[26] Sonette

1.

Wie oft gedenkt mein Herz der schönen Sage
Von Phaëthon's Schwestern, welche – voll Erbarmen
Mit der Verzweiflung und dem Schmerz der Armen –
Der Götter Einer schuf zum Baum der Klage,
Zur Trauerweide, endend ihre Plage.
Es sprießen Zweige aus den schönen Armen,
Mitleid'ge Rinde zieht sich um die warmen
Gequälten Herzen, und die laute Klage
Wird leises Flüstern, melancholisch Klingen.
Wir müssen menschlich unsren Schmerz bezwingen,
Kein Schwesterherz darf mehr so süß vergeh'n!
O, wollt's ein Gott! wie möcht' auch ich so gerne
Auf einem theuren Grab in weiter Ferne
Als stille Trauerweide ewig steh'n!

[27] 2.

Wollt' ich vom Herzen fort den Felsen rollen,
Sein tiefgeheimstes Inn're mir erschließen,
Zum Stein erstarren müßt' ich dann vor diesen
Medusen, die es schmerzlich wild umgrollen.
Hätt' ich in Klagen mich erleichtern wollen,
Sie müßten wie ein Strom sich laut ergießen,
Es müßt' in bitt'ren Thränen mir entfließen
Des Lebens beste Kraft und höchstes Wollen.
Nein, wie ein Räthsel fast soll mich umschweben,
Was so mich drückt und peinigt ohne Schuld –
Wie könnt' ich sonst mich je zum Glück noch heben?
Blind, taub und schweigend, will ich weiter schreiten,
Und über Alles kalt und ruhig breiten
Die starre Leichendecke der Geduld!
[28]

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Büchner, Luise. Sonette. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-45E9-F