Des Sultans Gesetz

(Ein Schwank.)


»Dieses geht nicht!« sprach in Joppe
Sultan Selim, der vor kurzem
Abgeschlossen auf drei Jahre
Waffenstillstand mit den Christen
Drüben in Jerusalem.
»Dieses geht nicht, daß die kecken
Tempelritter, diese Schlingel,
Tag für Tag gen Joppe reiten
Und mir meiner schönsten Türken-
Mädchen Herzen schnappen weg.
[319]
Weil nun solches Herzgeschappen
Anhebt meist mit Schleierlüften,
So befehl ich: jeden Templer,
Welcher eines Türkenmädchens
Schleier lüftet, trifft der Tod:
Wenn sie nicht statt dessen vorzieht,
Nach der Wahl des Mädchens selber,
Daß den frechen Übeltäter
Augenblicklich von dem Vater
Sie empfängt zum Eh'gemahl.«
Dies Gesetz schuf zürnend Selim. –
Solches hatte kaum vernommen
In Jerusalem Herr Reinhart,
Auch ein frommer Tempelritter,
Als er stracks gen Joppe ritt.
Fest in seinen langen, weißen
Mantel eingehüllt durchschritt er
Joppes Straßen: herrlich schritt er:
Tausend Türkentöchter seufzten
Durch die Läden: »Welch' ein Mann.«
Sieh, da wandeln ihm entgegen,
Tief verhüllt, zwei Türkenmädchen:
Und der ungezogne Templer
Hebt sofort der einen Schleier
Und er ruft: »Schön! Wahrlich, schön!«
Und er zieht sogleich der zweiten
Von dem Antlitz auch den Schleier:
»Tausend Tode will ich sterben«,
Ruft er, »schönstes Weib der Erde –
Aber einmal küß' ich dich.«
[320]
Und er küßt sie. – Und natürlich
Wird sofort er arretiert auch
Von den türkischen Gendarmen –
Und das fromme Joppe jubelt:
»Diesem wird's mal schlecht ergehn!
Denn die braven Türkenmädchen,
Die so tödlich er gekränkt hat,
Waren – also mög' es jedem
Kecken Schleierlüfter werden –
Sultan Selims Töchter selbst!« –
Vor dem Sultan stand der Ritter:
Und es sprach die eine Tochter
– Schwarze Brau'n zog sie zusammen
Und es war die ält're Tochter,
Die der Frevler nicht geküßt: –
»Vater, Todes soll er sterben
Nach dem ersten Paragraphen
Deiner Satzung: – ich verlang' es!«
Und der Sultan, turbannickend,
Sprach: »Gestrenge Tochter, ja!«
Doch da sprach die jüng're Tochter,
– Blondgelockt, sie, die er küßte: –
»Lieber Vater, ich verlange
Diesen jungen Staatsverbrecher
Nach Gesetz zum Eh'gemahl.
Denn ich bin ein Türkenmädchen
Und ein Templer ist der Ritter
Und er hat – ich kann's beweisen –
Meinen Schleier hoch gelüftet
Und dein zweiter Paragraph« –
[321]
»Schweig und nimm ihn!« sprach der Sultan,
»Schwierig ist's, Gesetze machen,
Schwerer noch ist's, Mädchen hüten: –
Küss' mich, Goldgelock, mein Liebling,
Heute noch soll Hochzeit sein.«

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TextGrid Repository (2012). Dahn, Felix. Gedichte. Balladen. Erstes Buch. Des Sultans Gesetz. Des Sultans Gesetz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-687B-C