[156] Der Verlehrer

»Herein!« rief es draußen. Ich klopfte. Es trat
In mein Zimmer mit freundlichen Mienen
Ein Wesen, halb Mensch und halb Kranich, und bat
Mich, mich seines Talents zu bedienen.
»Ihre Kinder vom Leiden der Kunst zu befrei'n,
Dürften Wen'ge wie ich so befähiget sein.«
»Ich bin«, so sprach er, »ein hehrer
Pianoforte-Verlehrer.«
»Verlehrer?« fragte erstaunt ich und ließ
Mir von Lotten, der Gräfin, erklären,
Daß die Mütter hier allesammt lauter Genie's
Für das Fortepiano gebären!
Daß der Säugling Sonaten, die schwierigsten, schon
Mit Bravour und mit technischer Perfektion,
Noch ehe »Mamachen« er plappert
Prima vista vom Blatte abklappert!
Ja, daß Manche, den Beutel des Lutsch's noch im Mund,
Schon sehr geistvoll und tief phantasirten,
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Ja, sogar Generalbaß durchgrübelten und
In den Windeln bereits componirten!
Und daß, falls man ihnen entzieht das Klavier,
Die armen, geniekranken Würmerchen schier
Wie Rasende strampeln und trappeln,
Und balde zu Tode sich zappeln!
Und so sei denn in keinem Familienkreis
Der Verlehrer allhier zu entbehren,
Der, die Kinder zu retten, mit Sorgfalt und Fleiß
Ihre Kunst sie verlernen muß lehren,
Auf daß sie, anstrebend ein nützliches Ziel,
Sich selbst nicht verzehren im tobenden Spiel,
Und nicht martern die lieben Verwandten
Und alle die guten Bekannten.
Ich lachte hell auf und erklärte dabei
Des Meisters der Umkehr-Kunst Bitte
Als nicht hier am Platz, da ich kinderlos sei
Und Selbst am Piano nicht litte.
Denn daß ich mit Einem der Finger der Hand
Arndt's deutsches, stets fragliches Vaterland
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Könn' spielen, das, meint' ich, sei schwerlich
Für meine Gesundheit gefährlich.

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TextGrid Repository (2012). Glaßbrenner, Adolf. Gedichte. Die Verkehrte Welt. Zweiundzwanzigstes Kapitel. Der Verlehrer. Der Verlehrer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D779-4