Luise Büchner
Ein Dichter
Novellen-Fragment

[181] I

Die junge Frau saß an dem epheuumrankten Fenster ihres Wohnzimmers und schaute die Straße hinauf nach der Gegend, von wo sie ihren Gatten, dem sie erst seit Wochen angetraut war, erwartete. Aus dem Norden war sie ihm in eine kleine Residenz Süddeutschlands gefolgt, wo er eine Stelle als Bibliothekar bekleidete. Sie hatte in ihrer jungen Ehe heute den ersten stillen Morgen verlebt; die Reise, die Sorge um die Einrichtung, einige nothwendige Besuche hatten sie seitdem vollständig in Anspruch genommen, aber nun war Alles geordnet, nun konnte das Leben, das lang und heiß ersehnte Leben an der Seite des Gatten beginnen, und doch lag es schwermuthsvoll auf ihrer hohen Stirne, und das dunkle Auge blickte fast trübe durch die hellen Scheiben, bald den Zug der Wolken beobachtend, bald wieder in die todte breite Straße sehend, auf der nur in langen Zwischenräumen ein Vorübergehender sich sehen ließ. Um so freundlicher war der Blick geradeaus auf eine anmuthige Hügelreihe, deren waldbedeckte Höhen in dem röthlich hellen Schimmer glänzten, der so ahnungsreich, wie ein stilles Morgenroth, die grüne Frühlingspracht des Buchenwaldes im Voraus verkündet. Dieser Blick konnte die Großstädterin schon entschädigen für die mangelnde Lebendigkeit um sie her, an die sie von Kindheit auf gewöhnt gewesen, und es war weder Heimweh nach der gewohnten Umgebung, noch ein andrer trüber Gedanke, der sie heute so ernst blicken machte. Was auf ihr lag, war das ernste, fast bedeutende Gefühl des Anfangs, das uns Alle beschleicht, wenn wir am Beginn eines neuen Lebensabschnittes, selbst einer neuen Arbeit stehen – Stunde um Stunde, Tag um Tag ihres künftigen Lebens rollte sich im Geiste vor [181] ihr ab, und trotz der inneren Befriedigung ihres Herzens preßte es sich zusammen, wie vor der Arbeit des Sisyphus. Das Gebundensein an alle die kleinlichen Bedingungen des Daseins schien ihr die Seele wie mit tausend lästigen Banden zu umschnüren, und es war ihr zu Muthe, als müßten ihr Schwingen wachsen, gleich der Taube, die an dem Fenster vorüberschwirrte, und als könne sie sich auf diesen erheben in ein endloses Meer von Licht und Freiheit. Dieses Gefühl war ihr nicht fremd, aber daß sie es gerade heute empfand, heute, wo sie zum Erstenmal mit vollem Bewußtsein sich ihrem Glücke hingeben wollte, war ihr befremdend und neu, und sie sagte leise vor sich hin: Adolph! als müsse er kommen, und als müsse sie an seiner Brust dies Gefühl von Heimweh wie nach einer bessern, schönern Welt erfüllt sehen. – Da klopfte es an die Thüre; sie sprang rasch auf, strich sich mit der Hand über die Haare, und auf ihr Herein trat eine freundliche, große Frau von mittleren Jahren in das Zimmer. Charlotte eilte ihr freudig entgegen: »Meine liebe Frau Doctorin«, rief sie mit klangvoller, weicher Stimme, »wie lieb ist es von Ihnen, daß Sie mich in meiner Einsamkeit aufsuchen!« »In Ihrer Einsamkeit?«, lachte die muntere Frau, »so eine Einsamkeit in den Flitterwochen, die läßt sich schon aushalten, und wie froh wäre ich, wenn ich jetzt noch manchmal eine solche Einsamkeit genießen könnte!«

»Machen Ihnen die Jungen wieder den Kopf recht toll? Schicken Sie dieselben nur recht oft herauf zu mir!« »Dafür würde der Herr Gemahl wohl schön danken«, war die lachende Antwort, »ein Gelehrter und Dichter braucht vor allen Dingen Ruhe!«

»Es ist wahr«, antwortete Charlotte, »aber er ist ja jeden Tag mehrere Stunden ganz aus dem Hause!«

»Dazu gratulire ich Ihnen; es ist nichts schrecklicher, als einen Mann den ganzen Tag neben sich sitzen zu haben. Mein armer Mann dauert mich freilich oft, wenn er von früh bis [182] spät bei den Kranken herumlaufen muß, aber es ist doch für uns Beide besser, daß wir nicht immer zusammen sind.«

»Meinen Sie?«, fragte Charlotte ängstlich, »es war bisher mein größter Wunsch, mein Mann könne ganz ungestört zu Hause bleiben und sich nur nach Lust und Laune mit seinen Liebhabereien beschäftigen«.

»Das ist etwas Anderes; wer sein Leben mit den Musen zubringen kann, ist gewiß ein glücklicher Mensch, aber Wohlstand gehört dazu. Ich habe über diesen Punkt viel Kummer und Noth mit meinem ältesten Sohne. Er hat viel Talent, aber mein Mann besteht darauf, daß er sein ›Brodstudium‹ darüber nicht versäumt«.

Charlotte stützte sinnend den Kopf auf die Hand; sie wiederholte leise: »Aber Wohlstand gehört dazu! Ich glaube, Sie haben Recht, liebe Frau Doctorin, wir sind nicht reich, und ich glaube, mein Mann wird noch viel Bibliothekenstaub schlucken müssen, ehe wir so glücklich sind, nur von dem Ertrag seiner Feder leben zu können.«

»Es gehört schon viel dazu, damit eine Familie zu ernähren, aber darf ich Sie wohl fragen, was Herr X. bis jetzt geschrieben, damit wir uns auch in dieser Beziehung mit unseren lieben Hausgenossen näher bekannt machen können?« Die junge Frau erröthete leicht: »Ist der Name meines Mannes hier so wenig bekannt?« fragte sie leise. »Sie müssen mich entschuldigen«, versetzte die Doctorin gleichfalls in einiger Verlegenheit, »bei meinen sechs Kindern komme ich so wenig zum Lesen, daß es mir oft kaum möglich ist, die Zeitung durchzustudiren, aber dies habe ich mir zum Gesetz gemacht, mit der Welt, in der ich lebe, muß ich doch wenigstens fortgehen!« »Sie sind eine prächtige Frau«, rief Charlotte lebhaft und ergriff die Hand ihrer Besucherin, die sie herzlich drückte, »so muß ich auch werden, wie sie, so frisch und resolut und so voll Interesse für Alles, was uns umgibt«.

[183] Die Doctorin hielt ihre Hand fest und antwortete freundlich: »Sie müssen noch viel mehr werden und sind in vieler Beziehung schon viel mehr als ich. Die Frau eines Dichters hat noch höhere und geistigere Pflichten ihrem Manne gegenüber, als die eines schlichten Arztes. Dafür sind solche Frauen aber auch glücklicher und bevorzugter, als Viele unter uns.«

»Ja«, rief Charlotte und ein tiefes Roth malte ihre gewöhnlich bleiche Wange, und das dunkle Auge glühte in Begeisterung, »ja, ich bin glücklich, glücklicher als Alle, Alle!« Sie glitt bei diesen Worten von ihrem Sitze nieder auf die vor ihr stehende Fußbank, und so knieend legte sie ihr Gesicht an die Brust ihrer schnell gewonnenen mütterlichen Freundin, und heiße Thränen strömten darüber hin. Frau Z. strich ihr zärtlich über das volle Haar und sagte begütigend: »Sie sind viel zu aufgeregt, mein liebes Kind, es ist gut, daß Sie bei einem Arzte im Hause wohnen, der muß Ihnen ein niederschlagendes Pulver verschreiben«; aber Charlotte ließ sich nicht irren, sie hob ihr Haupt empor, und, indem sie in die freundlichen Augen blickte, die liebevoll auf ihr ruhten, fuhr sie fort: »Sehen Sie, ich hätte nie im Leben einen gewöhnlichen Mann heirathen können! Was waren mir die Lieutenants, die Referendars, die Beamten, die mir den Hof machten, und von denen Mancher eine ernstere Erklärung wagte. Es mögen recht strebsame, recht bedeutende Männer unter ihnen gewesen sein, aber Keiner vermochte mir Sympathie einzuflößen«.

»Nur der Dichter konnte es, Sie Schwärmerin?« schaltete Frau Z. lächelnd ein.

»Sagen Sie nicht der Dichter als solcher, als ein Mensch, der nur Verse macht oder Novellen schreibt, nein, der Mensch, der sich in einer höheren und schöneren Welt bewegt, der frei ist von den eingebildeten Vorurtheilen, die ein besonderer Stand mit sich bringt, der unabhängig und frei empfindet, was recht und gut ist, und sein Herzblut daran setzt, es zu verwirklichen. [184] Nur einen solchen Mann konnte ich lieben und ihm zu eigen sein!«

»Und haben Sie dies Alles gefunden?« fragte Frau Z. fast zögernd.

»Ich muß es gefunden haben, dafür bürgt mir meines Adolph Talent, seine Liebe zum Schönen und Großen, die Begeisterung, mit der er darüber redet.«

»Er hat noch nicht viel geschrieben?«

»Nein, aber jetzt in seiner Häuslichkeit, an meiner Brust wird er die Ausdauer, die Ruhe dazu finden. Die Störungen, welche sein Tagewerk mit sich bringt, werde ich ihm durch meine Aneiferung, mein Interesse vergessen machen. Ich werde es keinen Augenblick meines Lebens vergessen, daß ich die Frau eines Dichters bin und in diesem Sinne für den Geliebten leben muß!«

Die Doctorin drückte den Kopf der jungen Frau an ihr Herz und küßte sie auf die Stirne: »Thun Sie das, meine liebe schwärmerische Freundin, aber wenn Sie die Prosa brauchen, dann kommen Sie herunter zu mir und holen Sie sich guten Rath.« Mit diesen Worten erhob sie sich, Charlotte folgte ihr zur Thüre, aber ehe sie ging, setzte sie noch mit lächelnder Miene hinzu: »Daß Sie mir aber nur meinem Ludwig nicht zu viel von Ihrer Dichterbegeisterung erzählen, erst muß der Junge etwas Tüchtiges lernen, ehe er daran denken darf!«

»In seinem Auge liegt ein tiefes, bedeutendes Leben; obgleich er mich, als ich Sie gestern unten besuchte und er diesesmal stille halten mußte, kaum ansah, konnte ich soviel doch bemerken.«

»Ja, er ist ein bedeutender Mensch,« sagte die Mutter zärtlich, »und wenn Alles so wird, wie wir es uns denken, dann werde ich noch große Freude an ihm erleben. Dann bekomme ich auch einen Dichter!« setzte sie lachend hinzu. »Aber nun leben Sie wohl, meine liebe, junge Frau, kommen Sie bald zu mir herunter. Adieu, Adieu, ich eile, eben kommt der [185] Herr Gemahl die Treppe herauf!« Mit diesen Worten eilte sie rasch die Stiegen hinunter und war schon in die Glasthüre herein, ehe noch ein schlanker Mann, der bedächtig herauf stieg, seinen Gruß anbringen konnte. Es war Charlotten's Gatte, er ging wie in Gedanken versunken und sah erst lächelnd auf, als ihm ihre helle Stimme von Oben herab freudig zurief: »Guten Tag, Adolph, wie schön, daß Du kommst!« Nun beschleunigte sich sein Schritt, er flog die paar letzten Stufen hinauf und schloß die schlanke Gestalt stürmisch in seine Arme. Sie zog ihn herein und an den Tisch vor ihrem Sopha, wo ein Veilchenkranz auf einem zierlichen Porcellanteller süße Düfte ausströmte. »Siehst Du Adolph, es ist nun Frühling, wirklicher Frühling, die Veilchen sind da«, rief sie schmeichelnd und legte den Kopf auf seine Schulter, »sobald Du kannst, gehen wir dort die Höhe hinauf, in den Buchenwald, und da sollst Du mir ein Frühlingslied singen, wie es vielleicht noch keinem Dichter gelungen ist und das Keiner ungerührt hören kann!«

Er küßte ihren Mund, ihre Wangen und sah ihr tief in die dunklen, schwärmerischen Augen, dann sagte er lächelnd: »Frühlingslieder, Kind, die will ich den Vögeln und kleineren Talenten überlassen; Dein Sänger wählt sich höhere Gegenstände. Im Oriente wächst der Lotos meiner Dichtung, und Egypten's Pyramiden sollen darauf herab schauen, wie einst auf Napoleon's Siege.«

»Warum willst Du nicht in der Heimath bleiben, sie ist doch schön?« fragte sie dagegen mit lieblich sinnendem Blick. »Das verstehst Du nicht, meine gute Lotte; hier ist Alles abgedroschen, Alles alt und abgegriffen; nur Neues, Fremdartiges kann mir die Muse in der Brust erwecken!«

»Gewiß, ich verstehe es nicht«, sagte sie freundlich zustimmend, »ich glaubte, der Dichter finde überall die Blumen zu seinen Kränzen, und wenn es auch nur Haidekraut und Ginster wäre, [186] so könnten sie doch unter seiner Hand sich zu poetischer Schönheit fügen«.

»Du irrest, mein Kind, nur der große Gegenstand macht den Dichter und ich muß hier verkümmern in kleinen, elenden Verhältnissen!« Er ließ Charlotte los und ging finster im Zimmer auf und nieder. Sie ließ ihn einen Augenblick ruhig gewähren, dann rief sie mit so süßer Stimme: »Adolph!«, daß er wie gebannt sich zu ihr hinwandte. Sie saß wieder auf dem Sessel am Fenster, eine Epheuranke senkte sich auf ihr Haupt und umwand es fast mit einem Kranze, unter welchem das edle, schöngeschnittene Gesicht hervorsah. Im nächsten Augenblick lag er zu ihren Füßen und barg den Kopf in ihrem Schooße. »Meine Charlotte, meine Muse, mein Alles!« rief er mit erstickter Stimme, »zürne mir nicht, wenn ich klage; in meiner Brust hebt und drängt es sich von wechselnden Gestalten, sie dürsten nach Dasein, nach Leben, und ich kann es ihnen nicht geben. Ich fühle es, daß ich zu Großem geboren bin, es muß kommen. Du wirst die Zauberin sein, die alle Schätze meines Geistes und meines Herzens hebt.« Sie hatte die reine Stirn niedergesenkt auf sein blondes Haupthaar, eine Thräne hing an ihrer Wange, und wieder sagte sie mit der melodischen, süßen Stimme nichts als »Adolph«! aber in diesem einen Wort lag Alles, was die Hingebung eines Weibes auszudrücken vermag. –

Charlotte Klein war eine Waise, aber wohlhabende Verwandte hatten nichts versäumt, ihren Geist und ihr Gemüth so auszubilden, wie es Beider würdig war. Sie war in Berlin geboren und erzogen, und ihr ganzes Wesen war noch durchdrungen von einem Nachhall jener Sentimentalität und Romantik, wie diese so lange dort herrschend gewesen. Zu begabt und gebildet, um nur leer zu schwärmen, hatte sich doch schon frühe in ihr ein Hang zur Idealität entwickelt, der sich gern auf äußere Dinge übertrug. Hübsch, geistvoll und vielfach in die Gesellschaft eingeführt, hatte es ihr schon frühe nicht an [187] Bewerbern aus verschiedenen Ständen gefehlt. Wäre sie prosaischeren Sinns gewesen, sie würde wohl an dem Einen oder Andern Gefallen gefunden haben, aber sie wollte, daß auch ihre äußere Lebensstellung mit den Wünschen ihres Inneren harmonire. Es war ja ganz so, wie sie der Doctorin gesagt, sie fühlte es als eine Unmöglichkeit, sich in der Sphäre der Frau eines Beamten oder Militärs zu bewegen. Geistiges Leben, geistige Thätigkeit sollten sie umfluthen, und bei dieser Stimmung war es für einen Mann, der sich in einer solchen Stellung befand, sehr leicht möglich, ihr schon von vornherein ein erhöhtes Interesse einzuflößen. Bei einer Abendgesellschaft in Berlin lernte sie Arthur Hohenstein kennen. Er hielt sich einige Wochen dort auf, um Studien an der Bibliothek zu machen, und war durch Empfehlungsbriefe bei Freunden, die ihr nahe standen, eingeführt. Schon am ersten Abend machte er einen bleibenden Eindruck auf ihr Herz. Sein ganzes äußeres Gebahren war das eines außergewöhnlichen oder genialen Menschen, ohne dabei irgendwie affectirt oder gemacht zu erscheinen. Von schlankem Wuchs und nicht unangenehmen Gesichtszügen, war eine gewisse Steifheit in seiner Haltung und seinen Bewegungen nicht gerade störend. Sie gaben ihm die imponirende Ruhe, ohne welche wir uns den deutschen Gelehrten nicht wohl denken können, und darin ward er unterstützt durch eine vielseitige Bildung, welche ihm erlaubte, sich auf verschiedenen Gebieten des Wissens mit Leichtigkeit zu bewegen und durch eine höchst gewählte Ausdrucksweise, welche oft nur von Eingeweihten verstanden wurde. Weit entfernt von der Einfachheit bewegte sich seine Conversation so ruhig im Tone einer höheren Sphäre, daß er schon allein da durch Charlotten imponirte. Sie hatte Mühe, ihm zu folgen, sie bewunderte den Geist, der sich mit so großer Leichtigkeit fast sogar die Ausdrucksweise des Volkes anzueignen wußte, von dessen Literatur oder Sprache er redete. Je ferner diese Beziehungen lagen, um so überraschender [188] erschien diese Summe von Gelehrsamkeit; um so reizender ward es sich mit ihm zu unterhalten, je weniger Fremdere diese eigenthümliche Weise, in welcher allerdings nur wahrhaft Gebildete sich zurecht zu finden wußten, verstanden.

Charlotten's Geist war umstrickt, ehe noch ihr Herz sich's gestehen mochte, daß sie jedem Abend, den sie in Arthur's Gesellschaft zubringen sollte, mit Spannung entgegensah. Hohenstein beseelte die gleiche Empfindung.

Er hatte im Ganzen wenig Glück bei der Frauenwelt; sein Gespräch war ermüdend, oft hieroglyphisch dunkel für solche, die ihm nicht an allgemeiner Bildung nahe standen, dabei fehlten ihm die leichten Umgangsformen, welche so leicht selbst die Besseren des weiblichen Geschlechts einzunehmen verstehen. Er tanzte nicht, er musicirte nicht, Gesellschaftsspiele waren ihm zuwider; das einzige Talent, welches er in hoher Vollkommenheit besaß, war die Gabe des Vorlesens, aber auch dieses kann sich nur in kleineren und gewählteren Kreisen geltend machen. Charlotten ergriff es mächtig, ihn eine schöne Dichtung vortragen zu hören, und wenn sie dann, ihm zu danken, an den Flügel trat und ohne große technische Vollendung, aber mit dem herrlichsten Ausdruck eine einfache Piece vortrug, dann klang in Beiden die Gewißheit wieder, daß sie einander verstanden, und daß Eines des Anderen würdig war. Und eben weil Arthur Hohenstein es eigentlich nicht verstand, im gewöhnlichen Sinne den Hof zu machen, sog ihr Ohr jedes seiner Schmeichelworte mit Entzücken ein. Ihre Stirne glühte, wenn er ihr von den persischen Dichtern erzählte, und wenn er sie dann seinen Ferver nannte, halb lächelnd, aber doch mit einem Blicke, der die ganze Bedeutung des Wortes enthüllte. Jeden andren Mann würde sie ausgelacht haben, wenn er sie so unvermittelt als seinen Schutzengel, als sein besseres Selbst bezeichnet hätte – hier, umgeben von dem Duft des Ausländischen, einer fremdartigen Poesie, machte dies Wort sie erröthen, und indem sie lächelnd und[189] verwirrt die Augen senkte, sagte sie dem Manne genug, dessen Herz sich schon lange nach Liebe sehnte, dessen eitler Geist schon lange nach einem Triumphe schmachtete. So wuchs ihr gegenseitiges Interesse, und es bedurfte nur noch eines äußeren Anstoßes um es sich gegenseitig zu gestehen. Hohensteins Anwesenheit in Berlin ging ihrem Ende entgegen; er hatte bei seinen und Charlotten's gemeinschaftlichen Freunden versprochen, noch einmal vorzulesen, ehe er reise. Der kleine Kreis war gespannt, was er bringen würde; aber er hätte kaum Schöneres und Lieblicheres wählen können. Er las jenes herrliche, unnachahmliche Gedicht des fernen Indiens, jene wunderbare Sakontala, die uns wie ein Zaubermärchen von der Gesittung und den Geistesschätzen eines Volkes erzählt, das heute fast zu den Vergessenen gehört. Er las es mit dem ganzen Zauber seines Talents und in dem erhöhten Gefühl, daß eine Seele ihm lausche, für die jedes Wort eine doppelte tiefere Bedeutung habe, und er verfehlte seine Wirkung nicht. Als er geendet, als die Andern sich im lebhaften Gespräch über die reiche Schönheit der ihnen vorher fremd gewesenen Dichtung ergossen, lehnte Charlotte schweigend zurück in ihren Sessel, den sie vorher etwas zurück aus dem hellsten Bereich des Lichtes geschoben hatte. Sie war tief ergriffen, und in solchen Momenten ist Schweigen der höchste Preis, welcher dem Genius des Schönen gezollt werden kann. Hohenstein verstand sie ganz, und er wollte die Blüthe dieses Augenblicks pflücken. Er setzte sich leise neben sie, neigte seinen Mund fast bis an ihr Ohr und sagte flüsternd: »Duschmente war doch glücklicher als ich; mit seinem Herzen verlor er auch das Gedächtniß, und als dieses ihm wiederkehrte, war ihm auch schon die Erfüllung nahe. Was aber soll mir die Erinnerung, wenn ich fern bin ohne diese?

Charlotte versuchte zu lächeln und antwortete kaum vernehmlich: »Vielleicht nehmen sich dann auch Ihrer die Götter an«.

[190] »O so gib mir ein äußeres Zeichen, ein Amulet, das mir gleich dem Ringe der Sakontala das Recht gibt, das Gedächtniß Deines Herzens zu wecken, wenn es meiner vergessen könnte.«

Sie streifte schweigend und erglühend einen schmalen Goldreif vom Finger, den ihre Mutter schon als Mädchen getragen, und den sie seit dem Tode derselben nie mehr abgelegt hatte. Als Kind trug sie ihn an einem schwarzen Band um den Hals, später an der Hand. Man hatte sie schon manchmal mit diesem Ring, der fast wie ein Trauring aussah, in Hohensteins Gegenwart geneckt, er wußte, daß er ihr überaus theuer war; sie konnte ihm kein werthvolleres Zeichen ihrer Neigung geben. Langsam glitt er von ihrer feinen Hand nieder zwischen die Falten ihres schwarzseidnen Kleides; ehe er zu Boden fiel, fing Arthur ihn auf, und indem sich Beide mit einem Blicke ansahen, der mehr sagte, als Worte je vermögen, drückte er ihn an seine Lippen und verbarg ihn dann in seiner Hand. So stumm, unentweiht durch ein überflüssiges Wort, lieblich und geheimnißvoll wie ein Märchen, schlossen sie den Bund ihrer Seelen. Poetischer konnte nicht ausgedrückt, zärter nicht erwidert werden, was Eines von dem Andren wünschte. Beiden war es mit ihrer Liebe heiliger Ernst in dieser Stunde, Beide sahen sich am Ziele ihrer heißesten Wünsche, und Charlotte insbesondere fühlte die ganze Seligkeit eines Herzens, das seinen schönsten Traum ganz so verwirklicht sieht, wie es ihn seit Jahren geträumt. Sie war die Braut nicht allein eines gelehrten Mannes, von feinem, gewähltem Geiste, sondern auch von dichterischer Begabung; sie konnte mit ihm auf des Lebens reichster Höhe gehen, eine höhere und reinere Gedankenwelt sollte sie in seinen Armen umwehen, ihr Durst nach dem Idealen sollte an seinem Herzen Befriedigung finden. – Hohensteins Bewerbung um ihre Hand fand nur wenigen oder keinen Widerstand bei den Verwandten, die sich der Elternlosen liebend angenommen. [191] Es hätte auch nichts genützt; sie war 24 Jahre alt, konnte frei über ihre Hand und ihr kleines Vermögen verfügen, dessen Einkünfte, mit dem Gehalte verbunden, den Hohenstein als Bibliothekar bezog, ihnen ein bescheidnes aber anständiges Auskommen sicherte. Was sich daran von hochfliegenden Plänen knüpfte, bezüglich der Einnahmequellen, welche er sich durch seine dichterischen Productionen zu verschaffen hoffte, konnte dazu den »schönen Ueberfluß« bilden, welcher, wie eine geistreiche Schriftstellerin sagt: »allein glücklich macht!« Aber Arthur knüpfe die für ihn angenehmere Hoffnung daran, dann seiner Stellung, deren Pflichten ihn an gewisse Tagesstunden bannten, zu entsagen. Er gehörte trotz seines Geistes zu den Menschen, die sich wenig selbst kennen. Er glaubte, was ihn an der freien Entfaltung seines dichterischen Talentes hindere, sei der Zwang eines täglich zur bestimmten Stunde wiederkehrenden Geschäftes. Schon seit Jahren trug er sich mit den hochfliegendsten Plänen der poetischen Werke, die er vollenden wollte; daß nur selten Fragmente davon auf das Papier kamen, schien ihm zumeist die Schuld seiner Beschäftigung. Er fragte sich nie, ob es nicht umgekehrt diese sei, welche ihn zum Dichten anrege, ob es ihm nicht wohl ergehe wie Byron, der von sich selbst sagt, daß er nie ein ihn anregendes Buch gelesen, ohne sogleich den Gedanken zu fassen, ein ähnliches zu schreiben. Daß der wahre Dichter einen solchen Gedanken nie ausführt, ist selbstverständlich, aber Hohenstein wollte ihn verwirklichen; die fremde Gluth, welche ihn, den ästhetisch gebildeten Mann, erwärmte, hielt er nur zu oft für eigene. So schwankte er von einem Standpunkt auf den andern, die Flamme eines neuen Enthusiasmus löschte die des alten aus; er kam nie zu der höheren Sammlung seiner Kräfte, die Keiner mehr als der Dichter bedarf. »Aeußere Schranken sind es, die mich hemmen!« rief er oft verzweiflungsvoll, denn oft glich sein Zustand dem des Tantalus. Seine Phantasie ließ ihn in weiter, dämmernder[192] Ferne edle, herrliche Gestalten erblicken, die sein Genius geschaffen, aber wenn er sie in Wirklichkeit fest halten wollte, zerrannen sie in Schaum und Luft. Zu dem Kleinen, Naheliegenden wollte er sich nicht bequemen; zu gebildet, um nur ein Dichterling sein zu können, griff er nach dem Außergewöhnlichen, wähnend, daß allein die Wahl des Stoffes schon hinreiche, den höheren Genius zu bekunden. Er vergaß, daß die Quellen der Poesie uns überall umrauschen, und zuerst in dem Busen dessen, der ihr zu dienen erwählt ist. Sein Studium der orientalischen Sprache und Litteratur hatte ihn, wie schon früher Anderes, zu dem Glauben verleitet, daß dort im Morgenlande auf's Neue die Blume der Dichtung entsprießen müsse. Hat nicht Göthe selbst in seinen letzten Lebensjahren durch seine spätesten Dichtungen auf diesen Pfad gewinkt? Seit ihn diese Idee erfaßt, beherrschte sie Hohenstein vollständig und er verachtete gewissermaßen Jeden, der noch im Vaterlande sich zu Dichterflügen zu begeistern vermöge. In dieser Stimmung lernte er Charlotten kennen; es war keine Täuschung, wenn er in ihr das Wesen erkannte, welches fähig war, durch die Idealität des eigenen Innern einen Mann zu stützen, dessen Streben nach Höherem, als dem Gewöhnlichen ging. Durchaus nicht unfrei von einer gewissen ästhetischen Schwärmerei, widerstrebte ihr das Gemachte, der Mangel an Einfachheit in Hohensteins Wesen nicht. Seine pathetische Ausdrucksweise imponirte ihr, und bei einer Dame war es vollständig verzeihlich, daß sie Vieles für Gelehrsamkeit hielt, was genauer besehen nur für Phrase gelten konnte. – Mit heißer Ungeduld sahen Beide dem Augenblick entgegen, der sie auf immer vereinen sollte. Für Hohenstein mischte sich nur der eine Wehmuthstropfen hinein, daß er nun genöthigt war, vorläufig an seiner Stellung festzuhalten, ohne welche er keine Familie begründen konnte, Charlotte aber war ganz Glück und Hingebung. Arthur fühlte sich in dieser Zeit wirklich poetisch angeregt, manches zarte, tiefempfundene [193] Gedicht wanderte zu der Geliebten, und was lag ihr daran, ob sie als Suleika und Annesuja oder als Charlotte besungen wurde – im Gegentheil, der Zauber einer fremden Umgebung erhöhte noch den Reiz, der ihr aus diesen Ghaselen und Sonnetten floß und sie lächelte selig, wenn die Phantasie ihres Geliebten die Spree in den Ganges verwandelte, an dem sie hinwandelte mit der Anmuth einer Gazelle. Im Frühjahr holte Arthur sie heim in die kleine Residenz, in der er geboren und erzogen war, und in der man, wie sie voll Staunen aus dem Munde ihrer mütterlichen Freundin vernommen, so wenig von seiner Eigenschaft als Dichter wußte. War dies allein Arthurs Schuld? O, nein, arme Charlotte, du wirst es noch erfahren, wie viel in kleinen, deutschen Residenzen ein Dichter gilt, und noch dazu in jener Zeit. Ist das nicht ein Mensch, dem eigentlich Jeder auf zehn Schritte aus dem Wege gehen muß, und auf den die Kinder fast mit Fingern deuten? Dieser gefährliche Mensch hat den Muth zu denken und zu träumen und wenn diese Träume laut werden, dann weht ein anderer, schönerer Geist darin, als in diesen chinesischen Bureaukraten- und Offizierskreisen erlaubt ist.

Wozu braucht man dort Menschen von Geist, von eigner Gesinnung, von ideellem Schwung? Festgeschlossen stehen die Kasten der Gesellschaft da, in Stein gegraben die Urtheile, welche dort allein gelten dürfen. Hier wird ein Sänger gefeiert, vergöttert, – wehe dem Frechen, der es wagt zu sagen: »Der gute Mann singt falsch, und wenn er so fortsingt, wird er in zwei Jahren seine Stimme ruinirt haben!« Steinigt ihn! ruft die Menge, er erlaubt sich eine andere Meinung zu haben, als wir. Dort stellt ein Maler ein Bild aus, das dem neuesten Modegeschmack huldigt, man drängt sich vor demselben, man ist entzückt, man proclamirt einen zweiten Raphael. Eine schüchterne Stimme läßt sich dagegen vernehmen; sie will gar nicht verwerfen, kaum tadeln, nur klar machen, was vielleicht anders und besser sein [194] könnte. Steinigt ihn, ruft es wieder, wir haben geruht zu loben, der Maler gehört zu den Unsern, er ist einer von unsrer Coterie, von unsern Frommen oder unsern Dienstbeflissenen, sein Werk ist mithin über jeden Tadel erhaben. – Ein neues Buch taucht auf, ein Buch voll widerlicher Süßlichkeit und Sentimentalität, aber es huldigt der Menge, oder der Dichter, der natürlich nicht in der nämlichen Stadt leben darf, ist vielleicht der Vetter eines Hochgestellten; natürlich ist es das Buch aller Bücher, und wer nicht mit einstimmt in den allgemeinen Jubel, der ist abermals nichts als ein Ungläubiger, ein Ketzer, ein verlorner Mensch.

Arme Charlotte, die du in größeren Kreisen aufgewachsen, du ahnst noch nichts von der geistigen Stagnation der kleinen Städte, wo der Genius für einen Narren gilt, und wo das Talent entweder verkümmert oder systematisch zu Grunde gerichtet wird, wenn es in diese Zauberkreise, wo die schlimmste geistige Unfreiheit herrscht, hineingeräth. So wirst du auch deinen Arthur finden – obschon er an Geist und Bildung um Kopfeslänge alle diese Pygmäen überragt, muß er sich doch sozusagen scheu an den Wänden hindrücken, muß er doch mit jeder Miene um Verzeihung bitten, daß er wirklich Geist besitzt, und jene kaum den blassen Schein davon!

II

Es war ein fröhliches Drängen und Treiben vor einem hohen Hause in der Altstadt, das mit seinem Giebeldache und den kleinen, halbblinden Fensterscheiben so recht sein hohes Alter bekundete und eher allem Andern glich, als der heiligen Stätte, wo die klassische Jugend der Stadt ihre Bildung empfing. Und doch war es so; umgeben von den kleinen Plebejern der anliegenden engen Straßen, hob sich ganz bestimmt die Schaar [195] der Gymnasialschüler hervor, nicht allein durch die rothen, blauen und schwarzen Mützen, welche die verschiedenen Klassen kennzeichneten, sondern auch durch die Kleidung und das Benehmen, welches, wenn auch häufig eben so ungezogen, als das der andern Jungen, doch in seiner Besonderheit zeigte: »Sie sind guter Leute Kind«. Und die guten Leute, denen sie angehören, gehen diesesmal, freundlich hier und dorthin nickend, durch den dichten Schwarm in das Haus hinein, wo heute zum Schlusse des Cursus der gewöhnliche Rede-Aktus stattfinden soll. Manches Söhnlein dieser feierlich hinwallenden Eltern soll sich heute öffentlich vernehmen lassen, im Gesang oder im freien Vortrag eines entweder selbst ausgearbeiteten Aufsatzes oder eines Gedichtes, welches der Schöngeist des Gymnasiums, der Professor der deutschen Sprache, nie versäumte, bei diesen Gelegenheiten zu dichten. Bald war es eine Ballade, bald ein lyrischer Erguß, den er dem unglücklichen Rhapsoden in höchsteigner Person unter den gewichtigsten Auseinandersetzungen über Declamation und Verskunde, worüber dem Armen, der nicht den zwanzigsten Theil davon verstand, im wahren Sinn des Wortes der Kopf beinahe brannte, einstudirte. Auch heute wieder sollte eine seiner berühmtesten Balladen vorgetragen werden, welche also anfing: »Pipin der Kleine war nicht groß, doch Karls des Großen Vater«, und im gehobensten Gefühl seiner Würde stand der kleine Mann lebhaft gesticulirend in einem Kreis von Lehrern, die mit ihm die Ankunft des Directors und damit den Beginn der Feierlichkeit erwarteten. »Sehen Sie die verdammten Jungens«, rief er plötzlich, sich in einer längeren Auseinandersetzung über den Werth seiner eigenen Dichtungen selbst unterbrechend, was von seinen Zuhörern mit manchem verstohlenen Lächeln und spöttischem Zusammenziehen des Mundes vernommen wurde, »sehen Sie, wie sie da wieder hineinlaufen zu dem Bäcker Becht und die sauer erworbenen Groschen ihrer Eltern für Wurstwecken verschleudern!« In der That sah man einen ganzen Zug der verschiedenen Mützen sich zu einem kleinen [196] niedren Fenster drängen, zu dem in gefährlichster Aufthürmung drei ganz schmale Treppen hinaufführten. Einer nach dem andern erklomm die steile Höhe, um aus den Händen einer kleinen appetitlichen Bäckersfrau die leckere Speise zu empfangen, welche in einer in Teig eingehüllten Wurst bestand. Jeden Augenblick konnte die Glocke das Zeichen zum Anfang der Feierlichkeit geben, um so ungestümer wogte es um den schmalen Treppenstein, den Jeder zuerst zu erklimmen hoffte, Püffe und Stöße regnete es in Menge, gar manche der bunten Sonntagsmützen flog, zum lauten Ergötzen der Straßenjugend, in den Straßenkoth. Die Lehrer sahen lächelnd dem Durcheinander zu, aber der kleine Professor der deutschen Sprache und Aesthetik konnte sich nicht darüber zufrieden geben. »O, diese ungeschlachten Bengel«, rief er zornig, »in's Carcer sollte man alle die frechen Buben schicken; wie sie ihre Sonntagskleider verderben, wie sie sich Hände und Gesicht mit Fett beschmieren, es ist unerhört!«

»Nun, werthester Herr College«, unterbrach ihn ein langer, hagerer Mann mit einer auffallend rothen Nase, der Lehrer der Mathematik, »vergessen Sie nicht, daß wir auch einmal jung gewesen sind, daß wir mehr als einmal an diesem tarpejischen Felsen, der zum Bäcker hinaufführt, und dessen weichen Sandstein die Füße von mehreren Generationen bearbeitet und polirt haben, aneinander zum Verräther geworden sind!«

»Wenn wir auch nur jetzt nicht mehr aneinander zum Verräther werden!« sagte hinter ihnen eine scharfe Stimme, dem Lehrer der Geographie angehörend, einem Manne, dem seine eigenthümliche Gesichtsbildung bei der immer zum Spott geneigten Jugend den Namen: »der Frosch« eingetragen hatte. Aber trotz seiner Strenge und dem wenig respectvollen Unnamen respectirte und liebte man den Frosch. Er war ein gescheidter Mann, weit gereist, und so wußte er den Jungen Vieles anschaulich zu machen, was sie sonst nur trocken aus dem Buche [197] lernen mußten. Dabei war er streng gerecht und in Folge davon in häufigem Streit mit dem Aesthetiker, der immer seine Schützlinge und Unterdrückten hatte, so daß seine Ungerechtigkeiten fortwährenden Anlaß zu Reibereien zwischen ihm und den Schülern gaben. Mehr als einmal suchten sie ihr Recht bei dem »Frosch«, der dann mit unnachahmlicher Ruhe voranschritt und den Director, einen feinen Gelehrten, aber ängstlichen Mann, der den Frieden über Alles liebte, in seiner Pflicht unterstützte.

Professor Landmann haßte ihn mit aller Gluth, deren sein lebhaftes Gefühl fähig war, aber er wußte dies schlau zu verbergen, und obgleich er sich bei der scharfen Einsprache fast erschrocken umwandte, sagte er doch sogleich freundlich: »Dies wollen wir nicht hoffen, wie kommen Sie darauf, werther College?«

»Nun, man kommt so auf allerhand«, antwortete der Andere trocken, »die burschenschaftlichen Untersuchungen scheinen wieder in Gang zu kommen, und da läßt sich gewiß noch Manches aufdecken und erzählen und höhren Ortes anbringen, wenn man gut unterrichtet ist.«

Er sah dabei den Professor fest an, so daß dieser fast verwirrt den Blick hinwegwandte, dann aber, sich schnell fassend, wieder auf das wogende Meer vor ihnen deutete und ausrief: »Ja, sehen Sie, das ist es, was ich vorhin noch sagen wollte, man ist wieder hinter diesen verwünschten Burschenschaften her, mit allem Rechte, sage ich; was wollen sie anders, als Revolution, Umwälzung, Blutbad, Schreckensregierung und Alles das? Und nun betrachten Sie diese Jungen, mit ihren verschiedenen Mützen, es sind geheime Abzeichen, glauben Sie mir, man darf es nicht dulden, ich werde den Director darauf aufmerksam machen!«

Ein schallendes Gelächter des Frosches unterbrach ihn: »Sind Sie nicht gescheut, Landmann? Kindereien sind es, die [198] Jungen verabreden sich in der Klasse, welche Farbe ihnen am besten gefällt, und tragen dieselben Mützen, um sich gegenseitig besser zu erkennen.«

»Sich gegenseitig besser zu erkennen, ja das ist es, die bunten Mützen müssen verboten werden!«

»Als staatsgefährlich, natürlich«! höhnte der Geograph, und die Andern stimmten lachend ein.

»Das wäre mir ein schöner Staat, der von den rothen und grünen Kappen der Buben da unten umfiele!« rief der Mathematiker lustig.

»Sie sind keine Pädagogen, meine Herren«, rief der Professor wüthend, »man muß bei der Jugend voraussetzen, daß sie etwas im Schilde führt, besonders bei der Heutigen; die verfluchten Revolutionsideen stecken ihr in Fleisch und Bein!« Die Discussion ward hitziger auf diesen Ausfall, und währenddessen fröhnten die Inhaber der staatsgefährlichen Mützen ungestört ihrem Ehrgeiz, der ganz gewiß für jetzt nichts Höheres erstrebte, als die glückliche Eroberung eines Wurstwecken. Das Glück war ihnen günstig; die Stunde schien zögernd inne zu halten, und fast Alle waren befriedigt, ausgenommen einige wenige Pechvögel, deren Loos es war, immer zuletzt anzukommen, und die schon gewöhnt waren, sich geduldig zu fügen. Da gab es eine Bewegung und ein Verstummen in dem eben noch so lebhaften Lehrerkreise; ein großer, corpulenter Mann mit geistvollem Gesichtsausdruck war zu ihnen getreten, und vor seiner ruhigen Größe schwieg jeder Streit, und Jeder beeilte sich den Director des Gymnasiums zu begrüßen. –

Während des soeben Erzählten hatte seitwärts von dieser eine andere Gruppe gestanden, zusammengesetzt aus einem Theil der ersten Klasse des Gymnasiums. Selbstverständlich nahmen sie keinen Theil an dem Sturm des Bäckerladens, dies den Jüngeren überlassend und nur sich ergötzend, ihrem tapferen Beginnen zuzuschauen. Es waren meist Abiturienten, Jünglinge [199] von 17 bis 18 Jahren, die heute zum Letzenmale sich hier versammelten, um nach Schluß der Ferien die Hochschule zu beziehen. Laut und lustig redeten sie durcheinander, die Welt war ihnen endlich aufgethan, und gleich jungen Titanen hofften sie hineinstürmend ihre schönsten Güter wie im Fluge zu erhaschen. Was ist der Jugend in dieser Zeit zu hoch, zu schwer oder zu tief? und wer möchte ihn ihr rauben, diesen Glauben an sich selbst, dies Vertrauen, daß sie kann, was sie will, daß sie erreichen wird, was sie erstrebt. Darin liegt ihre Stärke, ihre Schönheit, ihre Poesie, in diesem Selbstvertrauen, dieser kühnen Unbefangenheit der Welt gegenüber – dieser kalten, eisernen, unerbittlichen Welt, an der ihr Euch die bunten Schmetterlingsflügel abstoßen müßt, als ob sie Euch nur zu diesem Zwecke gewachsen wären! Einer der jungen Leute, eine schlanke Gestalt mit fast mädchenhaften Zügen, lehnte an dem Gitter, das den Hof von der Straße abschloß, und hatte schon lange träumerisch vor sich hingesehen, als ihn endlich der laute Anruf eines seiner Kameraden zu sich brachte. »Nun, Brandeis« rief er ihn an, »bist Du schon so ganz in Deine Rede und Deine Eitelkeit vertieft, daß Du nicht einmal mehr den Mund zu einem Lachen verziehen kannst über die tollen Jungen da unten?«

Der Angeredete richtete sich langsam auf: »Kameel«, sagte er ruhig, »was brauchst Du mich zu stören, ich betrachte mir noch einmal mit objectivem Blick da drüben unsern theuren Professor der Aesthetik und habe meinem Schöpfer gedankt, daß ich dem Menschen heute zum Letztenmale objectiv gegenüber stehe«.

»Dies Dankgebet hättest Du laut verrichten können, wir würden Alle mit eingestimmt haben«, rief ein kleines, zartes Bürschchen, den man kaum für einen Schüler der obersten Klasse halten konnte, so schmächtig sah er aus, und drehte sich dabei lustig auf dem Absatz herum.

[200] »Ja wohl!« stimmten Alle lachend ein, und Brandeis fuhr lebhafter fort: »Seht nur, wie er jetzt wieder perorirt und da unten auf die armen Würmer deutet, als ob sie sämmtlich schon für die Hölle reif wären! Ich wette, es macht ihm schon wieder Leibweh, daß die Jungen einerlei Kappen tragen!«

»Freilich«, rief der Kleine lustig, »hinter jeder blonden Locke wittert er einen Sand, hinter jeder Mütze einen Burschenschafter«.

»Natürlich,« fiel ein anderer ein, »es ist weit bequemer für ihn, die Litteraturstunde mit solchen Phantasmagorieen und mit Schelten über die verderbte Jugend auszufüllen, als einen ordentlichen Vortrag zu halten. Ihr seid ihn doch jetzt los, aber ich muß noch ein halbes Jahr lang zweimal wöchentlich den Unsinn anhören«.

»Dafür lobt er auch deine Gedichte und erklärt dich für einen zweiten Göthe«, sagte Ludwig Brandeis ruhig und schlug dem Sprecher gutmüthig auf die Schulter. Dieser ward feuerroth und stammelte: »Nun, das muß man ihm lassen, Talente weiß er zu erkennen und zu schätzen!« Ein homerisches Lachen erscholl, und der Kleine rief wieder munter dazwischen: »Das hat er bewiesen, als er Ludwigs Rede so schön kritisirte und ihm die Fetzen vor die Füße warf; was wäre denn daraus geworden, wenn der Director hier nicht einmal in seinem Leben Energie gezeigt hätte?«

»Schweigt mir von dem characterlosen Schuft«, sagte Ludwig finster, »ihr bringt mich noch ganz aus der nöthigen Stimmung!«

»Ah bah, wirst schon hinein kommen, wenn du auf dem Katheder stehst«, rief der Kleine wieder und sah den Freund dabei fast zärtlich an, dann drückte er die eine Hand fest zusammen, stellte sich in Positur, klopfte mit der andern Hand auf die Faust, wie auf einen Dosendeckel, und rief mit komischem [201] Pathos: »Nehmen sie nicht eine Prise meine Herren? Alle großen Männer schnupfen, Napoleon schnupfte, Friedrich der Große schnupfte, ich schnupfe auch!« Abermals erscholl ein lautes Gelächter, selbst Ludwigs üble Laune schien verschwunden, er nahm lebhaften Antheil an den bitteren Sarcasmen, die sich plötzlich von allen Seiten über den Professor ergossen, so bitter, wie sie eben nur der Jugend eigen sind, die viel einseitiger und schärfer urtheilt, als das Alter, wenn sie gereizt ist. Längst bekannte Anecdoten wurden aufgetischt, ohne jedoch ihre abermalige Wirkung auf das Zwerchfell zu verfehlen: Jeder wollte es am Besten wissen, wie der allgemeine Feind die Stunde mit allen möglichen Dingen herumbrachte, statt jenen, die hineingehörten, wie er Schiller als Dichter schmähte und heruntersetzte und dann aus der Tasche ein selbstverfaßtes Gedicht zog, welches er seinen jugendlichen Hörern als Muster einer Ballade oder Romanze vortrug. Noch verhaßter war er jedoch durch die Parteilichkeit und die Gehässigkeit, mit der er mit den Schülern verkehrte. Die Begabtesten waren ihm wahrhaft zuwider, er chikanirte sie, wo er konnte, und ließ keiner ihrer Leistungen Gerechtigkeit widerfahren. Auf deren Kosten bevorzugte er die kleineren Talente und trieb sie zur höchsten Selbstüberschätzung. So mit dem jungen Mann, der sich allein vorhin seiner angenommen und auch jetzt schweigend zwischen den Andern stand. Er war begabt, aber nicht als Dichter; einige wenige Versuche, die er in dieser Richtung gemacht, bewiesen es zur Genüge. Aber um Ludwig Brandeis, den hervorragensten der ganzen Klasse, zu demüthigen, erhob er den Anderen, der es natürlich gerne glaubte, zu einem Genie. »Der Landmann hat Dich auf dem Gewissen«, sagte ihm Ludwig oft warnend, »so wird nie etwas Rechtes aus dir«, aber wie hoch auch sein Wort sonst bei den Kameraden galt, der Eitelkeit des Einzelnen gegenüber verhallte es spurlos. Dem Director machten diese Zerwürfnisse der Schüler mit einem der Hauptlehrer nicht wenig Sorge; er [202] war ein feiner, stiller Gelehrte, der mehr in Griechenland und Rom, als Daheim lebte und den Frieden über Alles liebte. Die Schüler hingen mit unbegrenzter Verehrung an ihm; sie empfanden sein freundliches Wohlwollen in jedem Worte, das er zu ihnen sprach, und hatten in ihrem Jugendenthusiasmus keine Ahnung davon, wie auch er sie den falschen Weg führte, wie er eine ideale Welt in ihnen erweckte, die im Zusammenstoß mit der Wirklichkeit gerade in den Begabtesten, in seinen Lieblingen die härtesten Kämpfe hervorrufen mußte. Landmanns Auftreten war ihm in tiefster Seele zuwider, und oft seufzte er in der Stille seines Studirzimmers: »O! welchen Händen wird doch oft die Jugend, das Edelste was eine Nation besitzt, anvertraut!« Aber Landmann zu entfernen, war für ihn eine Sache der Unmöglichkeit, er stand zu fest bei der Regierung des Landes.

Seit der Julirevolution gährte und spuckte es in allen Köpfen, und zumeist in denen der Regierer, welchen vielleicht das böse Gewissen oft warnende Bilder der Zukunft vor den Geist führte. Ihren gefährlichsten Gegner ahnten sie mit Recht in der Jugend, die ja überall der Sauerteig des Lebens ist; daß sie aber auch zugleich der ungefährlichste aller Feinde, wenn man sie ruhig und unbemerkt ihren schönen Frühlingsrausch auslärmen und träumen läßt, davon wußte eine Metternich'sche Weisheit nichts oder wollte es nicht wissen, oder auch sie fühlte sich im eignen Innern so unsicher, daß das Geräusch eines Schmetterlings sie erbeben machte. Auf die Schmetterlinge mußte somit zunächst geachtet werben, man witterte Verschwörung in jeder unschuldigen Zusammenkunft, man glaubte, eine unsichtbare Gesellschaft der alten Burschenschaften strecke ihre Fühlfäden bis in jede höhere Lehranstalt aus. Landmann war ganz dazu geeignet, in einer solchen den Spion zu machen, und kaum war seine Phantasie von Derartigem eingenommen, als er auch schon überall Gespenster sah. Die kleineren Jungen [203] lachten ihn aus und begriffen nichts, wenn er in seinen gewohnten Fragen in der Stunde die albernsten Warnungen und Vermischungen anbrachte, die Großen hörten aufmerksam zu und stutzten.

Herr Landmann war so freundlich, sie gerade auf etwas aufmerksam zu machen, woran sie vorher nicht gedacht. Sie fanden es über die Maßen lächerlich und empfanden doch ein stilles Behagen dabei, daß man sich vor ihnen fürchten könne, daß man glaube sie seien im Stande, griechische oder römische Freiheitshelden zu spielen.

Mitten in den Tumult ihrer Reden scholl jetzt wieder vernehmlicher des Kleinen Stimme: »Zieht, Jungens, zieht, dort kommen Ludwigs Alte, und – wahrhaftig, sie ist auch dabei, die schöne Berlinerin, die Frau von Arthur Hohenstein!« Alle Köpfe wandten sich nach der Seite, wo wirklich in diesem Augenblick die Frau Doctorin Brandeis, welche wir schon als Charlottens Freundin und Hauswirthin kennen gelernt, am Arme ihres Gatten erschien. Es war eine Seltenheit, den vielbeschäftigten Arzt, der alle seine Zeit auf seine Kranken verwendete, einmal bei einer solchen Gelegenheit im Festtagskleide zu sehen. Es war auch heute ein Festtag für ihn; sein Ludwig, sein Aeltester, sollte öffentlich sprechen vor einem gewählten Publikum, vor seinen Lehrern und Kameraden. Daß seine Rede gut ausgearbeitet war, ja, daß sie vielleicht als Schriftstück glänzend genannt werden durfte, dies wußten die Eltern, aber, würde er auch gut sprechen, würde er nicht aufhören müssen? Dieser Gedanke beklemmte besonders das Herz der Mutter, welche die Schüchternheit ihres Ludwig nur zu gut kannte, und fast ängstlich flog ihr Auge hinüber zu dem Sohne, der sich jetzt wieder scheu und nachlässig an das Gitter lehnte, fast fürchtend, den Blicken der Eltern zu begegnen. Neben der Doctorin ging elastischen Schrittes Charlotte; die dunklen Locken flogen um die leichtgerötheten Wangen, und ihr braunes Auge [204] blickte gar freundlich auf die Gruppe der jungen, frischen Leute, die ehrerbietig grüßten, als sie vorübergingen.

»Sapperment, die ist nicht übel«, rief der Kleine, der sich schon darauf zu gute that, den Studenten zu spielen, »Ludwig, ich gratulire Dir zu Deinem Kamisol!« Alle lachten, aber Ludwig zog spöttisch die Lippe in die Höhe und sagte nur: »Berliner Blaustrumpf!«

»Geh', Du bist ein Wilder dem schönen Geschlecht gegenüber«, sagte jetzt der angehende Lyriker, »wirst schwindlicht beim Tanzen und warst gewiß noch nie im Leben verliebt!«

»Verliebt? auch das noch in diese einfältigen Geschöpfe, mit denen man kein vernünftiges Wort sprechen kann.«

»Auch nicht einmal in jene Rosenknospe, die eben mit Deiner liebenswürdigen Schwester den Alten nacheilt?«

Nun ward Ludwig roth: »Dummes Zeug,« sagte er, »ich sehe die Kleine schon, seit sie aus der Wickel ist, fast jeden Tag und spiele mit ihr, wie mit einem Kinde. Hübsch ist sie geworden, das muß ich gestehen, aber sonst ist das Gustchen noch gar zu klein- groß. Die Mädchen spielen wahrhaftig noch mit den Puppen, wenn sie sich auch schämen und sich immer vor mir einschließen, daß ich sie nicht zu sehr verhöhne.«

»Ach! ich wollte sie ließen mich mitspielen,« seufzte der Kleine schwermüthig, und ein unbändiges Lachen war die allgemeine Antwort.

»Schwatze keinen Unsinn, Wangenrode«, sagte Ludwig, »und mache mir lieber die Schnalle an meiner Kravatte auf. Nun meine Alten glücklich herein sind, kann ich das Marterinstrument in die Tasche stecken.«

Wangenrode gehorchte, wie er denn Alles that, was Ludwig ihm gebot, und hätte er ihm selbst gesagt, er solle dorthin zu den Lehrern gehen und dem Professor Landmann einen Nasenstüber geben.

[205] »Du willst doch nicht«, wandte der blondlockige Lyriker schüchtern ein, »so im bloßen Hals –«

»Freilich will ich: nicht drei Worte brächte ich heraus mit dem Strick um den Hals. Ha, Luft, Freiheit! ich glaubte vorhin zu ersticken!«

»Aber was werden Deine Alten sagen?«

»Meiner Mutter ist es einerlei, die ist viel zu vernünftig, um mir den Zwang anzuthun, und was den Papa betrifft, der mir freilich immer mit unerbittlicher Strenge das Ding da octroyirt, den hoffe ich mit den Lobsprüchen zu versöhnen, die mir der Cato einträgt.«

Der Lyriker, der unendlich viel auf Eleganz und Glacéhandschuhe hielt, wollte noch etwas sagen von der Unziemlichkeit, so vor einem geehrten Publikum zu erscheinen, aber die große Glocke, welche das Zeichen zum Anfang der Feierlichkeit gab, erscholl, und Alles setzte sich in Bewegung. Die Inhaber der verschiedenen bunten Mützen und glücklichen Bewältiger der Wurstwecken polterten zuerst hinein in den Saal, der bei solchen Gelegenheiten und bei den allsonntäglichen Predigten benutzt wurde, und nahmen ihre Plätze ein; ihnen folgten die älteren Schüler mit ruhigerer Haltung, und den Schluß machten die Lehrer. Drinnen war die Ordnung hergestellt, da Alles vorher bezeichnet worden. Etwa die Hälfte des niederen Saales, der durch schmale Glasscheiben ein dürftiges Licht empfing, war angefüllt mit den Eltern, Verwandten oder Freunden der Knaben, die bei der Feierlichkeit mitwirkten. Die Wände waren nur mit Kränzen von Fichtenlaub geschmückt, da es jetzt Ende März weder anderes Laub noch Blumen gab; das untere Wandende schmückte das Wappen des kleinen Staates, und fast verwundert schauten darauf die Köpfe von Plato und Sokrates, die sich in Gypsabgüssen daneben befanden. In der Mitte des Saales stand ein Flügel, an welchem der Singlehrer Platz nahm, und daneben erhob sich ein Katheder, für diejenigen bestimmt, die [206] Reden oder Gedichte vortragen sollten. Ein feierlicher Choral, von den Schülern gesungen, versetzte Publikum wie Vortragende in die rechte Stimmung, und nachdem noch zwei Knaben eine vierhändige Piece vorgetragen, kam der Vierzehnjährige an die Reihe, welcher die berühmte Ballade von Pipin, verfaßt und ihm selbst einstudirt von Professor Landmann, vortragen sollte. Es war ein runder, frischer Junge, dem von dem Genuß der Wurstbrezel noch ein glänzender Fettrand die frischen, rothen Lippen umglänzte. Mit heller, kecker Stimme fing er an, und es ging Alles ganz gut, bis der unglückliche Moment kam, wo Pipin mit einem Schlage dem Ochsen den Kopf vom Rumpfe trennt. War bis dahin das begleitende Geberdenspiel schon etwas zu lebhaft gewesen, so gab es doch jetzt den Gipfelpunkt der Ueberraschung. Der unglückliche Declamator, welcher sich nicht gerade durch außerordentliche Geistesgaben auszeichnete, befolgte nur zu treu, was ihm der Lehrer anbefohlen. Bei der ominösen Stelle erhob er die Hand und fuhr sich wie mit einem Schwerte damit über die Gurgel, als ob er selbst der Ochse sei, der geköpft worden. Ein verrätherisches Kichern erhob sich von der vordersten Bank, wo in einer Reihe das Häuflein der Selecta saß, deren Gespräch wir vorhin belauscht, wie ein Lauffeuer ging es durch die übrigen Bänke, und ehe noch der Arme die folgende Strophe beginnen konnte, brach unaufhaltsam ein lautes Lachen los, das sich nur zu bald auch dem Publikum mittheilte. Der Junge auf dem Katheder stand einen Augenblick wie versteinert, dann zog er ein sauber zusammengefaltetes, rothgewürfeltes Taschentuch hervor, brachte es an die Augen, fing laut zu schluchzen an und stürzte von dem Katheder herab, gerade auf Landmann zu, der blaß und bebend vor innerer Wuth dastand. »Ich habe es Ihnen ja gesagt, Herr Professor«, schrie der Junge außer sich, »ich wollte mich nicht selber köpfen!« »Schweig«, donnerte ihm Landmann entgegen, »wer hat Dich geheißen, die Geberde so auffallend [207] zu machen?« Wiederum scholl von der vordersten Bank das Signal zu einem neuen Lachsturm, und selbst die Lehrer drohten die Fassung zu verlieren; Einer wich hinter den Andern zurück, und Landmann wendete sich wüthend gegen die Selecta: »Schämt Euch, mit Eurem dummen Lachen, Ihr albernen Jungen! In's Carcer sollt ihr mir Alle!« schrie er sie an. Ein lautes Zischen antwortete, und die Feierlichkeit drohte sich in allgemeinen Tumult aufzulösen. Da erblickte man plötzlich auf dem Katheder die Gestalt des Directors, und allein der Anblick seines milden, geistvollen Gesichts genügte, die tolle Jugend herabzustimmen. Er winkte einigemale mit der Hand, bis Alles stille war, dann sagte er mit leiser, aber durch den ganzen Saal vernehmlicher Stimme: »Es ist ein Festtag heute, wir wollen darum Alles vergeben und vergessen; das verehrte Publikum wird sich erinnern, daß dasselbe hier mit jugendlichen Leistungen zu thun hat; unser kleiner Declamator, ein braver, lieber Junge, wird ein andres Mal seine Sache besser machen, und mein verehrter College wird verzeihen, daß seine schöne Dichtung so unzeitgemäß unterbrochen wurde, wenn er erwägt, wie Gott Momus als neckischer Kobold auch oft bei ernstem Geschäft sein Spiel treibt.« Ein kleiner sarkastischer Zug spielte, vielleicht ihm selbst unbewußt, bei diesen Worten um seine Lippen, und der Angeredete drückte sich leichenblaß in eine Fensternische, zwischen den Zähnen knirschend: »Sie sollen mir's noch Alle entgelten, die frechen Jungen da vorn!« Dann wandte sich der Director mit ernsterer Miene nach den Schülern und fuhr mit gehobnerer Stimme fort: »Von Euch, meine Freunde, erwarte ich jetzt die Ruhe, welche der Feierlichkeit dieser Stunde geziemt!« Die einfachen Worte wirkten mehr als eine lange Standrede, manche Wange röthete sich im Bewußtsein, nicht frei von Schuld zu sein, und selbst der kleine, kecke Wangenrode schlug beschämt die Augen nieder. Einen Moment beherrschte des Directors klarer, sanfter Blick die jugendliche Menge, dann sprach [208] er sehr gelassen: »Ludwig Brandeis, tritt jetzt zuerst hervor und halte Deine Rede über den Tod des Cato von Utika; ich hoffe, du führst dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit zurück.« Mit diesem Wort ging er leise auf seinen Platz zurück.

Ludwig Brandeis erhob sich zögernd, und seine gewöhnlich bleiche Wange malte sich nach und nach mit glühendem Roth; er hatte zuletzt sprechen sollen, und nun sah er sich auf einmal aufgerufen, lange ehe er es erwarten konnte. Sollte es vielleicht eine kleine Strafe sein, weil er offenbar mit unter den Ersten war, die das Gelächter angestimmt? Sein Herz schlug fast hörbar, als er dem Katheder zuschritt, und seine Mutter, da drüben ihm fast gegenüber, griff unwillkürlich nach der Hand ihrer Nachbarin, die sie krampfhaft drückte, während die Letztere selbst gespannt zu dem Jüngling aufsah, der jetzt droben stand, und einen Moment wie träumerisch vor sich hinstarrte. Wie die schlanke, biegsame Gestalt, hatte auch der Ausdruck des Gesichtes fast etwas Mädchenhaftes, und die schlanken, weißen Hände, mit denen er die Rolle Papier vor die Brust hielt, widersprachen dem nicht. Wohl aber die mächtige hohe Stirne, um welche in sanften Wellen sich das kastanienbraune Haar lockte. Sie verkündete den denkenden, forschenden Mann, so wie der weiche und unendlich anmuthige Mund das dichterische Gemüth. Die Augen waren grau und konnten wegen ihrer Kurzsichtigkeit oft matt und glanzlos erscheinen, was noch vermehrt wurde durch das träumerische Hinbrüten, dem sich Ludwig gerne hingab; aber jetzt schien es, als ob der Geist sich auf einmal besinne, was hier seine Aufgabe sei. Ludwig athmete hoch auf, sein Auge begann zu leuchten und überflog mit glänzendem Blick die Versammlung – er begann zu sprechen, nur die ersten Worte wurden stockend und schüchtern vorgetragen, dann schien der Redner zu vergessen, wo er sich befand, er war wie mit sich und seinem Gegenstande allein, und in flammender Begeisterung rollten die Worte von seinen Lippen. Er vertheidigte [209] den Selbstmord des Cato von Utika, der sich lieber den Tod gegeben, als den Sturz der römischen Republik und Freiheit erleben wollte. Mit glühenden, tiefempfundenen und dann hinreißenden Worten schilderte er den Schmerz des alten Republikaners, welcher das Gebäude, das Rom Jahrhunderte lang groß und mächtig gemacht, unter der Hand eines Einzelnen hinsinken sieht. »Die Freiheit ist jeden Opfers, auch des Höchsten werth«, rief er begeistert, »neben ihr ist das Leben nur gering zu achten, denn besser ist es, frei zu sterben, wie als Sclave zu leben. So fühlte Cato, als er den Verband seiner Wunden mit starker Hand abriß, damit sein edles Blut dahin ströme, welches er in ihrem Dienste in andrer Weise nicht mehr verspritzen konnte. So fließe auch das unsere, wo sie in ihrem Dienste gegen Unterdrückung und Verrath aufruft. So hat sein Beispiel allezeit auf die Nachgeborenen eingewirkt. Schlagen wir das berühmte Gedicht des Italieners Dante auf, wo finden wir Cato von Utika? Weilt er unten im dämmernden Schattenreiche, wo die edlen Griechen und Römer wallen, die gut und groß gelebt, aber den Segen der Taufe nicht empfangen haben und darum nie zu des Himmels Höhen emporsteigen können? Nein, der große Dichter, dessen eignes Herz nur für Freiheit und die Größe seines Vaterlandes schlug, er hat diesen Einzigen an die Pforte des Purgatoriums versetzt, die er als treuer Wächter den bereuenden Seelen öffnet. Er stieß ihn nicht hinab in die Hölle, in den Raum der finsteren Selbstmörder. Daß er aus freiem Entschluß die unfreie Welt verließ, um sich die ewige Freiheit zu retten, genügt Dante's ungebeugter Seele, ihn Denen gleich zu stellen, die nach Gott und dem Himmlischen trachten. In seinen Augen hatte er sich selbst erlöst von der Knechtschaft und seine Seele gerettet, hinaus über Zeit und Ewigkeit. So dachte der christlichste Dichter, welcher je gelebt, so müssen auch wir denken von Cato's Selbstmord. Wir reichen ihm knieend die Krone des freiesten Mannes [210] dar, und sein Beispiel soll die Nachwelt, soll die Jugend begeistern, ihm nachzustreben in der hingebendsten Liebe zu der Freiheit, im unversöhnlichsten Haß gegen die Unterdrückung!« – Er hatte geendet, strich sich die Locken aus der Stirne, warf einen Blick hinüber nach dem Platz, wo seine Mutter saß, verließ dann langsam den Katheder und kehrte auf seinen Platz zurück; ein lautes Murmeln des Beifalls begleitete ihn, der Director nickte ihm von seinem Sitze aus freundlich zu, und die Freunde empfingen ihn mit glänzenden Blicken. Wangenrode drückte ihm verstohlen die Hand und flüsterte: »Hast's brav gemacht, alter Junge; die schöne Berlinerin hat aber auch keinen Blick von Dir verwandt, und Deiner Kleinen standen sogar die Vergißmeinnichtsblümchen voll Thränen«.

»Das glaube ich«, antwortete Ludwig eben so leise, »meine Kleine versteht auch, was ich meine, vielleicht noch besser als Ihr«. Wangenrode hatte richtig beobachtet; Charlotte hatte mit ungetheilter und steigender Aufmerksamkeit auf Ludwig's Rede gelauscht, mit leuchtenden Augen hing sie an seinen Lippen, und als er geendet sagte sie zu ihrer Nachbarin: »Sie sind eine glückliche, glückliche Mutter!«

Die Doctorin lächelte ihr freundlich zu, aber in ihren Augen lag ein tiefer Ernst, als sie antwortete: »Glücklich ja, aber auch sorgenvoller als viele andere Mütter, der Feuerkopf wird uns noch viel zu schaffen machen!« Dann sah sie sich nach ihrem Manne um, der in einem Kreis von Männern stand, meist Beamte oder Militärpersonen, die ihn wegen des talentvollen Sohnes beglückwünschten.

Nach einigen Minuten nahm die Feier ihren Fortgang und verlief ohne weitere Störung, wie auch ohne bemerkenswerthe Leistung, es müßte denn das selbstverfaßte Gedicht gewesen sein, welches der Lyriker mit so stockender und ängstlicher Stimme vortrug, daß es dadurch allein unmöglich war, es richtig zu beurtheilen. Doch verfehlte Landmann nicht ihm nach[211] dem Schlusse der Feier darüber die außerordentlichsten Lobsprüche zu ertheilen, während er an Ludwig kalt vorüberging. Dieser ward indessen von Mitschülern und Lehrern mit freundlichen und anerkennenden Worten überschüttet. Der Director, welcher natürlich die Rede vorher geprüft, sprach sich abermals höchst lobend darüber aus; er dachte nicht daran, daß sie etwas Aufregendes oder Staatsgefährliches enthalten könne. Las er nicht täglich die Ciceronianischen und Demosthenischen Reden in seinem Studirzimmer, warum sollte sein classisch gebildeter Schüler nicht in einem Helden des Alterthums in gleicher Weise, mit demselben Schwung dieselbe Freiheit preisen, wie es dort auch geschah? Selbst der Religionslehrer nahm keinen Anstoß an dieser unumwundenen Vertheidigung des Selbstmords. Er war damals ein Rationalist vom reinsten Wasser, der den Schülern des Gymnasiums, die doch natürlich gebildeter waren, als die übrige Schuljugend, die Wunder oft in höchst ergötzlicher Weise erklärte. Er deducirte ihnen z.B. sehr anschaulich, daß Jonas nicht wirklich im Bauche des Walfisches drei Tage und Nächte gesessen, sondern daß er sich wohl in einem Wirthshaus, genannt zum Walfisch, festgekneipt habe, und daß dies den Anlaß zu der späteren Legende gegeben. Aehnliche spassige Erklärungen hatte er für den Stillstand der Sonne, als Josua die berühmte Schlacht gegen die Philister schlug, und anderes mehr, mit welcher Exegese seine Zuhörer sehr zufrieden waren. Er ahnte damals noch nicht, daß ihn die eigenthümlichen Wechselfälle des Schicksals oder die Wandelbarkeit seines eignen Geistes noch bis zum Oberhofprediger erheben würden, an welcher hohen Stelle er sich dann natürlich aus einer sehr andern Tonart mußte vernehmen lassen.

Eben so gleichgültig blieb das Publikum bezüglich des tieferen Inhalts dieser Rede. Weder diesen Vätern, noch den Lehrern war es mehr als eine Stylübung, eine schöne rethorische Probe. Von der Gluth, die den Geist, das Herz beseelen [212] mußte, welches seinen innersten Gedanken so verkörperte, hatte Niemand eine Ahnung. Aber dort an dem Gitter, nahe beim Ausgang, standen sie jetzt wieder dicht zusammen, Ludwig, Wangenrode und noch Einige Andre, mit intelligentem Gesichtsausdruck. In dieser Jugend klopfte ein warmes, feuriges Herz; ihnen war dies nicht blos so hingesprochen, sie empfanden dabei, was gewitterschwül sich schon seither anfing über die Welt zu lagern, und die Blitze, die aus ihren Augen zuckten, sie galten nicht blos einer poetischen Phrase, einem rednerischen Erguß, sie galten der Wirklichkeit und dem Leben, und als sie sich scheidend die Hände reichten, schlossen sie sich fest zusammen wie noch nie, und als wollten sie damit einen geheimen Bund besiegeln, der der Gemeinheit, der Unterdrückung und Knechtschaft auf ewig den Krieg erklärte. –

Ludwig schloß sich weggehend den Eltern an, die jetzt aus dem Gewühl heraustraten und ihn freundlich bewillkommten. Dann reichte er der Schwester die Hand, die sie leise drückte und den Bruder mit einem Blicke ansah, in dem vielleicht das erste, wahre Verständniß lag, außer dem der Freude. Charlotte, die schweigend nebenan ging, hatte es bemerkt, wie die Geschwister sich gegenseitig begrüßten, aber sie sagte Ludwig jetzt nichts. Sie hatte an diesem Nachmittag einen tiefen Blick in ein frisches, unentweihtes, allem Schönen hingegebenes Jünglingsherz gethan, und sie wollte sich dies Herz zu gewinnen suchen in schwesterlicher Freundschaft, denn sie ahnte, daß es vielleicht bald vorurtheilslosen Schutz, wohlwollendes Verständniß bedürfen könne. –

III

Ehe sie noch das Haus erreichten, kam Arthur Hohenstein ihnen langsam entgegen. Er hatte versprochen, Charlotten draußen [213] im Gymnasium abzuholen, und entschuldigte sich nun, nachdem sie sich gegenseitig mit heller Freude begrüßt, damit, daß ein unvorhergesehenes Geschäft ihn davon abgehalten. Der Abend war wunderschön, und Arthur schlug seiner Frau vor, noch einen Spaziergang zu machen; sie willigte freundlich ein und sagte dann: »Zuvor aber mache unsrem jungen Hausgenossen Dein Compliment über die schöne Rede, welche er soeben gehalten, es ist Schade, Arthur, daß Du sie nicht gehört hast!« Arthur wandte sich zu dem jungen Manne, der verlegen niedersah: »Es freut mich dies zu hören, aber, Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich fehlte – Actusreden – große Kinderei. Sie wissen selbst am besten, wie viel dahinter steckt. Man stellt einige schöne Redensarten zusammen, und Alles ist gerührt, der Director obenan.«

Ludwig sah ihn nun groß und voll an, er wußte, wie viel von Neid in Hohenstein's Reden lag, der es nicht leicht ertrug, wenn ein Anderer in seiner Gegenwart gelobt wurde, er antwortete ruhig: »Es ist oft so, wie Sie sagen, aber mir war es keine Kinderei; was ich sagte, meinte ich auch sehr ernstlich!«

»Wird sich schon legen, lieber junger Mann«, sagte Hohenstein sarkastisch und klopfte ihm leicht auf die Schulter. Ludwig wich wie gestochen vor ihm zurück. »Phrasenmacher mögen das denken, Herr Hohenstein«, sagte er scharf, »nur ächte Gesinnung legt sich nicht, sie wächst mit uns und trägt uns zu Dem empor, was wir erstreben.«

»Schön gesagt, brav«, fuhr Hohenstein im Tone der Ueberlegenheit fort, und Ludwig hob trotzig den Kopf wie zu einer gereizten Antwort. Aber schon hatten Mutter und Schwester ihn an den Händen gefaßt: »Komm herein, Ludwig,« sagte die Mutter, »ich habe heute Abend noch die Hände voll zu thun, bis der Vater nach Hause kommt, und Du bist gewiß hungrig und durstig. Unser Thee, den Du so sehr liebst, wird bereit stehen. Es würde mich sehr gefreut haben«, fuhr sie, [214] gegen Charlotte und ihren Mann gewendet fort, »wenn Sie mir auch das Vergnügen geschenkt hätten!«

»Danke herzlich«, antwortete Charlotte, »wir wollen den schönen Abend noch ein wenig benutzen. Ich danke Ihnen recht sehr, daß Sie mich mitgenommen, und auch Ihnen, Herr Brandeis, danke ich für den Genuß, den sie uns bereitet; Adieu, Gustchen!« Mit freundlichem Knopfnicken ging sie am Arm des Gatten weg, und Frau Brandeis trat mit ihren Kindern in das Haus, nachdem Ludwig noch einmal sich umgesehen und den Weggehenden mit einem langen Blick gefolgt war.

Die Beiden schritten schweigend bis vor das nahegelegene Thor, Eines unzufrieden mit dem Andern. Charlotten hatte des Gatten sonderbare, protegirende Art dem Jüngling gegenüber mißfallen, und er ärgerte sich über das Lob, das sie ihm so reichlich gespendet. Jedes nahm sich vor, dem Andern nichts darüber zu sagen, aber wo wäre je ein solcher Vorsatz gehalten worden? Arthur brach nach Männer-Art zuerst hervor: »Du verdirbst den Jungen mit Deinen Schmeicheleien«, sagte er etwas rauh, »er ist so schon eingebildet genug«. »Du vergissest, antwortete Charlotte sanft, »daß ich heute zum Erstenmal mit ihm sprach, und überdies sagte ich ihm keine Schmeichelei, sondern die Wahrheit«.

»Es mag drum sein, ich gestehe zu, daß er talentvoll ist, aber ich mag den Jungen nicht.«

»Warum nicht, was hat er Dir gethan?«

»Mir gethan? natürlich nichts! Was könnte dieses Kind mir thun? Aber sieh nur, wie weltverachtend er den Kopf trägt, wie er gleich aufbegehrt, wie er über Alles seine eigene Meinung hat. Ich kenne ihn etwas länger als Du!«

»Mein Lieber, Du vergissest, seine Jugend mit in Anschlag zu bringen. Daß Ihr alten Leute doch immer vergeßt, wie auch Ihr gewesen seid«, fuhr sie fort, ihn mit ihrem lieblichen Lächeln ansehend, »meinst Du, ich könne mir nicht denken, daß Du auch einmal ein recht kecker Bursche gewesen bist, dem nichts [215] recht war und der die Nase noch höher trug, als der gute Ludwig.«

»Nein, nein,« rief Arthur lebhaft, »ich war immer sehr bescheiden, sehr demüthig, viel zu demüthig.« –

»Nun, so sei es auch jetzt«, rief Charlotte lachend, »und bekenne, daß Du Unrecht hast, und sei freundlich und wohlwollend gegen Ludwig, wie es unsre Pflicht ist gegen die Jugend zu sein.«

Arthur lachte auch, sah ihr tief in die schönen Augen und drückte zärtlich ihre Hand an seine Brust.

»Wer so freundlich gegen die Jugend gesinnt ist, kann es auch gegen das Alter sein«, sagte plötzlich eine starke Stimme neben ihnen, daß Charlotte erschrocken zusammenfuhr; Beide sahen sich um und erblickten neben sich grüßend einen großen Mann, den wir schon unter seinem Spitznamen, dem des »Frosch«, kennen gelernt. Er war mit Arthur ziemlich nahe befreundet, schätzte ihn als seinen früheren Schüler noch von dem Gymnasium her und sprach sich bei ihm gerne über Manches aus, was er sonstwo nicht gut konnte.

»Schon seit einer Viertelstunde keuche ich Ihnen nach, meine Verehrteste«, sagte er zu Charlotte, »ich erkannte Sie an dem Wehen Ihres blauen Schleiers, und obgleich man eigentlich Neuvermählte bei ihren ersten Gängen durch Hain und Flur nicht stören soll, so überwog doch meine Lust, heute nicht allein spazieren zu gehen, mein Bedenken«.

Charlotte lachte und erwiederte: »Sie sind uns recht willkommen, Herr Doctor,« und Arthur fügte hinzu: »Ich kann es mir denken, daß Sie sich darnach sehnen, den heutigen Schulhypochonder wieder zu verlaufen.«

»Gehen wir in den Wald?« fragte der Hinzugekommene am Ende einer langen Allee von noch dürren Lindenbäumen, die in grader Linie von dem Thore nach einem Tannenwalde führte. »Ja«, sagte Charlotte lebhaft, »dieser Wald gefällt mir [216] bis jetzt am Besten von Allem, was ich noch hier gesehen, so nahe bei der Stadt, so bequem zu erreichen, es ist mein liebster Spaziergang.«

»Ich widerspreche nicht«, war des Doctors trockne Antwort, »im Frühling und Herbst liebe ich ihn auch, besonders am Abend, wenn die Sonne, wie jetzt, die Spitzen der dunklen, schlanken Bäume übergoldet.«

»Und hören Sie die Lerche?« fiel Charlotte frohlockend ein, »die drüben in dem Felde ihr Liedchen singt; so frisch und wohl wird mir's auch hier bei dem balsamischen Duft dieser grünen Tannen. Es ist doch recht schön, in Deiner Heimath, Arthur!« »Ach ja, wenn man's obenhin betrachtet«, erwiederte er, »aber ich bewundre Sie, Doctor, wie poetisch Sie diesen Aprilabend auffassen, der anfängt, mir etwas fröstelnd über den Rücken zu laufen. Hat Landmann Sie mit seiner Poesie angesteckt?«

»Gott Lob, nein, aber heute ist es ihm gut gegangen, lassen Sie sich erzählen« – und nun erzählte er den Auftritt in dem Gymnasium, während Charlotte mit heitrem Lachen accompagnirte.

»Es ist mir doch leid für Landmann« sagte Arthur, als er geendigt.

»Leid? warum nicht gar! ich wollte, er würde noch öfter so blamirt. Dieser Mensch, der keine Idee von der Würde und dem ernsten Beruf eines Lehrers hat. Sehen Sie, es ist schrecklich, mit einem solchen Menschen an einem Strange zu ziehen; was ich und Andre gut zu machen suchen, verdirbt er wieder.«

»Je nun, das Lehramt hat seine großen Schwierigkeiten!«

»Brauchen Sie mir nicht zu sagen; ich empfinde jeden Tag, wie wahr der weise Salomo sprach, als er sagte: ›Wer lehren will, muß leiden!‹ aber wer nicht im Stande ist, die erste Bedingung zum Lehren, die Disciplin, aufrecht zu erhalten, [217] wer nicht einmal die Ordnung in seiner Klasse handhaben kann, dem sollte man es von Rechtswegen untersagen.«

»Von Rechtswegen, was geschieht denn bei uns von Rechtswegen?«

»Nichts, Sie haben Recht, noch nie habe ich so gut begriffen, was Talleyrand sagt: O, ihr lieben Leute, ihr wißt nicht, mit wie viel Dummheit und wenig Geschick die Welt regiert wird. – Sehen Sie diesen Landmann, er ist völlig unbefähigt zu seinem Amte; er soll die deutsche Sprache und Litteratur lehren; was thut er aber? er bringt die ganze Stunde mit unnützem Gerede herum, welches nicht zu der Sache gehört; Zeitungsgeklatsch, Politik, alles Mögliche verarbeitet er für sich selbst in lauten Monologen in der Stunde, und die armen Teufel müssen zuhören, werden ungeduldig, lachen ihn aus, lernen nichts und werden schließlich noch bestraft.«

»Er wirkt aber doch anregend«, wandte Arthur ein.

»Ja, anregend zur Confusion; die Unbedeutenden werden eitel, weil er ihnen glauben macht, sie seien poetische Genies, die Bedeutenden treibt er zur Wuth durch sein Geschwätz und seine Parteilichkeit.«

»Je nun, was ist da zu machen? er ist doch nun einmal vom Staate angestellt, man kann ihn nicht todt schlagen.«

»Ja, sehen Sie, das ist der Jammer, daß man darauf studiren kann, ein Lehrer zu werden, daß man ein Examen macht über seine Kenntnisse, aber Keines über seine Fähigkeit zum Unterrichten und Erziehen. Der Mann ist angestellt, folglich muß er an seinem Posten bleiben, wie schlecht er ihn auch ausfüllt.«

»Ich wiederhole Ihnen, man kann ihn doch nicht todtschlagen. Er hat diesen Beruf erwählt, er hat seine Zeit, sein Geld darauf verwendet, der Staat muß ihn erhalten.«

»Ganz gut, aber der Staat soll ihm lieber jedes Jahr seinen Gehalt geben und ihn verzehren lassen, wo er Lust [218] hat; besser, als daß er eine Generation nach der andern verdirbt.«

»Ja, mein Bester, da müßte erst der Staat anders eingerichtet sein, da müßte nicht das Geld für andre Dinge gebraucht werden.«

»Freilich, freilich, für die Erziehung, für das heiligste Gut der Menschheit, da ist immer nichts da, da wird gespart und gezwackt. Nächstens fällt uns auch noch unser Pädagog-Gebäude über den Köpfen zusammen und schlägt uns sämmtlich todt, dann braucht Niemand mehr erzogen zu werden und Niemand mehr zu verziehen. Aber ich wette, dem Landmann ist dann auch wieder das Glück günstig, er wittert Alles, er ist dann sicherlich auf Urlaub verreist.«

Arthur und Charlotte mußten laut lachen und Letztere sagte: »Sie sind ja ganz wild, ich glaube, Ludwig Brandeis hat Sie mit seiner Rede so aufgeregt«.

»Liebe Frau«, antwortete der Doctor, »ich kann nicht anders, ich muß wild werden, wenn ich an unsere erbärmlichen, deutschen Zustände denke, wie sie sich bis in's Kleinste manifestiren. Da drüben in Frankreich hat die Julirevolution kaum erst ein bischen aufgeräumt, bei uns bleibt es eben immer beim Alten.«

»St! St!« stammelte Arthur und war wirklich erschrocken, so daß Charlotte verwundert zu ihm aufsah, »Sie sprechen sich zu laut darüber aus.«

»Nun«, lachte der Doctor, »ich denke, wir sind hier so ziemlich allein unter diesen Bäumen, Sie brauchen sich nicht zu fürchten, um so mehr, da ich ja weiß, daß Sie ganz dasselbe denken.«

»Denken, o, gewiß! Niemand weiß es besser, Niemand fühlt es schmerzlicher, in welcher elenden Welt wir leben; wir haben ja nichts, keine freie Bewegung, kein öffentliches Leben, keine freie Presse. O, wenn wir eine freie Presse hätten, wie wollte ich schreiben, wie mein Herz ergießen!«

[219] Charlotte drückte leise aber innig ihres Mannes Hand, und der Doctor sagte: »Jetzt sprechen Sie wie ich, und vorhin waren Sie ganz erschrocken!«

»Ja, man wird so ängstlich hier«, sagte Arthur wieder mit sinkender Stimme, »Herr Doctor, es bleibt doch Alles unter uns!«

»Possen«! sagte der Andre unwillig, »sollten mich doch kennen, ein alter Burschenschafter, der auf der Wartburg die sauberen Bücher mitverbrennen half, und jetzt einen Menschen verrathen? Aber, um wieder auf Ludwig Brandeis zu kommen, das ist ein Feuerkopf, liebe Frau Hohenstein, und wie der Junge spricht, so ist es ihm auch um's Herz; aus Dem kann Großes werden, wenn die Polizei nicht vorher seine Größe wittert.«

»Hat er wirklich so gut gesprochen?« sagte Arthur, »meine Frau war sehr entzückt, aber mein gutes Lottchen schwärmt gern ein wenig« – setzte er hinzu, sie zärtlich ansehend!

»Du mußt immer necken«, flüsterte Charlotte, und der Doctor sagte: »Ja, es war gut; man merkte freilich die achtzehn Jahre und die griechisch-römischen Phrasen, die unser guter Director den Jungen eingeübt, aber es war auch eignes Feuer und Verständniß dabei. Aber ich kann Euch nicht sagen, wie die Burschen mich oft dauern; da werden sie bei uns in den Gymnasien groß gezogen mit der Weisheit der Classiker, ihr Kopf brennt von den Freiheitskriegen der Griechen, und der römische Republikanismus wächst ihnen in Fleisch und Bein. Keiner unter ihnen, der sich nicht selbst in Gedanken ein kleiner Cato oder Brutus dünkt, der nicht die Falten seiner Toga um sich drapirt und sich in eine wirklich gefühlte Gluth von Bürgertugend und Bürgerstolz hineindeklamirt. Mit diesem Himmel in der Brust werden sie denn hineingestoßen in die wirkliche Welt, in unsre kleinlichen, engen Verhältnisse, in denen sich schon eine Schwalbe den Kopf einrennt, geschweige denn ein Adler. Ihre Brust glüht von Freiheitsdrang, und sie müssen [220] Sclaven werden; sie fühlen sich als Cicero und Demosthenes im Dienste der Gerechtigkeit und Vaterlandsliebe zu reden befähigt, aber wo ist die Arena für die Eloquenz, die sie einmal im Leben auf dem Redeactus des Gymnasiums frei entfalten durften? Schweigt! donnert ihnen überall die Polizei entgegen; schweigt! heißt es in den Gerichtssälen, denn was wissen wir von öffentlichen Gerichten? schweigt! heißt es selbst in den Kammern, wenn ihr nicht Vertrauen zu flöten wißt. Nur auf der Kanzel, da dürfen sie sprechen, aber wie, das wissen wir Lehrer am besten, denen schon tausendmal ein beklommenes Mutterherz zugeflüstert: Meinen Sie nicht auch, Herr Doctor, mein Sohn sollte Theologie studiren, für etwas Anderes ist er zu beschränkt!«

»Sie malen schwarz«, unterbrach Arthur des Doctors Redefluß.

»Und doch noch lange nicht schwarz genug«, fuhr Jener hastig fort, »es ist genau so, wie ich Ihnen sage. Zwischen unserer sogenannten classischen Bildung und Erziehung und unserem wirklichen Staatsleben klafft ein Abgrund, in den sich noch manche edle Jünglingsgestalt opfernd hinabstürzen wird; aber ob es ihm dadurch gelingt, das Vaterland zu retten, ist eine andere Frage. Sehen Sie England an; es fällt mir gar nicht ein, das Land über Gebühr zu preisen, aber die Jugend von Eton und Oxford findet doch wenigstens dort Spielraum für ihre Kraft. Sie mögen ungestraft im Parlament und vor der Jury ihren Horaz und Aristoteles citiren, es läuft den englischen Staatsmännern nicht gleich eine Gänsehaut über den Rücken, wenn sie über Brutus ein ehrendes Wort vernehmen, und wenn ein Nero gebrandmarkt wird. Sie haben doch noch etwas von ihrer classischen Bildung, aber bei uns, du lieber Gott, wenn nicht ganz Griechenland und Rom bei unseren Abiturienten im ersten Semester auf der Universität im Bierfaß ersäuft wird, so sind es staatsgefährliche Menschen. Fort damit, [221] sage ich, gebt den armen Teufeln Wahrheit statt der Idealität, die nur dazu dient, sie unglücklich zu machen!«

»Und was wollen Sie ihnen statt dessen geben?«

»Die Realität, in der sie sich wenigstens einigermaßen frei bewegen können. Positive Lehrgegenstände sollten zum Theil die alten Classiker ersetzen: Mathematik, Geometrie, Naturwissenschaften, modernen Sprachen müßte mehr Spielraum gelassen werden; das mühsame Erlernen der alten Sprachen bringt den Jungen nur wenig Nutzen, und der Geist, den sie daraus lernen, führt sie nur in's Verderben!«

Hohenstein lachte laut auf: »Wieder ein Fünkchen des Streites zwischen realer und classischer Pädagogik, der in jüngster Zeit ganz ernstlich zu entbrennen droht! In Ihrer Argumentation erkenne ich recht deutlich den Geographen, den gereisten Mann, der England und Amerika gesehen und sich die Nützlichkeitsbestrebungen dieser beiden Länder gemerkt hat«.

»Ach, lieber Freund«, sagte der Doctor stehen bleibend und Hohenstein seine Hand auf die Schulter legend, »gut, erkennen Sie mich daran, erkennen Sie aber auch den Mann, der es tiefer als je empfindet, wo Deutschland der Schuh drückt. Wir gingen bei unserm Gespräch von der Erziehung der männlichen Jugend aus. Gut, bleiben wir auf diesem Felde; Sie können es nicht läugnen, Sie müssen es selbst empfunden haben, welchen Katzenjammer der denkende Jüngling empfindet, wenn er anfängt, seine ihm durch die Classicität vermittelte Bildung mit Dem zu vergleichen, was er nun in der Welt leisten soll, und was sie ihm bietet«.

»Ich läugne es auch nicht«, rief Hohenstein, »ich habe Vieles innerlich durchgekämpft, bis ich mich einigermaßen in der Welt zurechtfand, aber ich glaube, daß nur Wenige so fühlen – und dann, wollen Sie, daß darum die Blüthe des griechischen und römischen Geistes, daß darum jenes himmlische Kleinod, [222] das uns diese untergegangnen Völker hinterlassen, jene Kunde, wie der Mensch zum Menschen sich bildet, entzogen werde?«

»Glauben Sie, daß ich dieses Bildungsmittel an und für sich unterschätze? Glauben Sie, ich würde es nicht als die Krone eines besseren staatlichen Zustandes betrachten? Aber unsre Zeit braucht practische Menschen, und welche Garantie gibt uns dafür unsre Jugend? entweder träumt und schwärmt sie oder sie verkommt in Mittelmäßigkeit. Den Genialen und Gedankenreichen unter ihnen droht ein unheilvoller Kampf, in dem sie und noch manche Nachgeborne untergehen werden, und die Andern, was sind sie? Lernen, wissen, erstreben sie etwas mehr, als was ihr Fach zunächst mit sich bringt? Nur im alten Schlendrian können sie mit weiter ziehen, und sonst nichts. Diesen jungen Leuten wird einst die Verwaltung der Staatsgelder anvertraut werden, haben sie eine Ahnung von Staatsökonomie? wissen sie, wie man die Industrie eines Landes hebt? haben sie ein Herz für den Schrei des Elends, der aus den untereren Volksklassen immer vernehmlicher herauftönt? Die Rechtspflege des Landes wird ihnen anvertraut sein, wissen sie, welches Recht der alte Deutsche in seinen Wäldern handhabte? wie er sich selbst das Recht sprach, frei, nach eignen Gesetzen, nicht, wie jetzt, hinter Schlössern und Riegeln, wo der Gefangene jahrelang in einer Untersuchungshaft seufzt, aus der er vielleicht schuldlos entlassen werden muß? Sehen Sie, dies sind die Stützen unsrer deutschen Staaten; Schwärmer, die Alles umzustürzen bereit sind, und Dummköpfe, eben so bornirt wie die Väter, die keinen Begriff haben von dem, was wirklich noth thut. So gehen sie aus unsren Lehranstalten hervor, dies sind die Keime, die dort in sie hineingepflanzt werden; sagen Sie nun, wo liegt die gesunde Vermittlung anders als in der Pflege der practischen Wissenschaften, damit es wenigstens materiell bei uns besser werde, da wir's politisch doch so bald nicht erreichen werden!«

[223] Charlotte hatte dem Manne mit aufmerksamer Spannung gelauscht, und das höfliche Gesicht des »Frosches« erschien ihr jetzt fast schön; als er geendet, winkte sie ihm freundlich zu und sagte lebhaft: »Ich glaube, Sie haben Recht, Herr Doctor, was Sie sagen, ist mir nicht unbekannt, ich habe es in Berlin auch schon in ähnlicher Weise aussprechen hören.« Der Doctor fuhr mit dem Tuch über die Stirne, die er sich ganz heiß geredet, und sagte: »In Berlin? ich dachte, da kümmere man sich nur um Aesthetik und Frömmigkeit?«

»Gottlob ja,« rief Hohenstein, »daß man sich dort noch nicht um die leidige Politik kümmert, dabei geht alle Poesie, aller Schwung zu Grunde! Aber kommt, wir müssen umkehren, es ist spät,« fuhr er fort, und setzte dann noch spöttisch hinzu: »ich will nicht hoffen, daß uns die heilige Hermandad unterwegs abfaßt wegen unsrer hochverrätherischen Reden!«

Sie wandelten wieder der Stadt entgegen, in der einzelne trübe Oellampen – von Gas wußte man damals noch nichts – zu schimmern begannen; Charlotte unterhielt sich lebhaft mit dem Doctor, welcher ihr von seinen Reisen erzählte, die er zu einer Zeit unternommen, wo er befürchten mußte, wegen einiger burschenschaftlichen Verbindungen, die er von der Universität her unterhalten hatte, in Untersuchung gezogen zu werden, wie es einigen seiner Freunde erging. Die Sache war ohne alle Bedeutung, aber man fürchtete sich schon damals mit vollem Recht vor dem geheimen Strafverfahren und der Demagogenriecherei.

Er zog es vor, einige Jahre in's Ausland zu gehen, und als er zurückkehrte, gelang es einigen einflußreichen Verwandten und Freunden, ihm die Stelle am Gymnasium zu verschaffen, was um so eher ging, als man es auch andrerseits wünschenswerth fand, einen Mann von seinen Kenntnissen zu gewinnen. Doch betrachtete man ihn immer noch allgemein als einen Demagogen, wie man damals die Leute nannte, welche sich zuweilen [224] erlaubte eine andere Meinung, als die Regierung, zu haben. Doch galt er nicht für gefährlich, und seine eigenthümliche Art zu sprechen, gewann ihm gewissermaßen das Recht, sich freier über Manches zu äußern, als dies sonst gebräuchlich war. Er gebrauchte außerdem die kleine Politik, immer nur erzählend auf die staatlichen Verhältnisse Englands und Amerikas hinzuweisen, seine Zuhörer mochten sich dann davon abnehmen und vergleichen, so viel ihnen gut dünkte. So war er nach und nach in einem Kreise von Lehrern, kleineren Beamten und einigen unabhängigen Leuten zur einer Art Autorität geworden, an die man sich in politischen Streitigkeiten, welche durch die Julirevolution und die Ereignisse in Polen selbst in den engsten Kreisen hervorgerufen waren, wandte. In einer Zeit, wo das Summen einer Fliege schon Furcht und Verdacht erregte, konnte dies natürlich nicht ganz ohne Anstoß bleiben, aber so beschränkt und schlecht auch damals schon die Regierungsweise war, es blieb doch einer späteren Zeit aufbehalten, die Leute ihrer bloßen Meinung wegen zu bestrafen. Man fühlte sich noch ganz sicher, und wie sehr man auch überall Verschwörung und Umsturz zu wittern suchte, um durch eclatante Bestrafung noch besser zu zeigen, wie fest und mächtig man sich wähnte, schlich doch nicht das Grauen einer wirklichen Revolution durch die Glieder der deutschen Machtinhaber. Man ließ also den Doctor ruhig »schwadroniren«, wie man sich in der Residenz ausdrückte, und konnte es um so eher, als er immer laut und heftig gegen den Unsinn von geheimen Verschwörungen declamirte.

Man redete wenig auf dem Heimweg; das vorausgegangene Gespräch war so reich an Anregungen gewesen, daß Jedes das Gesprochene noch einmal über dachte. Fast hatten sie das Thor erreicht, welches in die Stadt führte, als ihnen zugleich eine ungewöhnliche Bewegung in der Nähe desselben auffiel. »Was bedeutet dies?« rief der Doctor, »sehen Sie einmal, der Posten [225] wird doppelt besetzt, dort stehen einige Offiziere mit Schärpen als Zeichen, daß sie im Dienste sind, und eine ganze Legion von Polizeidienern scheint aus der Erde zu wachsen!«

Kaum hatte er ausgesprochen, als sich bereits zwei dieser Individuen ihnen näherten und sie scharf beaugenscheinigten.

»Wo kommen Sie her? legitimiren Sie sich«, sagte der Eine ziemlich barsch zu Hohenstein, so daß Alle drei laut lachen mußten.

»Wir kommen aus dem Walde und gehen direct zu Bette«, antwortete Hohenstein mit komischem Ernste, aber der Diener der heiligen Hermandad verstand durchaus keinen Humor. »Sie sind wohl auch so ein Krawaller?« sagte er so grob, daß beiden Männern das Blut zu Gesichte stieg, und Charlotte sich ängstlich an ihren Mann drückte. Ehe jedoch der Letztere antworten konnte, trat ihnen einer der Offiziere grüßend entgegen, er kannte die Beiden und begriff nicht, was die Polizei mit ihnen wollte.

»Nun, Hauptmann«, rief ihm der Doctor zu, »was ist? warum kann ein friedlicher Bürger nicht mehr ruhig sein Nachtquartier beziehen?«

Der Hauptmann, eine große, stattliche Figur, mit einer gewaltigen Stimme, rief laut schallend, so daß sich sogleich ein Haufe Neugieriger um sie herum gruppirte:

»Schöne Geschichten das! Haben Sie noch nichts gehört? Drüben in Frankfurt war gestern Abend Krawall. Die Studenten stürmten die Hauptwache, zogen nach dem Bundespalais, haben die Schildwachen ermordet; es war eine ganze Revolution!«

»Nun und« –? fragten die Andern gespannt.

»Nun, man hat sie zusammengehauen wie altes Eisen, die dummen Jungen, wie es ihnen gehört für ihre Kindereien. Hätte ich sie nur Alle hier, ich ließe Einen nach dem Andern durchkarwatschen«.

»Aber warum denn hier diese Anstalten, fürchtet man etwa, [226] daß sie einen Ueberfall gegen die Residenz im Schilde führen?« fragte der Doctor sarkastisch.

»Ja, sollten uns nur kommen, so etwas passirt hier nicht, kann nur drüben in dem verfluchten, republikanischen Neste geschehen; aber entwischen sollen uns doch die sauberen Vögel nicht, ganz Frankfurt steckt voll von dem Gelichter. Man wußte die Sache hier schon am Morgen, aber es ward noch ein wenig vertuscht, die Nachrichten waren zu ungenau; gegen Abend kam aber bestimmte Meldung des Vorgangs hierher und die Bitte, auf die Fliehenden zu fahnden. Viele sind noch in Frankfurt versteckt und suchen sich unter Verkleidungen durchzuschleichen.«

»Die armen, jungen Leute«! seufzte Charlotte.

»Sagen Sie lieber die Galgenvögel, schöne Frau«, rief der Hauptmann mit seiner lauten Stimme, denn er war bekannt als galanter Mann und hatte die hübsche Fremde auf den ersten Blick erkannt, »wozu brauchen sie sich in Dinge zu mischen, die sie nichts angehen! Sind sie dafür auf der Universität? Sie sollen studiren, duelliren und sich meinetwegen alle Tage betrinken, aber sich nichts um den Staat bekümmern, der ist nicht für sie da. Das sind aber die verfluchten Revolutionsideen, die ihnen von den Canaillen, von den Demagogen in die Ohren geblasen werden! Wenn die Kerle doch nur Alle einen Kopf hätten, und ich dürfte ihnen denselben abschlagen!« Diese letzten Worte begleitete er mit einem scharfen Seitenblick auf den Doctor, der dessen Sinn sehr wohl verstand. Er griff nach dem Hute und sagte trocken: »Ich danke Ihnen recht sehr, Herr Hauptmann, für Ihre Auskunft, aber wir dürfen Sie wohl Ihrer Dienstpflicht nicht länger entziehen«.

»Thut nichts, ich hoffe nur, wir machen einen rechten Fang, guten Abend, meine Herrschaften«. Er erhob mit gewandter Verbeugung die Rechte zum Rande seines Tschakos und entfernte sich mit langen Schritten.

»Welche rohe, gemeine Sprache!« rief Charlotte, als sie, die [227] auch weiter gegangen waren, nicht mehr gehört werden konnten. »Ein so trauriges und unbegreifliches Ereigniß, welches gewiß eine Menge achtbarer Familien in Trauer stürzt, mit solchen Worten abzumachen!«

»Das ist der Fanatismus der Unterthanentreue, meine liebe Frau«, sagte der Doctor, von Charlotten's warmen Worten sichtlich erwärmt, »und das ganze Ereigniß ist«, fuhr er fast wehmüthig fort, »der traurige Schlußaccord zu unserem vorhinigen Gespräch!«

»Dies ist aber nicht einmal jugendliche Schwärmerei, dies ist jugendliche Tollheit«, brach endlich Hohenstein sein Schweigen.

»Mit der Tollheit fängt die Weltgeschichte alle ihre großen Ereignisse an«, sagte der Doctor, »mir fuhr die Erzählung des Hauptmanns durch Mark und Bein; diese ersten Zuckungen des neuen jugendlichen Geistes mögen wie Krämpfe aussehen, aber sie sind in Wahrheit das erste Wetterleuchten, welches eine neue Zukunft über Deutschland heraufführen wird«.

»Doctor, Doctor, sehen Sie sich vor, sie fangen an zu schwärmen; nichts als galvanische Zuckungen sind es, Rückschläge, die der electrische Funke der französischen Julirevolution künstlich hervorruft!«

Der Doctor blieb stehen und legte seine Hand auf Hohenstein's Schulter: »O, Mensch, Gelehrter, Dichter, der Du vor mir stehst, verstehst Du so wenig das Walten des Weltgeistes? Glaubst Du wirklich, daß solche Dinge willkürlich hervorgerufen werden, daß Einzelne Revolutionen, oder nenne es mit dem verächtlichen Namen Krawalle machen? Hältst Du die Menschen wirklich für Marionetten und den Enthusiasmus, der erst zu tollen, dann zu kühnen, zuletzt zu überlegten Plänen treibt, für ein bloßes Speiteufelchen? Nein, mein Bester, jeder nach vorwärts treibenden That liegt eine Idee zum Grunde, und diese Ideen, welche ich hier leuchten sehe, wird kein Hauptmann mehr herauskarwatschen, und wenn ihre Zahl Legion wäre! Aber jetzt [228] gute Nacht, ich muß in den Clubb und Näheres über die Sache zu hören suchen – – ei, ei, germanische Jugend, steht es so mit dir, trittst du wirklich die Kinderschuhe aus, aber weißt du auch, welche Dornenkronen auf dich warten?« –

Mit diesen Worten, die der seltsame Mann zuletzt nur noch vor sich hinmurmelte, wie vergessend, daß er nicht allein war, wandte er sich rasch um und verschwand um die nächste Ecke. Beide sahen ihm einen Augenblick nach, dann hob Charlotte das Auge zu ihrem Manne empor; beim Schimmer des Sternenhimmels konnte er sehen, daß helle Thränen darin glänzten. »Wie erregt Du bist, meine Liebe,« sagte er zärtlich, »komm', lass' uns nach Hause gehen!«

»Dies war ein seltsamer Tag«, sagte Charlotte, »mir ist, als hätte ich noch nie so viel von Außen her erlebt; o, die armen, jungen Leute, wenn nur Keiner in die Hände dieses Hauptmanns fällt!«

»Es wird ihnen so schlimm nicht gehen«, tröstete ihr Mann, »die Regierungen sind human, man wird eine solche Jugendthorheit milde beurtheilen. Kümmere Dich nicht um diese unerquickliche Wirklichkeit; wir flüchten uns aus ihr in das schöne Reich der Poesie, tief hinein nach Indien, meine Gazelle, was gehen uns diese Studenten und ihre wüste Politik an?«

IV

Indessen saß die Doctorin Brandeis mit ihren beiden ältesten Kindern, Ludwig und Gustchen, in einem kleinen Stübchen neben dem Wohnzimmer, wo die jüngeren Kinder ihre Schulaufgaben machten oder ruhig spielten. Die vielbeschäftigte, rührige Hausfrau dachte nicht daran, dies einfache Winkelchen ihr Boudoir zu nennen, wie eine Salondame es gethan hätte; das Stübchen war einfach, aber in diesem [229] Stübchen war sie glücklicher, als eine Fürstin in ihrem reichverzierten Schmollwinkel. Um diese Zeit, gegen Abend, stand oft, nicht jeden Tag fand sich dazu Zeit und Gelegenheit, neben dem niederen eisernen Ofen ein kleiner Tisch mit dem nöthigen Theegeschirr versehen, in welchem Gustchen emsig waltete und für die liebe Mutter ein feines Theebutterbrod bereitete. An dem Tischchen saßen Frau Brandeis und Ludwig, und dies war für Mutter und Kinder die schönste, gemüthlichste Zeit des Tages; da schütteten sie vor dem Auge der Mutter alle ihre kleinen Geheimnisse und ihren Herzenskummer aus. Da erzählte Ludwig mit geballter Hand und zitternder Stimme von seinen endlosen Fehden mit dem allgemeinen Schulfeinde, dem Doctor Landmann, da beschwichtigte ihn die Mutter, und da lachte ihn Gustchen aus, wenn er zwischendurch die Tanzstunde, die er auf Wunsch der Eltern besuchen mußte, verwünschte und ihre Bekanntinnen alberne Dinger nannte, mit denen sich kein vernünftiges Wort reden lasse. »Dafür sagen sie auch von Dir«, rief sie lebhaft aus, »Du wärest ein so gelehrter Herr, daß sie sich Alle fürchten, mit Dir zu tanzen, und auf's Tanzen kommt es doch am Ende allein an. Ach, Gott! wie schön ist das, so herumzuwalzen«, und damit tanzte sie, das Brod in der einen, das Wasser in der andern Hand, im Zimmer herum. Ludwig und die Mutter mußten hellauf lachen, dann sagte der Erstere: »Ja, wenn Alle so unschuldig wären, wie Du, und nur nach dem Tanzen fragten, dann ließe ich es mir noch gefallen, aber es sind eitle, verliebte Dinger, die nur die Cour gemacht haben wollen und mit uns kokettiren.«

Gustchen sah ihren Bruder erstaunt an: »Ich weiß gar nicht, was das ist: Cour machen und kokettiren, und die Andern wissen es gewiß auch nicht!«

»Darum sollst Du es auch nicht lernen«, sagte Ludwig eifrig, »und so lange ich etwas zu sagen habe, kommst Du mir gewiß nicht in die große Tanzstunde!«

[230] Gustchen seufzte: »Es muß doch gar schön dort sein, ich möchte gern«, fügte sie hinzu und blickte verstohlen nach der Mutter.

»Laßt es gut sein, Kinder«, sagte nun die Mutter beschwichtigend, »Gustchen hat Recht, daß sie ihre Freundinnen gegen Dich vertheidigt, Ludwig, und Ludwig hat Recht, Gustchen, daß er nicht wünscht, Dich in der großen Tanzstunde zu sehen. Es geschieht dort gewiß nichts Unrechtes, aber ich sehe mein Gustchen lieber unter meinen eignen Augen mit dem Brodlaib herumwalzen, als in einem fremden Raum, wo freilich nur halbe Kinder zusammen sind, aber darum auch manche Kinderei entsteht, die für das ganze übrige Leben verderblich ist. Und Du weißt, was ich Dir versprochen habe. Ehe Ludwig die Universität bezieht, lade ich alle Eure jungen Freunde und Freundinnen hierher in's Haus, und da sollst Du tanzen, Gustchen, bis an den Morgen, wenn Du nicht müde wirst«.

Gustchen hüpfte hoch auf: »Gewiß werde ich es nicht, und ich bin ja schon wieder ganz zufrieden«, rief sie munter und faßte die Mutter zärtlich um den Hals, dann fuhr sie zu Ludwig gewendet fort: »Nun, Herr Professor, Urquell der Weisheit, Hohepriester der Vernunft, hast Du nicht wieder etwas in der Tasche, dem ich andächtig lauschen muß, wenn ich kaum die Hälfte davon verstehe?«

»Du würdest es schon besser verstehen, wenn Du nicht immer Puppensachen arbeitetest«, antwortete Ludwig gleichfalls lachend, mit der Hand über ihre rothe Wange streichend, »aber es thut nichts, höre nur zu«, und damit öffnete er Tieck's Phantasus und begann mit dem warmen Interesse, der enthusiastischen Freude der Jugend Mutter und Schwester die Zaubermähren des genialen Dichters vorzulesen. Dies waren die Stunden, welche Frau Brandeis und ihre Kinder nicht mit den glänzendsten Vergnügungen vertauscht hätten, und wobei es fast fraglich war, wer sich am meisten darnach sehnte. Und [231] wie gering waren die äußeren Mittel, die sie zuerst an den kleinen Raum fesselten und dann durch die höheren Bezüge, welche ihrem Zusammensein entströmten, darin festhielten. Der warme Ofen, die gemüthliche Tasse Thee, der helle Schimmer der Lampe luden die Kinder unwiderstehlich ein, den Abend bei der Mutter zuzubringen, statt draußen andre Gesellschaft aufzusuchen. Schnell entwickelte sich daraus das geistige Zusammenleben; was Ludwig fühlte und dachte, tobte und stürmte er in diesen Abendstunden aus, und was er sagte, interessirte Gustchen tausendmal mehr, als alles Gerede ihrer Freundinnen, weckte ihr geistiges Interesse, indem er Alles, was er den Tag über gelernt und studirt, hier laut verarbeitete. An diese Ergießungen schloß sich bald die Lectüre an, er war stolz, Mutter und Schwester mit Homer vertraut zu machen, denn Erstere war eine kaum weniger naive und erstaunte Zuhörerin, als ihr Töchterchen; dann kamen die Dichter der romantischen Schule, welche damals in allen Köpfen spuckten, an die Reihe, und Gustchen ward immer roth und verlegen, wenn sie ihren Freundinnen gelegentlich erklären mußte, wer Tieck und Brentano waren und sie dann von ihnen als ein Wunder der Gelehrsamkeit angestaunt, aber auch zugleich – um der Wahrheit ganz die Ehre zu geben – im Innern ein wenig von ihnen verspottet wurde. Trotz ihrer Belesenheit war das Gustchen im Uebrigen doch gar zu dumm; sie wollte es nie begreifen, daß die Freundin Clara ganz entsetzlich in Ludwig verliebt war und dringend der Hülfe seiner Schwester bedurfte, wie sehr auch Clara das Köpfchen auf die Seite neigte, wenn sie ihr mit Ludwig begegnete und mit einem langen, schmachtenden Seitenblick seinen Gruß erwiederte. Ihr selbst war es unbegreiflich, weshalb Ludwig's kleiner Freund jeden Tag wenigstens dreimal an dem Fenster vorübertrabte, wo ihr Arbeitstischchen stand, und wenn er sie erblickte, die rothe Mütze bis auf die Erde herabzog, und ebenso wenig konnte sie sich erklären, warum ihr Vetter, [232] der neugebackene Cadett, der fast immer auf den Fußspitzen ging, um darzuthun, daß er die reglementsmäßige Länge habe, und der aus der steifen Uniformskravatte, die ihm fast den Hals zuschnürte, so roth wie ein Krebs hervorsah, noch röther ward, wenn er seine schuldige Sonntagmorgenvisite bei der Tante abstattete. An Gustchens unschuldiger Unbefangenheit glitten alle diese drohenden Anzeichen aufsteigender Leidenschaften wirkungslos ab, sie tanzte und sang, half der Mutter in der Haushaltung, disputirte mit dem Bruder, ließ sich bald von ihm unterhalten, bald abkanzeln, denn er wollte durchaus nicht, daß sein Gustchen so ein »eitles Gänschen« würde, wie die meisten ihrer Bekanntinnen, aber am liebsten war es ihr, wenn sie ein Stündchen ungestört für ihren Puppenstaat, den sie gemeinschaftlich mit ihrer Busenfreundin besaß, ein neues Kleid oder sonstigen Putz arbeiten konnte, und die Mutter ließ sie stille gewähren. Es war ihr recht, daß Gustchen Kind blieb, so lange als möglich, und die Fertigkeit, welche die kleinen Hände bei dem Verfertigen der zierlichen Puppentoilette erlangten, sollte ihnen bei wirklicher Arbeit schon zu Gute kommen. –

An dem heutigen Abend nun, wo wir das Kleeblatt in seinem kleinen Sanssouci vereinigt finden, drehte sich die Unterhaltung um ernstere Dinge, als um Tanzstunden oder romantische Märchen. Mutter und Schwester waren noch ganz erfüllt von Ludwigs Rede und dem Erfolg, welchen er damit gehabt; endlich erinnerte sich auch Frau Brandeis an das letzte Zusammentreffen mit ihren Hausgenossen:

»Ludwig«, sagte sie sanft, »es hat mir nicht gefallen, daß Du dem Doctor so hochfahrend begegnetest; Du mußt nun nicht gleich eitel werden, mein Söhnchen«, setzte sie zärtlich hinzu, dem Liebling über die gelockten Haare streichend.

»Wahrhaftig Mutter, das bin ich nicht«, rief der lebhafte Jüngling erregt, »aber ich kann den Doctor nicht leiden, weil er ein Neidhammel ist!«

[233] »Ludwig, Ludwig«, sagte die Mutter, »wie gehst Du wieder in das Extrem!« und Gustchen fügte hinzu: »Ja, wenn ich so etwas gesagt hätte, würde der Herr Bruder gleich rufen: ›Da sieht man wieder, wie die Frauenzimmer übertreiben!‹«

»Und ich sage es noch einmal«, rief Ludwig, indem er unmuthig aufstand, »warum soll man denn ewig mit der Wahrheit hinter dem Berg halten und die Dinge nicht beim rechten Namen nennen? Ich kann dies nun einmal nicht!« Damit warf er sich wieder aufgeregt auf seinen Sitz.

»Ludwig«, sagte die Mutter mit besorgter Stimme, »Du glaubst nicht, wie mich diese Heftigkeit an Dir ängstigt, und es wird schlimmer damit, statt besser, trotz Deines Versprechens, Dich mäßigen zu wollen. So willst Du nun hinaus in die Welt, selbst mit Fremden verkehren lernen, – o, wie werde ich um Dich bangen, wenn ich Dich nicht mehr unter meiner Hand und Leitung weiß.«

Ludwig faßte die Hand der Mutter, drückte sie an sich und sah ihr dann liebevoll in die Augen: »Warum erschrickst Du gleich so, wenn mein Tollkopf einmal überkocht«, sagte er weich, »Du weißt es ja von mei nen Kindertagen her, wie mich jede Ungerechtigkeit empört, die ich an mir oder Anderen erfahre, wie ich nichts so tief hasse, als das Achselzucken und das höfliche Scherwenzeln, hinter dem nichts als Lüge steckt; und so einer ist der Doctor, trotz seiner vorgeblichen Dichternatur! Dabei kann er es nicht vertragen, wenn ein Anderer den kleinsten geistigen Erfolg erringt, und wenn es selbst ein armer, unbedeutender Gymnasiast ist, wie ich«.

»Ich kann nicht leugnen, daß mir vorhin sein Benehmen Dir gegenüber auch nicht gefiel«, sagte die Doctorin ruhig, »aber es ist nicht der Mühe werth, so darüber aufzubrausen«. Frau Brandeis war so vernünftig und gerecht, auch der Jugend und besonders ihren Kindern gegenüber der Wahrheit die Ehre zu geben, dadurch lenkte sie dieselben weit sicherer zur Mäßigung [234] und Besonnenheit, als wenn sie ihnen, wie Aeltere dies den Jüngeren meist nur zu gerne thun, ohne Weiteres ihre Wahrnehmung bestritten und als eingebildet hingestellt hätte. Dadurch, daß sie auf ihre Kinder einging, sie als urtheilsfähige Menschen betrachtete und mit ihnen discutirte, nicht disputirte, erwarb sie sich deren unbedingtes Vertrauen, und ließen sie sich der Mutter gegenüber vollständig gehen. Auch jetzt verfehlte ihr einfaches Zugeständniß seine Wirkung auf Ludwig nicht, und er erwiderte: »Der Doctor hatte gar nicht ganz Unrecht mit seiner Behauptung, die Actusreden seien kaum mehr als eine Spielerei, aber die Art, wie er es sagte, war widerwärtig«.

»Dafür suchte es aber seine Frau wieder gut zu machen«, fiel Gustchen feurig ein, »sie ist gar zu lieb, ich bin ganz verliebt in die junge Frau!«

»Das ist recht, sei nur ganz froh, wenn sie sich ein wenig Deiner annimmt, Gustchen, wenn ich fort bin. Der Doctor ist die prächtige Frau gar nicht werth. Wenn ich ihren blauen Schleier sehe, muß ich immer an den Kaiser Octavian denken und an die schöne Prinzessin, die mit wallendem blauem Schleier auf dem weißen Zelter durch den frischen, grünen Wald reitet«.

»Nicht wahr, Ludwig, das ist die Romantik? ja, ja, ich erinnere mich noch ganz genau, und so sieht sie wirklich aus. Ich kann zwar nicht recht begreifen, wer das eigentlich sein soll, die Romantik, aber das Märchen für sich allein ist gar zu schön.«

»Nun, so halte Dich an's Märchen, bis Du das Uebrige verstehst«, sagte Ludwig, der Mutter mit etwas wichtiger Miene zulächelnd, »und jetzt beeile Dich und spüle die Tassen und Kannen, daß nicht der Mutter alles auf dem Halse bleibt!«

»Wird schon geschehen. Herr Bruder!« antwortete etwas pikirt Gustchen, die sich nicht gerne an eine häusliche Pflicht [235] erinnern ließ, weil im Haus die Sage ging, daß sie lieber über den Büchern als in der Küche saß, und weil sie darum doppelt ehrgeizig war, ihrer Pflicht zu genügen.

»Ich werde Dich der Frau Romantik, wie Ihr die Doctorin nennt, nächstens recht warm an's Herz legen, mein Gustchen«, sagte die Doctorin, ehe diese das Zimmer mit ihren Tassen verließ, »und –«

»Mutter, der Vater ist nach Hause gekommen«, riefen plötzlich vier Stimmen auf einmal an der Thüre, indem diese hastig geöffnet wurde und zwei kleine Knaben und Mädchen einließ. »Recht Kinder, ich komme schon«, war die rasche Antwort und im nächsten Moment war die Mutter schon vor der Thüre draußen, die Kinderschaar vor sich her schiebend. Noch einmal wandte sie sich um und rief: »Ludwig! um acht Uhr wird zu Nacht gegessen, komme nicht zu spät, der Vater wird heute allerlei mit Dir sprechen wollen!«

»Ich komme, Mutter«, war die Antwort, die sie kaum mehr hörte in ihrer Eile.

»Mein Alter war heute doch einmal im Leben zufrieden mit mir«, sagte Ludwig sich langsam erhebend, »es kommt nicht oft vor!« Dann ging er einigemale in dem engen Zimmer auf und ab, trat dann an's Fenster, trommelte an den Scheiben und sagte: »Frau Romantik soll sie heißen! Das war ein guter Einfall von der Mutter.


Es wallen ihr die Locken
So dunkel um Stirn und Wangen,
Wie blauer Blumen Glocken,
Die süßen Augen prangen,
Und ihrer Stimme Klingen
Ist wie der Harfe Ton,
So hört' im Traume singen,
Ich Engelslippen schon!« –

[236] »O, ich alter Esel«, rief Ludwig, sich plötzlich selbst unterbrechend, nachdem er eine Weile träumend gestanden und die obigen Worte mit leiser Stimme vor sich hingedichtet hatte, »da stehe ich und mache Verse an die Frau Romantik, die so prosaisch war, das verkannte und nie erkannt werdende Doctorgenie zu heirathen. Wenn das die Andern gehört hätten, die sollten mich gut ausspotten, aber ich muß noch einmal zu den Jungens, ich habe es ihnen fest versprochen«. Damit ergriff er seine Mütze und stürmte so hastig hinaus, daß er beinahe das arme Gustchen, das in hausmütterlicher Geschäftigkeit mit seinen reinen Tassen wieder herein kam, umgerannt hätte!

V

Einige Stunden später fand sich die Familie des Doctor Brandeis friedlich vereint um den großen, viereckigen, nußbaumenen Eßtisch, dessen vier Seiten vollständig durch die Eltern und die sechs Kinder besetzt waren. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um die Vorfallenheiten des heutigen Actus und ward vorzugsweise zwischen Ludwig und den Eltern geführt, während die Jüngeren aufmerksam zuhörten. Der Vater gab wiederholt seine Zufriedenheit mit Ludwigs wohlgelungner Rede zu erkennen, was ein so strahlendes Lächeln auf dem Antlitz seiner Frau hervorrief, daß Ludwigs Augen sich unwillkürlich mit Thränen füllten, als er ihrem zärtlichen Mutterblick begegnete. Was hatte sie nicht schon gelitten, wie viel gebeten, wie viel vermittelt, um den heftig aufstrebenden Sohn und den strengen entschiedenen Vater gegenseitig in gutem Einvernehmen zu erhalten. Die Harmonie des heutigen Abends war ihrem Mutterherzen ein süßer, reicher Lohn, ein Moment, aus dem sie neue Kraft zu neuem unermüdlichen Wirken sog. – Nachdem der Tisch abgeräumt war, schob der Vater seinen Sessel[237] etwas zurück, setzte sich behaglich darin zurecht, zündete seine Pfeife an und überschaute mit zufriedenem Lächeln den frischen Kinderkranz. Es war dies die einzige Stunde des Tages, wo der fleißige, unermüdlich thätige Mann sich Ruhe und Erholung gönnte, und nicht leicht durfte eines der Kinder um diese Zeit an dem elterlichen Tische fehlen. Nur Ludwig ging gewöhnlich bald weg, um noch in seinem Zimmer zu arbeiten, aber dies war nicht blos ein Vorwand, um dann den Abend mit den Kameraden zuzubringen, sondern er arbeitete wirklich angestrengt, oft zu lange, was der Mutter oft bange Sorge bereitete. Am heutigen Abende blieb er natürlich da, und nachdem die Mutter eine große Schüssel voll Linsen auf den Tisch ausgeleert hatte, die ganze Gesellschaft einladend, sich an der Arbeit des Auslesens zu betheiligen, schob er seinen Stuhl zwischen die beiden jüngsten Schwestern und fing an eifrig auszulesen. Sein Beispiel bewog den 15jährigen Fritz, der noch zaudernd dasaß, gleichfalls an dem banausischen Geschäfte Theil zu nehmen. Als die verhängnißvolle Schüssel in der Ferne sichtbar ward, fing er bereits an, etwas von Horaz und Elendt-präpariren hinzumurmeln, nun jedoch hielt er es nicht mehr unter seiner Gymnasialschülerwürde, eine von Aschenbrödelchens Tauben vorzustellen – wobei er nicht ermangelte, mit scharfen Blicken die ausgelesenen Linsenhäufchen der Schwestern zu mustern, ob sich nicht etwa noch ein vergessenes Gersten- oder Wickenkorn darin finde, in dieser Weise vollständig den werdenden Sinn des Mannes bekundend, der selbst das ihm Fernliegende mit größerer Genauigkeit ausführt, als das Mädchen. Um so größere Freude gewährte es Ludwig, dem kleinen Pedanten gegenüber unvermerkt den reingelesenen Linsen der Schwesterchen wieder einen Theil des Ausgestoßenen einzuverleiben, was Fritz zu einer heftigen Anklage bei der Mutter reizte und die unschuldig Angegriffnen zu nicht minder lebhaften Vertheidigungen. Endlich verrieth sich der Uebelthäter [238] selbst durch sein lautes Gelächter, und obgleich die Mutter mißbilligend sagte: »Ludwig, du machst mir die Kinder noch ganz schlimm mit Deinem ewigen Necken«, schienen doch die Geneckten, nachdem sie erst wußten, woher der Streich kam, durchaus nicht beleidigt. Der Ludwig dürfte sie necken, nur vom Fritz könnten sie das Hofmeistern nicht leiden – so erklärten die beiden Gekränkten und begannen unverdrossen auf's Neue den Gersten- und Wickenkörnern den Krieg zu erklären. Der Vater hatte schmunzelnd den kleinen Vorgang mit angesehen, denn, abgesehen von der Neckerei, gab es kaum ein angenehmeres Bild für sein Auge, als wenn er seine ganze Familie, groß und klein, bei einer nützlichen Arbeit vereinigt erblickte. Seine eigne Jugend war erfüllt gewesen von Arbeit und Schaffen, an sich selbst hatte er den Werth erkannt, welcher für's ganze Leben daraus erwächst, wenn der Mensch, was auch später sein Beruf sei, schon frühe in practischer Thätigkeit geübt wird. So duldete er auch bei den Kindern nie ein faules Herumschlendern, auch das Kleinste mußte schon mit anpacken, wo es galt. Leider werden sie immer seltner, diese Familien, welche, den gebildeten Ständen angehörend und Bildung im vollsten Sinne pflegend, doch nicht blos den Mägden die materiellen Sorgen überlassen, sondern wo Mutter und Kinder vereint sich um eine Menge der täglichen Lebensbedürfnisse bemühen, und so die kleinen Hände von früh auf mit bauen lernen an dem Wohlstand des Hauses, der auch wirklich zum Theil ihrem kindlichen Fleiße zugeschrieben werden darf.

Noch einmal übersah der Vater lächelnd die emsigen Arbeiter, dann sagte er, nachdem er sich lange im Innern überlegt, ob er vor den Kindern davon sprechen solle, während doch zuletzt das Interesse an der Sache überwog: »Sag' einmal, Ludwig, hast Du nichts von Frankfurt gehört?«

Ludwig hob den Kopf, sah den Vater an und sagte: »Nein, Vater!«

[239] »Gewiß nicht?« fuhr Jener fort und blickte ihn fest an.

»Wahrhaftig nicht, aber was ist denn?« fragte er, nun seinerseits gespannt.

Der Vater sah sich noch einmal im Zimmer um, dann sprach er mit gedämpfter Stimme: »Ich habe es vorhin in der Stadt gehört, es soll gestern Abend Krawall in Frankfurt gewesen sein?«

»Krawall?« wiederholte Ludwig erstaunt, »haben sich die Bäcker und Metzger wieder einmal durchgeprügelt?

»Nein, die Sache ist schlimmer, Studenten wollten den Bundespalast und die Constablerwache stürmen, es soll eine Schildwache ermordet worden sein, Genaueres weiß man noch nicht.«

»Haben sie gesiegt?« rief Ludwig und sprang hoch von seinem Stuhle auf.

»Studentenkrawall«, wiederholte die Mutter, indem sie die fleißigen Hände sinken ließ und nach ihrem Manne umsah, der plötzlich in ganz verändertem Tone sagte:

»Ludwig, wie dumm, wie können sie gesiegt haben? Einfältige Bubenstreiche sind das, von Kindern, die nicht einmal überlegten, wie nahe die Bundesfestung ist; noch in der Nacht wurden Preußen und Oesterreicher von Mainz hinüber geschickt, um den Bundespalast zu schützen«.

Ludwig hatte sich wieder gesetzt und sah finster vor sich hin: »Freilich, es ist Unsinn, baarer Unsinn«, sagte er, »eine Handvoll Studenten gegen das brutale Soldatenvolk, das überall wie Pilze aus der Erde wächst; aber dem miserablen Bundestag mag das kleine Erdbeben doch wohl bekommen!«

»Ludwig, Ludwig«, sagte der Vater, »rede nicht so«.

»Was kann ich dazu, wenn es nun einmal so ist!« fuhr Ludwig dagegen auf.

»Du brauchst es nicht zu sagen«, antwortete der Vater heftig, »es ist schon schlimm genug, daß Du es denkst«.

[240] »Ach, streitet Euch nicht,« fiel die Mutter unruhig ein, »ich bin nur froh, daß wir den Ludwig noch in Sicherheit hier haben, daß er die Universität noch nicht bezogen hat. Gott, Kind, wenn Du mir je in eine solche Geschichte verstrickt würdest!«

»Sei ruhig, Mutter«, antwortete Ludwig sanft, »ich weiß, daß Verschwörungen nie etwas nützen; ich hasse die Tyrannei, aber ich werde mich doch nie in solche Dinge einlassen«.

»Du solltest mir auch nur mit derartigen Geschichten kommen«, begann der Vater wieder mit so heftig strengem Ton, daß Ludwig purpurroth ward und den Kopf wieder stolz zurückwarf, »was soll überhaupt das Gerede von Tyrannen? wenn man Dich hört, sollte man glauben, man wäre von lauter Despoten umringt und seines Lebens nicht sicher«.

So sprach derselbe Mann, der sich wenige Stunden vorher nicht genug an der Rede seines Sohnes erfreuen konnte, in welcher noch viel heftiger gegen die Tyrannei deklamirt wurde. Aber dabei handelte es sich freilich um römische Tyrannen und weit entlegene Zeiten – und wie sehr entschuldigte sein ängstliches Vaterherz diese Inconsequenz. Ludwig war eben trotz des Augenblinkens der Mutter im Begriff eine heftige Antwort zu geben, als zum Glück die kleine Sophie plötzlich mit lauter Stimme ausbrach: »Ludwig, was ist denn das, ein Krawall?« Sie hatte die ganze Zeit über das seltsame Wort nachgesonnen und sich endlich, da nichts dabei herauskam, an ihr nie fehlendes Conversations-Lexikon, an Ludwig, gewandt. Alle lachten, bis auf Fritz, der verächtlich ob des dummen Mädchens die Achseln zuckte und mit mathematischer Pünktlichkeit die ausgelesenen Körner in eine Düte für seine Vögel sammelte.

Ludwig nahm die Kleine auf den Schooß und sagte: »Wenn Du Dich des Morgens von Gustchen nicht ruhig anziehen lässest, Gustchen Dich bei der Mutter verklagt, die Mutter [241] Dich zankt, Gustchen Dich schilt, und Du weinst, das ist ein Krawall!«

Zum Erstenmal stiegen der Kleinen Zweifel gegen den Bruder auf, sie sagte kleinlaut: »Es ist nicht wahr, Du machst mich nur etwas weis, Mutter, sag' Du mir's«.

Aber ehe die Mutter antworten konnte, gab es ein großes Geräusch auf dem Vorplatz, und eine tiefe Männerstimme fragte hastig nach dem Doctor.

»Kreuzdonnerwetter«, sagte der Doctor und stellte seine Pfeife unsanft hin, »hat es denn heute noch keine Ruhe, ein Doctor ist doch der geplagteste Mensch auf Gottes Erdboden!«

In diesem Augenblick öffnete das Mädchen die Thüre, und ohne lange Umstände trat hinter ihr ein Polizeidiener herein.

»Guten Abend, Herr Doctor«, sagte der Mann athemlos, »kommen Sie doch gleich mit mir nach dem Hospital, es hat ein Unglück gegeben«.

»Nun, was ist's, Baumann«?

Baumann sah einen Moment über die Kinder hin, dann sagte er: »Nun, die ganze Stadt erfährt es doch. Sie wissen, es war gestern Krawall in Frankfurt; die ganze Stadt steckt voll Studenten, die sich nun heimlich davon zu machen suchen. Wir bekamen heute schon in aller Frühe Befehl, genau auf Alles zu spekuliren, was zum Thor hereinkommt; es hat sich aber nichts Verdächtiges gezeigt, bis vor einer Stunde droben am Gitterthor ein Bauernwagen hielt mit drei jungen Bürschchen darauf, die für diese Fahrgelegenheit viel zu fein aussahen. Daß sie am entgegensetzten Ende der Frankfurter Chaussee ankamen, konnte natürlich eine wohllöbliche Polizei nicht irre führen. Sie wurden scharf in's Verhör genommen, konnten sich nicht legitimiren, wurden arretirt und sollten für die Nacht auf die Thorwache gebracht werden. Sie machten höllisch verzweifelte Gesichter, als wir sie so in unsere Mitte nahmen, und zwei von ihnen, die wohl Brüder sein mögen, so ähnlich sind [242] sie sich, schlangen sich im Gehen einander die Arme um den Hals. Der Dritte, ein schlanker, schöner Mensch, ging ein wenig hinterdrein. Wir führten sie, weil es näher ist, durch den Schloßgarten, unter den hohen Bäumen war es ziemlich dunkel, auf einmal blitzt und knallt es, und im nächsten Augenblick fällt mir Einer von ihnen wie sterbend in den Arm«.

Ein lauter Schrei scholl von den Lippen der Kinder, die bisher in athemloser Spannung an den Lippen des Erzählenden gehangen hatten. Aus Ludwig's Brust quoll ein dumpfer Seufzer, indem er Gustchen's Hand ergriff, während sich ihre Augen mit Thränen füllten.

»Das ist ja eine entsetzliche Geschichte«, sagte die Mutter leise, und der Vater fragte: »Ist der Unglückliche todt?« »Es scheint nicht so«, fuhr der Angeredete unerschüttert fort, »er hat sich in die Brust geschossen, und ein Blutstrom schoß aus der Wunde. Einen Augenblick noch schlug er wie wüthend um sich, als ich ihn festhalten wollte, dann sank er nieder. Wir legten ihn auf den Rasen, und ein Theil unsrer Leute lief auf die Schloßwache nach einer Bahre, auf die wir den Ohnmächtigen legten. Dann trugen sie ihn nach dem Hospital, wo er jetzt schon sein wird, und ich lief hierher, um Sie zu holen. Kommen Sie nur schnell mit und vergessen Sie Ihre Instrumente nicht, denn er athmete noch leise, als wir ihn auf die Bahre hoben.«

»Und was thaten die beiden Andern?« fragte der Doctor, ganz erschüttert von dem Gehörten.

»Sie geberdeten sich wie unsinnig; sie hatten den Kopf ganz verloren und hätten uns während des Schreckens und der Verwirrung ganz gut durchgehen können, aber sie jammerten nur laut um den Kameraden. Einer von unseren Leuten meint, es müßten Söhne eines Herrn von H. aus W. sein; er hat Verwandte dort und kennt fast alle Leute, sie sehen sehr vornehm aus«.

»Es ist entsetzlich«, sagte der Doctor, »aber nun kommt, [243] Baumann, ich bin fertig«. Während des Gespräches hatte er sich mit Hülfe der Gattin angekleidet; während er jetzt den Hut aus ihren Händen nahm, sagte er: »Bleibst Du auf, Luise, bis ich wieder komme?«

»Gewiß«, antwortete sie, denn sie wußte, es war dem lebhaften Manne Bedürfniß, sich noch über das Erlebte auszusprechen, ehe er zur Ruhe ging.

Er entfernte sich, und eine Viertelstunde lang währte es wenigstens, bis die Mutter die Kinder bewegen konnte, sich zur Ruhe zu begeben. Was sie gehört, hatte sie in die lebhafteste Aufregung versetzt, wenn sie es auch nur halb begriffen. Was sie bis jetzt von derartigen Vorgängen gehört, bezog sich auf Leute niederen Standes, auf gemeine Verbrecher – Arretirung, Selbstmord, diese fürchterliche Vorstellung wußten sie sich nicht mit Studenten, d.h. mit Leuten ihres Standes, zusammenzureimen. Fritz weinte und sagte, er wolle die zwei gefangenen Brüder befreien, ein Verlangen, in welches die beiden kleinen Schwestern lebhaft einstimmten. Die Mutter hatte ihre liebe Noth, bis sie sie Alle ruhig in den Betten hatte; dann kehrte sie in das Wohnzimmer zurück. Dort saßen Ludwig und Gustchen dicht nebeneinander, Beide bleich und zitternd und erst ruhiger werdend, nachdem sie noch einmal mit der Mutter das ganze Ereigniß durchgesprochen hatten. –

»Was wohl der Doctor und seine Frau dazu sagen mögen!« fuhr Gustchen auf einmal heraus.

»Er macht vielleicht ein rührendes Gedicht darüber«, antwortete Ludwig spöttisch.

Was der Doctor und seine Frau zu dem ersten Theil der Begebenheit gesagt hatten, ist uns bekannt. Er dachte jetzt schon längst nicht mehr daran, sondern ging beim Lampenschein unruhig im Zimmer auf und ab, manchmal blieb er stehen und schrieb einige Worte auf ein Papier, das auf dem Tische lag, dann schritt er wieder leise vor sich hinmurmelnd weiter. Adolph [244] dichtete – seine Phantasie trug ihn weit fort nach Indien und mühte sich Bilder aufzufinden aus einer landschaftlichen Welt, die sein Auge nie geschaut, und wie er auch sann und träumte, immer wie der war es nur ein geliehenes Bild, ein Product seiner Studien, was sich ihm künstlich vor die Seele stellte. In gleicher Weise mühte sich sein Geist, die seltsam verschlungenen Versmaße der orientalischen Dichtung dem Gedanken und der Metapher anzupassen, die er sich endlich mühsam herausgeklaubt hatte. Es war in der That ein schweres Werk, und Charlotte mußte unwillkürlich seufzen, indem sie ihn beobachtete. So schwer hatte sie sich die Kunst des Dichtens nicht gedacht, nicht geahnt, daß die Inspiration der Stunde sich so bleischwer auf Apollo's Söhne legen könne und sie zu zermalmen drohe, statt sie auf leichter Schwinge emporzuheben. – Sie hatte sich niedergelegt, aber kein Schlaf sank auf ihr Auge, stundenlang sah sie durch die offene Thüre ihres Cabinets dem Arbeitenden zu, alle Zweifel, jede Sorge, jeden Kleinmuth, die den Schaffenden so oft unter der Arbeit beschleicht, durchlebte sie mit ihm, indem sie sich nur auf den Morgen freute, der ihr die Blüthe der Nacht duftend entgegentragen würde. Wohl bangte ihr, daß der Geliebte sich zu sehr ermüden möge, sie öffnete schon die Lippen, ihn mit sanfter Bitte zu bewegen, sich niederzulegen – aber durfte sie die heilige Stunde unterbrechen? Wenn ein Schatz gehoben wird, muß es nicht im tiefsten Schweigen geschehen? So schwieg sie und schaute, bis die Lampe immer düstrer brannte und die Uhr schon Mitternacht geschlagen hatte. Endlich hob Adolph das Blatt empor, um es durchzulesen; was da stand, war die mühsame Frucht schon mancher halbdurchwachten Nacht. Auf einmal schüttelte er das Haupt, faltete das Papier ganz klein zusammen und hielt es in das Licht der Lampe, nach einer Secunde lag es als Asche in Adolphs Hand. Er betrachtete sie einen Augenblick, dann blies er sie hinweg und sagte leise: »Es ist doch nur Flickwerk; meine Studien sind noch nicht tief genug; [245] die Gegenstände müssen mir erst objectiv werden.« Damit suchte er sein Lager auf, einen Blick auf Charlotte werfend, die, den Kopf tief in die Kissen gedrückt, zu schlafen schien. In Wahrheit aber quoll ein heißer Thränenstrom aus ihren überwachten Augen! –

Es wurde noch später, bis endlich der Doctor erschöpft nach Hause kam. Es war ihm lieb, daß er die ältesten Kinder bei der Mutter wachend fand, obgleich er eigentlich nicht beabsichtigte, auch ihnen das Gesehene mitzutheilen. Schon wandte er sich nach kurzem Gruß nach seinem Zimmer, aber alle Augen hingen so fragend, so erwartungsvoll an seinen Lippen, daß er sich fast unwillkürlich in den Sessel niederließ, die Theilnahme der Seinigen zu befriedigen. Doch vergingen einige Minuten, ehe er zu sprechen anfing, bis endlich Gustchen, die nicht länger an sich halten konnte, in die Frage ausbrach: »Vater, lebt der arme Mensch noch?« »Nur Geduld«, war die Antwort, denn der Vater ließ sich nicht gerne direct fragen, »ich muß mich nur erst ein wenig erholen.« Endlich fing er an zu erzählen: »Der unglückliche Mensch lebt noch, aber ob wir ihn durchbringen werden, steht noch sehr dahin. Das ist ein ganz desperater Kerl, er hat mich halbtodt gemacht. Als ich in das Hospital kam, fand ich ihn bei Besinnung, aber während ich die Wunde untersuchte, ward er wieder ohnmächtig. Die Kugel steckt noch zwischen den Rippen, doch scheint es nicht, als ob edlere Theile verletzt wären. Er war zu schwach durch den starken Blutverlust, als daß ich es hätte wagen dürfen, die Kugel herauszuziehen; ich legte also den Verband an, dann trug man ihn in ein frisches Bett und rieb ihm die Stirne mit stärkendem Wasser, so daß er nach einiger Zeit die Augen wieder aufschlug und mit Verständniß um sich sah. Aber nie werde ich diesen Blick, in dem mit dem wiederkehrenden Bewußtsein auch die Erinnerung an das Geschehene sich immer deutlicher malte, vergessen. Auf einmal blickte er wild um sich, sein Blick fiel auf die Polizeisoldaten, [246] mit fast übermenschlicher Kraft schnellte er sich empor, riß, ehe wir's hindern konnten, den Verband los und sank dann gebrochenen Auges zurück, während ein neuer Blutstrom aus der Wunde schoß«.

Hier hielt der Doctor einen Augenblick bewegt inne, die Mutter und Gustchen schluchzten, Ludwig ging stürmisch im Zimmer auf und ab, vor sich hinmurmelnd: »Cato! Cato!« Der Doctor fuhr fort: »Mit unsäglicher Mühe gelang es mir, das Blut zu stillen und einen neuen Verband anzulegen, doch war der Arme mehr todt als lebend, als wir ihn endlich wieder ruhig hinbetteten.«

»Und hoffst Du ihn zu retten?« fragte die Doctorin.

Ihr Mann zuckte die Achseln: »Ich weiß es nicht, gesunde Jugendkraft vermag viel, aber jetzt ist er dem Tode näher als dem Leben. O, Gott, wie machen sich diese jungen Leute doch so unglücklich!«

»Hast Du nichts von den beiden andern gehört?« sagte Gustchen nach einer Pause schüchtern.

»Ja wohl«, lautete die Antwort, »in ihrer Bestürzung hatte sie die Wache gleichfalls in das Hospital geführt und in einem der unteren Zimmer eingeschlossen, bis sie dann später auf eines der Thorgefängnisse gebracht wurden. Es sind wirklich Brüder, zwei junge Adlige aus W. Die Frau des Portier erzählte mir, daß sie fortwährend einander in den Armen hielten und schluchzten und weinten, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen. Dazwischen jammerten sie um ihre arme Mutter, wie sich diese betrüben würde wegen ihres Schicksals. Mein Herz zitterte vor Schmerz, als die Frau es mir erzählte«.

»Ha«, rief Ludwig heftig, »Fluch über ein Regiment, das solche Opfer verlangt, solche Ausbrüche hervorruft!« Die Eltern und Gustchen fuhren erschrocken auf: »Ludwig!« bat die Mutter mit flehender Stimme, »Ludwig« warnte Gustchen erschrocken, [247] und »Ludwig« sagte der Vater mit strengem Ton, »Ludwig!« widerholte er noch ernster, »wie kannst Du ein so thörichtes Beginnen entschuldigen wollen? ich sage auch ›Fluch!‹, aber über Die, welche die übermüthige, unvernünftige Jugend zu solchen Thorheiten hindrängen, für die sie die Kastanien aus dem Feuer holen müssen!«

Ludwig sah mit verschränkten Armen finster vor sich hin: »Vater«, sagte er, »kannst Du Dir nicht denken, daß die Jugend aus eignem Antrieb die Partei des Rechts ergreift, daß sie in stolzem Muthe für die Freiheit in die Schranken tritt und ihr Herzblut dafür vergießt«.

»Du sprichst Unsinn«, rief der Vater heftig, »was soll das heißen, Freiheit, Recht, wer beeinträchtigt Deine Freiheit, wer nimmt Dir Dein Recht? Dumme Buben sind es, die selbst nicht wissen, was sie wollen. Komme mir nur nie mehr mit solchen Redensarten, ich will nicht hoffen, daß Du jemals Dich und Deine Eltern so unglücklich machst, wie diese verrückten Menschen, die ich da gesehen!«

Als Ludwig trotzig schwieg, stand der Vater auf und sagte: »Morgen reden wir weiter davon, der verfluchte Demagogenschwindel soll Dich nicht auch anstecken. Komm' Mutter, ich bin schrecklich müde, ich muß mich niederlegen!«

Eilends nahm die Mutter das Licht und ging dem Gatten voran, den Kindern »Gute Nacht!« zurufend. Als die Thüre sich hinter ihnen geschlossen, sagte Ludwig mit bittrem Lachen: »Siehst Du, Gustchen, am Nachmittag hat der Vater für meinen Cato geschwärmt, und nun ein wirklicher Cato ihm begegnet, hat er nichts als Scheltworte für ihn! Und so werden's alle Graubärte machen, die mich mit ihm bewundert, nur die Jugend kann sich noch für große Thaten und Gedanken begeistern!«

»Aber Ludwig«, sagte Gustchen, »thöricht scheint mir dieses Unternehmen doch auch gewesen zu sein!«

»Ich spreche nicht von dem Unternehmen«, sagte er, indem [248] sein Auge heller blitzte, »ich spreche von dem Gefühl, das sie überhaupt zu einer That begeisterte in unsrer thatenarmen Zeit. O, Gustchen«, fuhr er fort, die Schwester an sich ziehend, »Du bist zwar nur ein Mädchen, aber kannst Du es nicht empfinden, daß es groß und herrlich ist, für eine Idee zu leiden und selbst zu sterben? Dieser Student, der sich mit eigner Hand den Tod geben wollte, als er den Schergen der Gewalt verfiel, ist ein Märtyrer, ein wahrer Freiheitsheld!«

»Ja, das ist er«, antwortete Gustchen mit gehobener Stimme, »o, Ludwig, wenn wir ihn sehen, wenn wir etwas für ihn thun könnten!«

Fest umschlossen hielten sich die beiden Geschwister und sahen einander in die strahlenden Augen, in denen Thränen glänzten. Weit, weit hinter ihnen schien plötzlich die kleine Welt zu liegen, in der sie sich bis jetzt bewegt, in denen ihre Wünsche und Gedanken ihre Ziele fanden. Mit einem Schlage war die Welt der Wirklichkeit, der Contraste, des Kampfes vor ihnen aufgethan; das Leben sah sie an mit ernsten, gramerfüllten Zügen, aber ihre Phantasie, der hohe Schwung ihres reinen, naiven Gefühls wob einen Heiligenschein um die fremden Erscheinungen und zeigte ihnen diese Wirklichkeit in einem schönen, erhabenen, aber trügerischen Lichte. –

VI

Seit der französischen Revolution hatte sich eine trübe, sorgenschwere Zeit über Deutschland gelagert. Ein neuer Tag war im Anbrechen, aber statt der Morgenröthe führte er düstre Wolken, Sturm und Gewitter herauf. Es konnte nicht anders sein. Einem politisch völlig unentwickelten Volke standen eben so unreife, eben so wenig politisch gebildete Regierungen gegenüber. Als die schmachvolle Fremdherrschaft gebrochen war, als [249] das deutsche Volk, vornehmlich durch Englands Vorbild belehrt, sich daran erinnerte, daß es auch dereinst in grauer Vorzeit sein eigen Recht mit eigner Hand verwaltet, daß das uralte germanische Bewußtsein auf demokratischem Boden ruhte, da beanspruchte es als Lohn für seine Anstrengungen dem fremden Dränger gegenüber, wieder selbstständig Theil zu nehmen an seinen heiligsten Interessen, sich selbst zu regieren, nach selbst gegebenen Gesetzen. Aber Deutschland glich dem Kranken, der nach langem Siechthum den Gebrauch seiner Glieder verloren hat und sich erst nach und nach daran gewöhnen muß, sie wieder gebrauchen zu lernen. Was England besaß, die Möglichkeit einer gesunden zeitgemäßen Entwicklung auf rechtlicher Grundlage, das lag noch wie eine ferne, ferne Insel weit weg, und nannte auch der Deutsche mit stolzem Muthe die Flaggen, welche sein Schiff bewimpelten: »Verfassung, freie Presse, Schwurgericht«, so waren dies trotz aller schönrednerischen Versprechungen nichts als Worte, Worte, deren eigentlichen Sinn nur die Wenigsten verstanden. Regierende wie Regierte waren gleich unfähig, den schönen Traum schnell zur Erfüllung zu bringen; wohl lag viel an der Böswilligkeit der Ersteren, aber nicht Alles, eben so viel an ihrer eignen politischen Unreife. Wie konnte ein im Amt ergrauter geheimer Richter sich nur denken, in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung mitzuwirken? wie konnte ein Minister sich nur bis zu der Vorstellung erheben, einer Kammer Rechenschaft über sein Thun abzulegen? wie konnte einer der Staatsmandarinen, und hätte er auch erst in dreißig Jahren die Pfauenfeder zu erwarten gehabt, sich eine öffentliche, gedruckte Kritik seines Verhaltens gefallen lassen mögen? Der damalige Polizeistaat war gewiß noch mehr das Product der Unwissenheit, der Unbildung, der kindischen Furcht vor den Studirten, als der persönlichen Böswilligkeit der Fürsten. Dieses ganze, unter der Knechtschaft erzeugte und erzogene Geschlecht konnte sich nicht an den scharfen Luftzug der freien Bewegung gewöhnen, es[250] war mehr dumm als böse. Nicht minder versunken und blöde waren Bürger und Bauern, wenige kleine Landestheile ausgenommen. Kaum fing der vierte Stand an sich von den Wunden des Krieges etwas zu erholen, und nur beschäftigt mit seiner materiellen Wohlfahrt, kam es ihm nicht in den Sinn, sich um die geistigen Güter, die er der Nation sollte erringen helfen, zu kümmern. Das Gesetz galt ihnen nur als eine Nothwehr gegen Den, der sie etwa in ihrem nächsten Rechte kränken würde, gegen den Dieb und Mörder; von seiner hohen Bedeutung, seiner sittlichenden Kraft, die es ausübt, wo der freie Mann es selbst übt und durch seine Vertreter mitüberwacht, hatten sie kaum eine Ahnung. Nur soviel war ihnen als dunkle Tradition der Leiden des 18. Jahrhunderts geblieben, daß alles, was Regierung hieß, ihnen mehr als Feind, wie als Freund gegenüber stand; und wenn sie einen Hauch von Freiheit spürten, so benutzten sie ihn höchstens, hie und da ihrem Haß gegen die nächsten Dränger, den Kreis- oder Landrath Luft zu geben; aber was sie dabei von Beschwerden gegen die Fürsten selbst vorbrachten, waren nicht mehr als allgemeine, landläufige Phrasen. Aus diesem Chaos der Elemente erhob sich allerdings eine kleine intelligente Minorität, die mit tiefem Schmerz die Kluft betrachtete, welche die alte Zeit von der neuen schied. Wer sollte da hinüber helfen mit kühnem Sprunge? Worte allein thaten es nicht, aber nur Worte hatten sie, und selbst diese nicht mehr, als das freie Wort mehr als je durch die Bundestagsbeschlüsse von 1832 geknebelt war. Wohl nur den wenigsten der Männer, die man in jener Zeit halb verächtlich mit dem Namen: Demagogen oder die Schwarzen! bezeichnete, war es nicht bewußt, daß die halbe Schuld der trüben Zeit an dem Volke selbst lag, daß man vorerst dieses Volk selbst zur Freiheit hätte heranbilden müssen, aber wo fanden sie die Mittel hierzu? Die Presse war geknebelt, der Lehrerstand, aus dem, zu seiner Ehre sei es gesagt, nicht ein geringer Theil jenes intelligenten [251] und vorwärts treibenden Häufleins bestand, streng bewacht. Das Lehren der deutschen Geschichte in den Anstalten war verpönt, das Andenken der Jahre 1813 und 1814 suchte man so viel als möglich auszulöschen; selbst solche Bücher, welche die Befreiung Deutschlands vom Römerjoche erzählten, welche der deutschen Jugend den deutschen Heroen Hermann vorführten, wurden nur heimlich gelesen.

Der Sinn der Jugend wurde von dem Vaterländischen abgelenkt und in die klassische Zeit zurückgeführt, Griechisch und Latein sollten sie lernen, aber kein Deutsch.

Aber des Geistes einer Zeit läßt sich nicht spotten. Die meisten Männer, welche an Gymnasien und Universitäten lehrten, waren Zeitgenossen Herder's, Schiller's und Göthe's gewesen, in ihnen pulste noch ein Nachhall von dem Aufschwung des poetischen Geistes in Deutschland; sie maßen und zählten mit ihren Schülern nicht bloß Silben, sie führten sie auch in den Geist jener alten Literaturen und damit in den Geist der Völker ein, die sie erzeugt hatten. Zu diesen Anschauungen gesellte sich, bald schön belebend, bald wie ein feines Gift den Geist durchdringend, je nach der natürlichen Anlage der Einzelnen, der romantische Geist, welcher noch im vollsten Nachhall um jene Zeit Deutschland durchzog. Göthe war dem Tode nah, um Tieck's jüngere Gestalt gruppirte sich der Rest. Was der Geist in dem grauen Alterthum Großes und Herrliches geschaut, wollte der romantische Sinn dieser Jünglinge erleben, wollte es der Wirklichkeit einverleiben. Die Brust von klassischen Idealen erfüllt, das Herz von trunkner Schwärmerei gehoben, so traten sie der kalten, grauen Wirklichkeit entgegen. Zu jeder Zeit war es die schwärmende, die enthusiastische Jugend, welche, sich selbstvergessend, wie im Spiele Blut und Leben für einen höheren Zweck zu opfern am geneigtesten war. Als Roms Erde sich spaltete und das Orakel zur Sühne für den zürnenden Gott das Edelste der Stadt verlangte, da war es kein Mann, [252] kein Greis, sondern ein Jüngling war es, der im vollen Waffenschmuck sich ohne Besinnen hinabstürzte, und über ihm schloß sich der gähnende Schlund. Aehnlich lagen die Verhältnisse in Deutschland. Es bedurfte einer That, um das Volk aus seiner Lethargie aufzurütteln, und wäre diese That auch noch so tollkühn, noch so unüberlegt gewesen. Anders lassen sich wohl die gebrandmarkten, die viel und mit Recht geschmähten Vorfälle in Frankfurt nicht deuten. Die eigentlichen Leiter jener Bewegung, die im Dunklen blieben, können unmöglich an ein augenblickliches Gelingen ihrer Pläne gedacht haben; sie wollten nur erschüttern, wollten mit einem Schlag das Bewußtsein des Volkes auf jenen Punkt lenken, von welchem aus sich das Verderben über Deutschland auszuspannen schien und zum Theil auch wirklich ausspann. Ihre Rekruten suchten und fanden sie auf den deutschen Universitäten, unter der intelligentesten Jugend eines jeden deutschen Stammes. Der Schlag, der in Frankfurt geführt werden sollte, bezog sich nicht auf einzelne Theile des Vaterlandes, er hatte das Ganze im Auge, es war das erste Zucken jener Bewegung, deren Oscillationen seitdem beständig stärker und heftiger das deutsche Volk bewegen, der Zug nach endlichem Zustandekommen »deutscher Einheit«. In diesem Sinne darf man das Unternehmen, wie toll es auch aussah, wie kindisch oder vielmehr wie naiv es auch ausgeführt wurde, doch nie genielos nennen. Die Regierungen fühlten dies auch tiefer, als das Volk, selbst der gebildete Theil desselben. Man begriff nicht die Anstrengungen, welche man machte, eine Handvoll junger Leute in seine Gewalt zu bekommen, man verdammte die Animosität, die Härte, welche sich gegen die Gefangenen kund gab – man kann es heute nur entschuldigen mit dem Instinkt der Angegriffenen, die es unabweislich fühlten, daß der erste Schlag der Axt ihren morschen Lebensbaum getroffen hatte. Sie, die jungen Sturmvögel der Freiheit, sie mußten freilich untergehen, und nur den Wenigsten war es vergönnt, [253] das Ende dieser und nachfolgender Bestrebungen zu erleben. Man hat sie vielfach geschmäht, vielfach gescholten, man hat vergessen, daß es ein Anderes ist, ob eine übermüthige Jugend sich unberufenerweise das Recht anmaßt, die Welt in Verwirrung zu stürzen, oder ob Das, was sie that, nur der erste Ring einer Kette von Ereignissen bildete, die sich folgerecht aus den Verhältnissen entwickeln mußte und die früher oder später jenes Gelingen krönen wird und muß, das wir als das Fortschreiten des National- und Weltgeistes erkennen und bezeichnen.

Darum lenkt der Dichter gerne den Blick zurück auf diese Anfänge großer geschichtlicher Entwicklungen, darum sucht er gerne die edlen Impulse auf, die eine undankbare Nachwelt so gerne als Thorheit brandmarkt. Wir preisen andre Völker ob ihres politischen Märtyrerthums, wir sehen bewundernd auf die polnischen und italienischen Frauen und vergessen, wie viel schon deutsche Mütter, deutsche Schwestern und Bräute für die Freiheit gelitten, welche Thränensaat ausgestreut wurde in jenen Jahren der Verfolgung, der unerbittlichsten Strafen, der grausamsten Härte gegen Deutschlands aufstrebende Söhne. –

Wir kehren zu unsrer Erzählung, zu dem bis dahin friedlichen Familienkreise des Doctor Brandeis zurück. Was ganz Deutschland emporschreckte, das plötzliche Ereigniß, dies flog wie ein zündender Funke in die jugendlichen Gemüther. Was wußten sie freilich, Ludwig ausgenommen, vom Bundestag und den deutschen Verhältnissen? Was sie beschäftigte, was ihnen die Sache zu unendlicher Wichtigkeit erhob und sie viel länger beschäftigte, als dies sonst möglich gewesen wäre, das war die greifbare Gestalt des »verwundeten Studenten«, durch ihn fingen sie bis zum Jüngsten herab plötzlich an, sich für Dinge zu interessiren, die sonst dem Kinde fern liegen. Sie wollten wissen, warum der arme Mensch sich in die Brust geschossen, sie ballten die kleinen Hände, als Gustchen ihnen erklärte, er habe sich für die Freiheit geopfert, etwa wie Tell dem Geßler [254] gegenüber, und nun wußten sie genug. Es ist ein wunderbarer Klang in diesem Worte »Freiheit«! Selbst Die, welche es nie in seiner allgemeinsten Bedeutung begreifen, treibt es zur Schwärmerei, und selbst der Roheste, in dessen Brust nicht jeder Funke für etwas Höheres erloschen ist, fühlt sich bei dessen Nennung von einem unbestimmten Drange erhoben und begeistert. So ging es den vier jüngeren Kindern des Doctors unbewußt, so seinen beiden Aeltesten mit Bewußtsein. Sie konnten es alle kaum erwarten, bis Nachmittags der Vater nach Hause kam, bis sie hörten, wie es dem Fremden ging, und sie waren entzückt, als der Vater ihnen endlich sagte, er hoffe, ihn dem Leben zu erhalten; ihrem heitren Sinne erschien das Leben noch als der Güter Höchstes. Die Mutter bemühte sich, so viel an ihr war, die unruhige Schaar zu dämpfen, sie auf ihre Schul-Arbeiten und Kinderspiele zurückzuverweisen, aber kaum war der Eindruck etwas verblaßt, so frischte ein neues Ereigniß ihn wieder auf.

Kaum waren drei Tage nach dem verhängnißvollen Abend verflossen, als abermals ein Diener der heiligen Hermandad, Herr Urhahn, erschien und den Doctor aufsuchte. Er war nicht zu Hause, und als ihn Frau Brandeis fragte, um was es sich handle, und wo ihr Mann zu finden sei, entdeckte er ihr endlich geheimnißvoll, daß der Herr Polizeiwachtmeister sich vor einer Stunde in den »Tümpel«, einen großen Teich vor der Stadt, gestürzt habe, um sich zu ertränken. Die Doctorin und die Kinder, welche, es war ein Sonntag Nachmittag, um die Mutter versammelt waren, schrieen laut auf, der Mann beruhigte sie aber damit, daß der Herr Wachtmeister noch zeitig genug gerettet worden sei und gegenwärtig bereits in seinem Bette liege, wo ihm jedoch ärztliche Hülfe dringend vonnöthen sei.

»Aber mein Gott«, sagte Frau Brandeis, »was ist dem Mann nur eingefallen? Seine Frau mag schön erschrocken sein, und was wird die Tante dazu sagen?«

[255] »Da hat nun die gute Frau einmal Ursache wirklich betrübt zu sein«, sagte Ludwig spottend, »das Unglück hat ihr gewiß auch vorher geahnt«. Die Mutter blinkte ihm zu, aber der Polizei-Mann der den Spott nicht merkte, was nicht zu verwundern, da man noch nie gehört, daß die Polizei zum Humor geneigt, antwortete ernsthaft, indem er seinen Schnurrbart drehte: »In der That, es hat der Frau Wachtmeisterin geahnt; sie hatte in Voraussicht des Unglücks eine Spielparthie zum Kaffee eingeladen, und so war sie doch nicht allein, als ihr der Mann triefend und halb todt in's Haus gebracht wurde«.

»Nun, das ist gut«, sagte die Doctorin, »aber weiß man nicht, was den Mann dazu antrieb?«

»Was sonst«, antwortete Herr Urhahn mit schneidendem Hohn, »als diese verfluchte Demagogengeschichte, diese Schwarzen mit ihrem Frankfurter Attentat. Man hat den Mann auf's schrecklichste in seiner Dienstehre gekränkt – aber ich darf weiter nichts sagen. Guten Tag Frau Doctorin, ich gehe den Herrn Doctor aufzusuchen«. Damit grüßte er mit militärischer Haltung und ging, die Uebrigen in gespannter Erwartung und sich in Vermuthungen erschöpfend, zurücklassend. –

VII

An diesem nämlichen Sonntag-Nachmittag war in der behaglichen Wohnung des Herrn Polizeiwachtmeisters Eisenstein eine sehr würdige Gesellschaft versammelt. In dem freundlichen Wohnzimmer, an dessen Fenstern im warmen Sonnenschein Primeln und Hyacinthen dufteten und mit dem Wohlgeruch kämpften, der einer silbernen Kaffee-Kanne entstieg, saß auf dem Sopha eine sehr stattliche Dame, der man es nicht ansah, wie [256] nahe sie den siebenzig stand. Zu ihrem jugendlichen Aussehen trug ihre Toilette bei, die nach Schnitt und Farbe nichts weniger als im Geschmack einer Matrone eingerichtet war, jedoch durch die Haltung, mit der sie getragen wurde, nichts weniger als unangenehm auffiel. Es war die verwittwete Frau Obristin Daniels, eine Tante von Frau Brandeis und ohne Zweifel das hervorragendste Mitglied dieser Versammlung, durch ihre Manieren und ihren stolzen Anstand, welchem der Ehrenplatz an dem wohlbesetzten Kaffeetisch ganz und gar zukam. Fast eben so stolz thronte neben ihr ihre Busenfreundin oder – Feindin, je nach dem Stand des Mondes, denn die Verbindung dieser beiden Damen glich in seiner Abwechselung genau dem Wechsel der Gestirne. Bald verschwand sie gleich dem Monde vollständig an dem Horizont, dann tauchte sie wieder schüchtern auf, wie Selenens erstes Viertel, füllte sich rasch, war aber, sobald sie ihren Höhepunkt erreicht, wie alles Schöne auf Erden, regelmäßig ihrem Ende am nächsten. Doch konnten die beiden alten Damen nicht von einander lassen, und wir werden es sogleich erfahren, welches Medium sie im innersten Gemüth miteinander verband und einander ebenso wieder entfremdete. Noch ist die Stunde nicht erschienen, wo der erhabene Zweck dieser sich oft wiederholenden freundschaftlichen Zusammenkunft klar enthüllt wird, und so lange die Damen ihren Kaffee trinken und den köstlichen Kuchen der Frau Polizeiwachtmeisterin mit Wort und That rühmen, dürfen auch wir ein wenig plaudern. Das Freundschaftsgestirn der beiden Größen dieses Kreises stand heute im Zenith, was gar nicht zu verkennen war an der Weise, mit der sie sich gegenseitig in freundschaftlichen Ceremonien überboten. Der Pollux der uns schon bekannten Frau Obristin war Niemand weniger als die Frau Hofconditor Eisenstein, deren Mann, wie schon der Titel besagt, eine der ehrenvollsten Stellungen im Staate inne hatte. Seine Obliegenheit war es, alle Bitterkeiten des Hoflebens zu überzuckern und zu übergolden, [257] den Hofkämmerer trunken zu machen mit süßem Wein, der Hofliebe Vorschub zu leisten mit holden Verschen in den Knallbonbons, enfin den ganzen Hof mit jenem Wall von Confituren, Torten, Crême's und Eis zu umziehen, der uns schon als Kinder in der Erzählung vom Schlaraffenland entzückte. Niemand muß glauben, daß er selbst Hand angelegt, Zucker gesiebt, Mandeln abgewogen oder einen Schnee geschlagen habe. Nein, er war nur der schaffende Geist, der über dem Corps der Hofküche schwebte, und auf dessen Wink sich alle Kasserollen, Reibeisen, Mörser und Wagen in Bewegung setzten. Er war unermüdlich in seinem Amte und ein Vorbild für alle die betreßten Hofconditoren in seidenen Strümpfen und kurzen Beinkleidern, die das Vorzimmer eines Fürsten füllten. Der süße, unsagbare Duft aus seiner Küche erfüllte die ganze Hof-Atmosphäre, und wenn man dem Fürsten von seinem Volke sprach, so sahen die Bauern alle aus wie Butterbretzeln, die Bürger wie Windgebackenes und der intelligente Mittelstand wie eine süße, zitternde Gallerte. Kein Wunder, daß die Frau Hofconditorin sich stolz in die Brust warf und sich wenigstens eben so viel dünkte, als eine verwittwete Obristin. Das kleine Wörtchen »Hof« hatte der sonst nur dem Bürgerstande angehörenden Beschäftigung ihres Gatten eine unsägliche Würde verliehen; ihr Mann war ein »Angestellter«, seine Arbeiten drangen bis in die Person des Fürsten selber ein, sie durfte stolz sein, durfte es doppelt, da alle achtbaren Hausfrauen ihrer Bekanntschaft sich glücklich priesen, durch ihre Vermittlung eines der geheimnißvollen Recepte jenes selbst an entfernteren Höfen berühmten, culinarischen Laboratoriums des Herrn Eisenstein zu erhalten. Wenn eine Hausfrau bei einer feierlichen Gelegenheit eine Punschbowle auf den Tisch setzen konnte, mit dem Zusatz: »Das Recept zu diesem Punsch verdanke ich dem Herrn Hofconditor!« dann war sie dreifach beglückt. Es war gar nicht nothwendig, den Namen des Wohlthäters [258] hinzuzufügen, sein exquisiter Titel allein reichte hin, alle Welt au fait zu setzen. Bei dem Wohlstand, den er sich in seiner Stellung erworben, und dem Eingebrachten seiner Frau hätte das würdige Paar ein so süßes Leben führen können, als wären sie auf lauter Rosinen und Zuckersyrup gebettet; aber die bittren Mandeln des Geschickes bleiben ja nirgends aus. Zu ihrem Unglück hatte die Frau des »Tortenverarbeitenden, Süßigkeitbereitenden« ein äußerst empfindsames und reizbares Gemüth. Sie sah in sich immer das verfolgte Opfer einer mißgünstischen oder höhnischen Absicht und mußte also stets gewaffnet sein, sich Angriffen entgegenzusetzen, die sich nur zu oft als Don Quixott'sche Windmühlen herausstellten. Wenn sie die Frau Doctor Brandeis besuchte und Ludwig zufällig pfeifend über den Hof ging, so beklagte sie sich weinend, er habe sie ausgepfiffen; wenn ihr Sohn mit einer jungen Dame zweimal auf dem Balle tanzte, so sagte sie nicht, mein Sohn macht dem Mädchen den Hof, sondern, die will meinen Sohn heirathen! was sie gleichfalls als ein Staatsverbrechen betrachtete. In allem sah die arme Frau eine versteckte Absicht, und so brachte sie es endlich glücklich dahin, daß man sich wirklich so sehr vor ihr und ihrer Zunge fürchtete, als sie es zu wünschen schien, denn da sie sich fortwährend als das unschuldige Schlachtopfer fremder Bosheit betrachtete, so hielt sie alle Welt für böse, außer sich selbst, und trachtete unablässig darnach, sich selbst zu schützen. Daß Freundschaft mit einem solchen Charakter, der nur durch fortwährende Schmeichelei einigermaßen besänftigt werden konnte, unmöglich war, hatten alle ihre Bekannten längst eingesehen, aber – so groß ist die Macht der Gewohnheit, ist die Macht einer schönen Wohnung, einer behaglichen Bewirthung, daß man sich immer wieder mit der Frau Hofconditorin versöhnte, trotz ihres allgemein bekannten mißtrauischen und wenig wohlwollenden Charakters. Die harmlose Jugend war ihr vor allen Dingen ein Dorn im Auge, [259] und unter diesen zumeist die unschuldigen Kinder des Doctor Brandeis, die sie in ihrer natürlichen Lebhaftigkeit jeden Augenblick beleidigten. Besonders Ludwig galt in ihrem Kreis als ein hochmüthiger, unhöflicher Mensch, ganz besonders aus dem Grunde, weil sie einst, um ihn zu prüfen, ihr Taschentuch fallen ließ, als er ihr begegnete. Er stolperte dar über hinaus, ohne es aufzuheben, und das konnte sie ihm nie vergeben. Der arme Ludwig! in ihren Augen war er nichts als ein Bengel, und Gustchen war eine Gans, weil sie es einmal gewagt, den Bruder gegen ihre Angriffe in Schutz zu nehmen.

Ihr gegenüber, bequem in einen Sessel gelehnt, saß die dritte dieses Kleeblatts, Fräulein Amalie von Kriegsheim, deren corpulente Gestalt schon vor undenklicher Zeit dem Flügelkleide entschlüpft war. Sie war eine der glücklichsten Personen auf diesem Erdenrund, eine der Wenigen, denen es beschieden war, selbst in dem nüchternen 19. Jahrhundert in dem Zustand des goldenen Zeitalters zu vegetiren. Ihre Jugend und ihr späteres Alter fielen noch in jenen glücklichen Moment, wo die jungen Damen nicht bereits vom 18. Jahre an davon phantasirten sich einen Wirkungskreis zu suchen, ihre Kräfte einem höheren Zweck zu widmen. Der höchste Zweck ihres Daseins war im Gegentheil nur, zu leben, und zwar so bequem und angenehm als möglich. Was gingen sie die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen an, wenn nur für ihre eigenen gesorgt war? und dies Letztere bewerkstelligte sie in der naivsten Weise. Ludwig Brandeis hatte in seiner spöttischen Weise einst den Geschwistern das Räthsel vorgelegt: Wer ist das? Sie säet nicht, sie ärntet nicht, sie sammelt nicht in die Scheunen, und ihr himmlischer Vater ernährt sie doch? Im Chorus antwortete der übermüthige Schwarm: Fräulein Amalie von Kriegsheim! Sie hatten es getroffen; die gute, phlegmatische Dame glich in der That den Lilien auf dem Felde und den Vögeln unter dem Himmel. Sie hatte einen großen, großen Bekanntenkreis, in diesem brachte [260] sie abwechselnd ihre Tage zu, und die Nächte zog sie sich in ihr Heim zurück, wo ein langer, friedlicher, traumloser Schlaf sie für die Strapatzen des kommenden Tages stärkte. Am frühen Morgen zog sie dann wieder aus, ein blüthenweißes Strickzeug in der Tasche, mit diesem zog sie sich bei den betreffenden Gastfreunden in eine Fensternische zurück, und nun mochte es um sie her stürmen und toben, so viel es wollte, es war ihr Alles gleichgültig. – Keine große Wäsche der geplagtesten Hausfrau, kein großes Diner, kein Souper, nichts konnte sie vermögen, sich ihrer Ruhe zu entziehen und mit Hand anzulegen. Sie lebte sich, den Mahlzeiten und ihrem Strickzeug. Das Einzige, was sie nebenbei beachtete, waren die Kinder, welche sie, wie so manche andere ihres Geschlechts, als bloße Plagen für die friedliebende Menschheit ansah, und deren höhere Bestimmung sie einzig darin erblickte, sie so viel wie nur möglich zu Maschinen herauszubilden. Mit Argusaugen beobachtete sie alle ihre Bewegungen und tadelte sie mit scharfen Worten: Luise, rühre nichts auf der Komode an! Karl, was hast Du in der Sophaecke zu thun? Ludwig, schnalze nicht mit den Fingern! Sophie, nehme Dein Strickzeug und stricke! Mit solchen wohlgemeinten Ermahnungen brachte sie nachgerade die ganze kleine Welt ihres Kreises zur Verzweiflung, und wie gelähmt fielen die kleinen Hände herab, wie erstarrt standen die Jungen, wenn sie lärmend aus der Schule in's Wohnzimmer stürmten und in der Fensterecke Fräulein Amalie als Gast erblickten. Besonders waren es auch hier die Brandeis'schen Kinder, welche ihr Nervensystem auf's äußerste erregten, und wäre die Frau nicht so gut und wahrhaft wohlwollend gewesen, Fräulein Amalie würde ihr um der »unartigen Kinder« wegen nie mehr die Ehre ihres Besuchs geschenkt haben. Die Frau Obristin befand sich ihrer Großnichten und Großneffen wegen, die sie herzlich liebte, fortwährend in einem kleinen Krieg mit diesen ihren beiden Freundinnen, welcher jedoch nie so heftig wurde, um von dieser Seite [261] her das gute Einvernehmen der drei Großmächte zu stören. Ueber Ludwigs Räthsel war auch sie ernstlich böse, und sie gab sich alle Mühe, ihre Freundin, der etwas davon zu Ohren gekommen, zu beruhigen.


Frankfurter Attentat. Episode mit dem Wachtmeister. Ludwig geht zur Universität. Im Herbst Tod des Studenten. Begräbniß am Abend in Gegenwart von Ludwig und Charlotte. Sie schwören sich gegenseitig zu handeln, eine That zu thun. Verhaftung des Professors. Dessen Frau. Steigende Unzufriedenheit der Gemüther. Ludwig hält Zusammenkünfte mit Bürgerssöhnen. Gustchen dem nicht fremd. Schwärmerische Erinnerung an den Studenten. Der Kleine ihr stets treu ergeben. Dessen Verhaftung. Des Vaters Geburtstag. Ludwigs Schmerz. Sein Verbleiben im Vaterhause. Flucht. Charlotte außer sich. Muß sich von der Familie zurückziehen. Gustchens Liebe zu einem Verbannten, der treueste Freund des Bruders. Ludwigs Krankheit und Tod. Gustchen pflegt ihn, verlobt sich neben der Leiche. Schmerz der Eltern. Charlottens Tod. Gustchens Heirath. 1848.

[262]

Notes
Entstanden in der ersten Hälfte der 1860er Jahre. Der Titel stammt von Ludwig Büchner. Erstdruck in: Nachgelassene belletristische und vermischte Schriften, 1. Band, Frankfurt am Main (J. D. Sauerländer) 1878.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Büchner, Luise. Ein Dichter. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-45C0-9