Apologie

Daß ich auch zur schönen Zeit des Frühlings
Morgens lange stets im Bette säume,
Darum wollt ihr, Freunde, mich verklagen?
Tut es immerhin! Euch hat beim Werden
Nicht die Muse freundlich angelächelt,
Und mit Morpheus' lieblichem Geschlechte
Seid ihr ganz und gar in herbem Zwiespalt.
Nicht die Wonne kennt ihr, auf dem Lager
Sich zu dehnen, wenn am offnen Fenster
Grünes Weinlaub schwankt im Sonnenschimmer
Und die Blüten rot und weiß hereinwehn.
Draußen in den Rosenbüschen flötet
Dann die Nachtigall, und wie die Töne
Lieblich sich durch meine Seele dehnen,
Spinnt der Morgentraum in halbem Wachen
Sich noch fort und wird zu holden Liedern.
Trifft mir endlich dann der Strahl die Wimpern,
Spring' ich rasch empor, auf weiße Blätter
Die gereimten Träume festzubannen.
Abends aber schleich' ich zur Geliebten,
Und sie liest es, was in süßer Dämmrung
Grüßend durch des Freundes Brust gezogen,
Und mit Küssen lohnt sie jede Zeile.
Sagt nun, ihr profanen Traumverächter,
Sagt nun, wollt ihr länger noch mich schelten?

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Apologie. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B919-E