[351] Der Silberschatz

Der Schneidermeister Benedetto findet, daß man heutzutage nicht mehr mit der bloßen Routine allein fortkommen kann. Die moderne Zeit will Kopf. Existenzen gehen zugrunde. Aber es ist kein Unglück, wenn sie zugrunde gehen, denn sie haben sich nicht anpassen können, und die Natur verlangt Anpassung; Anpassung auf Grund selbständigen Denkens, sorgfältiger Prüfung und festen, unerschütterlichen Entschlusses.

Lange Rübe wird mit Benedetto bekannt, er wird mit ihm befreundet. Nun, zwischen zwei Freunden gibt ein Wort das andere, und so erzählt denn Lange Rübe eine Geschichte aus seiner Vergangenheit. Es ist lange her, daß die Geschichte vorgefallen ist, und eigentlich würde er sie auch niemandem erzählen, aber Benedetto ist nun einmal so ein Mensch, zu dem man Vertrauen hat, denn zu wem hat man Vertrauen? Zu dem Mann, der Vertrauen einflößt. Und Benedetto flößt Vertrauen ein.

Das menschliche Leben verbindet und trennt. Wo sind die Freunde unserer Jugend? In fremde Länder verschlagen, untergegangen, gestorben! Also Lange Rübe kennt eine alte Prinzessin, die in ihrem großen Palazzo allein wohnt, weil sie ihren Leuten immer nur gelbe Erbsen gibt, nur in Wasser gekocht und ohne Schmelze, was sich die Leute auf die Dauer natürlich nicht gefallen lassen. Sie sitzt stets in der Küche, weil sie sich sagt, daß man die Herdfeuerung so auch zugleich als Heizung verwendet, und trägt einen dicken Mantel, der mit Federn ausgestopft ist. Außerdem ist sie schwerhörig, und das Silber steht in zwei Schränken im großen Saal, der auf der anderen Seite des Palazzo liegt.

[352] Lange Rübe verabredet sich mit seinen Freunden; sie machten Aufsehen damals, man sprach monatelang von ihnen in ganz Rom. Nämlich sie haben einen Schlüssel, sie schließen einfach das Tor auf, am hellen Tage, gehen in den Palazzo, lassen die alte Prinzessin in ihrer Küche links liegen, öffnen den großen Saal, packen das Silber in Wäschekörbe, die sie mitgebracht haben, und verlassen kaltblütig das Haus, indem sie sorgfältig wieder hinter sich zuschließen. Die Leute, welche vorübergehen, denken, daß sie bestellt sind, und wundern sich nicht; die Prinzessin kommt am nächsten Sonnabend in den Saal, sie putzte nämlich immer Sonnabends ihr Silber mit Kreide und Spucke, sie findet die Schränke leer, kriegt einen Schlag und stirbt; die Erben vermissen das Silber, denken zuerst, daß die alte Dame einen Liebhaber gehabt hat, aber wie sich alles herumspricht, kommt der wahre Sachverhalt heraus; natürlich ungeheure Bewunderung.

Lange Rübe hatte mit seinen Freunden das Silber vorläufig vor die Tore gebracht und hat es vergraben.

Er hat es in der Campagna vergraben. Der Ort ist genau bezeichnet. Und das Silber liegt noch heute, nach zehn Jahren, unberührt an seiner Stelle. Wo sind die Freunde geblieben? Lange Rübe weint ihnen eine Träne nach.

Benedetto hat für die Freunde wenig Interesse, aber der Gedanke an das vergrabene Silber beschäftigt ihn sehr. Er erkundigt sich, ob es auch niemand hat in der Zwischenzeit entdecken können, ob Lange Rübe öfter nachgesehen hat, er fragt, ob es sehr schwer zu holen sein würde, er überlegt sich, daß die Freunde, wenn der eine oder andere von ihnen noch leben sollte, doch längst verzichtet haben werden. Lange Rübe trocknet sich die Augen und antwortet mit Nicken oder Schütteln oder durch ein abgebrochenes Wort auf Benedettos ungestüme Fragen.

Kurz und gut: Es stellt sich heraus, wenn nun zwei Mann [353] das Silber heben wollen, so müssen sie ein Pferd mit einem Wagen haben; damit den Zollwächtern am Tor nichts auffällt, müssen sie sich als Mörtelkutscher verkleiden und müssen, wenn sie zurückfahren, über das Silber in dem Wagen Mörtel schütten. Pferd und Wagen aber kann man nicht borgen, weil man da immer den Fuhrknecht mitnimmt und es auffallen würde, wenn man das ablehnte; man muß sie kaufen. Das Geschick hatte sich Lange Rübe stets feindlich erwiesen, er hatte nie das Geld gehabt, um die kleine Auslage machen zu können; Benedetto aber betrachtet das Geld für Pferd und Wagen als eine sichere Kapitalsanlage; Lange Rübe verspricht ihm schriftlich auf einem Stempelbogen die Hälfte des Silberschatzes; Benedetto zahlt dem Freunde vierhundert Skudi in bar aus, besorgt sich einen neuen Mörtelkutscheranzug und erwartet die Nachricht, wann er mit ihm in die Campagna hinausfahren soll.

Er bekommt aber keine solche Nachricht. Er sucht Lange Rübe auf, um ihn zu befragen, Lange Rübe ist nie zu Hause; er hinterläßt Zettel in seiner Wohnung, daß er ihn an dem und dem Ort treffen solle; Lange Rübe verfehlt ihn, oder ist verhindert, oder erscheint nicht und macht überhaupt keine Entschuldigung.

Benedetto muß sich schwer ärgern über diese Unzuverlässigkeit, und wenn er nicht sein bares Geld in das Geschäft hineingesteckt hätte, dann ließe er Lange Rübe mit seinem Silberschatz schießen. Aber so geht das natürlich nicht.

So verfließt nun die Zeit, Benedetto macht immer weniger Versuche, Lange Rübe zu sprechen, und Lange Rübe beginnt schon, die ganze Geschichte zu vergessen. Aber da geschieht es, daß Benedetto auf den Gedanken kommt, Lange Rübe könne ein Hochstapler sein, den Silberschatz in der Campagna gebe es überhaupt nicht, und Lange Rübe habe die vierhundert, Skudi einfach für sich selbst verbraucht. Je mehr Benedetto [354] nachdenkt, desto wahrscheinlicher wird ihm diese Annahme, denn er sagt sich, daß ein Mensch, welcher den Silberschatz im Hause einer Prinzessin stiehlt, auch nicht erröten werde, wenn er seinen Freund um vierhundert Skudi betrügen könne; und so geht er denn zu dem Richter Matta und erzählt dem alles.

Der Richter Matta sagt ihm väterlich, er müsse wohl sehr dumm sein, wenn er auf so einen uralten Schwindel hineinfalle, wie der vergrabene Silberschatz sei, der ihm, Matta, gewiß zweimal jährlich vorkomme; Benedetto, der bis nun immer noch einen letzten Rest von Hoffnung hatte, Lange Rübe sei nur bummelig und werde doch noch das Pferd und den Karren kaufen, wird zu Tränen bewegt und gerät in eine heftige Erbitterung gegen Lange Rübe, der so schändlich die Freundschaft verraten hat; Matta erläßt einen Verhaftsbefehl und tröstet ihn, indem er ihm sagt, sein Geld werde er nie wieder zu sehen kriegen.

Lange Rübe hat gerade nichts auf dem Kerbholz, und gegen Benedetto ist er sich keiner Schuld bewußt; so kommt es, daß der Polizeihauptmann Tromba ihn ohne Schwierigkeiten verhaften kann. Er verhaftet ihn ungern, denn Lange Rübe hat ihm manche Gefällig keit erwiesen, aber seine Pflicht muß man tun.

Lange Rübe erklärt zunächst, wenn Benedetto eine solche Gemeinheit begangen habe, einen Freund anzuzeigen, der das Letzte mit ihm geteilt habe, dann müsse er, so ungern er es tue, doch den Richter darauf aufmerksam machen, daß auch Benedetto angeklagt werden müsse; der Silberschatz sei gestohlen, und Benedetto habe, indem er durch Zahlung der vierhundert Skudi einen Anspruch auf die Hälfte des Schatzes erworben, als Hehler gehandelt.

Matta schüttelt den Kopf und sagt: »Deine Sache steht schlecht, Benedetto, sie steht sehr schlecht!«

[355] Benedetto aber hat einen klugen Rechtsanwalt bei sich, welcher erklärt, er sei ja gar nicht in den Besitz der gestohlenen Sache getreten, er habe durch die Zahlung der vierhundert Skudi nur den Versuch der Hehlerei begangen, der Versuch sei in diesem Falle aber nicht strafbar.

Matta nickt und sagt: »Der reißt dich raus, das ist ein Schlauer, du kannst von Gluck sagen, Benedetto.«

Lange Rübe antwortet, für die Hehlerei komme es gar nicht darauf an, ob einer in den Besitz der Sache trete; der rechtliche Anspruch genüge; dieser aber sei unzweifelhaft, da der Vertrag in allen Formen auf Stempelpapier gemacht sei; Benedetto hätte diesen Anspruch ja verpfänden können, wenn er wollte, und so den unrechtmäßigen Erwerb aus seinem Verbrechen einstreichen.

Matta sagt: »Es steht schlecht für dich, Benedetto; Lange Rübe hat recht.«

Der Rechtsanwalt aber hält ihm entgegen, es habe niemand den Schatz gesehen; von einer Prinzessin, die vor zehn Jahren bestohlen sein, wisse kein Mensch etwas; der Schatz sei überhaupt erfunden; Benedetto habe also nicht einen Anspruch auf Diebesgut erworben, sondern einen Anspruch auf ein Nichts, ein Garnichts. Ein solcher Anspruch wäre ihm schwerlich von jemandem beliehen worden. Also zugegeben selbst das, daß der Erwerb des rechtlichen Anspruchs genüge, um das Verbrechen der Hehlerei festzustellen, müsse sein Freund dennoch freigesprochen werden, denn an einem Nichts kann keine Hehlerei stattfinden, wofür er eine Menge Rechtsgelehrter als Zeugen anführt.

Matta schüttelt den Kopf und sagt: »Dieser Rechtsanwalt ist ein tüchtiger Mann, Benedetto ist unschuldig.«

Lange Rübe schweigt. Er sagt nur: »Ich mache den Richter darauf aufmerksam, daß ich schweige, und bitte, daß das ins Protokoll aufgenommen wird.« Dann wird er abgeführt; [356] Benedetto, von Angstschweiß triefend, und sein kluger Rechtsanwalt empfehlen sich, und Matta verhandelt eine andere Sache.

Matta ist ein tüchtiger Mann. Er ist nicht wie andere, die an nichts mehr denken, wenn sie ihre Amtsstube verlassen haben; er denkt beständig an seine schwebenden Sachen. Nur wenn eine Sache entschieden ist, dann denkt er nicht mehr an sie.

Am Abend kommen ihm die wunderbaren Worte von Lange Rübe ins Gedächtnis. Er bedenkt hin und her, was hinter ihnen stecken möge; endlich läßt er Lange Rübe hinausholen in sein Studierzimmer und fragt ihn.

Lange Rübe tritt einen halben Schritt vor und legt die Linke beteuernd auf die Brust. »Herr Richter,« sagt er, »angenommen, ich kann nachweisen, daß der Silberschatz wirklich in der Campagna begraben liegt, was habe ich damit erreicht? Der Narr von Benedetto ist bestraft, der nicht warten kann, bis er für seine lumpigen vierhundert Skudi das Tausendfache bekommt in silbernen Vasen, Schalen, Leuchtern, Tellern, Salzfässern, Trinkbechern, Aufsätzen, Kesseln, Kannen, Schüsseln und Tragblechen. Aber ich habe meinen Silberschatz verloren; denn wenn ich zeige, wo er liegt, dann wird er mir doch vom Gericht abgenommen.«

In dem Gemüt des Richters Matta geht eine merkwürdige Wandlung vor sich.

Er weiß, daß die Geschichte vom gestohlenen und vergrabenen Schatz ein uralter Spitzbubenschwindel ist, und er hat selber Benedetto ausgelacht, daß er ihn geglaubt hat; ja, er hat wohl zweimal im Jahre über diesen Schwindel zu urteilen. Aber wenn Einem gesagt wird, daß in der Nähe rund eine Million Skudi in der Erde liegen, wenn man sich denkt, daß man die Hälfte davon mit leichter Mühe haben kann, dann sieht man plötzlich die Geschichte mit anderen Augen an. Wenn nur [357] fünfzigtausend Skudi in der Erde lägen, dann würde man seine Ansicht nicht ändern.

»Viermalhunderttausend Skudi, meinst du, wären aus das Teil Benedettos gefallen?« fragt er Lange Rübe.

»Mindestens so viel«, antwortet der. »Man kann das natürlich nicht so genau sagen, das Silber war von verschiedenen Legierungen, manche Stücke waren auch nicht massiv; aber ungefähr kann man doch schätzen, dafür hat man seinen Blick.«

Matta geht im Zimmer auf und ab. »Weshalb hast du Benedetto immer hingehalten?« fragt er.

Lange Rübe erzählt eine Geschichte von der Torwache, bei welcher er einen Feind hat, und spricht davon, daß der Feind erst abgelöst werden mußte, und die Geschichte erscheint dem Richter sehr wahrscheinlich.

Lange Rübe merkt natürlich, worauf Matta hinaus will. Er tut kaltblütig und sagt, er werde Benedetto seine vierhundert Skudi zurückgeben. Im übrigen sei seine Zelle sehr kalt und zugig, er habe sich heftig erkältet und werde froh sein, wenn er erst wieder in seiner Häuslichkeit sei.

Matta lächelt. »Ich bin ein alter Richter, lieber Freund«, sagt er, »mir machst du nichts vor. Die Vierhundert sind längst fort. Aber ich mache dir einen Vorschlag. Ich trete in den Vertrag Benedettos ein.«

Lange Rübe küßt Matta entzückt die Hand. Matta fährt fort: »Ich zahle Benedetto morgen sein Geld aus; nach der Gerichtsstunde gehen wir zusammen in die Campagna und du zeigst mir die Stelle. So dumm wie Benedetto bin ich nicht, daß ich dir Geld in die Hand gebe. Wenn ich mich überzeugt habe, dann kaufe ich selber Wagen und Pferd. Und nun geh und benimm dich ehrlich gegen mich, laß es das erstemal in deinem Leben sein, daß du ehrlich bist.«

Lange Rübe geht. Matta zahlt Benedetto aus und bemerkt [358] diesem, daß Lange Rübe die Summe habe schicken lassen, und erkläre, er sei bis jetzt nur noch nicht dazu gekommen, den Plan auszuführen. Benedetto ist bestürzt, Matta kann eine kleine Schadenfreude nicht unterdrücken.

Und nun geht er am Nachmittag mit Lange Rübe in die Campagna hinaus.

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TextGrid Repository (2012). Ernst, Paul. Erzählungen. Komödianten- und Spitzbubengeschichten. Der Silberschatz. Der Silberschatz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A27D-9