Platens Vermächtnis

Noch schweift der kräft'ge Geist auf fernen Bahnen,
Und rasch durch diese Adern pocht das Leben;
Doch Stimmen gibt's, geheime, deren Mahnen
Das Herz umsonst sich müht zu widerstreben,
[105]
Und mir verkündet solch ein dunkles Ahnen:
Bald muß ich diesen Staub dem Staube geben,
Und den sie mir im Leben nicht gestatten,
Der Lorbeer wird auf meinem Grabe schatten.
Sei's immer. Ich erfüllte meine Sendung,
Ein rastlos treuer Priester der Kamönen;
Ich deutete mit jeder leisen Wendung
Ein Fackelträger nach dem Reich des Schönen.
Umwallt vom Königsmantel der Vollendung
Schritt mein Gesang dahin in Feiertönen,
Und was vordem den Griechen nur gelungen,
In deutscher Rede hab' ich's nachgesungen.
Zwar habt ihr selten meinen Ernst begriffen
Und nie das Ziel bedacht, das ich erkoren;
Zu meinem Spotte habt ihr grell gepfiffen,
Denn seine Wahrheit kitzelt nicht die Ohren,
Und wie der Wogenschlag an Felsenriffen,
Ging selbst des Liedes Maß an euch verloren;
Doch wie ihr mich verleugnet und mein Dichten,
Ich bin getrost, die Nachwelt wird mich richten.
Ist auch das Saatkorn noch nicht aufgegangen,
Das ich gestreut in unsrer Heimat Boden,
Verzagt ihr auch, von Kleinmut noch befangen,
Des Unkrauts träge Wildnis auszuroden:
Erscheinen wird der Tag, wo mit Verlangen
Den Aschenkrug ihr suchet des Rhapsoden,
Der ringend nach der Schönheit goldnen Früchten
Vor eurem Groll zum Süden mußte flüchten.
Dann wird der deutsche Wald von Liedern schallen,
Die prächtig wie auf Adlersflügeln rauschen,
Der heitre Süden wird zum Norden wallen,
Um seines Ernstes Schätze einzutauschen.
Und heilig wird der Sänger sein vor allen,
Und fromme Hörer werden rings ihm lauschen.
Was soll ich drum den frühen Tod beweinen? -
Der Dichter lebt, solang die Sterne scheinen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Jugendgedichte. Drittes Buch. Athen. Platens Vermächtnis. Platens Vermächtnis. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BF70-B