[85] [99]Erstes Lied

Im Schweiße meines Angesichts
Will ich mein Brod genießen,
Und meine Wassersuppe; nichts
Soll mich dabey verdrießen!
Nicht dies, daß unter Gottes Fluch
Nicht alle Menschen schwitzen!
Nicht dies, daß Menschen, faul genug
Sich ansehn, stille sitzen,
Und thun, als wären sie gemacht
Ohn' einen Fuß zu rühren,
Mit ihrer bunten Kleiderpracht
Die Erde zu verzieren;
[99]
Und sehn, aus ihrem Schlafgemach,
Nur Mittagssonne scheinen;
Sehn arme Waisen weinen, ach!
Und ohne mit zu weinen!
Und sehen Thränen in den Fleiß
Des armen Manns sich mischen;
Und sehen täglich seinen Schweiß,
Und ohn' ihn abzuwischen!
Und sehen, daß er wie ein Thier
Sich fast zu Tode quälet;
Nur dieses will ich, daß es mir
An keiner Arbeit fehlet.
An Arbeit fehlen muß es nicht,
Sonst muß er betteln gehen,
Der Mann, in dessen Angesicht
Die Schweißestropfen stehen!
Er muß! – Er krümmt und windet sich
Vor eine Thür zu treten,
Und Vater unser jämmerlich
Zu singen, und zu beten.
Er muß! Er geht von Haus zu Haus,
Ein Tagewerk zu finden;
Scharf sucht er; Ungeduld bricht aus,
Sein Hunger keimet Sünden.
Er findet keins. Er muß! ach Gott,
Er muß, ein Bettler, gehen,
Muß laufen, um ein Stückchen Brodt
Die Herzen anzuflehen.
Und welche Herzen? Hart wie Stein,
Wie Felsen! ach, ihr Christen!
Daß viele doch, nicht hart zu seyn,
Ihr Brod erbetteln müßten;
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Nur einen Tag! sie würden sehn,
Daß Menschenliebe fehlet,
Und, daß sein bißchen Brod erflehn
Die ganze Seele quälet!
Die ganze Seele! Kummer liegt
Auf ihr! Von Leibesnöthen
Wird sie bestürmt, wird sie besiegt,
Und – ach! die Seele tödten
Wird der von Hunger matte Leib;
Sich helfen, und sich rathen,
Will er, und kan nicht; Kind und Weib
Reißt ihn zu Missethaten!
Ach Gott! behüte, großer Gott,
Daß ich es nicht erfahre!
Gieb, daß ich mir mein täglich Brod
Erwerbe, daß ich spare,
So viel ich kan, für Weib und Kind
Und mich, wenn ich erkranke;
Damit, wenn böse Tage sind,
Ich dann auch dir noch danke,
Für die Erlassung meiner Schuld
Ach! ich, ein armer Sünder!
Erflehend Langmuth und Geduld
Für mich und meine Kinder,
Und alle Menschen! Gott ist gut,
Ist Vater, ist Erbarmer!
Uns alle hört er! Böses thut
Ein reicher, und ein armer,
Ein weiser und ein dummer Christ;
Gott leitet es zum Guten!
Wenn ein Tyrann im Harnisch ist,
Und Unterthanen bluten,
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Auch da lenkt er den rothen Bach
Des Blutes, eine Krümme,
Der guten großen Absicht nach,
Nicht im Tyranen-Grimme.
Die Menschen, reich und arm, glaub' ich,
Sind alle meine Brüder,
Sind, all' in einer Kette, sich
Des großen Staates Glieder,
Zu dessen Wohlseyn jedes führt,
Dies viel, und jenes wenig,
Den oben unser Gott regiert,
Und unten unser König!
In diesem Staat bin ich vergnügt,
Mir lächelt jeder Morgen;
Ich singe mein: Wie Gott es fügt!
Und lasse beyde sorgen!
Gott giebt dem Armen seine Zeit,
Dem Reichen seine Mittel,
Dem Ritter sein besetztes Kleid,
Dem Bauer seinen Kittel!
Und seinen Kittel nicht einmal
Dem Sklaven, der, gedrücket
Zu schwerer Arbeit, Noth und Qual,
Zum Himmel Seufzer schicket.
Er nahm zum Erbe der Natur
Kein Blut der Purpurschnecken!
Er seufzet, seine Blöße nur
Mit Lumpen zu bedecken!
Mit Lumpen nur, mit Lumpen, ach!
Ihr Reichen könnt ihr sehen,
[102]
Ihn, euren Bruder, alt und schwach,
In seiner Blösse gehen?
Aus solcher Blöß' erzeugen sich
Des Todes böse Seuchen,
Und dann ersterben jämmerlich
Die Armen sammt den Reichen!
Die Reichen alle mögen sich
In Gold und Seide kleiden,
Und schmausen; Christen, sie will ich,
Ich Armer, nicht beneiden.
Sie mögen ohne Leibesnoth
In Erdenfreuden leben;
Nur, ihre Herzen rühre Gott,
Daß sie uns Arbeit geben!

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TextGrid Repository (2012). Gleim, Johann Wilhelm Ludwig. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. Erstes Lied. Erstes Lied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-DAD9-9