[66] Vision

Wie manches Weib umfing ich schon in meinen Träumen,
Das zu umarmen ließ am Tag die Scheu mich säumen.
Gelegenheit verflog, die Frucht blieb ungepflückt,
Was half's, dass mich im Schlaf ihr Schattenbild beglückt?
Dich aber sah noch nie im Traum ich, wie im Wachen.
Wo kamst du Hohe her, von welchem Strand den Nachen
Triebst du durchs tiefe Blau des Lüfteozeans?
Ein bläulich bleiches Licht war Herold deines Nah'ns.
Ein leises Zittern ging vor dir durchs Äthermeer,
Dann schwebtest du heran, ein Leuchten um dich her.
Wer bist du, stolz Gebild, im Sternenfunkelkranz?
Dein Leib – Licht oder Luft? – schien nur durchsichtiger Glanz,
Und doch hob sich mein Arm, ihn brünstig zu umfangen.
Bist Schein du nur, ein Trug, was weckst du mein Verlangen?
Vor deinem Angesicht müsst' sich ein Engel beugen,
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Die reinere Himmelsglut dir demutvoll bezeugen.
Doch schickt von seinem Thron des Flügelheers Befehler
Die frommen Boten als Verführer aus und Quäler?
Hätt' Satan dich gezeugt, kämst du von seinem Hofe,
Der Hölle listig Kind, der Sünde saubere Zofe?
Nun lauf' ich durch den Tag ein wacher Träumer hin,
Begierdekrank das Blut, vergiftet jeder Sinn.
Wie eine Melodie uns peinigt und nicht scheidet,
So lässt dein Bild mich nicht, das alles mir verleidet.
Schließ' ich die Augen, stehst du vor mir, herrlich Weib,
Geöffnet suchen sie in jeder Dirn den Leib,
Der so mich hat entbrannt, und wenden ekel sich,
Wenn dir die schönste selbst wie Nacht dem Tage glich.
Der heilige Anton war wahrlich schlimm daran,
Ihn griff der Teufel mit verstärkten Kräften an.
War eine einzige nur von jenen Huldgestalten
So schön wie du, woher kam soviel Kraft dem Alten?
Ich hätte schwerlich wohl so standhaft können sein,
Hätt' Keuschheit eingebüßt dabei und Heiligenschein.

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TextGrid Repository (2012). Falke, Gustav. Vision. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A59C-9