Vater Unser

Zu J. Führichs Umrissen (Fragment)


Hör uns, Gott, wenn wir rufen!
Wir alle deine Kinder!
Eingehüllt im Mantel deiner Liebe,
Hingelagert zu den Füßen deiner Macht,
Angeschmiegt an deine Vaterbrust:
Wir alle deine Kinder!
Vater unser!
Ob wir gleich Staub sind und Spreu,
Gestern geboren, morgen tot,
Ein Nichts im All, das Nichts war, eh du riefst;
Ob unsre Erde gleich, die groß uns dünkt,
Ein Sandkorn ist im Unermeßlichen,
Das du hinwegbläst, wenn dirs wohlgefällt,
Wie man den Staub vom Tische bläst;
Und du der Mächtge bist ob allen Mächtgen,
Und über den Gewaltgen der Gewaltge,
Der Herr der Herrn, so hoch ob aller Höhe,
Daß der Gedanke selber, der dich sucht,
Auf halbem Wege, schwindelnd rückwärts kehrt:
Doch siehst du uns, doch hörst du uns,
Von deiner Allmacht hochgestelltem Thron,
Doch sorgst du, hilfst du, Großer, Mächtger, Hoher,
Der du bist im Himmel!
[146]
Wag ich es, dich auszusprechen?
Bin ich es wert, dich zu nennen?
Das kleinste von den Werken deiner Hand?
Hohes beuge sich und Höchstes;
Ehre sei dir und nur dir allein;
Allgütiger, Allweiser;
Offenkundger, Geheimnisvoller,
Uranfang, ohn Ende.
Schöpfer, Beschützer, Erhalter!
In stumme Ehrfurcht
Sinke hin der Erdkreis,
Geheiliget werde dein Name!
Wohl hast du die Erde schön gemacht,
Und ich danke dir drum, mein Herr und Vater.
Blumen sind da und Früchte, Quellen und Bäume,
Frühlingslust und Sommerfreude, alles aufs beste;
Auch gute Menschen, die dir dienen und recht tun.
Aber ich kenne doch was Schönres, mein Herr und Vater,
Und, als hätt ichs gesehn einmal in frührer Zeit,
Schwebt es mir vor in meinen besten Tagen;
Ein Land, wo dieser Körper nichts begehrt,
Und wenn es nichts gewährt, auch nichts versagt;
Wo der Gedanke Willen ist,
Und Wille ist die Tat;
Die Tat in Wollen und im Denken schon;
Das Land, wo, unsrer Sonne gleich, das Recht,
Und, wie der Mond, die Pflicht den Tag und Nächten leuchtet;
Wo das Gefühl nicht blind
Und der Verstand nicht taub ist allzumal;
Dort möcht ich sein, mein Herr und Vater,
Bei dir, in deiner Nähe;
Und darum, Herr, o höre!
Zu uns komme dein Reich!
Ich bin kurzsichtig und schwach,
Kaum das Nächste erreicht mein Blick;
Der Zukunft Ferne ist mir verschlossen:
[147]
Was gut gemacht schien, zeigte sich schädlich,
Und wo Gefahr ich sah, erschien mir Gutes.
Auch hab ich das Schlimme wohl gar gewollt,
Ja, das Schlimme gewollt, mein Herr und Vater!
Der mir der Nächste war, ich hab ihn gekränkt, Bekümmert hab ich, die mich liebten,
Den Zorn ließ ich walten ob meinem Tun;
Des Fremden Weh war nicht immer mein eignes.
Hab ich immer gelohnt dem, der Gutes mir tat?
Immer getan, was als Bestes sich zeigte?
Vater! wohl gar das Schlimme hab ich getan,
Kurzsichtig, wie ich war und schwach;
Daher walte du ob mir und meinem Tun,
Führe mich, leite mich,
Und nicht der meine, Herr,
Dein Wille geschehe!
Wenn wir all uns liebten hienieden,
Wie du uns liebst, mein Herr und Vater,
Wenn der Mensch den Menschen säh im Freunde,
Und auch in seinem Feinde nur den Menschen,
Dann wäre nicht dort oben bloß dein Reich,
Auch unter uns wär es, auch hier, hienieden,
Und der Liebe Machtgebot geschäh
Wie im Himmel, also auch auf Erden.
Der Mensch ist nicht schlimm,
Obwohl leider auch nicht gut,
Aber die Sorge für das Nächste
Macht ihn für den Nächsten blind,
Was eisern alle Wesen bedingt,
Die Selbsterhaltung, beschränkt ihn
Und hält ihn nieder am Boden,
Statt aufwärts zu dir und den Brüdern entgegen.
Befrei uns, Herr, von der Sorge!
Gib uns heut unser tägliches Brot.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Grillparzer, Franz. Gedichte. Gedichte. Vater Unser. Vater Unser. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-F49B-A