4.

Einsam trauert Apoll. Wann denkt noch seiner ein Jüngling?
Heute beherrscht den Parnaß Plutus, der blendende Gott;
Siehe, mit Schaufel und Karst, kalifornische Minen zu wühlen,
Nach dem entheiligten Berg ziehn sie begehrlich hinaus.
[393]
Deutsche Muse, du weinst? – »Einst war ich die Tochter des Himmels
Eueren Dichtern; ein Fest bracht' ich, sobald ich erschien.
Jetzt im Gewande der Magd, auf der Stirn unwürdige Tropfen,
Muß ich um schnöden Gewinn fröhnen im Qualm der Fabrik.«
Aus dem Tempel der Kunst wann geißelt ein anderer Lessing
Zürnend wieder den Schwarm feilschender Krämer hinaus?
Nicht um die Gunst mehr frein sie der Muse, sie frein um die Mitgift,
Und im gemeinen Erwerb stirbt das entweihte Talent.
Neue Theater zu baun, stets zeigt ihr euch willig und schmückt sie
Prächtig von außen und stellt eure Poeten davor;
Aber im Inneren bleibt's, wie es war, und der prunkende Becher
Wird mit schalem Getränk heute wie gestern gefüllt.
Sorgt doch lieber für edleren Wein! Wir würden mit besserm
Dank ihn schlürfen, und wär's aus dem bescheidensten Krug.
Seit der Gewinnanteil euch zufiel, treibt ihr das Dichten
Nur als Geschäft noch und bringt, was dem Philister behagt:
Possen und schlüpfrige Späße, versetzt mit moralischer Rührung,
Oder auf Stelzen dahin klappernde dürre Tendenz.
Freilich, der Kasse gedeiht's, und ihr schafft euch jedes Behagen,
Aber ein Lorbeerblatt trägt das Gewerbe nicht ein.
[394]
Laßt vom barbarischen Brauch und ruft zu der tragischen Muse
Festlich geschmückten Altar wieder die Schwester herein!
Von dem Gewühle des Tags zu Melpomenes reinen Gestalten
Kann euch die Brücke von Gold nur Polyhymnia baun.
Wie der Gewaltigste selbst im Kampf mit den Mächten des Schicksals
Hinsinkt, wenn er vom Pfad irrend in Schuld sich verstrickt,
Zeigt die Tragödie dir und erschüttert in Furcht dich und Mitleid,
Weil der Verirrung auch du fähig dich fühlst und der Schuld.
Könige führ' uns der Tragiker vor und vergangene Zeiten,
Doch der Komöde das Volk, wie es sich heute gebart.
Tief zu erschüttern vermag uns ein bürgerlich Drama, doch bleibt ihm
Eines versagt: das Gemüt wieder vom Druck zu befrein,
Weil uns die Nähe des Stoffs zudringlich beklemmt und im engen
Kreise dem Helden der Raum fehlt zu erhabenem Fall.
Wenn aus vergangener Zeit ein Geschick uns der tragische Dichter
Vorführt, form' er den Stoff frei, wie die Muse gebeut.
Lebt in sich selber das Werk, so mag's der historische Krittler
Immer bemängeln, der Kunst hat es Genüge getan.
Episch ist fertige Tat, der Dramatiker zeigt denEntschluß uns,
Wie er im Kampfe der Brust reift und zur Handlung erwächst.
[395]
Zweifelt, so lang ihr entwerft, doch mitten im Gusse des Kunstwerks
Denkt an den Spruch der Kritik, denkt an das Publikum nicht!
Nicht bloß strömende Fülle, den Genius zeigt die Geduld auch,
Die, wenn karger der Strom flutet, zu warten versteht.
Wollt ihr Schätze gewinnen und Macht, so tut euch zusammen,
Aber das Schöne gelingt ewig dem einzelnen nur.
Irre die Mutigen nicht. Oft glückt leichtblütiger Jugend,
Was bei gediegnerer Kraft zweifelnd das Alter nicht wagt.
Bringt mir das Lustspiel nichts als ein geistlos Bild des gemeinen
Lebens, was brauch' ich darum erst ins Theater zu gehn?
Weichliche Rührung erschlafft das Gemüt; die Erschütterung stählt es,
Aber die sinkende Kunst badet in Tränen sich gern.
Züchtig und klar ist die Kunst; ihr sucht sie im Rausche der Sinne;
Wenn euch der Schwindel ergreift, glaubt ihr begeistert zu sein.
Weil dir die Nerven der Duft aufstachelt des spanischen Pfeffers,
Trägt er deswegen den Sieg über die Rose davon?
Ob dich ein Genius führt, nicht weiß ich's, aber ein Dämon
Hat dich die Schwächen der Zeit meisterlich nutzen gelehrt.
[396]
Wer den beklemmenden Dunst im Gewächshaus lange gesogen,
Atmet erquickt tief auf, tritt er hinaus in den Mai;
Also atmet' ich auf vom Druck musikalischer Stickluft,
Als du, Figaro, jüngst wieder vorüber mir zogst.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Spätherbstblätter. Distichen aus dem Wintertagebuche. 4. [Einsam trauert Apoll. Wann denkt noch seiner ein Jüngling]. 4. [Einsam trauert Apoll. Wann denkt noch seiner ein Jüngling]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C05F-E