[8] [1]Einleitung

Wenn iemand irgendswo in einer Höhle,
Allwo desselben Sinn und Seele
Von aller Creatur und allem Vorwurf leer,
In steter Dämmerung erzogen wär;
Und trät' auf einmahl in die Welt,
Zumahl zur holden Frühlings-Zeit,
Und sähe dann der Sonnen Herrlichkeit,
Und säh' ein grün beblühmtes Feld,
Und sähe dick bebüschte Hügel,
Und sähe reiner Bäche Spiegel,
Durch einen Schatten-reichen Wald,
Mit seiner sich drin spiegelnden Gestalt,
Umkränzt mit glatten Binsen, fliessen,
Und sähe Flüsse sich ergiessen,
[1]
Auch ihrer Bürger schuppicht Heer;
Und säh' ein unumschräncktes Meer,
Und sähe bunte Gärten prangen,
Auch, wann die Sonn' erst untergangen,
Der Abend-Röthe güldne Pracht;
Und säh' in einer heitern Nacht
Den Wunder-schönen Sternen-Himmel;
Zusammt den Silber-reinen Glantz
Der Schatten-Sonne, wenn sie gantz;
Und hört' ein zwitscherndes Getümmel
Der Singe-Vögel, und den Schall
Der angenehmen Nachtigall,
In Luft- und Schatten-reichen Büschen,
Sich mit dem sanften Rauschen mischen,
Und hört', auf rauh- und glatten Kieseln,
Geschwinde Bäche murmelnd rieseln;
Und schmeckte tausend süsse Früchte,
Und schmeckte vielerley Gerichte,
Die Wasser, Luft und Erde geben;
Und schmeckte, voller Geist und Kraft,
Den säurlich-süssen Tranck und Saft
Der lieblichen Tockayer-Reben;
Und röche Bluhmen mancher Arten,
In Feldern, Wäldern und im Garten;
Und röch' auf Bergen und im Thal
Gesunde Kräuter ohne Zahl;
[2]
Und röche balsamirte Düfte;
Und fühlte sanfte laue Lüfte,
Und fühlte Wunder-süsse Triebe
Von einer zugelaßnen Liebe;
Und fühlte mit vergnügter Brust,
Des süssen Schlafes sanfte Lust;
Und fühlte, wann der Schlaf vorbey,
Daß er dadurch gestärcket sey,
Um alles, was so Wunder-schön,
Aufs neue wiederum zu sehn.
Auf welche sonderbare Weise
Würd' er sich nicht darob ergetzen!
Würd' er sich nicht halb selig schätzen?
Er bliebe gantz gewiß dabey,
Daß er, aufs mindst' im Paradeise,
Wo nicht schon gar im Himmel sey.
Und wir, die alle diese Gaben
Unstreitig üm und an uns haben,
Empfindens minder, als ein Stein;
Ja machen uns, an deren Stelle,
Das Paradeis fast selbst zur Hölle.
Was mag daran wohl Ursach seyn?

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Brockes, Barthold Heinrich. Gedichte. Irdisches Vergnügen in Gott. Einleitung. Einleitung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4451-D