[71] An Ovid

Dir, den in wilde, unwirtbare Wüsten,
wo nie ein Glücklicher sich schauen ließ,
auf Pontus ferne meerumtobte Küsten
der Grimm von Romas tückschem Herrscher stieß;
dir, armer Dulder, weih ich diese Blätter,
denn gleiches Los beschieden uns die Götter.
Von Menschen ferne lieg ich hier und weine,
unglücklicher als du, denn mich verbannt
ein Henker, fürchterlicher als der deine,
des Schicksals allgewaltge Eisenhand.
zu Menschen Ohren dringt des Menschen Stimme,
doch taub ist das Geschick in seinem Grimme.
Weil du zu viel gesehn, zu viel gesprochen,
traf dich des Kaisers harter Richterspruch,
doch welch Vergehn wird denn an mir gerochen,
in dessen Herzen Fried und Unschuld schlug,
ist mirs bestimmt, so martervoll zu leiden,
so könnt ich dich um dein Vergehn beneiden.
Für Sünden, lieblich im Begehn, zu büßen,
das stumpft der grausenvollsten Strafe Qual,
doch höllisch leiden und sich schuldos wissen,
das schneidet tief wie dreigeschliffner Stahl;
und bei den Göttern, die den Meineid rächen,
rein ist mein Herz, ich weiß nichts von Verbrechen!
Sanft trieb des Lebens Nachen, das Gewissen
schlief drinnen wie ein neugebornes Kind;
da ward ich plötzlich in die See gerissen,
ein unglückselges Spiel von Meer und Wind;
erloschen sind die sichern Leitersterne
und meine Heimat birgt die Nebelferne.
Die Hoffnung hat das Steuer aufgegeben
und flieht mit scheuem, windesschnellem Fuß,
sie, die sonst selbst beim Ausgang aus dem Leben
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an des Avernus dunkelm Schauerfluß
dem müden Waller tröstend steht zur Seite,
sie selbst versagt mir Armen ihr Geleite.
Verzweiflung sitzt an ihrer Statt im Nachen
und treibt den Kiel vom Lande weiter fort,
dorthin, wo aus des schwarzen Abgrunds Rachen
der Jammer grinset und der bleiche Mord;
und wohin immer meine Blicke schweifen,
sie können nichts als Schreckliches ergreifen.
Nur einen Hafen läßt sie mich erschauen,
an dessen Mund in unerforschter Nacht
der Ewigkeit furchtbare Nebel grauen,
die bleiche Furcht mit scheuem Zagen wacht,
die jedem, der sich nahet ihren Toren,
das Wort »Vernichtung« flüstert in die Ohren.
Vernichtung! – Seis! – Mag, was ich bin, entschweben
im ewgen Wirbeltanz der flüchtgen Zeit,
Trotz sei geboten dir! Dies Blatt soll leben,
wenn meines Seins Atome längst zerstreut.
Zertritt mich auch der Fuß der nächsten Stunde,
so leb ich ewig in der Nachwelt Munde.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Grillparzer, Franz. Gedichte. Gedichte. An Ovid. An Ovid. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-EFA1-1