Helena

Lieder aus einer Novelle.

1.

Bei der Winterlampe Schimmer,
Wie ein Siedler eingeschlossen,
Überm Bücherstaub verdrossen
Brütet' ich im öden Zimmer.
Nichts mehr hofft' ich von der Stunden
Freudlos abgemeßnem Flug;
Ach, es war mir längst entschwunden,
Daß die Welt einst Rosen trug.
Horch, da rauscht' es auf den Stufen
Wie von leichten Götterschritten,
Horch, da pocht' es an mit Sitten,
Und ich hab': Herein! gerufen.
Aber jählings, glanzerschrocken,
Sprachlos taumelt' ich zurück;
Denn, den Kranz in reichen Locken,
Stand in meiner Tür – das Glück.

2.

Jüngling mit dem goldnen Bogen,
Schöner Gott der Poesie,
[386]
Oftmals warst du mir gewogen,
Doch so dankt' ich's dir noch nie.
Denn in nie gehofften Flammen
Führtest du aus öder Nacht,
Hoher, mich mit ihr zusammen,
Die mich jung und selig macht.
Hat ein Mitleid ohnegleichen
Dein olympisch Herz bewegt,
Daß du plötzlich diesen reichen
Schatz in meinen Arm gelegt?
Oder hast du nur in Eile,
Eh die Senne dir entrauscht,
Deinen Pfeil mit Eros' Pfeile,
Ach, zu meinem Glück vertauscht?

3.

Nun hast du, Flüchtling, uns verlassen,
Und Licht und Lust floh mit dahin:
Verwaist im Nebel ruhn die Gassen,
Und kaum begreif' ich, wo ich bin.
Bedeutungslos erschallt der Menge
Geschäft'ger Lärm zu mir empor;
Was weiß ich von des Tags Gedränge?
Ich weiß nur, daß ich dich verlor.
Und flücht' ich abends zu den Brettern,
Die mir dein Zauber jüngst beseelt,
Ach, klanglos stehn sie, von den Göttern
Verlassen, da die Priestrin fehlt.
Da rettet sich der Schmerz nach innen,
Und wie die müde Wimper fiel,
Beginnt vor halb entschlafnen Sinnen
Erinnrung ihr phantastisch Spiel.
All die Gestalten seh' ich wieder,
Drin du dich wechselnd offenbart,
Den Blick, den Gang, den Schwung der Glieder,
Den süßen Leib, der Sprache ward.
[387]
Betörend dringt zu meinen Ohren
Die Stimme wieder, deren Klang,
Aus wildbewegter Brust geboren,
Die ganze Seele mir bezwang.
So schleicht in schattenhaftem Sehnen
Die Nacht mir, die kein Schlummer kürzt,
Bis endlich wild ein Strom von Tränen
Erleichternd aus den Augen stürzt.
O hätt' ich niemals kosten dürfen
Vom Kelch, der mir mein Selbst entrafft!
Nur Poesie dacht' ich zu schlürfen
Und trank das Gift der Leidenschaft.

4.

Wenn der Schönheit goldner Pfeil
Mitten dich ins Herz getroffen,
Konntest du ein größer Heil,
Frohverjüngter, jemals hoffen?
Was verlangst du nach Besitz?
Lern auf so viel Glück entbehren!
War doch Seligkeit der Blitz,
Dessen Flammen dich verzehren.

5.

Endlich hab' ich's überwunden,
Was so wild in mir geglüht,
Und die goldnen Frühlingsstunden
Grüßt geläutert mein Gemüt.
Doch im freigewordnen Busen
Blieb dein Wesen mir geprägt
Heiter, wie das Bild der Musen,
Das mich schöpferisch bewegt.
All mein Tag gehört dem Werke
Wieder und die Nacht der Ruh',
Doch es quoll mir junge Stärke
Aus der Brust Gewittern zu.
[388]
Und so dank' ich dir und lerne
Fromm den Götterschluß verstehn,
Der dich mir gleich einem Sterne
Aufgehn ließ und untergehn.
Ach, und doch in manchen Stunden
Sehnt wie nach verlornem Glück
Sich dies Herz nach seinen Wunden,
Nach der süßen Qual zurück.

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TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Helena. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BA56-B