[155] Vierte Station

1.

Allmächt'ger Frühling, deck mit deinen Ranken,
Mit deines Rasens Grün dies Trümmer zu,
Und sing ein Volk von hoffnungslosen Kranken
Durch deine Nachtigallen süß zur Ruh'!
Vergeude nicht an andre deine Schätze,
Spar deinen Lebenshauch, hier tut er not;
O komm und weine auf die wüsten Plätze,
Wo Brand und Kampf und Pest und Mord gedroht!
Hier stand ein Haus, wo jetzt auf morschen Ständern
Ein Truggebild sich haltlos wiegt und streckt,
Hier blühten Saaten, wo auf brachen Ländern
Gestrüpp und Schlingkraut heut den Boden deckt.
Wes war die Hand, die unter sichre Dächer
Zuerst die Fackel der Zerstörung hielt,
Die in dem Innren friedlicher Gemächer
Auf treue Männer mörderisch gezielt?
[156]
Wer zog die Stützen eines sichren Lebens
Dem Volke fort und brach der Väter Eid?
Wer schlug die Kraft des edlen Gegenstrebens,
Durch Lug und Trug, durch Zwang und Drang und Leid?
Verbotne Fragen! ... Trage in der Stille,
Was zu ertragen sich ein Volk entschloß;
Unendliches vermag ein ehrner Wille,
Und ach! die Zeit trägt böse Frucht im Schoß.
Sieh, wie gebeugt die weisen Häupter alle,
Sieh, wie zerrissen jede Kraft im Staat,
Es schwankt das Land, gleich einem irren Balle,
Von Pol zu Pol und weiß sich keinen Rat.
Parteiung schleicht in seinem Heiligtume
Gefährlich um, Mut und Vertrauen wankt;
Weh, armes Volk, weh deinem alten Ruhme,
Dein Herz ist hart getroffen und erkrankt.
Aufwärts die Blicke aus dem nächsten Grauen
Der Gegenwart; nicht ewig währt die Nacht!
Wer weiß, wie bald die Himmel wieder blauen?
Wer weiß, wie früh ein deutsches Volk erwacht?
Der Frühling ist zurück ins Land geflogen,
Ihn hemmte weder Maut noch Polizei,
Frei schreitet er einher und ruft den Wogen,
Den Wäldern zu, den Wiesen: Ihr seid frei!
Und tausend Stimmen, die im Chor erwidern,
Und tausend Kräfte, die sich neu geregt;
Hört nur, wie ihres Heeres schmucken Gliedern
Die Lerche mahnend die Reveille schlägt!
Getrost, getrost! Dein Frühling auch wird kommen.
Vielleicht, du ahnst es nicht, ist er schon nah;
Und wird, zu schwer, dein Kreuz dir nicht genommen,
Ei nun! so wirf es ab! du kannst es ja!

[157] 2.

Zur Zeit des Sturmes, so wie heute,
Da sondert sich vom Korn die Spreu,
Da lernt man kennen seine Leute,
Die meisten falsch, nur wenig' treu.
Auch du hast in den letzten Jahren,
Hart heimgesuchtes deutsches Land,
Manch schmerzlichen Verlust erfahren
Und eingebüßt manch wackre Hand.
Doch stehn als einsam letzte Stützen
Noch viele Männer stark und fest,
Die, unermüdet dir zu nützen,
Ausharren bis zum einst'gen Rest,
Die treu dem abgelegten Eide
Verfechten dein geweihtes Recht,
Und hoch ob allem Haß und Neide
Fortstreben, ein Hero'ngeschlecht.
Das ist der Deutschen wahre Einheit,
Das ihres Volkes bester Halt,
Männer von strenger Sitten-Reinheit
Und von Gesinnungs-Allgewalt.
Sie wissen einer kaum vom andern,
Sie stehn vereinzelt, unbekannt,
[158]
Doch ihre Wort' und Werke wandern,
Elektrisch zündend, durch das Land.
Meßt sie nicht an der Krämer-Elle,
Lobt und verdammt sie nicht zumal,
Nennt sie nicht Konstitutionelle,
Noch minder ultra-liberal!
Es sind nur eben deutsche Herzen,
Den' nichts fehlt, als ein deutscher Arm,
Für eines Volkes Wohl und Schmerzen
In einer kühlen Zeit noch warm;
Und sind nur eben deutsche Geister,
Für Freiheit, Recht und Licht entbrannt,
Die in der Wahrheit ihren Meister,
Tyrannen in der Lüg' erkannt.
Seht dort im Süden, hier im Norden,
Zerstreut wie Sterne, stehn sie da,
Noch ist die Nacht nicht Tag geworden,
Allein, allein – der Morgen nah!
Wer zweifelt, daß es tagen werde,
Der schaue sich die Sterne an;
Apostel für die deutsche Erde
Ist ja ein jeder solcher Mann!
Auf, auf! Ein Chor zu ihrem Preise,
Kein Flistern und kein Pöbelschrein,
Nicht nach der Marseillaise Weise
Und auch nicht nach dem Lied vom Rhein!
Ein Hoch, das sie uns nicht verwehren,
Darin kein Namen und kein Stand,
Den Helden nah und fern zu Ehren,
Den letzten für ihr Vaterland!

[159] 3.

Es sprengte aus dem Königsschloß
Ein Zug von stolzen Reitern,
Ein Paar voran dem andren Troß,
Den dienenden Begleitern.
Wer war auf jenem braunen Roß
Der Mann im Silberbügel?
Es hielt, so schien es, der Genoß
Sein Tier geheim am Zügel?
[160]
»Und kennst du unsres Herren Sohn
Nicht besser, unsren Prinzen!
Der erbt vom Vater einst den Thron
Und von uns die Provinzen.«
Gott schütze, armes Fürstenkind,
Dein Auge und dein Leben!
So jung, so gut, so klug – und blind:
Kann's größren Jammer geben?
Es sieht dein bleiches Angesicht,
Gefurcht von langen Leiden,
Den Bettler an der Ecke nicht,
Sonst würd es ihn beneiden.
Und auch die Liebe siehst du nicht
Des Volkes dich geleiten,
Mechanisch grüßt dein Angesicht
Und lächelnd aller Seiten.
Doch einst, mein Prinz, wie wird es sein,
Wenn du bist König 'worden,
Wenn erst der schwere Szepter dein,
Und dein des Vaters Orden?
Soll dann für dich die fremde Hand
Dein Volk so sicher leiten,
Wie jetzt dein Roß am Gängelband
Der Mann zu deiner Seiten?
Genügt es dir, so bloß zum Schein
Zu führen Zaum und Zügel?
Und wirst du fest im Herrschen sein,
Wie heute fest im Bügel?
Dein Roß wird scheu – Hab acht, hab acht!
Das war ein schlimmes Zeichen,
Drück ihm die Sporen nicht mit Macht,
Die goldnen, in die Weichen!
Gemach, du blindes Fürstenkind!
Ein Zaum ist bald zerrissen,
Und wilder noch als Hengste sind
Die Völker, mußt du wissen.

[161] 4.

Die Straßen ab und auf die Straßen
Geht der Soldaten-Zapfenstreich,
Die Trommel rasselt, Hörner blasen:
Wie lau die Nacht, wie warm, wie weich!
Horch! Höher schwillt der Töne Wogen,
Gewiegt auf linder Weste Schwing',
Und majestätisch lang-gezogen
Steigts auf zum dunklen Himmelsbogen:
God save the king!
Dort sitzt er, dem die Töne rufen,
Beim Mahl im marmornen Palast,
Es hat des Thrones hohe Stufen
Die Schar der Großen eingefaßt;
Wer zählt, wie oft im Speisesaale
Der Becher schon die Runde ging,
Indes der Chor an dem Portale
Vergeblich rief so viele Male:
God save the king!
Und als ein Ton hinaufgeklungen
Zum Platz, wo er gesessen war,
Da hat er hoch sein Glas geschwungen
Und ausgerufen trotzig-klar:
Da habt Ihr meines Satzes Probe:
[162]
Ein deutsches Volk ein gutes Ding;
Am Morgen Aufruhr und Getobe,
Und abends, mir und ihm zum Lobe,
God save the king!
Er sprach's und lachte, daß es dröhnte
Und schüttelte den weißen Bart,
Das Heer der Schranzen lacht' und höhnte
Dem Herren nach, wie Schranzen Art;
Doch draußen schwiegen just die Klänge,
Sobald er an zu reden fing,
Lautlos verlief sich das Gedränge,
Und keiner sang mehr aus der Menge:
God save the king!
Da schauerte ein plötzlich Schweigen
Und Totenstille durch den Saal,
Ein kahles Haupt sah man sich neigen,
Und manche Wange wurde fahl.
Der blinde Knabe nur im Kreise,
In dessen Aug' ein Tropfen hing,
Stand auf und schritt zum Fenster leise
Und flisterte für sich die Weise:
God save the king!

[163] 5.

Nacht war's, im Wagen schnarchten die Genossen,
Es schlich das Rad den keuchend-müden Rossen
Mitkeuchend nach durch bahnlos tiefen Sand.
Rings, meiner Blicke schauerliche Weide,
Lag wie ein Bahrtuch, grau und weit die Heide,
Traumhaft und neblicht, ein verzaubert' Land.
Im Dämmer blinkte hie und dort die Rinde
Zerstreuter Birken, deren Laub im Winde
Sich schützend schlang um den verwachsnen Stamm,
Und meilenweit kein Laut sonst in der Runde
Als heisres Bellen ferner Schäferhunde
Und später Frösche Ruf aus Schilf und Schlamm.
Und wie mein Auge, das des Morgens harrte,
Schlaftrunken in die ewge Öde starrte,
Umsonst ein Licht verlangend, einen Stern:
Da plötzlich sah's, dem Wagen stracks entgegen,
Ein dunkles Etwas kauern, stehn, sich regen,
Nicht nah dem Weg und doch dem Blick nicht fern.
Erst kroch, gestaltlos wie die Nacht und finster,
Der Schatten hockend fort durch Moos und Ginster,
In Dunst gehüllt, wohl selbst nicht mehr als Dunst:
Dann wuchs er langsam, schritt gestreckt und schneller
Die Straß' entlang, ward heller stets und heller,
Und dehnte sich und schwoll mit Zauberkunst.
Der Riesenschemen bildet sich am Ende
Zu einem Weib, es fliegt um Brust und Lende
Der Nebel wallend wie ein Nachtgewand;
Ihr Haar umflattert sie gleich einer Schleppe,
Und leisen Fluges schwebt sie durch die Steppe,
Weit ausgestreckt die weiße Knochenhand.
Sieh, wo sie geht, wird dunkler noch und stummer
Die Nacht, ein schwüler Hauch, wie Todesschlummer,
Weht mich aus ihres Mantels Falten an,
Das Moos versinkt, worauf ihr Fuß geschritten,
Und aus verkrüppelter Gestrüppe Mitten
Begleitet leises Wimmern ihre Bahn.
[164]
Und wann sie Hütten trifft auf ihren Pfaden,
Da klopft ihr Finger dröhnend an die Laden,
Da reckt ihr Leib sich dräuend übers Dach,
Da bückt sie sich, um durch des Fensters Fugen
Scharf auf der Schläfer Lagerstatt zu lugen
Und in der Armut heiliges Gemach.
Weh jeder Pforte, die sie arglos offen,
Den Menschen wehe, die sie wach getroffen,
Ihr Antlitz sieht den nächsten Tag nicht mehr.
Hört es und kriechet tiefer in die Betten,
Verrammelt Haus und Hof, Euch zu erretten:
Dies ist die Nacht: – Das Heid'weib geht umher!
Warum mit der Hyäne Lauertritten
Umschleichst du diese strohgedeckten Hütten?
Hier weilt kein Opfer, deines Würgens wert.
Was ist der Tod von Hirten oder Bauern,
Den kaum der Nachbarn flüchtiges Bedauern,
Kaum Witwen- oder Waisen-Kummer ehrt?
Statt hier ein dunkeles Geschlecht zu schlagen
Folg jenen Wolken, die gen Süden jagen,
Dem Nordwind, der auf bessre Fährte trägt!
Dort ladet dich der Tod zu Königsfesten
Und deiner harrt in prunkenden Palästen
Ein Edelwild, wie du noch keins erlegt!
Rasch nickte sie und hob mit Zähneblecken
Hoch das Medusenhaupt aus ihren Decken,
Ein lautes Lachen schrillte durch die Nacht;
So heult der Schakal, wenn er in der Syrte
Ein Rehlein traf, ein Lamm, das sich verirrte,
Und wenn er sich zum Sprunge fertig macht.
Der Schläfer Chor fuhr auf aus seinen Träumen,
Wild fing das Viergespann sich an zu bäumen,
Der Wagen ging in scheuem Taumel durch.
Ein Stündlein noch, da rötete sich's östlich,
Das Posthorn klang, wie munter und wie tröstlich, –
Gelobt sei Gott: wir sind in Lüneburg!

[165] Metamorphose

In nova fert animus ...

... Corpora ...

Ovidius


Daß sich mein Lied so grell verändert,
Soll keine Seele Wunder nehmen:
Wer so umher im Lande schlendert,
Lernt bald sich schicken und bequemen.
Der feine Ton, das noble Wesen,
Es übt sich alle Stunde besser;
Schon kann ich jede Zeitung lesen
Und heiße überall Professer.
Sonst machten Kleider doch nur Leute,
Jetzt auch Verstand und Witz und Wissen,
Autoren sind die Schneider heute,
Und nur ein Fürst geht noch zerrissen.
[166]
Ein ander' Städtchen, ander' Mädchen,
So sangen einst die Studiosen;
Jetzt lautet es: ein ander' Städtchen,
Ein andrer Rock und andre Hosen.
Der steht in seinem Reisepasse
Als Hoftheater-Lampenputzer,
Begegnest du ihm auf der Gasse,
Riecht er nach Haaröl nur, der Stutzer.
Als Vagabond zog mancher Lümmel
Auf Schusters Rappen aus dem Tore;
Wie kommt er wieder? Hoch zu Schimmel,
Den Hut auf einem (Esels-) Ohre.
Man tituliert ihn Euer Gnaden,
Er hält sich Hunde und Lakaien,
Und hätt' er nicht so dicke Waden,
Man würd' als Grafen ihn verschreien.
Die Zeit hat alles ausgeglichen,
Und was scheinst, das bist du eben;
Dem Adel wird sein »Von« gestrichen,
Um es dem Schreiber aufzukleben.
Sollt' ich der Mode mich nicht fügen,
Dem Weltgesetz für alles Wandern?
Nachtwächter gar und Dichter liegen
Der eine nicht so weit vom andern.
Die graue Puppe ist zerbrochen,
Nun steh' ich im Phalänen-Alter,
Und was aus jener ausgekrochen,
Sagt, ists ein Nacht-, ein Tage-Falter??

[167] Überall und Nirgends

Keine Romanze.


Ein Königreich hab' ich gesehen,
So eins gibt's auf der Welt nicht mehr:
Mit offnem Munde blieb ich stehen,
Und sah und staunte rings umher.
Das war ein Wohlsein allerwegen
In Haus und Hof, zu Stadt und Land,
Ein rechter reicher Gottes-Segen,
Wie ihn mein Auge nirgends fand.
Die Straßen statt von Kriegsmilizen
Waren von Bürgern reich belebt,
Der Hafen hat von Mastenspitzen,
Von Rädern die Chaussée gebebt.
Von Polizei- und Amts-Verboten,
Von Maut-Tarif und Brückengeld,
[168]
Schlagbaum und andren Schwerenoten
War auch nicht eine ausgestellt.
Und drinnen? – O da hat ein Glaube
Ganz ohne Pfaff und Priesterstand
Leuchtend, wie einst des Geistes Taube,
Geschwebt ob dem beglückten Land.
Und keine Spur von Mystizismus,
Von Dunkelmänner-Muckerei,
Selbst Luthertum, Katholizismus
Und Gar-Nichts galt für einerlei!
Und Schrift und Wort war freigegeben,
Die Presse seufzte Tag und Nacht,
Jedwede Kraft und jedes Streben,
Wenn echt, ward wirksam auch gemacht.
Vom König war nicht viel zu sehen,
Und doch schien er an jedem Ort,
Und wollt' er wo zu Fuße gehen,
Trug man ihr auf den Händen fort.
Die Stände zeigten so viel Dummheit,
Als guten Ständen nötig tut,
Mehr Rührigkeit und minder Stummheit
Und just den rechten Redemut.
Mätressen gab es und Spione
Als Rarität ein Paar im Land,
Und für die Zeitung der Barone
Im Tollhaus einen Pränumerant.
Und Freiheit lag und grüner Friede
Und Überfluß und Lebenslust
Wie eine blitzende Ägide
Gar herrlich ob des Reiches Brust.
Die Dichter sangen wie sie wollten,
Der eine hart, der andre weich,
Und keiner ward darum gescholten,
War er nicht einer Schule gleich.
[169]
Noch hatt' ich, ganz in Schaun verloren,
Des Besten Laute still gelauscht,
Als plötzlich, dicht vor meinen Ohren,
Ein fremder Klang vernehmlich rauscht.
Ich – wachte auf – .. Wo? – Im Gefängnis,
Vom Klirrn der Kett' an meinem Fuß ...
O unglückseliges Verhängnis!
Daß man auch stets erwachen muß!
Vor meinem Fenster stund das Gitter
So fest wie früher in der Mauer,
Und über mir sang – ohne Zither! –
Ein Strauchdieb seinen Gassenhauer.

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TextGrid Repository (2012). Dingelstedt, Franz von. Vierte Station. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-7F45-7