[92] III. Von treuer Freundschaft.
Eine Fabel.

[93] [95]Der Rabe, den die Vögel für einen Weisen halten, saß auf einem Baume des Waldes. Da kam der Vogelsteller, stellete sein Netz, streuete Samenkörner darein, und ging wieder fort; aber der Rabe fürchtete sich vor dem Netz, und versteckte sich in das dichte Laub. Und ein Schwarm wilder Tauben kam, und sahe das schöne Gerstenfutter, und setzten sich alle, und frassen. Aber das Netz fiel zu, und sie waren gefangen, und flatterten darin herum. Da sprach die Führerin des Schwarmes: »Uns hilft nicht also hin und her zu flattern; laßt uns aber versuchen, alle auf ein Mahl in die Höhe zu fliegen; vielleicht vermögen wir's, das Netz mitzunehmen.« Und sie flogen alle zusammen in die Höhe, und nahmen das Netz mit sich.

[95] Aber der Rabe hatte alles mit angesehen, wie Einigkeit sie stark machte, und flog in der Ferne nach.

Und die Tauben hatten sich niedergesetzt in ein Fruchtfeld, in der Nähe eines Baumes, und beriethen, wie sie aus dem Netze heraus kommen möchten. Da sprach eine von dem Schwarm: »Ich habe schon längst Freundschaft geschlossen mit einer Maus, die hier in der Nähe wohnt. Soll ich ihr rufen, daß sie das Netz zernage?« Und sie rief der Maus. Die kam aus ihrer Höhle heraus, und zernagte bald die Schnüre, und die Tauben flogen fröhlich davon, und dankten der Maus für ihre Befreyung.

Der Rabe hatte alles mit angesehen, und dachte bey sich, ein treuer Freund wäre doch ein grosses Gut; und setzte sich deshalb in die Nähe des Mausloches, und rief der Maus, weil er Freundschaft mit ihr machen wollte. Als aber die Maus heraus kam, und den Raben erkannte, floh sie schnell wieder in ihr Löchlein. Aber der [96] Rabe rief ihr wieder und sagte: »Was fliehst du mich? willst du nicht meine Freundin werden?«

Und die Maus antwortete ihm: »Nein, das geht nimmermehr an. Denn in Kurzem würde deine angebohrne Lust nach meinem Fleische dich unserer Freundschaft vergessen machen, und du würdest mich, wie jede andere Maus, auch auffressen.«

Das redete ihr aber der Rabe aus, und sie lebten beysammen ohne Mißtrauen, und waren zufrieden. Nur sehnte sich der Rabe nach seinem ersten Aufenthalte, denn er fürchtete sich hier vor den vorübergehenden Jägern. Darum sagte er eines Abends zu der Maus, wenn sie nichts dawider habe, so wollten sie wegziehen von diesem Orte, weil es da nicht verborgen genug sey. Er wolle sie an einen viel heimlichern Ort bringen, wo er auch eine treue Freundinn habe, die Schildkröte, bey der sie künftig wohnen wollten. Und die Maus war mit dem Vorschlage zufrieden, denn auch ihr war es unheim [97] da, weil eine Katze oft in das Feld kam und ihr nachstellete. Und der Rabe faßte sie mit dem Schnabel bey ihrem Schwänzlein, und trug sie durch die Lüfte, und setzte sie unter seinem Baume nieder, und rief der Schildkröte, seiner Freundinn.

Aber die Schildkröte kam hervor aus ihrem Teiche und freuete sich, daß ihr Nachbar wieder da sey, und freuete sich, daß er noch eine Freundinn, die Maus, mitgebracht habe. Und die Maus grub sich ein Löchlein, und wohnten beysammen alle drey in Friede und Eintracht.

Und als sie eines Tages so beysammen sassen, und vieles plauderten von der Welt Lauf, da kam eilends ein Hirsch gelaufen, der blieb am Teiche stehen, und sahe sich um. Da floh die Schildkröte in ihr Wasser und tauchte unter, und die Maus verkroch sich in ihr Löchlein. Aber der Rabe schwang seine Fittige, und flog in die Höhe, zu sehen, ob der Jäger den Hirsch verfolge. Er sah aber nichts und kam herunter, und sprach [98] zum Hirsch: »Sey ohne Furcht, hier ist keine Gefahr. Noch kein Jäger ist in die Gegend des Waldes gekommen. Wenn es dir hier gefällt, so kannst du hier wohnen. Um den See wächst schönes Futter, und sein Wasser ist frisch zum Trunke.«

Und als er dieß gesagt, rief er der Maus und der Schildkröte, und sie kamen hervor und redeten dem Hirsch auch zu, daß er bleiben sollte.

Aber der Hirsch sah umher; das Gras war schön und das Wasser frisch und der Ort sicher vor Nachstellung; er machte sich also eine Lagerstätte aus Laub und Moos, und wohnete bey ihnen, und sie hielten treue Gemeinschaft miteinander. Eines Abends war aber der Hirsch nicht heimgekommen. Da war seinen Freunden bange, es möchte ihm ein Unheil widerfahren seyn; und der Rabe flog aus auf Kundschaft, und sah seinen Freund liegen gefangen in einem Netze. Und er flog zurück und brachte seinen Genossen [99] die Nachricht, und berieth sich mit ihnen, wie man ihn befreyen möge.

Da sprach die Maus zu ihm: »Nimm du mich und trage mich hin, daß ich ihm das Netz zernage.« Und der Rabe trug sie schnell hin und sie nagte an dem Netze. Da kam auch die Schildkröte daher, und der Rabe und die Maus schalten, daß sie gekommen wäre. Und der Rabe sagte: »Wohin willst du denn fliehen, wenn der Jäger kommt? Ich fliege fort, der Hirsch läuft weg, die Maus verkriecht sich, was willst aberdu machen? Dein Gang ist langsam, du kannst dich nicht retten.« Und indem der Rabe noch so redete, kam der Jäger schon gegangen, zu sehen, ob er etwas gefangen habe in seinem Netze. Und als er den Hirsch darin sahe, freute er sich schon. Allein ehe er noch hinkam, war das Netz schon zernagt, der Hirsch sprang in das Dickicht, der Rabe flog weg, die Maus verkroch sich, aber die Schildkröte stand, und zitterte vor Schreck an allen Gliedern.

[100] Aber der Jäger ärgerte sich, daß ihm die schöne Beute entgangen war. Um aber doch nicht ganz leer nach Hause zu kommen, nahm er die Schildkröte, wickelte sie in das zernagte Netz und ging weg. Doch die Maus hatte dem allen zugesehen, und rief ihre Freunde schnell zusammen, und berieth mit ihnen, wie man die Schildkröte wieder befreyen könnte. Da schlug der Rabe vor, der Hirsch sollte sich wie todt an den Weg legen, an dem der Jäger vorbey kommen mußte, und er wolle auf ihm sitzen, als ob's ein Aas wäre, von dem er frässe. Wenn das der Jäger sähe, so würde er gewiß sein Netz niederlegen und hinzugehen. Dann solle der Hirsch aufspringen und langsam hin und her laufen, als hätt' er ein Gebrechen an dem Fuß, und solle so den Jäger immer reizen, und bis an ihn kommen lassen, dann aber immer wieder entspringen, und das so lange, bis die Maus derweile das Netz zernagt, und die Schildkröte sich im Walde verkrochen habe. Dann wollten sie auf einmal alle davon eilen.

[101] Und wie sie's beschlossen hatten, so thaten sie auch. Der Jäger warf gleich die Schildkröte hin, und eilte dem Hirsch nach. Als aber die Schildkröte und das Mäuslein in Sicherheit waren, da sprang der Hirsch auf einmal davon, und eilte schneller, als der Jäger sich's versah, ihm aus den Augen, und kam mit seinen Genossen wieder bey ihrer Wohnung an. Und freuten sich alle, daß sie durch ihre Freundschaft einander gerettet hatten.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Grimm, Albert Ludewig. Märchen. Kindermärchen. 3. Von treuer Freundschaft. 3. Von treuer Freundschaft. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-FE23-4