[199] Gott verläßt die Seinen nicht

Soll mich die Hand des Herren ewig drücken?
Verfolgt Er mich als einen Feind?
Soll ich forthin sonst keinen Stern erblicken,
Als der mich schreckt, und mir zum Falle scheint?
Soll denn mein Kelch nach nichts, als Galle, schmecken,
Und eine stete Nacht des Traurens mich bedecken?
Sonst donnert Er allein mit seinem Wetter,
Das voller Tod und Flammen ist,
Auf das Geschlecht der unbekehrten Spötter,
Und schonet den, der Ihm die Ruthe küßt;
Sonst pflegt Er nur die Kinder zu bedräuen,
Ich aber soll ümsonst nach seiner Hülffe schreien?
Doch nein, ich weiß, daß Er in meinen Nöthen,
Auf jeden Seufftzer Achtung giebt.
Ihm trau ich fest, und sollt Er mich gleich tödten.
Ich weiß, daß Er die Seinen hertzlich liebt,
Daß Ihm so viel an meinem Thun gelegen,
Als dort den gantzen Bau des Himmels zu bewegen.
Von Kindheit an hab' ich in grosser Menge
Die Proben seiner Huld gespürt,
Er hat mich offt durch unbekannte Gänge
Sehr wunderlich, doch immer wohl, geführt;
Hab' ich nicht offt, wenn aller Trost verschwunden,
Die Artzney bey dem Gifft, und Glück im Sturm, gefunden?
So raset nur ihr Wellen und ihr Winde!
Bey mir entsteht kein Zweifel-Muth,
Dieweil ich mich in Sicherheit befinde,
Wenn euer Herr in meinem Schifflein ruht.
Fangt immer an aufs hefftigste zu wüten!
Er kans mit einem Winck euch wiederum verbieten.
[200]
Des Höchsten Schluß und heimliche Gerichte
Bet' ich in stiller Demuth an,
Er baut vielleicht mit zornigem Gesichte
Ein frohes Werck, das mich ergötzen kan.
Was sich kein Witz zu ändern darff erkühnen,
Dazu wird mir Gedult vielmehr, als Murren, dienen.
Es ist mir schon genug, daß diese Plage
Auf meiner Seelen Wolfahrt zielt,
Und daß im Lauff und Wechsel meiner Tage
Nicht ungefehr ein blinder Zufall spielt.
Die rechte Zeit hat Gott schon abgemessen,
Er will bald seinen Grimm, ich bald mein Leid, vergessen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von. Gedichte. Geistliche Gedichte. Gott verläßt die Seinen nicht. Gott verläßt die Seinen nicht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4ABC-F