[54] Ein Tagebuch.

[Widmung]

[55] [57]Dem Dichter Theodor Storm in Verehrung und Dankbarkeit gewidmet.

[57] Was jetzt Dein Leben füllen wird,
Wohin Du gehst, wohin Du irrst,
Ich weiß es nicht; ich weiß allein,
Daß Du mir nie mehr lächeln wirst.
Doch kommt erst jene stille Zeit,
Wo uns das Leben läßt allein,
Dann wird, wie in der Jugend einst,
Nur meine Liebe bei Dir sein.
Dann wird, was jetzt geschehen mag,
Wie Schatten Dir vorübergeh'n,
Und nur die Zeit, die nun dahin,
Die uns gehörte, wird besteh'n.
Theodor Storm.

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In einem Haus mit hohem Giebeldach,
Mit Erkerfenstern, einem großem Garten,
Der erst am Flusse seine Grenze fand,
Da lebte eine stille, alte Frau,
Und wer sie kannte, nannte sie nur »Base
Sie liebte alle Kinder wie die eignen,
Die armen, dummen, schlimmen schier am meisten;
Denn sorglich suchte sie die allerärmsten,
Und lehrt' mit Mühe und Geduld sie lesen,
Und lehrte Schreiben, Rechnen, Stricken, Nähen
Den kindisch-blöden oder kecken Mädchen,
Und schenkte allen warme Kleider, Schuhe,
Den Eltern Holz und Brod in Wintertagen.
Mich aber sah sie oft gar seltsam an
Und fragte dann mit sacht' gedämpfter Stimme:
»Was denkst Du, Kleine? Sag' es mir doch, Kind.«
Ich kicherte und zierte mich zuerst,
Versteckte mein Gesicht in ihren Schooß
Und schämte mich um nichts, nach Kinderart.
Sie lächelte, ich überwand die Scheu,
Und bald erzählt ich ihr die krausen Dinge,
Die durch den Kopf in bunten Bildern zogen.
Wie Weisheitssprüchen lauschte sie den Worten
[59]
Und ließ mich schwatzen oft gar manche Stunde,
Sie nickte nur zuweilen mit dem Haupte,
Strich lauschend mir die Locken von der Stirn,
Schloß ihre Augen, – aber horchte doch ...
Und einmal, als ich lange, lange sprach,
Preßt' plötzlich fest sie mich in ihre Arme
Und klagte, trübe-seufzend, vor sich hin:
»Du armes Ding! – so war einst mir zu Muthe!
Lern' lesen, Kind, und schreiben, lern', o lerne!
Und denke nur daran, den Geist zu bilden,
Sonst wird Dein Herz wie meines mißverstanden,
Verkannt, gebrochen werden, wie das Meine...
Du sollst nicht hülflos sein, wie ich einst war,
Sollst nicht unwissend bleiben wie die Base,
Sollst Jenem nicht ein geistig Hemmniß sein,
An dem Dein Herz mit allen Fäden hängt –
Dich, Kind, möcht' ich vor meinem Loos bewahren...«
Also sie sprach, und ihre Thränen flossen
In heißen Tropfen über meine Stirn;
Sie hatte nieder sich zu mir gebeugt,
Und ihre Lippe bebt' auf meinem Scheitel...
Ich wußte diese Worte nicht zu deuten,
Ich sprach sie nach wie Worte des Gebetes,
Das mir die Base jüngst zur Nacht gelehrt.
Doch prägten tief sich ihre Worte ein,
Weil ich zu tausend Mal sie wiederholte.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
[60]
An einem Sommerabend saßen wir,
Ich und der armen Nachbarn kleine Kinder,
Und harrten, daß Maria, meine Schwester,
Uns bald zur Base Anna rufen würde.
Es war ein schwüler, heller Sommerabend,
Die Käfer schwirrten surrend durch die Luft,
Die Tauben girrten, trippelten und lachten
Und stürzten sich vom hohem Giebel nieder
Auf die Terrasse, von Gerank umflossen.
Die gelben Rosen, die das Haus umsäumten,
Die dufteten fast herb', und die Gardinen,
Mit blauen Palmen, dunkelrothen Vögeln,
Die flatterten vom Abendwind bewegt,
Aus unserer Base kleinen Erkerfenstern.
Die Kinder flüsterten und rückten ungeduldig,
Sie spähten aufwärts erst zu den Gardinen,
Erhoben dann sich, immer lauschend,
Und schlichen sich allmählig schüchtern fort...
Der letzte Sonnenstrahl war schon erloschen,
Auf grauen Schwingen sank die Dämmerung
Hernieder auf den großen, stillen Garten,
Hernieder auf das duftumwogte Haus. – –
Ich aber saß und lauschte jenem Klingen,
Dem süß-geheimnißvollen, weichen Laut,
Der leise hinzog durch die Abendlüfte,
So wie der letzte Ton zerriss'ner Saiten
Schwermüthig nachbebt, mählig erst verweht...
[61]
Ein Vöglein zwitscherte noch traumhaft-traurig,
Vom Fluß herauf ertönten Ruderschläge,
Der Lärm der Kinder, die weit draußen spielten,
Der scholl verlockend oft zu mir herüber,
Doch bald verstummten auch die lauten Scherze,
Die Kleinen aber eilten fröstelnd heim. –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Lautlose Stille herrschte rings umher;
Da plötzlich hörte ich ein Fenster klirren,
Doch ganz hoch oben war's, das Giebelfenster,
Und meine Schwester rief mit fremder Stimme:
»Du, Kleine! – bist Du da?« – »Ja, ja, Maria« –
»Getrau' mich nicht hinunter,« schluchzte sie,
»Die Base Anna ist schon lang' gestorben,
Und keine Menschenseele ist im Haus! –
Ich bin aus Furcht vor ihr heraufgelaufen,
Komm', hole mich, wenn Du Dich gar nicht fürchtest« ...
»Die Base Anna ist schon lang' gestorben?«
Was mag das sein, drob' sich Maria fürchtet?
So dachte ich und eilte zu der Base. – – –
Ich lief durch Saal und Zimmer, fand sie nirgend,
Bis ich sie sah auf ihrem Lieblingsplätzchen,
Auf der Terrasse, vom Gerank umflossen.
Sie lag in ihrem Lehnstuhl dort wie schlummernd,
Der Abendwind hob ihre grauen Locken,
Gefaltet lagen ihre weißen Hände
In ihrem Schooß, auf einem altem Büchlein.
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Zu ihren Füßen setzt' ich still mich nieder,
So wollte harren ich auf ihr Erwachen
Und die Maria sich recht fürchten lassen ...
Die aber war gar bald hinabgelaufen,
Die Diener und die Nachbarn herzurufen.
Sie kamen eilig und mit Schreckensmienen; –
Wie ich auch winkte, bat und leise wehrte,
Die rüttelten die gute Base doch
Und klagten weinend: Ja, sie ist gestorben ...
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Mir in den Schooß fiel jenes alte Büchlein,
Das unter ihren Händen erst gelegen,
Ich barg es absichtslos in meinem Kleide.
»Das will ich selbst ihr morgen wiedergeben,«
So dachte ich, als mich mein müder Ahn
Gesenkten Hauptes langsam heimwärts führte.
Daheim versteckte ich das Büchlein rasch
Und konnt' die Nacht hindurch kein Auge schließen;
Denn immer mußt' ich an die Base denken...
Den nächsten Tag da durft' ich nicht hinüber,
Am zweiten Tag mußt' ich die Kleinen hüten,
Am dritten Tag lief ich dem Ahn davon,
Geraden Wegs hinüber zu der Guten. –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Durch's ganze Haus zog öder Weihrauchduft,
Und schwarzgekleidet waren alle Diener,
Die Spiegel waren alle schwarz verhängt,
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Und alle Thüren waren weit geöffnet,
Und fremde Menschen füllten alle Räume.
Mit bloßen Füßen huscht' ich durch die Menge,
Und hastig vorwärts glitt ich durch die Zimmer,
Bis hin zu jenem Saal, wo stets sie lehrte...
Da standen Töchter, Enkel, fremde Kinder,
Der junge Mann, der aus der Ferne kam
Und jüngst ihr liebstes Enkelkind gefreit, –
Sie alle standen neben einem Sarg,
Und sie lag d'rin, verhüllt mit weißem Schleier,
Ein kleines Kreuz in ihren schmalen Händen,
Und sie lag dort – und regte sich nicht mehr ...
Mir schlug das Herz, daß ich es selber hörte. –
Entsetzliches, das ahnt' ich, war gescheh'n,
Konnt' ich auch alles noch nicht ganz erfassen...
Nun aber kamen schwarze, fremde Männer,
Die legten einen Deckel auf die Truhe
Und schlugen mit dem Hammer einen Nagel
In jenes enge Bett der alten Base. –
Mir war, als ging der Nagel durch mein Herz.
»Oh meine Base, meine Base Anna!«
So schrie ich auf und stürzte zu dem Sarg,
In wilder Angst stieß ich hinweg die Männer,
Ich zerrte an dem Deckel, bis er fiel
Und ich das Antlitz sah der Heißgeliebten...
Und ich umschlang sie fest mit meinen Armen,
Versprach ihr zitternd, ich wollt' fleißig lernen;
[64]
Ich wollte lesen, schreiben, stricken, nähen,
Wollt' Alles thun, nur sollt' sie wieder lachen,
Sollt' sich bewegen, sollte mich umarmen,
Sonst trügen fort sie jene schwarzen Männer.
Und leise, leise sagt' ich ihr in's Ohr:
»Sie werfen Dich in eine tiefe Grube,
Der Ahn hat ganz allein mir einst erzählt,
Daß sie den Vater einstens mir begraben,
Weil er nicht reden konnte und nicht athmen.
O rede Base! laß Dich nicht begraben,
Sonst muß ich ja allein, unwissend bleiben
Und auch im Winter ohne Schuhe laufen.« –
Doch sie blieb still ... die Andern schluchzten lauter,
Das starre Haupt es fiel aus meinen Armen,
Aus meinen schwachen Händen in den Sarg.
Der Base Tochter zog mich sanft hinweg,
Sie küßte weinend meine heiße Stirne
Und sagte Manches, das ich nicht verstand.
Mir aber flog ein Frösteln durch die Glieder,
Durch schwarze Nebel sah ich noch die Todte,
Die Hammerschläge dröhnten dumpf und schwer,
Es wurde Nacht – ich hörte nur mein Wimmern. –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
An wilden Fiebern lag ich lang' danieder,
Und nur allmählig kam ein klares Denken
Und die Erinnerung an sie, die Todte ...
Zu ihrem Grabe war mein erster Gang.
[65]
Es war schon Herbst, sie schlief bei welken Blumen;
Ein glatter Stein sprach mit viel glatten Worten
Von Allem, was für alle Andern werth.
Er sprach von Haus und Rang und von den Jahren,
In welchen sie geboren und gestorben,
Zum Schlusse kamen auch noch schöne Verse
Von Glauben, Hoffen, Dank und Wiedersehen.
Ich konnte Alles schwer und langsam lesen,
Ich war ein Kind, mein kleines Kinderherz
Es frug vergeblich, wo die Worte ständen,
Die trüben Worte, die sie einst gesprochen.
Mir klang ihr »lerne, lerne!« durch die Seele. –
Das schwarze Büchlein hatt' ich aufbewahrt,
Ich las und langsam lernte ich begreifen
Das, was ich las, und sie, die todte Base,
Und als ich älter wurde, Manches litt,
Da wußte ich ein jedes Wort zu deuten. –
Ein ganzes, langes, schmerzensvolles Leben
Lag eingesargt in diesem kleinem Büchlein...
Ein wirres Leben las ich da aus Liedern,
Die eine Feuerseele hingeschrieben
Mit Blut und Thränen für Ein Menschenherz. –
Und wie der Sänger einstens sie genannt,
So will auch ich sie schlicht und einfach nennen:
Tagbuchfragmente eines Einsamen.

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TextGrid Repository (2012). Christen, Ada. Gedichte. Schatten. Ein Tagebuch. [Widmung]. [Widmung]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-50DE-7