Am siebenzehnten Sonntage nach Pfingsten

Ev.: Von der Witwe Sohn zu Naim.

Da er aber nahe an das Stadttor kam, sieh, da trug man einen Toten heraus, der ein einziger Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe. – Er sprach zu ihr: »Weine nicht!« – Und er trat hinzu und rührte den Sarg an, aber die ihn trugen standen still, und er sprach: »Jüngling! ich sage dir steh auf!« Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und er gab ihn seiner Mutter.


Wenn deine Hand den Sarg berührt,
Dann muß der Tote sich beleben,
Dein Hauch die Wetterwolke führt,
Dann muß sie milden Manna geben.
Du der aus Felsen Labung zieht,
Dem Aarons dürrer Stab geblüht,
Des Niles Fluten sich erheben:
Der Mächtige bist du, um auch
Der Seele dumpfen Schlaf zu enden;
Zu dir darf seinen Sterbehauch
Der todeswunde Schächer senden;
Du nimmst den letzten Atemzug,
Ein Reuelaut ist dir genug,
Den Blitz in seinem Flug zu wenden.
Du hast dich an das Tor gestellt
Den Sohn der Witwe zu erwarten,
Und hast, ein Herr der ganzen Welt,
Beachtet ihren kleinen Garten.
Du der das kranke Rohr nicht knickt,
Am Docht das Fünkchen nicht zerdrückt,
Und nie gebrochen hat die Scharten,
Berühre mich, denn ich bin tot
Und meine Werke sind nur Leichen!
Hauch' über mich; denn blutig rot
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Die Sünde ließ mir ihre Zeichen!
O wende du den Donnerschlag,
Der über meinem Haupte brach,
Und laß die dumpfen Nebel weichen!
Dann will ich dir aus freier Brust
Ein überselig Loblied singen,
Und wieder soll in Gotteslust
Wie früher meine Stimme klingen.
Ist sie gebrochen jetzt und matt,
Du bist es, der die Mittel hat,
So in die kränksten Adern dringen.
Fühl' ich doch heut in mir erweckt
Ein lang entschwundenes Vertrauen,
Daß mich nicht Tod noch Sünde schreckt:
Wie sollt' ich denn auf dich nicht bauen!
Ja, wenn du willst, so kann ich doch
Mit diesen meinen Augen noch
In diesem meinem Leib dich schauen.
Ich weiß es, daß von mir nicht stammt
Was mich so freudig muß durchzittern;
Ein Strahl ist es, den du entflammt,
Ein Traum, den Starren zu erschüttern.
O fahre fort, o rühr' mich an,
O brich den Todesschlaf, und dann,
Dann werd' ich Morgenlüfte wittern!
Hast du gesprochen: »Weine nicht!«,
Du weißt, daß nicht die Toten weinen,
Ob schier im Traum das Herze bricht,
Und wohl Gebet' dir Seufzer scheinen,
Die flüstern möchten schwach und lind:
»Du hast geweckt der Witwe Kind,
Ich liege noch in Totenleinen!«
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Droste-Hülshoff, Annette von. Am siebenzehnten Sonntage nach Pfingsten. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-8485-5