Nicolaus Götz
Versuch eines Wormsers in Gedichten
1745

– – didicit, patriae quid debeat, et quid amicis,

Quo sit amore parens, quo frater amandus.


Horat. Art. Poet.

[5] Wünsche des Dichters

O möcht ich, so wie ihr, geliebten Bienen, seyn!
An innerm Geiste gros, obwohl von Cörper klein;
Möcht ich so schnell, wie ihr, so glücklich im Bemühen
Der Wissenschaften Feld, so weit es ist, durchziehen;
So starck durch Emsigkeit, so fähig durch Natur,
Von Kunst zu Künsten gehn, wie ihr von Flur auf Flur;
Bemüht den treuen Freund durch Nutzen zu ergötzen;
Bereit dem kühnen Feind den Angel anzusetzen.
Wie sehnlich wünscht mein Hertz, daß stets mein Reimgebäu,
An Kunst und Ordnung reich, wie eure Cellen, sey,
Und mein gelinder Vers, wie euer Honig fliesse,
So nahrhaft für den Geist, wie für die Sinnen süsse.
[5]

An Herrn E.C. Weise

Was hör ich hier vor Symphonien?
Und welche freudenvolle Schaar
Liegt auf dem Antlitz und den Knien
Vor dem geheiligten Altar?
Welch eine Gottheit läst sich spüren?
Die Steine scheinen sich zu rühren,
Und jener weisse Marmor haucht.
O dreymal seeliges Gesichte!
Gott zeiget mir in seinem Lichte,
Wen er zu seinem Werckzeug braucht.
O Dichtkunst, Freundin frommer Thronen,
Was schwebt dort für ein edles Bild?
Der Schutzgeist meiner Vangionen
In einen goldnen Duft verhüllt.
Doch wen von seinen klugen Söhnen
Scheint seine rechte Hand zu krönen?
Welch ist sein Namen und sein Lob?
[5]
Ich trag ihn über Feld und Hügel,
So hoch, als ehmahls Pindars Flügel
Den königlichen Kämpfer hob.
Erkenn ihn hier an dem Geleite,
Das sich beschäftigt um ihn dreht.
Die Klugheit geht zur rechten Seite,
Zur lincken Huld und Majestät;
Und die Entschlossenheit und Treue
Bereiten in der schönsten Reihe
Den Weg vor ihm zu unserm Wohl.
Die sinds, die ihn so schön formiret;
Sein Hertze, durch sie angeführet,
Ist ihrer edlen Lehren voll.
Er weis in Winden und in Stürmen,
Wann andre von dem Steuer fliehn,
Das Schif des Staates zu beschirmen,
Und führt es durch die Syrten hin.
Erschaffen, Bürger zu erhalten,
Und fähig, Scepter zu verwalten,
Weis er von keiner Niedrigkeit.
Wann ihn die Bürger zürnen hören,
O Gott! wie fliesen ihre Zähren?
Wie quillt ihr Hertz von bitterm Leyd?
Als ehmals auf Pangäus Höhen
Des Orpheus krumme Leyer klang,
Konnt man an Fels und Flüssen sehen,
Wie sie die Macht der Thonkunst zwang;
Da sah man auf der Ceder Spitzen,
Den Adler still und lauschend sitzen,
Der Lieder Reitz berauschte ihn;
Er senckte nickend sein Gefieder,
Und über seine Augenlieder
Warf sich des Schlafes Wolcke hin:
[6]
So zwingt die Kraft von seinem Gründen
Der Hörer wiederspenstig Hertz.
Er spricht; sein Wort muß überwinden.
Er tröstet, und es fleucht der Schmertz;
Durch seine hohe Art zu dencken,
Wust er auch Könige zu lencken,
Ihm und den Bürgern hold zu seyn.
O Dichtkunst! kan ich mich betrügen?
Wem fällt nicht bey so klaren Zügen
Das Bild des grosen Weisen ein?
Was schimmert aber dort von weiten?
Mein blöder Blick verliert sich gantz.
Ich seh das Gold der künstgen Zeiten,
Ich sehe Worms in neuem Glantz.
Die Bürger lieben sanfte Sitten,
Der Feind im Hertzen wird bestritten,
Der Tugend Mattigkeit erfrischt;
Und Kinder hören auf zu stöhnen,
Weil Weise die gerechten Thränen
Von ihren zarten Wangen wischt.
Er schaffet, daß in unsern Thoren
Der Friede, selbst zur Kriegszeit thront;
Daß Ueberflus, den wir verlohren,
Aufs neu in unsern Kammern wohnt.
Es blühen Wingert, Feld und Auen,
Die Axt erschallt, man höret bauen,
Des Künstlers scharfer Meisel klingt,
Und auf des Rheines klaren Tiefen
Schwimmt ein belebter Wald von Schiffen,
Der uns der Fremden Reichthum bringt.
O Weise, Vater und Vergnügen,
Von Gottes Huld unschätzbar Pfand,
Las dorthin deine Blicke fliegen
In der entbundnen Geister Land.
[7]
Schau da, was künftig ist, im Bilde;
Wem lacht dies gläntzende Gefilde,
Dies seelge Reich voll Herrlichkeit?
Wem sind doch diese Rosenfelder,
Die Blumenflur und Myrtenwälder,
Durch Gottes Finger zubereit?
Nicht Königen, der Wohllust Knechten;
Nicht Herrschern durch den Geitz entzündt;
Nein; nur den Schatten der Gerechten,
Die Väter ihres Volckes sind.
Da herrscht itzt die vollkommne Seele,
Um deren Abschied ich mich quäle,
Erhaben über Tod und Zeit;
Lern, Weise, lern ihr ähnlich werden;
Die Tugend lohnt auf dieser Erden;
Die Tugend lohnt in Ewigkeit.

Bey Erblickung seiner Vaterstadt

Nach so viel überstandnem Kummer
Empfind ich nun, daß diese Ruh
Noch sanfter, als ein Mittagsschlummer
Bey schwülen Sommertagen, thu.
Mein Worms ergötzt mich schon von Ferne;
Wie wird erst die Entzückung seyn,
Kehr ich beym Glantz der Abendsterne
In seinen Mauren jauchtzend ein?
Wofern mich nicht die Sinnen trügen,
So seh ich dich, mein Ithaka!
Wo ich, gewindelt in der Wiegen
Zuerst das holde Tagslicht sah;
[8]
Wo oft mein Vater voll Erbarmen,
In seinem Leben zu mir kam,
Und mich von meiner Mutter Armen
Mit liebesvollen Worten nahm.
Mein Hertze saget mir im Stillen,
An diesem Flus, an diesem Feld,
Wo Ströme gelben Weines quillen,
Und Ceres Frucht die Scheunen schwellt,
An diesem Schmeltz beblümter Triften,
An allem was die Gegend hat,
Selbst an den Thürmen in den Lüften
Erkennst du deine Vaterstadt.
O seyd gegrüst, ihr Bangionen,
Der Friede kehre mit mir ein,
Der Friede müsse bey euch wohnen,
Und fest an euch gefesselt seyn.
Und du, o Thurn, dort in der Mitte!
Wie ist mir? ach! mein Hertze bebt – – –
Ist, oder ist dies nicht die Hütte,
In welcher meine Mutter lebt?
Hier wars – – Ich kenne noch die Stelle, – –
Wo einst mein Lebewohl erscholl.
Du Thüre, du geliebte Schwelle,
Du sahest meine Thränen wohl.
Du sahst mich noch am Ecke weinen,
Mit Reu und Sehnsucht rückwärts sehn.
O Hütte, leben noch die Meinen?
Und darf ich auch zu ihnen gehn?
Was frag ich? ist mir ihr Gemüthe
Nach so viel Jahren nicht bekannt?
Zählst du die Proben ihrer Güte,
So zählst du auch des Rheines Sand.
Doch schwör ich hier bey Hayn und Matten,
[9]
Bey allem was nur heilig ist,
Ja selbst bey meines Vaters Schatten,
Daß mir ihr Wohlthun nicht vergist.
Nun endigt euch, ihr bittern Stunden,
Ihr süssern Tage fahet an,
Nun ich mein Vaterland gefunden,
Nun ich die Meinen küssen kann.
O Vorsicht, wirft dein heilger Wille,
Mir noch ein Jahr zu leben, zu,
So gönne mir in sanfter Stille
In ihrem Schoose Fried und Ruh.
Du prüftest mich durch schwere Zeiten;
Nun kennstu ja mein junges Hertz.
Vier Jahre voller Bangigkeiten,
Gefahr, Angst Kranckheit, Unmuth, Schmertz,
Des Todes Wurm im Eingeweide,
Melancholey in Geist und Sinn,
Die rissen Hoffnung, Trost und Freude,
Selbst alle Lust zu leben, hin.
Was dort der fromme Held erlitten,
Sturm, Ungewitter, Näß und Schnee,
Wie Winde wieder Winde stritten,
Litt ich nicht minder auch zur See.
Auch konnt ich auf des Wassers Flächen,
Die grausen Ungeheuer sehn;
Auch hört ich Mast und Segel brechen,
Sah Schiff und Schifvolck untergehn.
Einst, als von Stürmen hingerissen,
Mein Schif bald nach den Wolcken gieng,
Bald in des Abgrunds Finsternissen,
Bedeckt mit Wassern, krachend hieng;
Als ich dem werthen Vaterlande
Entfernt den letzten Seegen gab,
[10]
Und sieben Meilen von dem Strande
Nun nichts mehr wünschte, dann ein Grab:
Da spaltete mit raschen Rossen
Der Geist der See der Tiefe Schoos,
Kam, als ein Strom, hervorgeschossen,
Und machte mich des Kummers los.
Sohn, sprach er, wahrer Sohn der Tugend,
Halt in Versuchung nur Bestand,
Ich liebe dich und deine Jugend,
Und schencke dich dem Vaterland.
Du solst dem nahen Tod entgehen,
Die Syrten werden dir nichts thun;
Die alte Mutter wirst du sehen,
Und in der Brüder Armen ruhn.
Dies Meer, muß es gleich Laster strafen,
Soll nie das Grab der Tugend seyn.
Ja, ja, dort seh ich dich schon schlafen
Auf jenem Ufer an dem Rhein.
Da hör ich dich auf hellen Saiten
In dem berühmten Maulbeerwald,
Mein Lob aus Danckbarkeit verbreiten,
Daß das Gehöltze wiederschallt.
Da kannst du dein beglücktes Leben
Der Schaar der schönen Künste weyhn,
Um, wenn du einst wirst Abschied geben,
Im Tode noch beweint zu seyn.

An seinen ältesten Bruder

Ich schreibe nur, was ich empfinde,
Und dichte, liebster Bruder, nicht.
Wann dieses Lied zu zärtlich spricht,
So rechn' es der Natur zur Sünde.
[11]
Je weiter du entfernet bist,
Je minder dich mein Hertz vergist.
Ein Bootsmann blicket noch mit Zittern
Vom sichern Strand aufs hohe Meer,
Wo ihm der Fluten stürmend Heer,
Bey finstrer Nacht und Ungewittern
Sein schwerbeladnes Schiff umrang,
Am Fels zerschlug, und denn verschlang:
So schauert mir auch mein Gebeine,
Kömmt mir die Kranckheit in den Sinn,
Wovon ich zwar entbunden bin,
Doch die ich einsam noch beweine,
Weil sie des Leibes Marck und Kraft,
Nebst meiner Jugend hingeraft.
Sie kam in Nerven und Gelencke,
Vertrocknete der Adern Blut,
Und trotzte mit vermehrter Wuth
Des Artztes edlen Kräuterträncke.
Ach! rief man bald mitleidig aus,
Erschrick nicht, und bestell dein Haus.
Ich thats, und schwieg in meinen Schmertzen;
Die Gnade stärckte den Verstand;
Doch lag mir noch mein Vaterland,
Nebst meinem Schöpfer, nah am Hertzen,
Und jeder Freund den ich verlohr,
Kam mir in der Verwirrung vor.
Da sah und grüst ich meine Brüder,
Und gläubte, daß ich sie umfieng.
Doch wenn die Phantasie vergieng,
Ach! so verschwanden sie auch wieder;
Dies machte, daß in meinen Schoos
Ein Strom von bittern Zähren flos.
[12]
Sprach man denn, mich vergnügt zu machen,
Sie haben sich vielleicht versteckt,
Und werden, wenn der Morgen weckt,
Dir anmuthsvoll entgegen lachen;
So wacht ich, bis der Morgen kam,
Und fand sie nicht, und schlief für Gram.
Hierauf erhub sich erst mein Leiden,
Weil mirs so denn im Traume schien,
Wie sie im grünen Felde fliehn,
Und sonder Abschied von mir scheiden,
Ja, auf mein wehmuthvolles Flehn
Nicht einmal freundlich rückwärts sehn.
So ward mir jeder Tag zur Wochen,
Und jede Woche wie ein Jahr;
Und was von mir noch übrig war,
War ein Geribbe dürrer Knochen,
Das sonst nichts mehr vom Leben wies,
Als daß es nur noch Athem blies.
Einmahl erwacht ich unzufrieden,
Sas in dem öden Lager auf,
Lies meinen Thränen freyen Lauf,
Und wandt mein Antlitz gegen Süden,
Wo die beglückte Gegend liegt,
Da man mich ehedem gewiegt.
Ach! sprach ich, hier in fremden Mauern,
Wart ich aufs Ende meiner Noth,
Kein Freund erfähret meinen Tod,
Ich Armer! wer wird mich bedauern?
Wer drücket mir die Augen zu?
Wer wünscht mir eine sanfte Ruh?
Gehabt euch wohl, ihr theuern Seelen,
Du, welche mich zur Welt gebahr,
[13]
Du, meiner werthen Brüder Schaar,
Last euch nicht meinen Abschied quälen;
Ich folge meines Vaters Spur,
Der vor mir in die Grube fuhr.
Ja, Vater, zwar die stärcksten Mauern
Zerstört der Zeiten Grausamkeit;
Doch soll dein Nachruhm lange Zeit
Auf deiner Kinder Lippen dauern,
Die du gleich guten Gärtnern zogst,
Und schon als zarte Pflantzen bogst.
Dies wahre Lob, beweinter Schatten,
Nimm noch in deinen Grüften hin,
Und warte bis mein treuer Sinn,
Gebunden in des Himmels Matten,
Aus kindlicher Erkäntlichkeit
Dir ein vollkommner Opfer weiht.
Auch ihr, o weitentlegnen Auen
Der alten Vaterstadt am Rhein,
Lebt wohl, und steht voll Korn und Wein;
Ich werd euch niemahls wiederschauen;
Doch allzeit, wie bisher geschehn,
Für euer Wohl gen Himmel flehn.
Nun liefr' ich meines Leibes Bürde
In Kurtzem in des Todes Hand;
Beglückt! wenn ich in deinem Sand,
Geliebtes Worms, verscharret würde.
Mich dünckt, daß ich noch eins so wohl
Alsdenn im Grabe ruhen soll.
So sprach ich, und sah schon von weiten,
Von dieser Erde jähem Rand,
[14]
Der blassen Schatten stilles Land,
Das grosse Reich der Ewigkeiten:
Geliebtester, da kamest du,
Und mit dir all mein Glück und Ruh – – –

Warnung an einen schönen Knaben

Holdseelig Kind, du meine werthe Freude,
Anmuthig, wie der West,
Rein, wie ein Lamm, das auf der Frühlingsweide
Am Bach sich säugen läst.
Dies goldne Haar, daß sich itzt kurtzgekrollet
Um deine Schläfe krümmt,
Wenn es einst braun in langen Locken rollet,
Und auf den Schultern schwimmt;
Wenn Hebens Hand mit einem zarten Schatten
Dein rundes Kinn bekrönt,
Und sich dein Geist nach freyen Blumenmatten,
Und ofnen Feldern sehnt;
Wenn einst dein Leib in holder schlanker Länge
Zur Männergröse steigt,
Wie Cedern thun, die in berühmter Menge
Der heilge Hermon zeugt:
Alsdann, o Sohn, fleuch, gleich dem Strahl der Blitze,
Den angenehmen Strand,
Wo neben dir auf einem Rasensitze
Dich Doris schön genannt,
Wo sie gesagt, daß dir der Weinstock blühet,
Und auf dem Blumenfeld,
Um dich zu sehn, der klare Quell verziehet,
Und froh die Ufer schwellt,
[15]
Daß nur für dich die kühlende Melone
Am Sonnenstrale reift,
Und nur für dich der Lentz, des Jahres Krone,
Im Rosenwäldgen streift.
Sohn, wenn sie einst, indem sie Blumen pflücket,
Die Stengel nach dir schmeist,
Wie? oder doch die steifen Stengel knicket,
Und dir sich spröd entreist,
Und wie ein Reh in junge Myrtenhecken
Nicht ohne Schalkheit flieht,
Vor ihrem Freund sich schüchtern zu verstecken,
Doch so, daß er sie sieht:
So folg ihr nicht; sie leitet deine Jugend,
Auf Pfade voller Blut.
Ach! folge nur der ewigschönen Tugend;
Die ist das höchste Gut.
Die wird dich auch im Tode nicht verlassen;
Verlasse sie nur nie.
Was wär ich, ach! wenn du mich wolltest hassen?
Was wärst du ohne sie?

An seinen Freund Damon

Geliebter, gläube mir, ein Mensch ist glücklich dran,
Der in dem treuen Schoos von Freunden ruhen kann,
Die mit vereintem Fleis nach Kunst und Weisheit streben,
Und auch der Menschlichkeit, was ihr gebühret, geben.
Ein solcher ist gewis der weisen Henne Sohn;
Die Sonne sieht auf ihn von ihrem goldnen Thron
Mit Neid und Groll herab, und wünscht sich solche Stunden,
Wie zwischen mir und dir in reiner Lust verschwunden.
[16]
Dem Höchsten sey gedanckt, der, wenn ichs sagen darf,
Mich aus besondrer Huld in deine Armen warf;
Und als ich dich einmahl in seinem Tempel schaute,
Mich auch so gleich mit dir vor seinem Altar traute. 1
Seit diesem kam mirs vor bey aller Sklaverey,
Als ob ich sorgenlos, und ungebunden sey;
Ich glaübte, wenn ich dich aus süsser Liebe hertzte,
Euryalus zu seyn, der mit dem Nisus schertzte,
Und sah ich dich zu mir mit holden Schritten gehn,
So meynt ich, wie im Traum, die Musen selbst zu sehn.
O daß der Himmel mir das hohe Glücke gönnte!
Daß ich zunächst bey dir auf ewig wohnen könnte;
Und daß ich diese Stirn, den Thron der Redlichkeit,
Dies holde Augenpaar, das so viel Anmuth streut,
Und diesen süssen Mund, der oft mein Hertz bewegte,
Den langen Tag hindurch beschaun und hören mögte!
Wenn eine Nachtigall die nackte Brut verläst,
So schreyt und zwitzert sie in dem einsamen Nest,
Man sieht sie ringsumher auf die begrünten Auen,
Die Hälsgen ausgestreckt, mit ofnen Schnäbeln, schauen,
Bis aus der nahen Saat der Mutter Stimm erklingt,
Die schon geflogen kömmt, und frisches Futter bringt:
So sehn ich mich nach dir. Ich muß es endlich wagen,
Dir, was ich leiden muß, mein werther Freund, zu sagen.
Mein Hertze wallet schon aufs neue zu dir hin,
Wenn ich nur einen Tag von dir geschieden bin;
Schau ich nicht stets dein Bild leibhaftig vor mir schweben,
So fehlt mir alle Lust in diesem Land zu leben;
Des Tages holder Strahl ist mir alsdann verhast,
Und jede Sommernacht die allerschwerste Last.
[17]
Ach! bist du dann mein Freund, suchst du mein Glück zu bauen,
So laß dich jeden Tag bey deinem Freunde schauen;
Wenn du bey mir nicht bist, so leb ich als verbannt;
Wo du, Geliebter, bist, da ist mein Vaterland.

Fußnoten

1 Sie bekamen in einer Kirche Gelegenheit einander kennen zu lernen.

Ueber seine Freundschaft mit dem Thirsis

Hier sasen wir beysammen
Am kleinen Wasserfall,
Und sangen unsre Flammen
Dem blumenvollen Thal.
Die säumende Narcisse,
Bog, wo mein Thirsis sas,
Beschwert durch Thränengüsse
Das schöne Haupt ins Gras.
Da sahet ihrs, ihr Heiden,
Ich drückt ihm seine Hand,
Wandt, reich an Pein und Freuden,
Den Blick zum Vaterland,
Und sprach mit leisem Thone:
Die Tugend segne mich,
Und gebe mir zum Lohne,
Mein zarter Freund, nur dich.
Bekennen will ichs gerne,
Ich bin nicht deiner werth,
Doch gäben mir die Sterne,
(Was ich zwar nie begehrt)
Glantz, Schönheit, hohe Gaben,
Was See, und Erdreich hat,
Sucht ich doch dich zu haben,
Und dich nur früh und spath.
[18]
Ja, Freund, bey diesen Matten,
Bey meinen Zähren hier,
Und unsrer Väter Schatten
Bezeug und schwör ich dir,
Dir hab ich mich ergeben;
Nur dich lieb ich, nächst Gott;
Darf ich bey dir nicht leben,
So fühl ich stets den Tod.
Ein gütiges Geschicke
Verknüpfte mich mit dir.
Dein Leben ist mein Glücke;
Wo du bist, da ist mir
Der Himmel in der Nähe.
Doch jedes Körngen Zeit,
Wofern ich dich nicht sehe,
Wird mir zur Ewigkeit.
Gesundheit, Kind des Himmels,
Die auch der Weise sucht,
Und du, Feind des Getümmels,
Schlaf, der Gesundheit Frucht,
Ihr flieht vor meinen Blicken;
O flieht, mit stätem Flug!
Mich ewig zu beglücken,
Ist Thirsis schon genug.

Notes
Erstdruck der Sammlung: o.O. 1745 [1744].
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TextGrid Repository (2012). Götz, Nicolaus. Versuch eines Wormsers in Gedichten. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-E5BC-8