[83] Die Sehnsucht des Weltweisen

Die fernen Flöten hör' ich schallen,
Der Feierhymnus wogt darein;
Es wälzt sich zu des Tempels Hallen
Des Volkes Strom im Morgenschein.
Der Knaben rote Fackeln strahlen
Auf weißer Festgewandung Zier;
Die Priester tragen goldne Schalen
Und führen den bekränzten Stier.
Wohl möcht' ich mit den andern ziehen
Und jubeln in des Opfers Rauch;
Doch auf den Stufen, da sie knieen,
Umsäuselt mich kein Lebenshauch.
Der Kindheit milde Schleier sanken,
Die mich umfangen lieb und eng,
Und vor dem siegenden Gedanken
Erlag der Götter bunt Gedräng'.
Doch wie sich des Olymps Gestalten
Gleich Träumen lösten nebelhaft,
Da war es mir, als flöss' ihr Walten
Zurück in eine heil'ge Kraft;
Aus allem, was der Tag vollendet,
Spricht göttlich hoch ein ein'ger Sinn,
Und meine Seele stürzt geblendet
Vor dieses Reichtums Füllen hin.
O du, den ich zu nennen zage,
Du ew'ger Geist, des reines Licht
Noch durch den Dunst der Göttersage
In tausend Farben spielend bricht;
Den sie in tausend Bildern ehren,
Und dem doch nie ein Bildnis glich,
Du, den ich nimmer kann entbehren,
Du Einziger, wie fass' ich dich!
Im Weltall sucht' ich ohn' Ermatten
Dich zu ergründen voll und ganz;
Doch nachts verhüllst du dich in Schatten
Und birgst am Tage dich im Glanz.
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Und wenn das Morgenrot mich weckte,
Und überglüht aus meinem Traum
Die Hand ich tastend darnach streckte:
Es war nur deines Kleides Saum.
Wohl ruft der Donner deinen Namen,
Wohl zeigt der Blitz uns deine Spur;
Doch, ob sie deine Boten kamen,
Sie bringen halbe Kunde nur.
O, was von dir die Dinge stammeln
Mit dunkelm Deuten fort und fort.
Wirst du's, Erhabner, nie versammeln
In ein lebendig klares Wort?
Wird nie dein liebender Gedanke
Voll Wehmut über unser Leid
Herab sich neigen in die Schranke
Der sehnsuchtbangen Sterblichkeit?
Wirst nie dein blendend Licht du lassen,
Dich nah und menschlich kundzutun,
Daß wir mit Armen dich umfassen
Und fromm an deinem Busen ruhn?
Ach, tief in meiner Seele Grunde,
Da schläft ein Ahnen wundervoll:
Der Lauf der Zeiten bringt die Stunde,
Da solches Heil geschehen soll.
O selig, denen du dein Wesen
Dann sichtbar hold entgegensenkst,
Die du zu himmlischem Genesen
Aus deines Lebens Adern tränkst!
Dann wird der Baum der Menschheit grünen;
Dann werden ihren alten Zwist
Der Himmel und die Erde sühnen
Durch den, der beider teilhaft ist.
Ein sanftes Leuchten wird durchdringen
Des Schicksal unverstandne Pein;
Das Leben wird den Tod verschlingen,
Und ein Gesetz der Liebe sein.

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TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Neue Gedichte. Vermischte Gedichte. Zweites Buch. München. Die Sehnsucht des Weltweisen. Die Sehnsucht des Weltweisen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C18E-9