[602] Nützliche Ungewißheit

Nebst andern war ich jüngst, der alten Weisen Lehren,
Wie sie des weisen Müllers Geist,
Den man mit Recht die Zierde Hamburgs heist,
Durch seine Lehrlinge ließ öffentlich erklären,
Beschäfftiget gewesen anzuhören.
Wie ich mich nun darauf allein befand;
Was ich von ihm gehört, bedächtlich überlegte,
Und in gelassner Still' erwegte
Die Mannigfaltigkeit der Grillen,
Die stets den menschlichen Verstand
Vor dem erfüllt, und noch erfüllen;
Befiel mich eine Traurigkeit,
Und drengte die verworrenen Gedancken,
Mit einer schwartzen Last, aus ihren Schrancken;
Ich fühlt' ein wahres Hertzeleid.
Das gantze menschliche Geschlecht
Kam mir bejammerns-werth, und recht
Erbarmungs-würdig für.
Wir scheinen nichtes recht zu fassen,
Wir scheinen all' dem Irrthum überlassen,
Der uns beständig äfft,
Da, von den Meynungen, die gantz verschiedlich scheinen,
Von welchen von der weisen Schaar,
Die Hälfte, daß sie wahr und klar;
Die and're, daß sie falsch und dunckel wären; meynen,
Oft all', und dennoch keine wahr.
Mir fiel hierüber ein:
Es täuscht auch mich vielleicht ein falscher Schein.
[603]
Ich kann ein Ding unmöglich wahrer halten,
Als jeder von den Alten
Dasjenige, was er geglaubt, für wahr,
Für deutlich angesehn und überzeuglich klar;
Ob sie gleich allesamt geirrt,
Und sich einander selbst verwirrt.
Nun sind sie weise ja, im hohen Grad, gewesen,
Wovon wir Proben gnug in ihren Schriften lesen:
Was überzeugt denn mich, daß ich nicht irren könne,
Und daß ich gleichfalls mich nicht von der Wahrheit trenne?
Ja, daß die Nachwelt uns, daß wir im Irrthum stecken,
Wie wir der Vorwelt es gezeigt, einst wird entdecken?
Der Zweifel löst sich bald: Wir wissen,
Daß unser Wissen nichts, als Stückwerck sey;
Und wir daher, wie billig glauben müssen.
Nechst diesem steckt hierin noch zweyerley:
Die Ungewißheit aller Sachen,
Besinnen wir uns recht,
Soll billig gegen Gott uns ehrerbietig machen,
Und voll Verträglichkeit fürs menschliche Geschlecht.
Erkennet man, daß man nichts weis;
Gereicht es ja zu Gottes Preis,
Weil man bey ihm allein die wahre Weisheit findet.
Das andre, welches auch in der Erkenntniß steckt,
Ist, daß, da man der Menschen Schwäch' endeckt;
Zur Nächsten-Lieb' uns der Begriff verbindet:
Denn soll mein Nächster sich mit meiner Schwachheit plagen;
Warum will ich die Seine nicht vertragen?

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TextGrid Repository (2012). Brockes, Barthold Heinrich. Gedichte. Irdisches Vergnügen in Gott. Nützliche Ungewißheit. Nützliche Ungewißheit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-451D-C