[90] 7.

Die liebste Stelle ... arme, arme Waise!
Die liebste Stelle war im fremden Haus ...
Doch dankbar hängt Dein immertreues Herz
An jenen Menschen, welche dort einst lebten,
Sich Dein erbarmten und Dich herzlich pflegten
Als schwach und hilflos Du.
Wenn Du im Dämmerlichte des Erinnerns
Mir sprichst von unsern frohen Kindertagen,
Dann wird lebendig mir die alte Zeit ...
Ich sehe einen unbeholfnen Buben
Mit sonnverbranntem Antlitz, großen Ohren,
Den heißen Kopf durch grüne Büsche stecken
Und schüchtern ausspähn, ob des Nachbars Mädel
Sich noch herumtreibt in dem großen Garten,
Und hör' ihn stotternd deinen Namen rufen
Und dreimal »Kuckuk!« schrein ....
Und meinem Lockruf bist Du rasch gefolgt;
Oh eine kluge Spielgefährtin warst Du mir,
Die ernsthaft-still an meiner Seite saß,
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Wenn ich Geschichten, grause, ihr erzählte,
Die an des Ahnen Werktisch ich ersann,
Dieweil ich sorgsam Rad zu Rädchen fügte,
Und ringsumher die fert'gen Uhren schlugen,
Die meines Vaters Vater kunstvoll machte.
Zuweilen aber wollt' kein Schräubchen sitzen,
Wollt sich kein Rädchen fügen und kein Stein.
»Du wirst mir nie ein rechter Lehrling, nie!
Nie ein Geselle wie Dein Vater war,
Ein Meister niemals, wie ich selber bin ...«
So schalt der Alte, glotzte durch die Brille
So grimmig, daß ich jählings nimmermehr
Dein Stimmchen durch die Lüfte zittern hörte,
Das erst die Arbeit mich vergessen ließ,
Weil es, mich rufend, Ringel ringel-reihe!
Vom Gartenzaune leis' herübersang ....
Und dann die dämmerstillen Feierstunden,
Wenn Du mit Deinen nackten kleinen Füßen
Frischweg mit mir durch Feld und Thal gelaufen.
Denk ich daran, so fasse ich es kaum,
Wie schnell die Zeit verrann ...
Mir wird zu Muth' als säßen plötzlich wir
In jenem Hause bei den guten Menschen,
Als wären wieder Beide wir daheim
Und hätten niemals, niemals uns verlassen.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siehst Du, da steht das Haus und auf dem Sims
Da schnäbeln, drehen, zieren sich die Tauben;
Die Schwalben schießen zwitschernd hin und her,
Und auf dem Schornstein zanken sich die Spatzen.
Die kleinen Zicklein machen tolle Sprünge
Rund um den Haushund mit dem Zottelpelz,
Der vor der Thür liegt und sich heiser bellt,
Wenn Vagabundenvolk des Weges kommt.
Die schwarze Henne trippelt rufend glucksend,
Von einer flaum'gen Küchleinschaar umgeben
Vorsichtig durch den Hof.
Und erst die Bäume! .... Die breite alte Linde,
Der Fliederstrauch, der seine vollen Zweige
Bis an das Dach des niedern Hauses streckt
Und mit den blauen Blüthenbüscheln leise
Im Winde an die schmalen Scheiben pocht.
Die Schlehenhecken, die den Garten säumen,
Vermengt mit manchem wilden Rosenstrauch.
Die rothen Hagebutten und die blauen Schlehen,
Die gaben, aufgereiht an alte Wollenfäden,
Gar köstliches Geschmeide für Dich einst. –
Und draußen vor dem Zaune rechts und links,
Da stehen bei dem morschen Gitterthor
Die beiden steifen, schattenlosen Pappeln,
Die immer staubbedeckt und ängstlich scheinen,
Weil niemals frisches Grün die Blätter schmückt
Und stets ein Zittern durch die Zweige irrt.
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Doch nun hinein in unser altes Häuschen ...
Statt einer Flur hat es die große Küche,
An beiden Seiten sind zwei Stuben nur,
Die geben Raum für karges Hausgeräthe,
Der grüne Ofen mit der plumpen Bank,
Der schwere Tisch mit festgefügten Bänken,
Darüber dann in einer Fensterecke
Mit Tannenreis umkränzte Heiligenbilder,
Das Messingherz mit blanken Flügeln dran
Und mitten drin das rothe Seelenlämpchen,
Das grobgeschnitzte Bettgestell voll hoher Kissen,
Die buntbemalte Truhe mit dem Sonntagsstaat ...
Das Alles steht vor mir bekannt und lieb,
Als wär ich dort gewesen all die Tage.
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ganz unterm Dache aber steckt ein Stübchen,
In dem Nichts steht als nur ein Kinderbett.
Ein schläferiges Mägdlein kniet dort,
Das folgsam seine schmalen Hände faltet
Und mühsam nachlallt was die alte Frau
– Mit ihrem Wackelkinn und tausend Runzeln –
Ihm vorspricht, jedes lange Wort betonend,
Als müsse Gott das ganz besonders hören.
Am Fenster lehnt ein Mann mit weißem Haar
Und ernsten, starken, aber gütigen Zügen.
Er regt die Lippen nicht, er betet leise,
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Und seine rauhe schwielenvolle Hand
Legt federleicht er auf des Kindes Köpfchen
Als übermannt vom Schlaf es flüsternd umsinkt
Und tiefe Athemzüge durch das Stübchen wehn.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Christen, Ada. Gedichte. Aus der Tiefe. Fünf Treppen hoch. 7. [Die liebste Stelle ... arme, arme Waise!]. 7. [Die liebste Stelle ... arme, arme Waise!]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-528D-9