[15] Sined und der Tag seiner Geburt 1

Erwache, Freund der Vorzeit! Sined, auf!
Der Mittag deines Lebens ist vorbei.
Sieh mir in's Antlitz! Ich erscheine dir
Nicht mehr so oft, als ich erschienen bin.
Wer flüstert mir in meine Träume? Graut
Der Morgen? – Ha, du bist's, du kehrest, Tag!
Mein erster Tag, als auf Allvaters Wink
Durch mich die Zahl der Erdekinder wuchs!
Sey mir willkommen! Früher Harfenklang,
Und warmer Herzenausbruch feire dich,
Da noch kein Liederzeuge mich umsteht.
Sey mir gegrüßet, o Tag! an welchem ein zärtlicher Vater
In die gefälligen Arme mich nahm,
Einer erwartenden Mutter das erstemal reichte, die freudig
Ueber dem Sohne der Wehen vergaß,
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Freudig den eigenen Busen mir bot. Ich konnt' ihr nicht danken;
Aber als itzo mein keimender Geist
Seine Geschäfte begann, mein Aug' mit Seele sich umsah,
Lispel der Liebe mir sprachen in's Herz,
Tag! du weißt es, wie sehr ich sie liebte! So oft ich von ihr ging,
Weisheit zu suchen, so sah mich die Nacht,
Sah mich der Morgen in Thränen; und dennoch liebt' ich die Weisheit
Mehr, als der Jüngling das Lächeln der Braut.
Aber als itzo vom Himmel das Loos, in weiser Druiden
Schooße mein Leben zu leben, mir fiel,
Als ich die Heimath verließ, die Donau den Rücken mir anbot,
Stand sie, die Zärtliche, die mich gebar,
Weinend am Ufer, und gab mit wehendem Schleier der Liebe
Zeichen dem Sohne, bis endlich der Strom
Ihren Geliebten vertrug. Ich habe sie nimmer gesehen.
Lange schon decken ihr frommes Gebein
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Herbstliche Blumen; allein in Sineds Seele gegraben
Lebet verehret ihr ewiges Bild.
Den auch, der mich erzeugte, den hab' ich nimmer gesehen.
Lange schon hub sich sein Hügel empor.
Ach mein Vater! Du erster, der Liederkenntniß mich lehrte!
Ach noch erblick' ich die Stunde vor mir,
Da du dem Knaben vom ewigen Liede des Römers erzähltest,
Welcher die Künste der Bienen besang.
Thiere, die waren mir immer so lieb. O gib mir den Sänger,
Vater! ich will ihn, ich muß ihn versteh'n!
Also begann ich. Noch herrschten die Lieder der Fremden. In Erde
Schlief noch mit Helden der Bardengesang.
Vysen schollen noch nicht die nordischen Fluthen herüber,
Hermann durchtönte den Eichenhain nicht.
Ach mein Vater! du redlicher, weiser und warmer Gesangfreund!
Hättest du Lieder von Selma gehört,
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Hättest du Sined geseh'n im Kreise der Barden, dein Antlitz
Hätte vor inniger Wonne geglänzt! –
Aber hängst du denn nicht am Arme von deiner Geliebten
Jetzo den thauenden Himmel herab?
Hörst du mich nicht? – Ihr höret mich, Aeltern! Allvater der mißt euch,
Wie ihr einst masset, hier oben zurück.
Liebe zu seinen Geboten, und Sorge für Kinder, und stilles
Dulden, und Hände, dem Darber gestreckt,
Warfen ein helles Gewand um euere Schulter, und wanden
Eueren Schläfen den ewigen Kranz.
Blickt ihr noch lange zu Sined herab, und soll er in eurer
Frohen Gesellschaft noch lange nicht seyn?
Oder erscheinet der Tag, an dem ihr mich einstens umarmtet,
Den ich heut feire, das letztemal mir? –
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Wie es Allvater gebeut! Ich will nicht forschen. Er wird es,
Wie er es anfing, vollenden mit mir,
Gnädig vollenden! Mein Abschied von hier ist lange gesungen,
Lange den Freunden des Liedes bekannt. 2

Fußnoten

1 Gesungen 1775 den 27. Herbstmonat.

2 Sieh am Ende: Abschied von der sichtbaren Welt.


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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Denis, Michael. Sined und der Tag seiner Geburt. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-7DFB-5