AUS: DIE ABENDE
DER SCHREI

An ödem teich wo braunes wasser steht
Hängt an ein schilfrohr sich ein abendstrahl –
Verzweifelt tönt ein schrei · ein vogelschrei –
Ein schwacher schrei der fern ersterbend weint.
Wie ist er schwach und dünn und scheu und fein ·
Wie er in traurigkeit sich zieht und wiegt ·
Wie er sich dehnt und mit dem weg sich senkt
Und sich verliert am stummen horizont!
Wie seines röchelns takt die stunde schlägt
Und wie in seinem kläglich schwanken ton
Und seinem hinkend leisen widerhall
Die abendschmerzen schüchtern sich beklagen!
Manchmal so leise dass man kaum ihn hört
Besingt er dennoch ohne unterlass
Erloschnen lebens abschied düster zart
Die armen toten und den armen tod.
[109]
Den tod der blumen und den tod der falter
Den sanften tod von flügel halm und duft
Der fernen klaren flüge die erstarrten
Und die gebrochen ruhn in gras und moos.

[110] DIE BÄUME

Wenn schon die erde feuer- und purpurrot
Unter der sterbenden sonne des herbstes flammt
So sieht man von einem kreuzweg einsam und fahl
Die bäume · die pilger · ins unendliche ziehn.
Die pilger wandeln in ihrer betrübnis gross
Gedankenvoll langsam und fromm auf den wegen am abend ·
Die pilger riesenhaft schwer · und lassen ihr laub
Von tränen und trauer und bitterkeit sinken.
Die pilger wandeln geheimnisvoll dahin ·
In zweien reihen immer · seit wievielen jahren?
Zum himmel immer und seiner verblichenen pracht
Und seinem magneten herrisch und unüberwindlich.
Die pilger tragen mäntel ganz aus strahlen ·
Gezackt durch den verscheidenden abendglanz.
Sie scheinen wie goldne kleider auf einem weg
Dahin gezogen von weihrauch und staub.
[111]
Die pilger mit ihren wirren und buschigen häuptern
Bei ihrem vorüberwallen werden beschaut
Von mystischen weilern und frommen dörfern
Die im gebet sich beugen und niederknien.

[112] DIE MÜHLE
(ERSTE FASSUNG)

Die mühle dreht im tiefen abend leise
Auf einem himmel voll von weh und trauer ·
Sie dreht und dreht. Ihr hefenfarbnes segel
Ist trüb und schwach und ist unendlich müd.
Seit früh hat sie die arme wie zur klage
Gehoben und gesenkt und wieder nun
Entsinken sie in der geschwärzten luft
Im vollen schweigen der erstorbnen welt.
Ein weher wintertag entschläft in weiten ·
Die wolken sind des düstren zuges müde
Die hecken ziehen ihre schatten ein
Die gleise gehn nach toten horizonten.
Am feldrand ein paar hütten aus gebälk
Sind ganz armselig hin im kreis gelagert ·
Das kupferlämpchen von der decke hängend
Bezieht mit seinem feuer wand und fenster.
[113]
Und in der ebne und entschlafnen leere
Betrachten sie · die kläglichen verstecke ·
Mit armen augen aus zersplissnen scheiben
Der alten mühle drehn und drehn und sterben.
[114][117]

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TextGrid Repository (2012). George, Stefan. Aus: Die Abende. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D0C7-1