8. Einsamkeiten

Erster und Fünfter Gesang

Erster Gesang

Dir, schauervolle Nacht der heil'gen Einsamkeit,
Dir, traur'ge Stille, sei mein zärtlich Lied geweiht!
Die müde Seele sucht in deinen Dunkelheiten
Die beim mühsamen Schwarm scheinbarer Eitelkeiten
Von allen Sterblichen umsonst gesuchte Ruh':
Ihr sing' ich, und der Hain hört mir stillschweigend zu.
Es herrsche durch den Wald die heilig öde Stille!
Hier, wo ich mich versenkt in meinen Schmerz verhülle,
Verdopple sich die Nacht! Ein mächt'ger Schauer rauscht
Durch das erschrockne Tal, in dem kein Waldgott lauscht.
Die Nymphen dieses Walds entfliehen voller Schrecken.
Zu klagen soll mein Lied den Widerhall erwecken;
Ihr Büsche, schließet mich in heil'ge Schatten ein!
Mein Schmerz durchdringe selbst den unbelebten Hain!
Die Einsamkeit allein soll meine Klagen hören;
Sie berge meine Wut und die erhitzten Zähren!
Es wird vielleicht in ihr mein reger Schmerz gestillt.
Die segn' ich, Einsamkeit; du bist des Grabes Bild.
Die Seele lernt in dir sich selbsten erst empfinden,
Und sie erstaunet oft, sich selbst so groß zu finden.
[99]
O wann ich einst in euch mein Leben durchgedacht,
Schließt sich mein nasses Aug' zu einer ew'gen Nacht:
O dann verberget noch, ihr schauervollen Haine,
Den überbliebnen Rest der modernden Gebeine!
Laßt keinen kühnen Blick der Sterblichen dazu!
O Seele, fliehe bald zu dieser tiefen Ruh'!
Empfindungsvoller Freund! auch dich vielleicht umschließen
Entfernte Haine nun mit heil'gen Finsternissen;
Alcipp, empfang dies Lied und denk an deinen Freund,
Der nun, von dir entfernt, der Jugend Rest durchweint.
Vielleicht wann du den Schmerz, der mich verzehrt, erfährest
Und auf die vor'ge Zeit den Blick zurückekehrest,
Fließt eine Zähre dir mitleidend vom Gesicht.
O Freund, o schäme dich der edlen Zähren nicht!
Dein Herz wär' nicht so groß, wenn es nicht fühlend wäre.
Dies ist das einzige, was ich von dir begehre.
Wenn Fühlen Schwachheit heißt, so ist die Schwachheit schön:
O könnt' ich sie doch nur, die edlen Tränen, sehn!
Die Einsamkeit verbirgt noch unser beider Schmerzen;
Die einz'gen Zeugen sind nur unsre eignen Herzen.
Schutzgeister, die vielleicht mitleidend um uns stehn,
Nur diese können noch die stillen Tränen sehn.
Ihr, die ihr um mich schwebt, und wie soll ich euch nennen?
Ihr weinet selbst vielleicht, wenn Geister weinen können;
Und ist mein traurig Lied hierzu nicht allzu schwach,
So weint uns noch vielleicht die Nachwelt fühlend nach.
Doch was soll Nachwelt sein? kann uns ihr Beifall rühren?
Und wenn sie mich nicht kennt, was werd' ich wohl verlieren?
Nein! wenn sein eignes Herz ihm nur den Beifall gibt,
Das ist genug für den, der wahre Tugend liebt.
Was ist die Nachwelt wohl, von unsrer Welt geboren?
So, wie die itz'ge Welt, besteht sie meist aus Toren.
Ihr, die ihr nach uns lebt, erblickt ihr dies Gedicht,
Verzeiht! ihr sagt vielleicht: der Dichter irrte nicht.
Alcipp! Nein, dies ist nicht der Ruhm, wornach wir streben:
Wir sind uns eine Welt; wir können uns erheben.
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Gesetze flößt uns nur Vernunft und Tugend ein:
Nur unser eigen Herz kann unser Richter sein.
So wenig Freuden auch das Glück uns sonsten schenket:
Alcipp, der ist beglückt, der so erhaben denket.
Ist ein empfindend Herz der Ursprung unsrer Pein:
Er muß der Ursprung auch von unsrer Größe sein,
Und eben dies Gefühl und eben diese Schmerzen,
Erhöhen unsern Geist zugleich mit unsern Herzen.
Die ihr euch glücklich denkt, wann euch die Welt betäubt,
O wie bedaur' ich euch, wenn ihr im Schlummer bleibt!
Stolz auf Unsterblichkeit, erhöhn sich edle Seelen;
Der bessern Welt gewiß, kann sie kein Unfall quälen.
Geschick! Oh! bring mich bald zu dieser bessern Welt!
In dieser ist nicht mehr, das mich zurückehält.
Du, du kannst mir allein die Welt erträglich machen,
Ich sah die Blumen blühn, den Himmel heiter lachen.
Sobald ich dich erblickt, fühlt' ich der Menschheit Glück,
Zemire! Doch uns trennt ein trauriges Geschick.
Zemire, erster Wunsch der unbefleckten Seele?
Du warst mein erster Wunsch; du wirst der letzte sein.
Die Welt ist ohne dich ein Aufenthalt der Pein.
Was hilfst du mir itzund, umsonst geliebte Tugend?
Was hilfst du mir itzund, umsonst verblühte Jugend?
Zu grausam war das Glück, zu streng war unsre Pflicht.
Ja, Himmel, es ist hart! Doch nein! ich klage nicht.
Nicht klag' ich! Ein'ge Zeit genoß ich doch mein Leben.
Alcippen hast du mir zum wahren Freund gegeben;
Du hast Zemiren mir auf kurze Zeit gegönnt.
Sie war für mich gemacht; und ach! sind wir getrennt?
Von allen beiden fern, soll noch mein zärtlich Klagen,
Wann sich mein Auge schließt, die Namen stammlend sagen.
Alcipp, du bist noch dort, in jenem Aufenthalt,
Aus dem das Glück mich riß; noch grünt für dich der Wald,
Noch lächeln dir vergnügt die blumenreichen Heiden:
Es schweben dort um dich die jugendlichen Freuden
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Mit leichten Flügeln noch, die zu verschwinden drohn:
Sobald man sie recht sieht, so sind sie schon entflohn.
Du fühlest noch die Welt und ihre prächt'gen Freuden:
Des Lebens Sonne kann dein heitres Aug' noch weiden.
Doch ich seh' schwermutsvoll, mit zärtlich nassem Blick,
In eine nur für mich betrübte Welt zurück,
Die ihren ganzen Reiz für mich allein verloren,
Wo jegliches Geschöpf zur Freude sonst geboren.
Ach! es war eine Zeit, in der ich sie genoß,
Wo bei Zemiren mir die Stunde sanft verfloß.
Damalen blühte noch der Frühling meinem Blicke,
Und in den Tränen selbst fand ich ein stilles Glücke.
Ließ mein erhitzter Sinn der Zärtlichkeit den Lauf:
So trocknete mein Freund die traur'gen Zähren auf.
Oh! Himmel! und ich sah – O Zeit! du bist vergangen!
Auch eine Zähre sah ich auf Zemirens Wangen,
Von Zärtlichkeit erregt; zum Lohn für meinen Schmerz
Erfrischte dieser Blick mein zärtlich schmachtend Herz.
Mein Schmerz selbst wurde Lust, geteilt mit meiner Schönen.
O lang beseufztes Gut! o unvergeßne Tränen!
O Seele, denke du! denn sagen kann ich's nicht;
Denk nur an jenes Glück, das noch dies Herz durchbricht.
Wie, Seele, war dir da, als mir Zemire sagte,
Sie fühle das für mich, was ich ihr seufzend klagte?
Wie fühltest du nicht da der Wollust Überfluß,
Als du mir fast entgingst, versenkt in einen Kuß?
So bist du denn vorbei, o Zeit voll Seligkeiten?
Umsonst nur ruf' ich dir und seh' dich noch von weitem.
Doch stürme nur, Geschick, weil du so grausam bist;
Betrübe mich noch mehr, wenn es dir möglich ist!
Die Lust ist schon genug, die du mir einst gegeben:
Ein solcher Augenblick ist mehr als sonst ein Leben.
Ein solcher Augenblick ist aller Schmerzen wert,
Mit denen mich dein Zorn, von ihr entfernt, beschwert.
Alcipp, genieße du der Jugend Fröhlichkeiten:
Doch mitten im Genuß denk an die künft'gen Zeiten.
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Bedenk, daß das Geschick, das über mich ergrimmt,
Auch dich, o Freund, vielleicht zu gleichem Schmerz bestimmt.
Auch du wirst einst vielleicht in Einsamkeiten weinen;
Auch dir wird einst die Welt betrübt und öde scheinen;
Dann fühlst du meine Pein; dann klagt dein bittrer Schmerz
Die ganze Welt sonst an, nur nicht dein eignes Herz.
Und dieses ist genug, um alles auszustehen.
Dann kannst du auf die Welt, gleich mir, zurückesehen:
Es sieht ein stiller Geist, der von der Welt entfloh,
Den liebgewesenen, nun öden Körper so.
Als ich noch glücklich war, als die vergnügten Tage
Sanft schleichend mir entflohn, war ich nicht ohne Klage.
Die kleinste Hindernis, der mindeste Verzug
Trieb mich zum Ungestüm, war mir zur Qual genug,
Wann eitler Hitze voll mir Tränen oft entrollten,
Die dazumalen nur aus Freuden fließen sollten.
Mich quälte zum voraus der Zukunft drohnde Not;
Nun hat das Glück erfüllt, was es mir dort gedroht.
Ich bin von ihr entfernt; nichts hab' ich mehr zu scheuen;
Ich konnte meine Pein zum voraus prophezeien.
Itzt, da es wirklich ist, was ich sonst nie so nah
Und zitternd und voll Wut betrübt von ferne sah,
Itzt, mitten in dem Schmerz, itzt fühl' ich in der Stille,
Daß auch die größte Pein versteckten Trost verhülle,
Und daß ich, geb' ich gleich mein ganzes Glücke hin,
Zwar hoffnungslos und doch nicht ganz unglücklich bin.
Ein Herz, das schon gewohnt, erhaben zu empfinden.
Ist zwar zu groß dazu, sein Glücke hier zu finden.
Der Vorschmack künft'ger Lust und einer bessern Welt
Ist, was den Aufenthalt der Sterblichen vergällt.
Doch eben dieser Geist ist hier auf unsrer Erden
Zugleich zu groß dazu, ganz unbeglückt zu werden.
Seltsamer Widerspruch! Gemisch von Lust und Schmerz!
Alcipp, wer kennt ihn wohl? Doch fühlet ihn das Herz,
Du warst schon schwermutsvoll im Schoße heitrer Freuden;
Nun lerne fröhlich sein, auch mitten in dem Leiden.
[103]
Schmeichl' ich mir wohl zu viel? Nein, Freund; Zemire, nein!
Wer euch verliert und lebt, muß wirklich standhaft sein.
Wie? sag' ich standhaft? ich, der nun, verzehrt vom Kummer,
Sonst keine Ruhe kennt als nur im öden Schlummer?
Das heißt Fühllosigkeit, das heißt nicht standhaft sein.
Die Klagen schlafen mir mit der Empfindung ein.
Doch ach! mein Trieb erwacht, mich heftiger zu quälen!
Die Einsamkeit allein kann ich zur Zuflucht wählen.
Der Wälder heil'ger Ernst und schauervolle Nacht
Ist jener Stille gleich, die mich nun fühllos macht.
Hier scheinet überall selbst die Natur zu trauren;
Und jegliches Geschöpf scheint hier mich zu bedauren,
Und jedes sieht erstaunt, daß ich noch traurig bin:
Dann tönen unvermerkt der Schwermut Klagen hin.
Ach! nun erst hör' ich es, daß du nur Klagen singest,
Wann du, o Nachtigall, mein lauschend Ohr durchdringest.
Ich glaubte sonst, dein Lied sei, Liebe, dir geweiht:
Nun aber hör' ich erst, du singst aus Traurigkeit.
Der Büsche traurig Grün scheint Leid um mich zu tragen:
Der Weste Lispeln seufzt, die Bäche murmeln Klagen.

Fünfter Gesang

Noch immer segn' ich euch, ihr schwermutsvollen Stunden!
In eurer Unruh' hat mein Geist die Ruh' gefunden.
Kein wahres Übel ist erhabner Seelen Schmerz;
Und edle Traurigkeit verbessert nur das Herz,
Noch immer segn' ich euch, empfindungsvolle Zähren!
Ihr fließt nur, um in mir die Tugend zu ernähren.
Ihr Menschen! die ihr euch um ird'sche Güter grämt,
Mitleiden Schwachheit nennt und euch zu fühlen schämt;
Die noch kein edler Schmerz zur Menschlichkeit geführet,
Die kein erhabner Zug der Zärtlichkeit gerühret,
Die aus Gewohnheit fromm, aus Trägheit tugendhaft,
Das Vorurteil erhöhn, das die Vernunft bestraft:
[104]
O seid ihr euch geneigt, so lernt an meiner Jugend,
Und glaubt, Fühllosigkeit ist keine wahre Tugend.
Oft seid ihr lasterhaft, wann ihr euch weise scheint:
Die Torheit lachet oft, wann wahre Tugend weint.
Glaubt nicht, daß Menschlichkeit, glaubt nicht, daß edle Zähren
Und reiner Liebe Trieb des Weisen Herz entehren.
Die Liebe fliehet ihr oft bloß aus Eitelkeit,
Weil ihr nicht glücklich g'nug, sie zu empfinden, seid;
Und weil der schwache Geist, mit Unverstand umhüllet,
Den mächt'gen Trieb nicht kennt, der edle Seelen füllet.
Der geiz'ge Claudius flieht der Verschwendung Reiz;
Und aus Verschwendung flieht ein Nometon den Geiz.
Sie schwärmen beide. Gut! wie soll ich diese nennen,
Die andre Triebe schmähn, weil sie sie noch nicht kennen
Und glauben, daß ihr Herz der strengen Tugend treu,
Und ihm der Himmel noch gar sehr verbunden sei;
Weil sie die Lüste fliehn, die sie nicht zu genießen
Und selbsten im Genuß nicht zu empfinden wissen?
Nein! Tugend nähret sich durch innerlichen Streit;
Der meisten Laster Quell ist die Fühllosigkeit.
Wann, schon vor Alter grau, Selencus, was er liebet,
Dem krank gewordnen Sohn mit spätem Mitleid gibet:
Soll dieses Tugend sein? Nein, hier vermiss' ich sie:
Gleichgültig, ist sie mir ein Anschein ohne Müh'.
Doch wenn ein Scipio, noch bei erhitzter Jugend,
Das, was er liebt, verliert, das nenn' ich Heldentugend.
Standhaftigkeit ist zwar des Weisen größte Zier:
Doch wo er standhaft bleibt, dort erst verzweifelt ihr.
Da, wo er menschlich weint, schämt ihr euch, mit zu weinen;
Ihr wollt nicht weise sein; ihr sucht es nur zu scheinen.
Ein Weiser bleibet groß, wann Erd' und Himmel bricht:
Ihn decken kann ihr Fall, doch ihn erschrecken nicht.
Er kennt der Lüste Wahn; sie reizen ihn vergebens:
Ganz still durchschleichet er den dunkeln Weg des Lebens.
Der Blitz, den andre scheun, erhellt nur seine Bahn:
Ihm dient sein furchtbar Licht, das ihn nicht schrecken kann.
[105]
Schnell irrt sein kühner Blick durch jene Ewigkeiten:
Welch ein vergnügter Blick! Er wird den Tod von weiten,
Doch auch der Seelen Trost, in jenem Schimmer sehn.
Die Stunden fliehn! er dankt, daß sie so früh vergehn.
Gelassen flieht er nun den Schwarm gedrohter Plagen.
Ein Cato weicht dem Glück; er kann sein Unglück tragen.
Kein aufgebrachter Stolz trotzt wütend dem Geschick.
Kein Aberglaube hält die kühne Faust zurück.
Sein Tod soll ihm nicht Schmach, doch auch nicht Ruhm erwerben:
Und mutig leiden ist noch mehr als mutig sterben.
Doch bei des Freundes Tod weint sein empfindend Herz:
Kein schlecht verstandner Stolz verbeißet seinen Schmerz.
Er will nur standhaft sein, jedoch nicht fühllos scheinen:
Er weinet, wie vielleicht die Engel selbsten weinen;
Und so, daß man dabei den Weisen nicht vermißt;
Er ist der Menschheit Ruhm, daß er noch menschlich ist.
Was ist es für ein Glück, daß Weise Menschen bleiben.
Ihr Herz nur wird gerührt, nichts kann den Sinn betäuben.
Von ihnen, Menschen, lernt, euch edler Tugend weihn:
Die größte Weisheit ist's, ein wahrer Mensch zu sein.
Ich seh' den Weisen nicht, wo mir der Mensch verschwindet:
Der kann nicht standhaft sein, der keinen Schmerz empfindet.
O Jüngling, wenn dein Herz sich echter Tugend weiht,
O so eröffn' es bald erhabner Zärtlichkeit!
Wer zärtlich denkt und fühlt, den quält zwar heft'ges Leiden:
Doch auch den Sterblichen sonst fast versagte Freuden
Erfüllen seine Brust und sind der Tugend Lohn:
Den Vorschmack fühlet er von sel'gen Freuden schon.
Wer zärtlich denkt und fühlt, den wird kein Hof verblenden;
Er wird auf beßres Glück die mut'gen Augen wenden;
Er sieht es, daß nur Lieb' und Freundschaft glücklich macht:
Und Lieb' und Freundschaft fliehn bei stolzer Fürsten Pracht.
Er wird nicht voller Wut nach falscher Ehre trachten,
Ihn weckt kein Feldgeschrei zu blutbegier'gen Schlachten.
Kennt ihn auch nicht die Welt: sie zu besitzen nicht,
Sie glücklich machen ist der wahren Tugend Pflicht.
[106]
Mausolens Grabmal trotzt den prächtigsten Palästen.
Dann, wann er zärtlich war, war Philipps Sohn am größten.
Es sucht kein edles Herz, von Zärtlichkeit gerührt,
Des Kaisers flücht'ge Gunst, die dich, Sejan! verführt.
Staatsstreiche nennet er sehr oft Verrätereien,
Und Falschheit wird er mehr als alles Unglück scheuen.
Wenn, Claudian! dein Geiz die arme Witwe drückt,
Die Flüche wider dich zum harten Himmel schickt;
Quält nach dem langen Tag die Sorge dich im Schlafe;
Fühlst du schon zum voraus die so verdiente Strafe.
O du, der Schätze häuft, o sieh dein Unglück ein,
Und lern der Zärtlichkeit ein edles Herze weihn!
Das Herz des Menschenfreunds wird Geiz und Wollust meiden:
Es fühlt sein Innerstes des Nebenmenschen Leiden.
Es weint, wenn jenes weint, und weinet unverstellt,
Und zeiget uns sein Herz, zu groß für unsre Welt,
Wann ein Apicius, von Wollust stets betäubet,
Dem Überfluß im Schoß, noch unzufrieden bleibet,
Und klagt, daß die Natur die Menschen eingeschränkt,
Und keine Lüste mehr abwechselnd uns geschenkt:
So lacht ein zärtlich Herz, nur fähig edler Triebe;
Es find't des Lebens Glück in einer reinen Liebe.
Zu niedrig ist für ihn der Lüste hitz'ger Brand,
Weil er ein besser Gut in Doris' Küssen fand.
Da wohnt die Wollust nur, wo reine Zärtlichkeiten
Ein jung unschuldig Paar zum keuschen Eh'bett leiten.
Ihm ist die Lust zu grob, die dich, Apitz, beseelt:
Nur das ist wahre Lust, die keine Reue quält.
Ein edles Herz kann nur von edlen Flammen brennen.
Und sollt' auch das Geschick ihn von der Liebsten trennen,
So folgt er dem Geschick, wenngleich sein Herze bricht:
Fühlt er gleich allen Schmerz; er schweigt und murret nicht.
Die Tugend liebt er mehr, die Liebste wie sein Leben.
Die Tugend nur allein kann sie ihm wiedergeben.
Die Seele bleibt nicht stets in der Gefangenschaft:
Er wird sie wiedersehn; drum lebt er tugendhaft;
[107]
Nicht tugendhaft aus Stolz, nicht tugendhaft aus Zwange.
Fehlt auch ein zärtlich Herz, so fehlt es doch nicht lange.
Es fühlt, daß Tugend nur uns recht vergnügen kann,
Und reuvoll kehrt er um nach der verlaßnen Bahn,
Zu stiller Tugendbahn, um noch mit edlen Tränen,
Verlöschend sein Versehn, die Weisheit zu versöhnen.
Die Zärtlichkeit hat erst zur Tugend mich geführt:
Durch sie ward meine Brust von deinem Reiz gerührt,
Zemire! sieht dich gleich mein traurigs Aug' nicht wieder,
Statt Tränen weih' ich dir empfindungsvolle Lieder.
Verschont sie ungefähr die strenge Flucht der Zeit,
So lebt dein Name noch und meine Zärtlichkeit.
So wird einst unser Ruhm im Munde künft'ger Schönen,
Vom Untergang befreit, bisweilen noch ertönen.
Ein Jüngling, der von der, die er geliebt, entfernt,
Den Schmerz der Zärtlichkeit gleich mir empfinden lernt;
Der tröstet sich vielleicht, wenn ich ihn klagend rühre,
Und preist die Zärtlichkeit und segnet dich, Zemire!
Vielleicht werd' ich alsdann aus unermeßnen Höh'n
Bei schauervoller Nacht mitleidend auf ihn sehn.
O Jüngling, tröste dich und trockne deine Zähren:
Dein Schmerz ist groß; jedoch er wird nicht ewig währen.
Der nur kann fühllos sein, den das Geschick bestraft;
Sei zärtlich, sei getrost und lebe tugendhaft!

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TextGrid Repository (2012). Cronegk, Johann Friedrich von. 8. Einsamkeiten. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-5902-9