[301] Die Sterblichkeit

1766.


Vertraute Quelle! die du mir in mein Lied
Schon öfter stimmtest, Quelle! wie gäh bedeckt
Ein kühner West mit falben Blättern
Deine gekräuselte Silberfläche!
Zu welcher Ahnung weckt mich ihr schneller Fall!
Sind dieß die Blätter, welche der Lenz gebahr?
Des Haines Zier, des Müden Schatten
Waren sie! – sind nun ein Spiel der Winde.
Gedanke! mächtig füllst du die Seele mir!
Sie fleußt mir über! Sterbliche! Sterbliche!
So fallen wir! In diesen Blättern
Schwimmt mir der Menschlichkeit Loos vor Augen.
Entwölkt bestralt uns jetzo des Glück's Planet.
Der West des Ruhmes kühlet und hebet uns.
Uns tränkt ein Thau von Lebensfreuden.
Glückliche Blätter! und nun! – Wir fallen!
[302]
Nicht Glanz der Ahnen, Wiegen, die Purpur deckt,
Nicht Lenz des Alters, wenn ihn die Schönheit auch
Mit allen Künsten unterstützet,
Bittet den kommenden Tod zurücke.
Ihm stockt die Weisheit, lallt die Beredsamkeit,
Der Muth erblaßt ihm. Hoher Trophäen Stolz
Beginnt vor ihm in Schutt zu sinken;
Kronen erbeben und Throne wanken.
Du selbst, o Tugend! alles Vermögende!
Du selber rettest deine Verehrer nicht!
Der Staub des Böswichts und des Frommen
Mischet sich unter des Wandrers Tritten. –
Noch heute saß Er, erster Monarch der Welt 1
Der besten Gattinn zärtlichstes Augenmerk,
Umgeben von geliebten Kindern,
Würdig Aeonen hinan zu leben.
Noch tönten Hymens Lieder ihm sanft ins Ohr,
Und plötzlich röcheln Töne des Tod's darein.
[303]
Sein Tag verlischt. Zum letztenmale
Segnet sein brechender Blick die Völker. –
Noch heute sah dein sittsames Augenpaar
Den Reiz des Herbstes, Bester der Jünglinge 2!
Im frohen Haufen gleicher Freunde
Zog dich die Liebe zur Jagd ins Grüne.
Da flog dein Unglück. Ach, du versahst es nicht!
Ein Bley! Die Schöpfung wurde zur Nacht um dich,
Und eines deiner holden Augen
Schloß sich in ewige Finsternisse.
Gewiß des Grabes wallen wir, ungewiß
Der schwarzen Stunde. Menschen! kein Augenblick
Ist seines Folgers Bürge. Nebel
Schweben auf jeglicher Spur der Zukunft.
O glücklich, welcher seine Bestimmung denkt,
Ein Theil des Ganzen willig die Stelle füllt,
Zu der ihn Jener auserwählte,
Welcher ihn aufschuf und liebt und lohnet!
[304]
Er zählt sich sorgsam jeden der Tage vor,
Und jeder sieht ihn besser und ähnlicher
Dem unerschaffnen Muster, jeder
Glänzet bezeichnet mit Menschenliebe.
Erscheint der Abend, giebt er sich Rechenschaft,
Und scheut den Zeugen seiner Gedanken nicht,
Und spricht vergnügt zu sich: »Ich lebte!
Schlummer! umwalle mein Aug'! Ich lebte!«
Zu folgen willig, wann die Natur gebeut,
Schon lange Freund des Todes, erwartet er
Mit sich'rem Lächeln jene Stunde,
Welche zu seiner Entbindung eilet.
Der weise Kaiser, welcher ein irden' Rom
In stolzen Marmor prächtig verwandelte,
Sprach, als der Augenblick des Scheidens
Nahte, zum Ohre bethränter Freunde:
»Vertraute! sagt mir: hab' ich sie wohl gespielt
Die Rolle meines Lebens?« Sie seufzten: »Ja!«
»So klatschet!« rief er, schloß den Vorhang,
Athmete sanfter, und schied zufrieden.

Fußnoten

1 Kaiser Franz der I.

2 Ein junger Graf aus Mähren. –

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Denis, Michael. Gedichte. Gedichte. Die Sterblichkeit. Die Sterblichkeit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-7E7B-A