[595] Erwegung einiger von Gott, auch denen armen Menschen, alle Tage gegönneten Ergetz- und Bequemlichkeiten

Da wir auf dieser Welt in stetem Unvergnügen,
Auch selbst im Ueberfluß, und wann wir glücklich seyn,
Durch Unerkenntlichkeit des Guten bloß allein,
So unglückseelig liegen;
Auf! auf! mein Geist, die Ordnung der Natur,
Die sie mit Menschen hält, ein wenig zu erwegen!
Und ob es ihre Schuld, daß so gar wenig nur
Ohn' Unzufriedenheit zu leben pflegen.
Ich spreche nicht allein von Reichen; auch von denen,
Die dürftig sind, will ich allhier erwähnen.
So für die Armen, als die Reichen,
Sieht man des Morgens früh die dunckle Nacht
Mit ihren falben Schatten weichen.
Für beyde zeiget sich der Morgen-Röthe Pracht,
So die nur erst vergeh'nde Schwärtze
In der Veränderung um so viel schöner macht.
Ihr Leib wird alle Nacht ohn' Ausnahm' ja gestärcket,
Durch dieses Wunder der Natur:
Wobey der Geist zugleich verneute Kräfte mercket,
Durch einen süssen Schlaf, der ihn die Zeit nicht nur
Vergnügt verbringen lässt; der Gram und Leid vermindert,
Ja ihn, in dem schon angefang'nen Lauf
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Der Schwermuth, fortzufahren hindert.
Und kurtz: Wir stehn, an Leib und Geist verneuet, auf.
In dieser Gab' allein ist, wenn mans recht bedencket,
Uns ein unschätzbar Gut und grosser Schatz geschencket.
Die Sinnen sind, wann sie der Schlaf erquickt,
Aufs neu' gestärckt, und mehr, als wie vorhin, geschickt,
Die Creatur, die durch das Morgen-Licht
Zugleich verschönert wird, zu sehn und zu betrachten.
Ach möchten wir dieselbigen nur nicht
So klein, und unsers Blicks nicht würdig achten!
Da die Gewohnheit sonst, durch ihre strenge Macht,
Uns alles Gute raubt; so wird durch Tag und Nacht
Die schädliche Gewalt derselben unterbrochen.
Ihr Wechsel giebt und nimmt, und zwingt uns fast, von neuen,
Der Schönheit, die bald kommt, bald weicht, uns zu erfreuen.
Bey vielen geht hierauf nun zwar die Arbeit an,
Die mancher wohl nicht allezeit
Für einen Zeit-Vertreib und Anmuth halten kann;
Doch, ausser daß sie ihn ernähret,
Ist sie auch mehrentheils von der Beschaffenheit,
Daß sie die Essens-Lust vermehret.
Da schmeckt das Morgen-Brodt. Ist dieses keine Lust?
Fürwahr, wer es erwegt,
Wie in den Appetit so Nutzen als Ergetzen
Von GOTT so wunderbar gelegt,
Wird diese Zungen-Lust nicht so geringe schätzen.
Hat ihm der Morgen nun, der unsers Tages Lentzen,
Ein' angenehme Freud' im Anbiß erst beschehrt;
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So wird noch eine grössre Lust,
Wann erst des Mittags Strahlen gläntzen,
Mit noch vergrössertem Vergnügen unsrer Brust,
Wann man sein Mittags-Mahl verzehrt,
Vervielfacht und vermehrt.
Nur zu bedauren ists, daß wir, was Gott ins Essen
Für eine Lust gesenckt, nicht achten, nicht ermessen.
Erstaunens-werth ist ja des Schmeckens Kraft,
Erstaunens-werth der Zungen Eigenschaft,
Erstaunens-werth, wie viel, wie mancherley
Veränderung, Empfindlichkeit, Vergnügen
In so verschied'nen Cörpern liegen,
Und wie so Gaum, als Zahn, formiret sey,
Durch ein Zermalmen, Pressen, Drücken,
Uns zuzueignen, zu entdecken
Die Säfte, die in Cörpern stecken;
Und die, wann wir den Magen füllen,
Nicht nur den Durst und Hunger stillen;
Nein, die zugleich (o Wunder!) uns erquicken,
Und in so sehr verschied'nem Schmecken,
Uns so verschied'ne Lust erwecken.
Ein Handwercks-Mann sollt' hier absonderlich bedencken
Die weise Gütigkeit des Schöpfers, der nicht nur
Den Reichen solche Lust gewürdiget zu schencken,
Daß sie, durch den Gebrauch so mancher Creatur,
Und tausendfach gewürtzte Speise,
Absonderlich vergnüget werden;
Ach nein! er wird vergnügt auf gleiche Weise,
Indem der Hunger ja, wie die Erfahrung lehrt,
Das niedlichste Gewürtz, der beste Koch auf Erden.
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Nach den bey Tisch' erhalt'nen neuen Kräften,
Eilt jeder wiederüm zu seinen Haus-Geschäfften,
Wer klug ist, wohlgemuth.
Denn was man fröhlich thut,
Geht wohlgerathener von statten.
Ja ist bey einigen die Arbeit wircklich schwer;
Gewohnheit wird sie immer mehr und mehr
Erträglich machen und vermindern;
Zumahlen wenn man, GOTT zur Ehr',
Dabey ein fröhlich Lob-Lied singet,
Und Ihm, für seine Huld, ein Freuden-Opfer bringet,
Wird alle Müh' und Last, verringert, bald sich lindern,
Und wenigstens erträglich seyn.
Bald stellet sich darauf ein kühler Abend ein,
Und unterbricht aufs neu, was etwan uns beschwehrt,
Damit wir nicht dadurch erliegen;
Ja bringet uns annoch ein neu Vergnügen,
Wann man die Abend-Kost verzehrt.
Kaum haben wir dieselbige genossen;
So wird uns allererst die grösste Süssigkeit
Von der gewogenen Natur geschencket,
Indem sie uns zu dieser Zeit
In einen sanften Schlaf aufs neu versencket.
Ja, wenn wir etwas müd', und uns nur niedersetzen,
Empfindet, durch die nachgelassnen Sehnen,
Der Cörper, der sich sonst gewohnt war auszudehnen,
Gedenckt man nur daran, ein ungemein Ergetzen.
Wie wird nicht Müdigkeit und Kummer,
Durch einen sanften Schlummer,
Gemindert und verjagt! so daß am frühen Morgen
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Man, meistens frey von Gram und Sorgen,
Und halb verjüngt, vom Schlaf erwacht,
Sich wiederüm an seine Arbeit macht.
Auf solche Weise wird das Leben,
Auch von den Dürftigen, auf Erden zugebracht.
Was soll ich nun von denen sagen,
Die, da sie Geld und Gut besitzen,
Befreyt von Arbeits-Last und Plagen,
Ihr Stücklein Brodt nicht erst erschwitzen,
Und üm die Kost nicht ängstlich wircken dürfen?
Wie mancherley Bequemlichkeiten
Kann sich ein Reicher zubereiten!
Es sind dieselben nicht zu zählen.
Von hundert tausenden nur eins zu wählen,
Das, wenn er es nur wohl bedenckt,
Ihm tausendfach Vergnügen schenckt:
Die so verachtete, als wunderbare Kunst
Zu schreiben und zu lesen,
Ist ja wohl durch des Himmels Gunst
Zum ersten uns geschenckt gewesen.
Wie manchen Zeit-Vertreib von so verschied'nen Sachen
Kann man sich nicht mit Bücher-lesen machen!
Wir gehn durch sie in die vergang'nen Zeiten:
Wir machen uns durch sie derselben gleichsam Meister,
Geniessen, durch Erkenntniß fremder Geister,
Gantz unbekannte Süssigkeiten.
Wir können uns durch sie erbauen und belehren.
Und fast auf ungezählte Weise
(Ach thäten wir es doch dem Geber stets zum Preise!)
Den Nutzen und die Lust vermehren.
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Noch mehr: Wie mancherley Vergnüglichkeiten
Vermag, nebst dem Gebrauch der uns geschenckten Sinnen,
(Die so von aussen, als von innen,
Uns ungezählte Lust bereiten)
Die Rede nur allein uns zu gewehren!
Fürwahr man muß dafür den Schöpfer billig ehren
Auf eine Art, die unsre Danckbarkeit
Für solch ein würdiges Geschencke
In froher Andacht zeigt. Denn, lieber Mensch, bedencke:
Wenn alle Menschen stumm; würd' unsre Lebens-Zeit
Nicht elend, unser Geist nicht brach, und ohn' Vergnügen,
In viehischer Unwissenheit,
Ja ärger fast, als viehisch, liegen?
So aber hat uns GOTT in unserm Leben
Nicht nur die Red', einander zu verstehn;
Auch eine Fähigkeit, in Schriften zu ersehn,
Was eine Seele denckt, o Wunder-Gut! gegeben.
Ach! lasst uns denn für so viel seltne Gaben,
Die wir von GOTT allein empfangen haben,
Nicht immer unempfindlich seyn!
Erwegt, wenn alles dieß uns fehlen
(Wie GOTT uns ja nichts schuldig ist)
Wie? oder auch entnommen werden sollte;
Wie man sodann sich finden wollte:
Und, da man dennoch leben müst',
In wie viel Wieder-Sinn und Unmuth unsre Seelen
Die gantze Zeit von unserm Leben,
Für Mangel, Plag' und Pein, unfehlbar würden schweben.
Ach! grosses All, aus Dessen weisem Willen,
Aus Dessen Lieb' und Macht allein
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Der Geister Kraft, der Cörper Wesen quillen;
Durch welchen wir bloß das seyn, was wir seyn;
Ach! gieb, daß wir ie mehr und mehr
Zu unsrer Lust, zu Deiner Ehr',
Die Güter, die Du uns in diesem Leben
So väterlich gegeben,
Und die Du uns so reichlich wollen gönnen,
In fröhlichem Gebrauch betrachten und erkennen!
Gib, daß wir uns an diesen Schätzen,
So lange wir auf dieser Welt,
Auf eine Art, die Dir gefällt,
Vergnügen und ergetzen;
In Hoffnung, daß Du dort, mit noch vermehrten Freuden,
Die seel'gen Seelen wirst auf Himmels-Auen weiden!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Brockes, Barthold Heinrich. Gedichte. Irdisches Vergnügen in Gott. Erwegung gegönneten Ergetz- und Bequemlichkeiten. Erwegung gegönneten Ergetz- und Bequemlichkeiten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4522-D