4.

O du der Schönheit Fürstin stolz und hoch,
Du Rätselvolle, die kein Sinn erfaßt,
Du bist so kalt und zündest Flammen doch,
Und selbst so ruhig raubst du alle Rast;
Du machst mich irr an meines Herzens Schlag,
Mich selbst verlor ich, seit ich dich gesehn;
Schlaflose Nacht löst ab verträumten Tag
Mit Zweifeln, Gluten, Wehn –
Du aber lächelst fort, als wäre nichts geschehn.
Oft zweifl' ich, daß dir eine Seele ward,
Und wieder mein' ich dann, sie schlafe nur,
Und wer sie weck' aus ihren Träumen zart:
Ihr holdstes Wunder zeige dem Natur;
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Urplötzlich, wie der Lenz kommt über Nacht,
So müss' aufquellend einst in jäher Lust
Dein Wesen all erblühn in Frühlingspracht,
Wenn deine junge Brust
Zum ersten Male fühlt, wovon sie nie gewußt.
O dürft' ich der gefeite Zaubrer sein,
Der so den Frost in Maienwonne kehrt,
Der deine Wangen glühn in hast'gem Schein,
Dein Aug' in brünst'gen Tränen fluten lehrt!
Dürft' ich der sein, der dir die Seele gibt,
Die stummen Rätsel lösend deinem Sinn,
Der Sel'ge, den du liebst, weil er dich liebt –
O was ich hab' und bin,
Die eigne Seele halb, die ganze gäb' ich hin!
Verwegner Traum! Doch wie du immer seist:
Mich treibt zu dir allmächtige Gewalt;
Gebannt in deine Kreise liegt mein Geist,
Ich kann nicht los, und tust du noch so kalt.
Du ziehst mich nach dir wie der Mond die Flut,
Wie der Magnet das Eisen siegreich zieht;
Und ob du harmlos spielst mit meiner Glut,
Ob streng dein Auge sieht:
Mein unstet Herz ist dein, und dein mein dunkles Lied.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Juniuslieder. Der Troubadour. 4. [O du der Schönheit Fürstin stolz und hoch]. 4. [O du der Schönheit Fürstin stolz und hoch]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B7F2-1