Ueber den Tod Herrn Christian Ludewigs, der heiligen Schrift Doctors und Professors des Arist. Organ. zu Leipzig

1732 den 20 Jenner.


Im Namen des Colleg. U.L.F.


Seit dem der Weise von Stagyr
Dem Denken Regeln vorgeschrieben,
Und unsre forschende Begier
Bis auf den höchsten Punct getrieben;
Seit dem der neuen Lehrer Zunft
Die Kunst noch mehr geprüft, gebessert und erläutert:
Sind auch die Kräfte der Vernunft,
Durch ungemeinen Fleiß, unendlich sehr erweitert.
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Des Erdballs Umkreis ist erkannt,
Sein Inhalt durch und durch gemessen;
Die lange Ruh ist ganz verbannt,
Darinn er vor der Zeit gesessen.
Er muß, nach der Planeten Art,
Um seinen Mittelpunkt, den Sonnenkörper rollen:
Da dieser seinen Lauf erspart,
Und alle Sterne sonst geruhig stehen sollen.
Man schreibt dem Laufe der Natur
Die ordentlichsten Grundgesetze;
Man kömmt auf ihrer Kräfte Spur,
Und findet der Bewegung Schätze.
Man weis, was in den Lüften kracht,
Und was den Ocean zur Fluth und Ebbe zwinget?
Was Schlossen, Sturm und Regen macht?
Warum die Erde bebt, warum ihr Abgrund springet?
Man hat den Menschen selbst erforscht,
Und seiner Glieder Bau zerleget;
Man weis, was unsern Leib zermorscht,
Und wie das Herz im Busen schläget.
Man hat den Gliedern nachgespürt,
Die manchen Nervengang in das Gehirne schicken,
Von dem, was sie von außen rührt,
Dem Geiste, der da wohnt, die Bilder einzudrücken.
Man hat so gar des Geistes Kraft,
Der uns zu Menschen macht, ergründet;
Und kennt mit guter Wissenschaft,
Was in uns denket und empfindet.
Man thut sein einfach Wesen dar,
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Das keine Fäulniß trennt, kein Moder kann verderben;
Und macht es durch Beweise klar,
Daß unsre Seelen nicht, wie diese Körper, sterben.
Was giebt nicht ferner der Verstand
Für auserlesne Sittenlehren?
Er zeugt das Recht, der Völker Band,
Und hilft der Staaten Wohlfahrt mehren.
Er schafft den Bürgern Sicherheit;
Ja wollte man sich stets nach seinen Regeln richten:
So brächt er gar die güldne Zeit,
Davon die Alten sonst die schönsten Fabeln dichten.
O himmlisch wirkende Vernunft!
O unbeschreiblich edles Wesen!
Was Dank verdient der Weisen Zunft,
Die dich zu ihrem Zweck erlesen!
Du gleichfalls, hochverdienter Greis!
Verdienst das ganze Lob, womit wir sie gepriesen;
Indem du, wie ganz Leipzig weis,
Die Regeln der Vernunft so manches Jahr gewiesen.
Gewiesen? Ja! doch auch zugleich
Im Thun und Lassen angewendet;
Im Unglück warst du niemals weich,
Kein großes Glück hat dich verblendet.
Du dientest Gott, der Welt, dem Staat,
Und wolltest jedem gern mit ganzen Kräften dienen:
So daß an dir, aus jeder That,
Ein wahrer Philosoph und rechter Christ erschienen.
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Es lebt dein Ruhm in mancher Schrift,
Was darf ihn dieses Blatt beschreiben?
Das leichtlich Wurm und Motte trifft,
Da jene wohl unsterblich bleiben.
Ruh sanft in deines Grabes Nacht,
Du werther Ueberrest! bis dich die Macht belebet,
Die einst der Welt ein Ende macht,
Und dich, wie deinen Geist, zur Herrlichkeit erhebet.

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TextGrid Repository (2012). Gottsched, Johann Christoph. Gedichte. Gedichte. Oden. Ueber den Tod Herrn Christian Ludewigs. Ueber den Tod Herrn Christian Ludewigs. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-E41B-9