[26] Zweites Lied 1

Lange, schon lange kenn' ich euch, Sänger
Fremder Geschlechter, fernerer Himmel!
Aber ich Hainbewohner, ich Nordensohn
Bild' euch meine Gesänge nicht nach.
Kannten euch einstens unsere Väter?
Dennoch ertönten Bardengesänge.
Fürsten, Druiden, und Mädchen und Jünglinge
Gaben Bardengesängen ihr Herz.
Reizet uns nicht der Tugenden Hoheit?
Fühlen wir nicht die Wonne der Wehmuth?
Fachet uns Liebe des Vaterlands, Heldentod,
Freundschaft, Schönheit und Ruhmgier nicht an?
Herrschet nicht oben mächtig Allvater?
Wohnen nicht oben Geister der Ahnen?
[27]
Lachet kein Frühling, kein Morgen und Abend uns?
Kreist bei'm Mahle kein schäumendes Horn?
Müßt ihr uns, Sänger fremder Geschlechter,
Fernerer Himmel! müßt ihr uns zeigen,
Wie sich des Tages hellflammendes Riesenaug'
Rastlos blauliche Fernen durchwälzt?
Müßt ihr uns zeigen wandelnde Monde,
Schwellende Wogen, kreuzende Blitze,
Zeigen im Winde das wiegende Blumenhaupt?
Oder können wir selber es sehn?
Fliegt nur in eurem Liede der Adler?
Sproßt nur in eurem Liede der Schatten?
Kann sich im Farbengemische der jungen Flur
Sined's Auge nicht selber erfreu'n?
Schwillt nun in seinem Busen Gesang auf,
Soll er von euch die Weisen erborgen?
Höret er lispelnden Quellen den Schlummerton,
Tannenwipfeln die Seufzer nicht ab?
[28]
Lehret ihn nicht das Rollen des Donners?
Lehret ihn nicht das Brausen der Fluthen?
Lauscht er im Haine der Drossel und Amsel nicht,
Nachtigallen in Hecken nicht auf?
Soll er vor Manas Enkeln in Liedern
Euren verbuhlten Donnerer nennen,
Nennen die fluthengeborne Bethörerinn, 2
Und ihr böses geflügeltes Kind?
Soll er von Heldenjugend umgeben
Euren bestrickten Kriegesgott singen,
Singen ein trunkenes rasendes Weiberheer
Mit dem schläfrigen Geber des Weins?
Unseren Hain durchhüpfet kein Bockmensch.
Unsere Quellen bergen kein Mädchen.
Keines verwiesen die Barden in Bäume noch
Menschenfeindlich mit Rinde bedeckt.
Menschen aus Steinen, Blumen aus Knaben,
Goldene Zeiten, Widder und Aepfel,
[29]
Drachen, und eiserne Vögel und Schlangenhaar
Machen deutsche Gesänge nicht heiß.
Namen von euren Sternen und Winden,
Euren Gebirgen, Strömen und Auen
Tönen zu weichlich in's nordische Saitenspiel,
Regen Seelen der Helden nicht auf.
Lehrt ihr nicht oft auch Sittenverderbniß,
Künste der Lust in euren Gesängen?
Sollten Gesänge nicht Tugenden heilig seyn?
Ha! da lehren euch Barden nicht nach!
Reift mir Gesang im Busen, ich rufe
Keine neun Schwestern nieder vom Berge.
Quellen umlauten mich, feuchten die Kehle mir:
Brauch' ich einen geflügelten Huf?
Heldensohn! du mit blaulichen Augen!
Schneide mir diesen Schößling der Eiche,
Kränze mir Scheitel und Harfenspiel, Heldensohn!
Lorbeer stammt nicht im Erbe von Teut.

Fußnoten

1 Der Dichter eifert gegen sclavische Nachahmung der Griechen und Römer, und gegen den Gebrauch ihrer Mythologie.

2 Die Venus.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Denis, Michael. Gedichte. Gedichte. Sineds Vaterlandslieder. Zweites Lied. Zweites Lied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-7E4E-E