Distichen aus dem Wintertagebuche

1.

Über die Fluren dahin im Schneesturm wandelt der Winter,
Mit eintönigem Weiß deckt er die Farben des Jahrs;
Statt der Rosen im Garten erblühn Eisblumen am Fenster,
Und am Herde den Platz räumt der Betrachtung das Lied.
Nicht die Empfindung allein, auch was in ernster Erfahrung
Ihn das Leben gelehrt, spreche der Lyriker aus,
Aber am Herzen gereift zum Herzen rede die Weisheit,
Aber im Strom des Gefühls sei der Gedanke gelöst.
[389]
Wie aus Jupiters Stirn einst Pallas Athene, so sprang aus
Bismarcks Haupte das Reich waffengerüstet hervor.
Tu es der Göttin gleich, Germania! Pflanze den Ölbaum,
Sei dem Gedanken ein Hort, bleibe gewaffnet, wie sie!
Ruhig, sicher und fest, wie das Himmelsgewölbe der Atlas,
Auf der Schulter von Erz trägst du die Säulen des Reichs.
Möge der Tag fern sein, der einst von der Bürde dich abruft,
Denn kein Zweiter fürwahr lebt, der sie trüge wie du.

2.

Ins Unendliche strebt sich die Bildung der Zeit zu erweitern,
Aber dem breiteren Strom droht die Verflachung bereits.
Fülle die Jugend mit würdigem Stoff und in froher Begeistrung
Lehre sie glühn! Die Kritik kommt mit den Jahren von selbst.
Immer behalte getreu vor Augen das Höchste, doch heute
Strebe nach dem, was heut du zu erreichen vermagst.
Nicht wer Staatstheorien doziert, ein Politiker ist nur,
Wer im gegebenen Fall richtig das Mögliche schafft.
Stets zu Schwärmen gesellt sich das Volk der geschwätzigen Stare,
Einsam sucht sich der Aar über den Wolken die Bahn.
Bester, du hast ein Gewissen für das, was sittlich und wahr ist,
Warum fehlt es dir, ach, nur für das Schöne so ganz?
[390]
Nicht bloß, wer im Gemüt abstreifte den Zügel der Sitte,
Wer sich des Häßlichen nicht schämt, er ist auch ein Barbar.
Eile mit Weile! Den Kahn erst lerne zu steuern im Hafen,
Eh' zur Entdeckungsfahrt mächtige Segel du spannst.
Stolz und schweigend enthüllt sein Werk uns der Meister; im eitlen
Selbstlob birgt ein Gefühl heimlicher Schwäche sich nur.
Tiefer erscheint trübströmende Flut, durchsichtige flacher,
Aber das Senkblei lehrt oft, daß dich beides getäuscht.
Ist denn die Blume nur da zum Zergliedern? Weh dem Geschlechte,
Das, anstatt sich zu freun, jegliche Freude zerdenkt!
Torheit bleibt's, im Gesang um den Preis der Geschichte zu ringen,
Doch der poetische Stoff kann ein historischer sein.
Freilich für ein Gedicht ist Schönheit immer das Höchste,
Nur nicht jeglicher Zeit Höchstes ein schönes Gedicht.
Ward dir Großes versagt, so übe die Kunst an bescheidnen
Stoffen und strebe mit Ernst, Meister im Kleinen zu sein.
In dem kastalischen Born, dem begeisternden, sprudelt ein Tropfen
Lethe; jeglichen Schmerz dämpft er, so lange du singst.

3.

Über die zackigen Giebel der Stadt hängt brütender Nebel
Düster herab, es erschließt kaum noch die Wimpern der Tag.
[391]
Drunten, gedämpft vom Schnee, wogt sacht das Getriebe der Gasse;
Nur undeutlich herauf dringt der verschleierte Laut.
Selbst die metallene Stimme des Turms ruft heiser die Stunden,
Stockend, als schickte die Zeit stille zu stehen sich an.
Trauriges Zwielicht rings! Auf, Knab', und entzünde die Lampe!
Kommt, ihr Bücher, die Welt dunkelt, so flücht' ich zu euch.
Dich heut wähl' ich vor allen, Horaz; mit lächelnder Weisheit
Hast du des Trübsinns Bann oft mir gelöst wie ein Freund.
Größere kenn' ich als dich; doch gerecht für jegliche Stimmung,
Wie du den Knaben erfreut, bliebst du dem Alten getreu.
Wie dem parnassischen Fels zwei Häupter entragen, so gipfeln
Über dem Epos Homers Lyrik und Drama sich auf.
Ob dich viele geschmäht, Euripides, neben den Besten
Sei mir im bakchischen Kranz, mächtig Erregter, gegrüßt.
Preis' ich gewaltiger Äschylus auch und Sophokles schöner:
Dein Zeitalter des Kampfs spiegelte keiner wie du.
Nimmer gelingt's dir, Freund, uns Pindars Lied zu beleben,
Wie's in Olympias Hain einst die Hellenen ergriff.
Zwar wir erbaun uns noch heut an dem Tiefsinn seiner Gedanken,
Spüren des Fittichs Schwung, der den Begeisterten trug,
[392]
Ahnen die Rhythmengewalt der sich kühn auftürmenden Worte,
Aber der reine Genuß bleibt uns auf ewig versagt.
Was ein lebendiger Schatz ihm war und ein Born der Empfindung,
Ward zum dunklen Geweb' frostiger Namen für uns;
Pflückt' er doch seinen Gesang vom blühenden Baume des Mythus,
Und kein forschender Fleiß weckt den erstorbenen auf.
Milton deucht mir der Briten Poet; der gewaltige Shakspeare
Ist der germanischen Welt eigen, so weit sie sich dehnt.
Wollt ihr den Sänger Armins mir trostlos schelten und bitter?
Scheltet die bittere Zeit, welche das Lied ihn gelehrt.
Gern als erquickender Tau auf Lilien wär' es gefallen,
Aber ins dürre Gezweig' schlug es als Hagelgewölk.
Gern auch kost' ich einmal von Byrons heißem Gewürztrank,
Aber den täglichen Krug reiche mir Vater Homer.
Nennt Epigonen uns immer! Ein Tor nur schämt sich des Namens,
Der an die Pflicht ihn mahnt, würdig der Väter zu sein.

4.

Einsam trauert Apoll. Wann denkt noch seiner ein Jüngling?
Heute beherrscht den Parnaß Plutus, der blendende Gott;
Siehe, mit Schaufel und Karst, kalifornische Minen zu wühlen,
Nach dem entheiligten Berg ziehn sie begehrlich hinaus.
[393]
Deutsche Muse, du weinst? – »Einst war ich die Tochter des Himmels
Eueren Dichtern; ein Fest bracht' ich, sobald ich erschien.
Jetzt im Gewande der Magd, auf der Stirn unwürdige Tropfen,
Muß ich um schnöden Gewinn fröhnen im Qualm der Fabrik.«
Aus dem Tempel der Kunst wann geißelt ein anderer Lessing
Zürnend wieder den Schwarm feilschender Krämer hinaus?
Nicht um die Gunst mehr frein sie der Muse, sie frein um die Mitgift,
Und im gemeinen Erwerb stirbt das entweihte Talent.
Neue Theater zu baun, stets zeigt ihr euch willig und schmückt sie
Prächtig von außen und stellt eure Poeten davor;
Aber im Inneren bleibt's, wie es war, und der prunkende Becher
Wird mit schalem Getränk heute wie gestern gefüllt.
Sorgt doch lieber für edleren Wein! Wir würden mit besserm
Dank ihn schlürfen, und wär's aus dem bescheidensten Krug.
Seit der Gewinnanteil euch zufiel, treibt ihr das Dichten
Nur als Geschäft noch und bringt, was dem Philister behagt:
Possen und schlüpfrige Späße, versetzt mit moralischer Rührung,
Oder auf Stelzen dahin klappernde dürre Tendenz.
Freilich, der Kasse gedeiht's, und ihr schafft euch jedes Behagen,
Aber ein Lorbeerblatt trägt das Gewerbe nicht ein.
[394]
Laßt vom barbarischen Brauch und ruft zu der tragischen Muse
Festlich geschmückten Altar wieder die Schwester herein!
Von dem Gewühle des Tags zu Melpomenes reinen Gestalten
Kann euch die Brücke von Gold nur Polyhymnia baun.
Wie der Gewaltigste selbst im Kampf mit den Mächten des Schicksals
Hinsinkt, wenn er vom Pfad irrend in Schuld sich verstrickt,
Zeigt die Tragödie dir und erschüttert in Furcht dich und Mitleid,
Weil der Verirrung auch du fähig dich fühlst und der Schuld.
Könige führ' uns der Tragiker vor und vergangene Zeiten,
Doch der Komöde das Volk, wie es sich heute gebart.
Tief zu erschüttern vermag uns ein bürgerlich Drama, doch bleibt ihm
Eines versagt: das Gemüt wieder vom Druck zu befrein,
Weil uns die Nähe des Stoffs zudringlich beklemmt und im engen
Kreise dem Helden der Raum fehlt zu erhabenem Fall.
Wenn aus vergangener Zeit ein Geschick uns der tragische Dichter
Vorführt, form' er den Stoff frei, wie die Muse gebeut.
Lebt in sich selber das Werk, so mag's der historische Krittler
Immer bemängeln, der Kunst hat es Genüge getan.
Episch ist fertige Tat, der Dramatiker zeigt denEntschluß uns,
Wie er im Kampfe der Brust reift und zur Handlung erwächst.
[395]
Zweifelt, so lang ihr entwerft, doch mitten im Gusse des Kunstwerks
Denkt an den Spruch der Kritik, denkt an das Publikum nicht!
Nicht bloß strömende Fülle, den Genius zeigt die Geduld auch,
Die, wenn karger der Strom flutet, zu warten versteht.
Wollt ihr Schätze gewinnen und Macht, so tut euch zusammen,
Aber das Schöne gelingt ewig dem einzelnen nur.
Irre die Mutigen nicht. Oft glückt leichtblütiger Jugend,
Was bei gediegnerer Kraft zweifelnd das Alter nicht wagt.
Bringt mir das Lustspiel nichts als ein geistlos Bild des gemeinen
Lebens, was brauch' ich darum erst ins Theater zu gehn?
Weichliche Rührung erschlafft das Gemüt; die Erschütterung stählt es,
Aber die sinkende Kunst badet in Tränen sich gern.
Züchtig und klar ist die Kunst; ihr sucht sie im Rausche der Sinne;
Wenn euch der Schwindel ergreift, glaubt ihr begeistert zu sein.
Weil dir die Nerven der Duft aufstachelt des spanischen Pfeffers,
Trägt er deswegen den Sieg über die Rose davon?
Ob dich ein Genius führt, nicht weiß ich's, aber ein Dämon
Hat dich die Schwächen der Zeit meisterlich nutzen gelehrt.
[396]
Wer den beklemmenden Dunst im Gewächshaus lange gesogen,
Atmet erquickt tief auf, tritt er hinaus in den Mai;
Also atmet' ich auf vom Druck musikalischer Stickluft,
Als du, Figaro, jüngst wieder vorüber mir zogst.

5.

Sei mir gegrüßt, o klingender Frost, du bringst uns die Sonne
Wieder zurück; tiefklar wölbt sich das schimmernde Blau;
Siehe, da drängt sich die Jugend hinab zur spiegelnden Eisbahn,
Welche des Nordwinds Hauch über der Tiefe gebaut.
Auf der gediegenen Flut welch buntes Gewimmel! Es wiegt sich
Weithin kreisend die Schar auf dem beflügelten Stahl.
Wie sie sich suchen und fliehn! Hell flattern die Schleier der Mädchen,
Wo sich die Lieblichste zeigt, stürmen die Jünglinge nach.
Zaghaft, nahe dem Ufer versucht sich der Mindergeübte,
Doch in die Weite des Sees lockt es den Meister hinaus.
Über dem Spiegel von Eis am Hang lehnt sitzend ein schlankes
Mädchen, sie hat das Gewand eben zum Laufe geschürzt.
Vor ihr kniet dienstfertig ein Knab', und mit glücklichem Lächeln
Schnürt er den blanken Kothurn ihr an den zierlichen Fuß.
Welch anmutiges Bild, wie sie freundlich zu ihm sich herabneigt,
Daß ihr Odem das Haar sanft ihm, das lockige, streift,
Während er treu sich bemüht, kunstmäßig die Riemen zu schlingen,
Und den gehobenen Fuß fast mit den Lippen berührt.
[397]
Zögernd wend' ich mich ab und gedenk' im erinnernden Herzen,
Wie ich den reizenden Dienst einst Melusinen getan.
In das verschneite Gefild' mit stattlich befiederten Rappen
Fliegt, von Schellengeläut klingend, ein Schlitten hinaus.
Weithin blitzt das Metall des Geschirrs, und die Vliese der Pardel,
Prächtig mit Purpur gesäumt, blähn sich gehoben im Wind.
Aber die Jungfrau schmiegt an den Freund sich mit brennenden Wangen,
Der das erlesne Gespann kräftig und sicher beherrscht.
Eros flattert den Rossen voraus, und im gastlichen Forsthaus
Für das begünstigte Paar deckt er den Tisch am Kamin.
Kahl steht jeglicher Strauch, doch läßt uns der Winter die Rosen,
Die er der Erde geraubt, feurig am Himmel erblühn.
Sieh, welch seliger Glanz aus den lodernden Gärten herabströmt!
Über das silberne Feld flutet ein purpurner Duft,
Und der entblätterte Wald, vom Rauhreif zierlich umfiedert,
Glüht, in den Schimmer getaucht, rot wie Korallengeäst.

6.

Nichts ist so ganz mir verhaßt, wie verstimmt hochmütige Trägheit;
Wenn dir die Krone gebührt, geh und erobre sie dir!
Aber vermagst du es nicht, so laß dein Schmollen und Zaudern,
Lern' in bescheidenem Kreis tüchtig und tätig zu sein.
[398]
Freilich verdammt ihr mit Fug den poetischen Dilettantismus,
Doch noch bedenklicher scheint euer politischer mir;
Denn das Regieren verlangt wie das Dichten den Meister; es wirkt nur
Weiter ein töricht Gesetz als ein verfehltes Gedicht.
Unglückselig Geschick, daß sich meist in brennendem Ehrgeiz
Grade das halbe Talent an das Erhabenste wagt!
Nach der ambrosischen Frucht wie Tantalus streckt es die Hand aus,
Aber der Zweig ist zu hoch, aber der Arm ist zu kurz.
»Bester, ein Sträußchen für mich!« Da mäht er den Anger und schüttet
Unkraut, Blumen und Gras hoch mir vom Karren vors Haus.
Freilich, zum Strauße genügt's. Doch wüßt' ich besseren Dank ihm,
Hätt' er sich selber und mir leichter die Freude gemacht.
Nicht zu früh mit der Kost buntscheckigen Wissens, ihr Lehrer,
Nähret den Knaben mir auf; selten gedeiht er davon.
Kräftigt und übt ihm den Geist an wenigen würdigen Stoffen;
Euer Beruf ist erfüllt, wenn er zu lernen gelernt.
Königin ist die Gestalt; ihr dient anmutig die Farbe,
Wie ein köstliches Kleid schöner die Schöne dir zeigt.
Aber entferne den Schmuck, und sie mag dich noch immer bezaubern,
Während das leere Gewand jede Bedeutung verliert.
Heut noch stöbert der Schnee, wie gestern; aber es weht mir
Still durchs tiefste Gemüt Ahnung des Lenzes dahin.
[399]
Wem verdank' ich das süße Gefühl? Seid ihr's, Hyazinthen,
Die ihr am Fenster den Kelch träumerisch duftend erschließt,
Ist's mein Töchterchen dort im Gemach, das, leise zur Arbeit
Singend, mich an das Geschwirr steigender Lerchen gemahnt?

7.

Was Empedokles einst mich gelehrt, hier leg' ich es nieder,
Wie ich's im eignen Gemüt häufig erwogen behielt:
Wandlung ist das Geheimnis der Welt. In steter Entfaltung
Unabsehlich gestuft bildet das Leben sich aus.
Unter den gröberen Stoffen gebunden zugleich und behütet
Dehnt sich der edlere Keim still zur Befreiung empor.
Also schläft in der Schale des Ei's das geflügelte Vöglein,
So in der Puppe Gehäus reift sich der Schmetterling aus.
Und so tragen auch wir umhüllt vom irdischen Körper
Schon im Innern den Keim eines veredelten Leibs,
Jenen ätherischen Strom, der, über die Nerven ergossen,
Flüssig, empfindlich und zart jegliches Glied uns durchdringt.
Dieser, sobald in den Staub die verwesliche Hülle zurücksinkt,
Strömt mit dem ewigen Teil von der erkaltenden aus,
Und nach außen gekehrt, zur Gestalt sich formend, umschließt er
Mit durchsichtigem Kleid leicht den unsterblichen Geist,
Körperlich zwar, doch zartesten Stoffs, unfaßlich dem Auge,
Nur im Schauder vielleicht noch von den Sinnen erkannt.
[400]
Aber das Neue geleitet alsdann ein verborgener Ratschluß
Auf vielstufigem Pfad neuen Entfaltungen zu.

8.

Nicht wie die Mumie sei, dem Phönix gleiche die Kirche,
Der sich den Holzstoß selbst türmt, wenn die Kraft ihm erlahmt.
Freudig den sterblichen Leib, den gealterten, gibt er den Flammen,
Weiß er doch, daß ihn die Glut jugendlich wiedergebiert.
Gebt ihr dem Göttlichen irdische Form, wie wollt ihr es hindern,
Daß sie das irdische Los alles Vergänglichen teilt?
Alternd erstarrt sie zuletzt, und im Drucke verkümmert der hohe
Inhalt, oder zersprengt, sich zu befrein, das Gefäß.
Statt sich des Wissens der Welt zu bemächtigen, zieht sich die Kirche
Von den Gedanken des Tags weiter und weiter zurück,
Lebt in vergangener Zeit und spricht in verschollenen Zungen,
Ach, und verwundert sich dann, daß sie der Tag nicht versteht.
Stets aufs neue versucht ihr den Strom im Becher zu fassen:
Was im Gemüt nur lebt, prägt ihr zu starrem Begriff;
Religion wird Theologie und Glaube Bekenntnis;
Aber die Formel erzeugt täglich erneuerten Zwist.
Unsichtbar wie das Wasser den Baum von der Wurzel zum Gipfel
Tränkt und jeglichem Zweig Blätter und Blüten erweckt,
[401]
So durchströme mit Kraft dein innerstes Wesen der Glaube,
Doch man erkenn' ihn nur an der gezeitigten Frucht.

9.

Spanisches bringt mir die Post? Was seh' ich! Die eigenen Lieder
Sind's; im kastilischen Vers staunend erkenn' ich mich selbst.
Was ich als Jüngling sang, wie vertraulich zugleich und wie fremd doch
Grüßt es mich hier und erscheint frischer und zierlicher fast,
Wie mein Töchterchen jüngst, zum Faschingsballe gerüstet
In des Zigeunergewands Flittern mir doppelt gefiel.
Harmlos warf ich euch hin, ihr Gesänge der Jugend, und immer
Blieb mir ein Rätsel die Gunst, die man so reich euch gewährt;
Denn leichtwiegend erscheint ihr zumeist dem gereifteren Urteil;
Nur im melodischen Hauch schwebt ihr gefällig dahin.
Aber ich darf mich rühmen, daß nie der Erfolg mich verblendet,
Daß ich des Kranzes Geschenk treu zu verdienen gestrebt.
In die Tiefen der Brust und des Weltlaufs sucht' ich zu dringen,
Und mit heiligem Ernst rang ich zum Gipfel der Kunst.
Viel zwar blieb mir versagt, doch reift auch manches im stillen,
Dran sich ein deutsches Gemüt wohl zu erfreuen vermag,
Wenn ich die Rätsel der Zeit und des Herzens im Liede zu deuten
Oder im ernsten Kothurn festlich zu schreiten gewagt.
[402]
Und so bitt' ich: Verzeiht, was wild und jugendlich aufschoß,
Und im wuchernden Laub laßt euch gefallen die Frucht!
Durchs Helldunkel der Nacht hinschreit' ich am Hafen; die feine
Sichel des Halbmonds schwebt über den Giebeln der Burg.
Rings in der Stadt kein Laut! Nur fern in den Lüften ein Brausen
Hör' ich, und unter dem Eis schluchzen die Wasser des Stroms,
Und im gelinderen Hauch, der plötzlich Wangen und Stirn mir
Anrührt, flattert ein Gruß, nahender Frühling, von dir.
Aus dem erwachenden Forst heimkehrend bringt mir ein holdes
Kind Schneeglöckchen zum Fest, frisch an der Halde gepflückt.
O willkommen im Strauß, ihr Erstlingskinder der Sonne!
Euer gewürziger Hauch duftet wie Jugend mich an,
Und, den gemessenen Ernst abstreifend der Wintergedanken,
Sehnt sich nach freierem Spiel, vollerem Klange das Herz.
Liegt, ihr Glöckchen, denn hier bei dem letzten der Distichen! Morgen
Spann' ich zu Lenzmelodien andere Saiten mir auf.
[403]

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Distichen aus dem Wintertagebuche. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BB4B-E