsharfen in der Eiche anbringen lassen, und sich besonders mit Blumenzucht und Gesang unterhalten.

Der Jäger sagte mir, als ich auf die Nachricht ihres Todes hinüberging, daß sie ihre Stube versiegelt habe, ehe man sie nach der Eiche geführt habe; es sei gegen Abend gewesen, und um sechs Uhr sei sie dort gestorben.

Als ich ihren Brief erbrach, las ich nichts, als daß sie wünschte, unter der Eiche begraben zu werden, und mich beschwor, ihre Stube nicht eher zu öffnen, bis ihr Name entdeckt sei.

Sie mochte damals ohngefähr vierzig Jahre alt sein; ihre Figur war schlank, ihr Haar schwarz, und ihr Auge lebhaft. In der letzten Zeit ihres Lebens sprach sie beinahe gar nicht. Sie ward unter der Eiche begraben. –

Bald darauf erhielt ich Briefe von meinem Vater aus Italien, [440] der mich aufforderte, ihn zu besuchen, und ich reiste gerne und gleich ab. –

Hier liegt ein Zeitraum von einigen Jahren, die ich in Italien bis zu meines Vaters Tod zubrachte.

Neununddreißigstes Kapitel

Da ich nach Deutschland zurückgekommen war, nahm ich meinen Weg zuerst nach dem Rheine, ehe ich nach meinem Gute ging. Ich fand eine traurige Veränderung, der französische Revolutionskrieg hat seine Verheerungen dort ausgebreitet; die Natur war noch dieselbe, aber die Menschen nicht mehr. –

Ich ritt abends mit pochendem Herzen nach dem Schloß der Gräfin; der Weg war aufgerissen, und rings die Weinberge zerstört, das Tor stand offen, wie damals, aber die Torflügel waren zerschmettert, der Hof war mit Gras bedecket; ich rief nach jemand, und ein alter Diener kam mir mit einer Laterne entgegen; ich fragte nach der Gräfin.

»Die ist seit anderthalb Jahren tot,« war die Antwort, »das Schloß steht unter der Aufsicht ihrer Schuldner; sie ist mit den Franzosen herumgezogen, hat alles zu Grunde gerichtet, und am Ende mußte sie auch sterben.« –

Nach Violetten zu fragen, wagte ich nicht; ich fragte, ob er mich wohl heute nacht beherbergen könne; er brachte mich hinauf, nach der nämlichen Stube, in der ich den ersten Abend mit der Gräfin gewesen war.

»Das ist die einzige Stube, an der noch eine Tür ist,« sagte er, »und in Ihrem Mantel können Sie wohl hier auf dem Armsessel schlafen.«

Er stellte mir das Licht hin, und verließ mich.

Wie ein Toter, der die Welt nach langen Jahren wieder betritt, ging ich in der Stube umher, in der eine fürchterliche abenteuerliche Verwüstung herrschte.

Das Brustbild der Gräfin war mit Degenstichen zerfetzt, und auf eine militairische Art verunreinigt, die Wände waren mit allerlei abgeschmackten Figuren mit Kohlen bemalt, am Boden umher lagen zerrissene Dokumente in Haarwickel verwandelt, in [441] einem Winkel stand ein Gemälde, das sonst auf der Hausflur gehangen hatte, und zwei nackte Weiber vorstellte, die sich um ein Paar Beinkleider schlugen, alle Möbel waren auf eine mutwillige Art zerschmettert, – ich rückte den Armstuhl in die Mitte, setzte meine Füße auf mein Felleisen, und versuchte zu schlafen, aber es war lange umsonst.

Gegen Morgen erwachte ich, und Gott! wie erschrak ich, als ich zwischen meinen Knien ein halb nacktes Mädchen sitzen sah, das eingeschlafen war. Meine Hände, die ich in meinem Schoß liegen hatte, waren mit ihren langen Haaren zusammengebunden.

Ich wickelte mich los, stand auf, ohne sie zu wecken, und betrachtete sie näher, es war Violette, – ich warf meinen Mantel über sie, sie saß auf dem Felleisen, und lehnte den Kopf an das Kissen des Armstuhls. –

Ich trat ans Fenster und sah wieder in dieselbe Gegend, nichts hatte sich verändert, und wie sah es in meiner Seele aus. Wie der Morgen heraufstieg, und es heller wurde, sah ich wieder nach Violetten, aber sie öffnete ihre großen Augen, schrie laut, und ich faßte sie in meine Arme, sie war ohnmächtig; ich setzte mich in den Armstuhl, und hielt sie so von Herzen umarmt, heiße Tränen flossen über meine Wangen, die ganze Vorzeit erwachte um mich, und schlug mich mit schmerzlichen Schlägen.

Auch Violette erwachte wieder, und sagte laut weinend: »Ach, warum verließen Sie mich damals; hatte ich nicht gesagt, ich würde zu Grunde gehen?« –

»Ist es denn so, Violette!« –

»Ach, es ist so, es ist nun alles vorüber.« –

Die Mutter hatte sich mitten in der Glut des Krieges das freie Zelt ihrer Lust aufgeschlagen, auch Violetten hatte sie der wilden Liebe hingegeben; die Mutter war gestorben, Violette war allein zurückgeblieben, Flametten hatte ein nahewohnender Förster zu sich genommen. Das Schloß und die Güter waren durch Krieg und die Erpressungen der Gräfin selbst zu Grunde gegangen. Violette hatte keine Heimat mehr; der letzte Mann, den sie wirklich liebte, – denn er hatte sie zu sich genommen und wenigstens aus Mangel und Not gerettet, – war ein [442] französischer General, der am Abende vor der Schlacht meistens alle sein Vermögen zu verspielen pflegte, um ohne Testament und ohne Erben dem Tode entgegenzugehen.

Er setzte Violetten auf die letzte Karte und verlor sie an einen seiner Waffenbrüder – »Wenn ich tot bleibe,« sagte er, »ist sie dein; und komme ich davon, so gebe ich dir meine zwei Schimmel.« – Er blieb tot, – Violette floh und verbarg sich bei dem Förster, der Flametten erzog. – Die Armee drang siegend vorwärts, und unter den Elenden, die der Krieg hinter sich läßt, war auch sie. –

Der Förster wollte sie nicht länger um sich haben, das Leben war schwer zu erwerben, und die Bauren haßten alles, was der Gräfin angehörte, sie war deswegen nachts in das Schloß zurückgegangen. –

Es war ja kein Mensch, der sie hinderte, der wilde Krieg hatte ja alle Tore gesprengt, und die Armut und das Elend konnten aus und eingehen. Sie war nach der Stube gegangen, in der sie sonst mit Flametten gewohnt und dem Kinde das Lied von der Weinsuppe vorgesungen hatte, ihr Bettchen stand noch da, aber es war kein Boden mehr darinne, auch waren keine Fenster mehr in der Stube und keine Tür, der Wind zog traurig durch die leeren Fensterrahmen, und ging wehklagend durch die wüsten Gänge des Hauses; sie setzte sich auf den Boden auf ein Stück Holz nieder, und weinte, ihre Kleider waren zerrissen, und es war eine kühle Nacht. – Ach es war das nämliche Holz noch, das sie mit banger Frömmigkeit sonst unter ihr Kopfkissen gelegt hatte, um hart zu schlafen, und sich zu kasteien.

Sie dachte an Godwi, und erinnerte sich wieder an alle ihr Elend, und ihr Verderben, seit er sie verlassen hatte. Ihr Schmerz hatte keine Grenzen mehr, sie lief wie verrückt nach der Stube ihrer Mutter. – Hier schlief der nämliche Mensch auf einem Stuhle, sie kannte ihn nicht, die Laterne stand in einem Winkel und brannte dunkel, sie betrachtete ihn aufmerksam, und er war es, er – der sie in alles Elend gestürzt hatte; sie mochte ihn nicht wecken, setzte sich zu seinen Füßen, und bedeckte seine Hände mit Tränen und Küssen, – es ergriff sie eine schreckliche Zerrüttung, sie zerraufte sich die Haare, und rang die Hände; dann ließ sich ein guter Geist auf sie nieder, sie drückte Godwis [443] Hände an ihr zerrissenes Herz, und fesselte sie mit ihren langen schönen Haaren, dann sanken ihre Blicke, und sie entschlummerte zu seinen Füßen.

Violette sprach wenig, aber sie bat mich, sie umzubringen. »Liebe Violette, ich kann dich nicht zweimal ermorden,« sagte ich, »gehe mit mir nach Hause, und wohne bei mir, ich will den Förster und Flametten auch mitnehmen.«

Sie begleitete mich zu dem Förster, ich bot ihm meine Dienste an, er zog gerne mit mir in ein friedliches Land, und wir wohnten mehrere Monate ruhig miteinander. Flametta war so geworden, wie meine Leser sie schon kennen; Violette aber ward nicht wieder froh, aber sie war wie ein Engel; alles Vortreffliche, was sie in wilden Flammen der Leidenschaft geopfert hatte, gab der Himmel ihr in mildem strahlenden Glanze wieder. Sie ging nicht von meiner Seite, und als der Frühling wiederkam, reichte ich ihr meine Hand, und fragte sie, ob sie ewig mein sein wolle. –

Kein Priester verband uns, aber auch das Leben nicht, die Liebe war es allein –

und da es Morgen wurde, fand ich sie nicht an meiner Seite, ich suchte sie im ganzen Hause. –

Im Garten saß sie zwischen den Blumen und sang:


Ihr hübsch Lavendel Rosmarin,
Ihr vielfarbige Röselin,
Ihr stolze Schwertlilgen,
Ihr krause Basilgen,
Ihr zarten Violen,
Und dich Violette,
Euch wird man bald holen,
Hüte dich, schöns Blümelein! –

Ich glaubte, sie scherze, und sang: »Es ist ein Sämann, der heißt Liebe.« –

Aber sie kannte mich nicht mehr. – Bald starb sie, – wo sie jenen Morgen saß, steht jetzt ihr Grabmal. –


Maria ist heute morgen gestorben; er wollte einige Minuten vor seinem Tode, da er sich sehr heiter fühlte, noch auf der [444] Laute spielen, aber seine Krankheit, die, wie ich erzählt habe, eine Zungenentzündung war, war in eine Herzentzündung übergegangen, der Schmerz ergriff ihn plötzlich sehr heftig, er ließ die Laute fallen, und sie zerbrach an der Erde. –

Er starb in meinen Armen, wir haben viel an ihm verloren. In der letzten Zeit las er meistens in Tiecks Schriften.


In der zerbrochenen Laute, deren sich einstens Kordelia bedient hatte, wie ich oben angeführt hatte, stand der Name: Annonciata Wellner – Kordelia und Annonciata sind also dieselben, – nun durfte ich die Stube eröffnen, denn ihr Name war entdeckt; ich fand viele Papiere von ihrer eignen Hand, und besonders viele Gedichte an die Natur.

Ich hoffe in einer weniger traurigen Zeit alles dieses bekannt zu machen, und eröffne nur folgendes:

Als Annonciata aus dem Schlosse verschwunden war, hatte sie der Geliebte Wallpurgis' entführt, sie liebte ihn grenzenlos, – aber er verließ sie, nachdem sie ihm das höchste Opfer gebracht hatte, das ein Weib bringen kann. – Meine Leser glauben zu wissen, was dieses Opfer sei; aber ich schwöre ihnen auf meine Ehre, sie irren sich, das höchste Opfer ist nicht das heilige Liebeswerk – ich kenne es allein, und wenn ich aufgehört habe, zu staunen und zu verehren, will ich dieses höchste Opfer des Weibes bekannt machen.

[445][447]
Einige Nachrichten von den Lebensumständen des verstorbenen Maria

Mitgeteilt von einem Zurückgebliebenen


[447] [449]Der Leser, der in den vorhergehenden Blättern bald mehr bald weniger gerührt und angesprochen wurde, wird nicht ohne Interesse diesen Erinnerungen an den verstorbenen Verfasser begegnen. Sein ganzes Leben war so geheimnisvoll, daß ich, statt einer vollständigen Entwicklung seines Gemüts und seiner Jugend, nur mitteilen kann, wie ich ihn kennen gelernt, wie er mir und unsern Freunden erschienen ist und wie wir noch jetzt um ihn weinen. Der Kummer findet in jeder Klage Trost – und an verlorne Hoffnungen denken wir leichter, wenn wir auch andere dafür interessiert wissen.

Seine äußere Erscheinung bizarr oder angenehm, aber immer anziehend – seine Unterhaltung schnell, sehr lebhaft, immer witzig – vielen fremd, einigen sehr lieb – in seinem ganzen Dasein ein gewaltsames Ringen seines Gemüts und der äußern Welt – so sah ich Maria zuerst in J. und fühlte mich schnell zu ihm hingezogen. Keiner, der in J. war, nennt diesen Abschnitt seines Lebens ohne Dankbarkeit und angenehme Erinnerung! Elise! – Dieser Sommer, in dem ich Maria kennen lernte, und das Jahr, das wir miteinander verlebten, sind mir unvergeßlich. Wie es überhaupt Ton in J. war, mit allen bekannt, mit wenigen vertraut zu sein, denn eine anständige Freiheit schuf eine glückliche Geselligkeit, in der jeder leicht den fand, den er suchte – so fanden auch wir, Maria und ich, uns bald in einem fröhlichen Kreise gleichgesinnter Freunde. Ihr guten Jünglinge, du vor allen treuer Wr., wo ihr auch seid, entfernt, zerstreut – Maria hat euch nie vergessen – ihr begegnetet den letzten Blicken, die er zurückwarf – neben seinem Schatten reicht mir die Hand, nicht wahr? wir lieben uns noch und vergessen ihn nicht? –

Darf ich nennen, was uns alle verband? Ein Dichter hatte uns alle geweckt; der Geist seiner Werke war der Mittelpunkt geworden, in dem wir uns selbst und einander wiederfanden; mannigfach voneinander unterschieden waren wir, wie unsre Zeitgenossen, ohne Religion und Vaterland; wer die Liebe kannte, fühlte sie zerstörend – ohne diese Dichtungen wäre der lebendige Keim des bessern Daseins in uns zerstört, wie in so vielen. Im Genusse dieser Werke wurden wir Freunde, in Erkenntnis seiner Vortrefflichkeit gebildet, mit dem Leben einig, zu allen Unternehmungen mutig, zu einzelnen Versuchen [449] geschickt. Deutschland hätte unser Studium Goethens kennen gelernt, wenn mehrere von uns Marias poetisches Talent gehabt. Sein Gemüt war früher von einem andern Dichter berührt und seine dunkle verstimmte Jugend konnte sich lange dem heitern Genius nicht vertrauen; aber bald verdankte er ihm, daß sein Schmerz Klage, sein Unglück Kraft, seine Trauer um Liebe Streben nach Kunst wurde.

Alle Erinnerungen seiner Kindheit verloren sich in den Schmerz, keine Eltern zu haben, alle Hoffnungen seiner Jugend brach die Verzweiflung der Liebe. Wie sein Leben bedeckte auch diese Leidenschaft ein Schleier. Daß er ein edles Weib, getrennt durch Verhältnisse, unglücklich liebe, war keinem von uns verborgen, denn es war der Inhalt seines ganzen Daseins. Das Geheimnis selbst schläft in deiner Brust, Clemens Brentano! Du hattest Marias ganzes Vertrauen, und weil du weißt, was er litt, darum hast du am tiefsten gefühlt, wie wert ihm die Ruhe!

Er gestand uns gern, wie er sich erheitre in unserm Umgange; er fing an, sich und seinen Talenten zu vertrauen – mehrere Aufsätze, die noch nicht gedruckt wurden, sind in dieser Zeit geschrieben – sein Godwi entworfen, hin und wieder ausgeführt.

In keinem glücklichern Momente hätte er das angenehmste Verhältnis finden können, das er jemals hatte – deine Bekanntschaft, T., und den Umgang mit dir, Fr. S., und deiner edlen Freundin. Freundlicher T., führt dir ein Zufall diese Blätter in die Hände, siehst du sie lächelnd durch, wie du pflegst, darf ich dich anreden, darf ich dir sagen, wie wir alle dich liebten, wie du uns im Leben begegnetest wie in der Dichtung, einfach, gütig, der Gottheit und der Vorzeit empfänglich, reich an treffendem Witz, reicher an Gefühl, Dichter und Künstler, wie es wenige sind? Von uns allen hatten deine Werke Maria am meisten gerührt, er pries sich glücklich, je mehr er dich sahe, er ward fleißig, von dir zu lernen, noch auf seinem Krankenlager erquickten ihn deine Erfindungen.

T.'s Umgang war ihm ermunternd – S.'s Nähe bildender. Wenige haben sich dir, gute fromme Seele, mit diesem Vertrauen genähert – deinen Verstand, deinen Blick, deine tiefe [450] gefühlte Würde, F.S., achtete Maria, – deinen verhüllten Enthusiasmus erkannte er. Sein Schicksal war ein ewiger Irrtum – so hat er euch verloren.

Daß ich unter seinen Freunden noch die auszeichne, die am meisten auf ihn gewirkt haben. Die Wissenschaft mag R.'s Genie, den erfindsamen Fleiß, den tiefen Geist und die heilige Ahndung seiner Untersuchungen dankbar bewundern – Maria liebte die Heiterkeit, mit der er ein großes Leben begann und den kühnen Witz seiner Unterhaltung. Von einer andern Seite berührte ihn die seltene Erhabenheit in Kl.'s Gemüte. Trefflicher Spiegel deines Zeitalters! Dich weckte schon in früher Jugend der Genius, mit verstecken Erfindungen dem Irrtume zu begegnen – was du geschrieben, ist eine stille Persiflage der herrschenden Schwäche – mit kluger Mäßigung verhüllst du dein Vorhaben und deine Originalität – viele sind dir begegnet, ohne dich zu erkennen – unbesonnene Kritiker tadeln deine Werke, die sie dem Äußern nach beurteilen – die Nachwelt wird dir danken!

Entzündet von der Nähe jener großen Männer, erheitert durch den Umgang dieser und der andern Freunde, ward er gesunder, heitrer wie je vorher. In wenigen fröhlichen Stunden schrieb er das mutwillige Spiel: Gustav Wasa. Wer es beurteilen wollte, müßte den Witz und die Laune kennen, mit der es geschrieben wurde, und die Erbitterung, mit der er den verderbten nichtswürdigen Geschmack um so mehr haßte, je mehr ihn der Geist der Poesie durchdrang.

Im Sommer 1800 verließ Maria J. und ging nach D. Hier fand er, unvermutet, wie ich glaube – die Frau, die er liebte, wieder. Sie kam von einer Reise aus Italien zurück – er sah sie, um sie nie wieder zu sehen – ihm ward sein Unglück gewiß, uns sein Tod wahrscheinlich. Wie gern vertraut' ich dem teilnehmenden Leser alle Briefe, die er mir in dieser merkwürdigen Zeit geschrieben – was ich geben darf, sind nur einige Stellen:

»Mir ist wohl, recht wohl. Es wird dich freuen, daß ich das sage, aber es freut mich noch mehr, daß ich es sagen kann. Ich hatte den Frühling nie gesehen, darum hat er mich so überrascht auf dem Wege hierher. Von meinen Beschäftigungen kann dir K. erzählen. Auch an Godwi habe ich viel geschrieben.«

[451] »Hier ist mir alles lieb, nur nicht einige junge Philosophen, die die Kunst üben, ohne alle Kunst von der Kunst zu reden. Ach, ich wollte gern die Philosophie achten, aber solange solche Leute ihre Nichtswürdigkeit in den philosophischen Mantel verhüllen können –«

»Von meinem Studium der Antiken und der andern Kunstwerke habe ich auch an K. geschrieben. Ich trete nie ungerührt, immer mit der gespanntesten Aufmerksamkeit in diese Gesellschaft der Götter, aber nicht lange, so widerstehe ich mir vergeblich; der Ernst meiner Betrachtungen wird tiefe Wehmut, und wenn ich hinaufsehe zu der schönen Griechin und der rührenden Trauer in ihren stillen Mienen, dann ergreift mich das Gefühl von Vernichtung, mit dem mich die Musik zu erfüllen pflegt, und ich muß hinaus und habe alles vergessen, nur meinen ewigen Schmerz nicht. –«

»– Großer Gott, wie mich das gefaßt, zerstört hat! Sie ist wieder in Deutschland, sie ist hier. Ich werde sie vielleicht heute noch sehen. Denke dir: ruhig sitz' ich zu Tische, da erzählt ein Fremder, wie unterhaltend es heut in der Gallerie war; eine große schöne Frau ging, die Gemälde zu betrachten, und wie sie ging, sahen alle Maler von ihrer Arbeit und ihr nach. Alle, so schien es, vergaßen ihre Ideale über den Anblick – ›Und wer war die Zauberin?‹ – Ach, da nennt er sie, und von dem Augenblicke weiß ich nicht, wo ich bin und wie mir geschieht. Diese Menschen vergessen über ihre Erscheinung ihre Ideale, und ich, der die ganze Gottheit dieses Weibes kennt und fühlt – ich soll sie vergessen, über dem, was ihr Ideal der Kunst nennt! –«

»Ich habe dir lange nicht geschrieben, ich werde dir auch wohl nicht viel mehr schreiben. Ich fühle mich sehr schwach. In dieser romantischen Gegend bin ich sehr gern, diese Verwirrung zerbrochner Felsstücke, einsame Wasserfälle, überall Trümmern und Zerstörung, tut mir sehr wohl. Doch werde ich diese Täler bald verlassen und wieder nach D. gehen. Ich muß in die Welt, in diesen Einöden bin ich nicht einsam genug, und einsam muß ich doch sein, wenn ich ihr mein Wort halten und leben und dichten will – darum will ich zurück zu den Menschen.«

Gegen den Herbst verließ er D. und ging an den Rhein. Von hier schrieb er selten; aber seine ganze Stimmung drückt sich in [452] folgenden Worten eines Briefes ganz aus, die ich nie vergessen werde: »Vorige Nacht saß ich oben bei dem Schlosse der Gisella und sah unter mir den Rhein und in den dunkeln Fluten den Mond und die Gestirne abgespiegelt und von den schäumenden Wellen gegen die Felsen geworfen, als würden sie zertrümmert. Sieh, so steht die Tugend und die Schönheit ewig unverrückt und nur ihr Abglanz wird von unserm dunkeln tosenden Leben bewegt« –

Dann lebte er auf einem Landhause v.S. Die romantische Gegend und die einsamen Verhältnisse dieses Aufenthalts hat mein Freund im zweiten Teile des Godwi selbst beschrieben. Den guten Geist dieser Wohnungen, der auch Maria tröstete, in dessen Armen er gern starb, an dessen Brust er wieder zu erwachen wünscht, dich, mein S., hat er nicht beschrieben. Und wer könnte die ruhige Würde deiner Erscheinungen, die stille Güte deiner Mienen und die liebende Konsequenz deines Lebens mit Worten andeuten? Ich mag dich nicht erinnern, was du für Maria gewesen bist, aber ich bitte dich, wenn die gestorben sind, für die ich lebe, laß mich auch in deinen Armen einschlafen.

Von seiner Krankheit hab ich nichts zu sagen. Seine Liebe war sein Leben, seine Krankheit und sein Tod. Bis in dem letzten Augenblick war er tätig – wir mußten seiner Begierde zu lesen und zu schreiben auf den Befehl des Arztes nachgeben. Er würde nicht sterben, behauptete dieser, wenn er immer fortschriebe. Die letzten hellen Tage und Stunden verdankt er dir A., deine Ironie, dein reines Gefühl und dein jugendliches poetisches Dasein heiterten den Kranken ach, wie sehr! auf. »Nun sterbe ich ruhig,« sagte Maria einst lächelnd, »ich habe den Humor gesehen.« Die Freude, die dir in Tiecks Dichtungen geworden, mag dir belohnen, was du an ihm getan. Bleibe um Gotteswillen so lustig, wenn du ein großer Physiker wirst.

Von den Anlagen, die mit ihm verloren gegangen sind, hat der Freund nicht zu reden. Nur das darf ich bemerken, daß die schönsten lebendigsten Stellen dieses zweiten Teils wenige Tage vor seinem Ende geschrieben wurden. Der Sinn seiner Dichtungen spricht sich deutlich genug aus – daß in unserm Zeitalter die Liebe gefangen ist, die Bedingungen des Lebens höher [453] geachtet sind wie das Leben selbst, und die Nichtswürdigkeit über die Begeisterung siegen kann, hatte er mit seiner Jugend und seinem Leben bezahlt. Er wandte seine letzten Kräfte auf, andern dies Opfer zu ersparen. Streit mit der Liebe war sein Schicksal, Streit für die Liebe sein Beruf.

Nahe an S.'s Gute lagen hoch und mit einer reizenden Aussicht die Trümmern einer Burg – zwischen den Ruinen wohnte in einem kleinen Häuschen ein Kastellan, bei dem wir in frühern Zeiten oft sehr vergnügt lebten. Es war ein eigener Aufenthalt zwischen den alten Türmen und Mauern: aus einem Teile der alten Burgkapelle war die Kirche des Dorfes geworden. Maria, der immer mehr seinen Tod sah und wünschte, bat uns, ihn zu dem alten Kastellan zu bringen. Hier lebte er einige Wochen oben, fleißig, heiter und freier, je näher sein Tod kam. S. und A. waren beständig um ihn; die kleine Sophie, des Kastellan Tochter, war seine Wärterin.

Von seinem Tode laßt mich schweigen. Ich habe ihn nicht sterben gesehen. S. las ihm Tiecks Herkules am Scheidewege vor.


»Und da kömmt noch die Ewigkeit,
Da hat man erst recht viele Zeit.«

Maria lachte noch einmal, er drückte S.'s Hand stärker und S. hat ihm nicht weiter vorgelesen.

Man hatte mich auf das Schloß gerufen. Als ich hinaufkam, saß S. an dem alten Turme und sah still in den Abend. Seine Hand wies mich in die kleine Kirche. Lächelnd lag der bleiche Freund in dem besten Ruhebette. Die kleine Sophie legte ihm Rosen in die Hände. Als ich heftig an ihm niedersank, ihn zu umarmen, bat mich das Kind leise: »Wecken Sie ihn nicht! Er hat lange nicht so gut geschlafen, und wie wird er sich freuen, wenn er aufwacht und die Rosen sieht!« –

Wir teilen dem Leser noch die bei dieser traurigen Gelegenheit erschienenen traurigen Gedichte traurig mit.

I

An S .... y


Erhebe dich von dem verschloßnen Munde,
Komm von dem Lager, wo Maria ruht:
[454]
Er schläft so heiter, ruhig, still und gut,
So lächelnd sah er der Befreiung Stunde;
Noch streitend fühlt er schon, daß er gesunde,
Frei wird in seiner Brust der höhre Mut,
In Ahndung löst sich die verschwiegne Glut,
Geheilt ist bald des Lebens tiefe Wunde.
Maria schläft: verschlossen ist sein Mund,
Er ist die Antwort schuldig mir geblieben,
Ach, wirst denn du sie meiner Liebe geben?
Ist es denn wahr? kann denn der Mensch nicht lieben?
Ist keine Wahrheit in dem dunklen Leben?
Wird jeder Schmerz im Tode nur gesund?
II

Nachgefühl

von N.M.


Wenn die Blumen wieder blühen,
Regt es sich im stillen Herzen,
Wenn die Rosen wieder glühen,
Fühl' ich tiefer Ahndung Schmerzen.
Tränen rinnen von den Wangen,
Meine Blicke muß ich senken,
Stiller Sehnsucht zart Verlangen,
Faßt des Freundes Angedenken.
Ach und niemand kann mir sagen,
Wo der teure Freund geblieben,
Trauer hätt ich gern getragen,
Gern ein Lied auf ihn geschrieben!
III

Als Stammblatt


Bitter tadelst du den Schöpfer,
Daß er deinen Freund zerstöret,
Und daß er ihn nur deswegen
In des Lebens Mitte führte,
Um dann auf dem letzten Blatte
Der Verwesung ihn zu weihen.
Nicht den Schöpfer, nein das Leben,
Trifft, o Freund, dein bittrer Tadel!
[455]
Ach, das Leben ist so kurz,
Ach, so kurz und doch so lang!
Ist es denn auch nicht das längste,
Laß es uns zum dicksten machen!
Sein Gebein stürz in den Abgrund,
Lebt er doch im Grunde ewig.
Sein Geist, der ewig schaffende,
Lebt tönend fort in dir und mir,
Von einer Messe zu der andern
Ertönet sein belebend Werde,
Das ist das Los des Schönen auf der Erde.
IV
Der duftgen Wolken Schleier
Verhüllt der Landschaft Moor,
Um fallendes Gemäuer
Klagt der Sylphiden Chor.
Was hemmt in goldnen Lüften
Der hehren Ahndung Flug,
Was bringt aus dunkeln Grüften,
Der stillen Gnomen Zug?
Es ist des Jünglings Leiche,
Sie tragen ihn empor,
Der sich im Geisterreiche
An Lauras Hand verlor.
Erglänzt von Lunas Blicken
Ruht dunkel die Gestalt,
Und durch die Dämmrung zücken
Erinnrungsblitze kalt.
V
Genius, senke die Fackel, hier ruht der erbleichete Jüngling,
Ach, der heftige Schmerz schließt uns den klagenden Mund!
Zwischen der Form und der Sache da irren die menschlichen Triebe,
Und ein ewiger Streit trennet das Ich und das Nichts,
Trennet die Pflicht und die Liebe, trennt das Gesetz und die Freiheit,
Bindet zu Formen den Ton, trennt dann den Ton und die Form.
[456]
VI
Grausam eröffnet schon der alte Tod
Das tiefe Grab, nimmt edle schöne Knochen
Heraus, um unserm Freunde Platz zu machen.
Maria duldet still die Arzeneien,
Wie grausam ist des Edlen Schicksal!
Der nichts, der ach! nichts nachzutrinken hat!
So duldet er sein Schicksal, bis
Der Atem (wehe, wehe dem Verräter!)
Heimtückisch, wie ein Seufzer, ihn verläßt;
Nun liegt er da, die edle schöne Seele,
Wir beben alle, wir verstummen!
Da erscheinest du, der Leichen Muse,
Entwindest dich des Totengräbers Armen,
Hüllst den Verstorbenen freundlich
In deinen dichten Schleier,
Und bringst den Schlummernden
Der dunkeln Erde in die Arme –
Da ruht der Jüngling, bis dem Mutterschoße
In neuen Formen die Geburt entsteigt,
Lebend in Blüten oder Liedern
Den Vater grüßt!
VII

Von A. W – nn


Du hattest schon, o Freund! den Weg gefunden,
Vertrauend bald der heilgen neuen Lehre!
Du hattest schon die heilge Drei verbunden,
Bis dir die Viere deutlich worden wäre,
Ließ dich der Blick ins Centrum schon gesunden!
Ein tapfrer Krieger für der Gottheit Lehre,
Ein Phönix, wirst du dich der Liebe weihen,
Die junge Brust in ewger Lust erfreuen!
VIII

(Mel. Der Vogelfänger usw.)


Maria liegt nun schlafend da,
Lustig, mein Mädchen, Hopsasa!
Der Tod ist Schlaf, der Schlaf ist Tod
Zwischen dem Morgen- und Abendrot.
[457]
Maria liegt nun schlafend da,
Lustig, mein Mädchen, Hopsasa!
Kann der Begriff die Liebe fassen,
Kann der Kaptain das Fluchen lassen.
Maria liegt nun schlafend da,
Lustig, mein Mädchen, Hopsasa!
Wär ich schon tot, ich kehrte mich um,
Ohne das Salz ist die Erde dumm!
Maria liegt nun schlafend da,
Lustig, mein Mädchen, Hopsasa!
Sieht doch der Kaiser den Sonnenbrand!
Kirschen, o Kirschen! lustiger Tand!
Maria liegt nun schlafend da,
Lustig, mein Mädchen, Hopsasa!
Ackerleute des lustigen Weins,
Liebe! du Tausend und immer Eins!
IX

Von K.R.


Heil dir, der du der Dichtung magern Rappen,
Gespornet frisch, wie Ritter Donquixote,
Entrissen kühniglich aus Glück und Note
Hast du dich aus dem Streit poetscher Knappen.
Wozu nach Abenteur und Reimen tappen?
Dich traf der Weltlauf mit gar harter Pfote,
Dann kam des Tods entschuldigender Bote
Und nahm dem Leben seine Schellenkappen.
Nun sind zu Ende alle die Geschichten,
Dich hat ein Gott der Littratur entzogen,
Du badest dich allein in blauen Wogen.
Wozu noch länger reimen, dichten, richten,
Du hast verlassen unsre Katakomben
Und freuest dich der Götter Hekatomben.
An Clemens Brentano
Dir so teuer wie mir war diese freundliche Jugend,
Die sich, in heiliger Glut sterbend, in Liebe gelöst!
[458]
Weinend wendest du dich – wir scheiden mit ewigen Tränen,
Daß diese Liebe verstummt, welche so zart uns vermählt!
Sieh noch einmal zurück auf die schöne heilige Ahndung,
Über der Schlummernden gieb mir zu dem Bunde die Hand.
Ist es uns nicht geworden, zu rächen die Wünsche der Jugend?
Blieb ein Vermächtnis nicht dir, was sie so glühend erstrebt,
Dir, dem die Götter die reiche Fülle der freundlichen Dichtung,
Dem sie die Sprache verliehn und ihre bildende Kraft?
Schon ergreifst du die Leier, zu rächen, zu retten die Liebe,
Und ein neues Geschlecht dankt dir den freien Genuß.
Wie du hinunter jetzt steigst in das Dunkel des irrenden Lebens,
In die Tiefe der Brust kehrst du begeistert zurück,
Dort die verlorne Jugend umringt von Schatten zu finden,
Kühn bezwingend den Tod führst du die Dichtung zurück.
Also zum Orkus hinab stieg einst der thrazische Orpheus,
Suchte, die er geliebt, fand sie dem Tode vertraut,
Aber die göttliche Leier bezwang des Tartarus Mächte,
Seinem Gesange vermählt kehrt die Geliebte zurück.
Ja, schon lächelt das Licht, doch an der Schwelle des Lebens
Faßt ihn des Zweifels Gewalt, raubt ihm den schönen Besitz.
Unglückseliger Mann! sie war dem Vertrauen gegeben,
Was dir der Glaube gewährt, kann es der Zweifelnde sehn?
Doch was fürchtetest du, dir nahe tötend der Zweifel
Und dir mißlänge dein Werk, kühn zu gestalten den Schmerz?
Dir bewahret die Liebe der Guten das schöne Vertrauen
Und der kindliche Sinn schützt dir das kindliche Glück.
Heilige Jugend erscheint in deinen fröhlichen Werken
Uns dann auf ewig erneut, dir dann auf ewig vermählt!
Fußnoten

1 Soll doch wohl nicht eine Anzüglichkeit auf den französischen Schriftsteller La Fontaine sein? Anmerk des irritierten Setzers.

2 Siehe den ersten Band, pag. [siehe hier], wo Molly von dieser Kordelia schreibt.

3 Ich besitze durch die Güte des Herrn Godwi jetzt diese Papiere, die nichts anders als das selbstgeschriebene Tagebuch dieses höchst interessanten Menschen enthalten. Er lebte in dem funfzehnten Jahrhunderte, und ich bin willens, sobald ich Muße habe, dem Publikum dieses interessante Manuskript mitzuteilen.

Maria

4 Ich konnte das schöne Tonspiel des Italiänischen von amare und amaro nicht anders geben.

5 Der Vater des unsrigen.

6 Siehe erster Band.

7 Bei Bacharach steht dieser Felsen, Lore Lay genannt; alle vorbeifahrende Schiffer rufen ihn an, und freuen sich des vielfachen Echos.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Brentano, Clemens. Roman. Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-40F7-E