6.

Nichts ist so ganz mir verhaßt, wie verstimmt hochmütige Trägheit;
Wenn dir die Krone gebührt, geh und erobre sie dir!
Aber vermagst du es nicht, so laß dein Schmollen und Zaudern,
Lern' in bescheidenem Kreis tüchtig und tätig zu sein.
[398]
Freilich verdammt ihr mit Fug den poetischen Dilettantismus,
Doch noch bedenklicher scheint euer politischer mir;
Denn das Regieren verlangt wie das Dichten den Meister; es wirkt nur
Weiter ein töricht Gesetz als ein verfehltes Gedicht.
Unglückselig Geschick, daß sich meist in brennendem Ehrgeiz
Grade das halbe Talent an das Erhabenste wagt!
Nach der ambrosischen Frucht wie Tantalus streckt es die Hand aus,
Aber der Zweig ist zu hoch, aber der Arm ist zu kurz.
»Bester, ein Sträußchen für mich!« Da mäht er den Anger und schüttet
Unkraut, Blumen und Gras hoch mir vom Karren vors Haus.
Freilich, zum Strauße genügt's. Doch wüßt' ich besseren Dank ihm,
Hätt' er sich selber und mir leichter die Freude gemacht.
Nicht zu früh mit der Kost buntscheckigen Wissens, ihr Lehrer,
Nähret den Knaben mir auf; selten gedeiht er davon.
Kräftigt und übt ihm den Geist an wenigen würdigen Stoffen;
Euer Beruf ist erfüllt, wenn er zu lernen gelernt.
Königin ist die Gestalt; ihr dient anmutig die Farbe,
Wie ein köstliches Kleid schöner die Schöne dir zeigt.
Aber entferne den Schmuck, und sie mag dich noch immer bezaubern,
Während das leere Gewand jede Bedeutung verliert.
Heut noch stöbert der Schnee, wie gestern; aber es weht mir
Still durchs tiefste Gemüt Ahnung des Lenzes dahin.
[399]
Wem verdank' ich das süße Gefühl? Seid ihr's, Hyazinthen,
Die ihr am Fenster den Kelch träumerisch duftend erschließt,
Ist's mein Töchterchen dort im Gemach, das, leise zur Arbeit
Singend, mich an das Geschwirr steigender Lerchen gemahnt?

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. 6. [Nichts ist so ganz mir verhaßt, wie verstimmt hochmütige Trägheit]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B977-9