6.

An meinen Bruder


Gedenkst du noch des Gartens
Und Schlosses überm Wald,
[236]
Des träumenden Erwartens:
Ob's denn nicht Frühling bald?
Der Spielmann war gekommen,
Der jeden Lenz singt aus,
Er hat uns mitgenommen
Ins blühnde Land hinaus.
Wie sind wir doch im Wandern
Seitdem so weit zerstreut!
Frägt einer nach dem andern,
Doch niemand gibt Bescheid.
Nun steht das Schloß versunken
Im Abendrote tief,
Als ob dort traumestrunken
Der alte Spielmann schlief'.
Gestorben sind die Lieben,
Das ist schon lange her,
Die wen'gen, die geblieben,
Sie kennen uns nicht mehr.
Und fremde Leute gehen
Im Garten vor dem Haus –
Doch übern Garten sehen
Nach uns die Wipfel aus.
Doch rauscht der Wald im Grunde
Fort durch die Einsamkeit
Und gibt noch immer Kunde
Von unsrer Jugendzeit.
Bald mächt'ger und bald leise
In jeder guten Stund
Geht diese Waldesweise
Mir durch der Seele Grund.
Und stamml ich auch nur bange,
Ich sing es, weil ich muß,
Du hörst doch in dem Klange
Den alten Heimatsgruß.
[237]

Notes
Erstdruck 1837.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Eichendorff, Joseph von. 6. [Gedenkst du noch des Gartens]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-98EE-B