Friedrich Gundolf
George

[1]

Zeitalter und Aufgabe

Wenn wir Stefan Georges erste geschichtliche Aufgabe in der Wiedergeburt der deutschen Sprache und des Dichtertums sehen, müssen wir den Zustand zeigen woran er sich zunächst bewährte, die deutsche Literatur um 1890. Nicht daß der Widerspruch sein Wesen bedingt oder auch nur seine Mittel geformt hätte: kein Wesen entsteht aus Beziehungen wie Widerspruch oder Hingabe, aber es kann dadurcherscheinen, und jede Fülle findet als Schickung oder Erbschaft eine Not vor, die zu ihr gehört. Sprache und Dichtung sind uns hier nur die faßlichsten Zeichen eines Gesamtzustandes der von den Alltagsverrichtungen bis zur Religion reicht. Sie sind zugleich der Boden von dem aus der einzelne Mensch am ehesten ohne äußere Macht, mit keiner anderen Gewalt als der seiner ursprünglichen Seele, am »un-mittel-barsten« also, eine Welt aus den Angeln heben kann, wenn ringsum Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft, Presse, Theater – massen- und sachenhaft geworden – die Privatperson nur als Stoff oder als Stück kennen. Die Sprache ist das innerste Bollwerk des Geistes in einer Welt der Dinge, sie ist die letzte Zuflucht des Gottes im Menschen, wenn es keine durchseelte Kirche, keine öffentliche Magie und kein Geheimnis mehr gibt. Nur vom lebenhaltigen Wort her ist die Erneuerung alternder, allzu seßhaft oder allzu splittrig gewordener Gesamtheiten möglich für den Einzelnen der ihrer öffentlichen Stoffe und Mittel sich nicht bedienen kann, der »nicht anders kann« als ihn sein Herz heißt.

Denn Tat und Bild oder Bau fordern die freiwillige oder unfreiwillige Gemeinschaft zwischen dem Werkführer und der jeweils gültigen Öffentlichkeit: der Täter wird von vornherein Herrscher, Führer, Vertreter einer schon vorhandnen Gesamtheit sein, also immer mehr haben müssen als nur sein Ich: menschliche und sachliche Mittel in dem Bereich selbst den er durchwirken will. Der Bild- und der Tonkünstler ist Diener, Zeiger oder Schmücker eines noch oder wieder lebendigen Gesamtgeistes, auch er bedarf einer schon heraus gestellten Sichtbarkeit. Nur das sprengende Wort hat von vornherein Platz in der Einzelseele und mag es später die Welt durchdringen (das ist ja seine Bewährung) es bedarf keiner schon mächtigen Gruppen, [1] um hinauszutreten, keiner bestehenden Organisationen, keiner Parteien. Die es braucht schafft es selbst. Jemehr ein Wort solcher bestehenden Zwischenschichten bedarf, desto mehr gehört es zur alten Welt, zum bloßen Heut und Gestern, wie alle moderne Nutz-, Lehr- oder Unterhaltungsrede: Presse, Katheder, Theater, Kanzel, Parlament sind ja schon Mittel-Anstalten der Welt die gerade durch das ursprüngliche Wort aus den Angeln gehoben werden soll.

Wenn also ein Einzelner heut den Beruf zur Erneuerung fühlte, mußte sein Geist ihn schon von vornherein fernhalten von allen vermittlungs bedürftigen Berufen. Nicht mehr die unmittelbare Tat war ihm möglich und nur zwei Wirkungsarten des Wortes standen ihm frei: das einsam prophetische und das einsam dichterische .. das unbedingt fordernde oder das unvermittelt formende. So mußten notgedrungen die beiden einzigen Menschen die jenseits dieses ganzen Zeitalters neue Welt hegten sich im Wort entladen, um ihren geschichtlichen Beruf der Erneuerung zu erfüllen: Nietzsche und George.

Dieser Ausweg war nur heute nötig, und drum müssen wir wissen warum gerade dies Heute denDichter, seinen Gegenpol, hervortrieb. Nur gerade in dem einmaligen Augenblick seines Erscheinens hatte George dieses Amt. Jeder geschichtlichen Gestalt entspricht nur eine Zeit, und jede Zeit hat nur ein erlösendes oder erfüllendes Wort, nur eine ganz wahre Tat. Danach ob gerade ihr Wort und ihre Tat den ganzen Verkörperer findet oder ob sie in vielen Halben zerflattert und verdämmert, oder gar stumm bloßes Treiben, Ahnen und Sehnen bleibt, danach bemißt sich zuletzt die Größe und Frucht eines Zeitalters. Dies wahre Wort weiß zuerst nur der es zu sprechen hat, dann seine nächsten Hörer .. die meisten, die bedürftigen Empfänger wie die rückgewandten Betrachter, gehen fast immer irre, weil sie es nach Analogien der ihnen vertrauten Geschichte erwarten. Niemals gibt es zweimal dieselbe Lösung, kein früheres Heil kann unmittelbar übertragen werden auf eine andere Not, so wenig es in anderer Luft als eben seiner wachsen könnte: es bedarf erst der jedesmaligen Erweckung durch den neuen »Löser und Lader« der mit


frischem saft die früheren götter schwellt
Und alles abgestorbne wort der welt.

[2] Forderungen, Gründe und Ziele die aus der Geschichte abgezogen werden, sind von vornherein für das wirkliche Geschehen, für das Eine was not tut, falsch. Auch der größte Geist der Vorwelt kann heut nicht unmittelbar gelten, und sowenig Napoleon unserer heutigen Politik dienen kann, sowenig läßt sich aus Goethes Haltung das geistige Ideal heut abziehen. All ist ewig, aber nichts wiederholt sich.

Der Eine Sinn der durch die Welt waltet ist von jedem einzelnen Punkt aus anders sichtbar, bedarf für jeden Raum und jede Zeit anderer Zeichen. Daraus daß man die fertigen Zeichen (Lehren, Bräuche, Einrichtungen, Formen) dieses Einen Sinns von dem einzigen Punkt wo sie und nur sie wahr sind auf andere übertrug, statt sich um das neue nur hier gültige Zeichen zu mühen, sind die meisten Irrnisse entstanden. Wir leugnen nicht relativistisch den Einen unbedingten Sinn, sondern wir suchen sein heut allein gültiges Zeichen.

Der Betrachter hat die Wandlung der jeweiligen Zeichen aus den jeweiligen Nöten zu deuten, ohne falsche Analogien und Übertragungen, mit dem Blick für das Einmalige der Erscheinungen. Keine Ordnung, keine Gattung, keine Gebärde bedeutet zweimal dasselbe, und immer wieder muß der Historiker zurücktauchen in den Ewigen Grund selbst der immer neu unwiederholbar geballt auftaucht .. nie darf er bequem eine fertige Erscheinung aus einer anderen erklären: das ist immer falsch. Verdeutlichen kann er durch Vergleiche, niemals deuten! Der Wirker (Prophet oder Täter, Gestalter oder Lehrer) hat die Zeichen zu schaffen die des Ewigen Sinns heutige Stunde »erlösen« oder »erfüllen«: das kann durch Bindung oder Befreiung geschehen, durch Gestaltung oder Zersetzung, durch Ernte oder durch Saat, durch Krönung des Zeitgeistes oder durch seine Entthronung, durch Segnung oder durch Fluch. Was fruchtbar ist allein ist wahr und kein Wissen um das was je fruchtbar gewesen erzeugt das Wissen um das Eine was heut fruchtbar ist, was »not tut«. Dies Wissen kommt nur aus einem Sein, einem Mit- und Wider-Sein, einem Drin und Drüber, aus der Zeitigung das ist Zeigung des Ewigen Sinns.

Die Aufgabe des Dichters um 1890 ist so wenig nach Analogien früherer Zustände zu bestimmen als diese Zeit selbst, deren Einzigkeit [3] seit dem Weltkrieg auch blöden Augen einleuchtet. Dennoch stellte man an den Dichter noch die Ansprüche die sich aus dem Zeitalter und Vorbild Goethes ergaben. In der damaligen Literatur (um uns auf diese zunächst zu beschränken) sind die Zeichen des Mißverständnisses, der rückgewandten Analogie, das Epigonentum und der Naturalismus: in sie traf Stefan George mit seinen Anfängen, von ihnen hob er sich ab, als bloßer Widerspruch gegen sie wurde er zunächst befehdet oder begrüßt, ehe man sein von beiden gleichweit entrücktes Eigen ahnte. Für beide ist der Schriftsteller der unverbindliche Schmücker oder der unerbittliche Darsteller der gegenwärtigen Gesellschaft. Er sollte ihr ein verschönertes oder getreues Abbild vorhalten, ihren Alltag verklären durch Ideale einer zeitlichen oder räumlichen oder träumlichen Ferne, oder ihn schildern in seiner krassen Tatsächlichkeit, einerlei ob aus Wahrheit an sich – aus Wissenschaft – oder aus Moral, im Dienst des sozialen Fortschritts. Epigonentum und Naturalismus entsprechen einander und so verschieden ihre Programme, ihre Wege, ihre Technik, so sehr sind sie Ausdruck derselben Wesensart, und Opfer eines ausgehöhlten Ideals aus der Goethe-Zeit: des im 19. Jahrhundert rückständigen Wahns: die Erscheinungen der Gesellschaft seien »das Leben« oder das Gesetz. Beide kannten nur Zeit, verwechselten das Leben mit seinen zeitlichen Ablagerungen und hielten für den Gehalt was nur der Stoff war. Der Schriftsteller als Diener seiner Gesellschaft: das war die Verneinung der geistigen Freiheit, in einer Zeit da die »Gesellschaft« nicht mehr der Träger des Geistes, nicht mehr ein von einem »Gott«, einer einheitlichen Grundkraft, durchwaltete leibhafte Weltordnung war, sondern ein Netz von Beziehungen, Zwecken und Interessen. Die sogenannte »Mechanisierung« ist das Zurücktreten der Götter aus der Zeit. Die Götter leben immer, doch nicht immer lassen sie sich in die Zeit ein.

Das Rokoko, dessen deutscher Vollender und Erbe Goethe war, hatte zum letztenmal eine »Gesellschaft« in diesem Sinne, einen sichtbaren »Geist«, einen die höchsten Gedanken wie die Gebrauchsgegenstände formenden eigenen Stil, Ausdruck eines einheitlichen Wesens, schon dünn und schwank, aber noch im letzten Flattern und Kräuseln zusammengehalten, bis in die feinsten Nerven durchblutet von einer [4] Mitte, einem Gott. Solange der »Gott« die zeitlichen Lebensformen durchdrang, geglaubt, gelebt oder gelitten wurde von seinem Menschenkreis, solange konnte der Dichter, der Träger der Weihe, ihn verkünden eben in den Formen dieser seiner Zeit .. er konnte Diener seiner Gesellschaft sein und zugleich des Gottes: denn beide waren noch nicht auseinandergetreten, hatten noch einerlei Schicksal. Noch Goethe war mit wesentlichen Teilen seines Werkes Erbe, Vollender, Ausdruck einer beseelten Gesellschaft. Hölderlin war schon Seher und Träger einer außerzeitlichen, übergesellschaftlichen Weihe und man hat ihn als Romantiker, als gesellschaftsflüchtigen Träumer oder als schönheitsseligen Festsänger mißdeutet. Er sah bereits den Untergang der Gesellschaft, d.h. die Flucht der Götter aus diesem Zeitkreis, und ahnte, die Augen auf ihren Weg gerichtet, ihre Wiederkehr in noch verhüllte Zukunft. Seinen Ruf nach dieser Zukunft hielt man für Klage um die hellenische Vergangenheit, der er seine faßlichsten Zeichen entnahm.

Die Romantik lebte in einer Zwischenschicht zwischen den ewigen Kräften und den Zeitzuständen, in der »Bildung«: sie wucherte auf den von Goethe, Herder, Kant begründeten Ordnungen üppig weiter, ohne mit ihren Wurzeln in den Grund selbst hinunterzureichen. Dies Schmarotzerhafte hat sie der gesamten Wissenschaft und Bildung des 19. Jahrhunderts mitgeteilt. Während Goethe die Götter selbst noch in seinem eigenen Zeitalter in ihren letzten Winkeln und Masken vernahm und kannte, während Hölderlin sie in ihrer überzeitlichen Heimat aufsuchte, betete die Romantik und die ihr folgende Bildung, unbefriedigt vom Zeitalter, zu den toten Götterbildern ihrer eigenen und der vergangenen Zeiten. Die Buchstaben worin die früheren begeisteten, durchseelten, gotthaltigen Zeitalter bis auf Goethe ihr Gesetz niedergeschrieben nahm sie für den Geist dieser Gesetze selbst. Die Verwechslung von erstarrten Buchstaben und flutendem Geist, der Kult der alten Formen, das ist die spätere, populäre »Romantik«. Der Historismus, der nur Vergangenes sieht, das Epigonentum, das nur Vergangenes treibt, sind ihre Erben, ohne ihre Höhe und ihr Feuer, mehr und mehr dem toten Stoff verfallend und den leeren Formen. Altertum, Mittelalter, Renaissance oder Rokoko – einst die verschiedenen Inkarnationen, die werdenden und »entwerdenden« [5] Leiber des wandelnden Geschichts-all-gottes – kehren als gespenstische Larven zurück, und ihre abgetragenen Kleider werden neckische Prunkkostüme für den Karneval der Schöngeisterei, vor deren Toren der zweckgefesselte Alltag schwitzt, bildlos, freudlos, geistlos, wortlos .. der »Fortschritt«, der Verkehr, die Arbeit, das »Zeitalter« an sich, mit stumpfem Gefühl der Leere, mit ungeduldigem Verlangen nach Betäubung, bei überhellem und überlautem Frohlocken der gigantischen Werkzeuge. Der öde Fasching hielt sich allen Ernstes für die Ergötzung und die Verklärung des Alltags: und der Alltag fand, wenn er überhaupt für Minuten aufsah und ausruhen wollte, keine Entspannung als den bunten Maskentanz aus allen Zeiten und Zonen, das wirre Geklimper aller möglichen Instrumente, das Variété, das leichtverständliche und leichtvergeßliche Potpourri der »allgemeinen Bildung«. Ein eigenes Wort hatte er nicht und verlangte es kaum, und so walzte man ihm die Worte der großen Ahnen zu Gemeinplätzen aus, bis sie ihm endlich selber stumpf und stumm wurden, bis er sie nimmer hören konnte (im doppelten Sinn). Nie war die Kluft zwischen dem wirklichen Inhalt des gelebten Lebens und dem Wort d.h. der Seelengebärde des Lebens, so unermeßlich wie in den Triumphjahren der Presse und des Verkehrs .. nie war die literarische Rede weniger Sache, weniger Blut, weniger Bild ... nie so ausschließlich Phrase, Funktion, leerer Lärm. Und dennoch hielten die Schriftsteller den Trug noch aufrecht, die Wortführer eben dieses Zeitalters zu sein, dessen einziger Anstand die stumme Mühsal, die karge Not und die ingrimmige Hatz war, das verbissene Warten und Bohren. Sowenig Goethes Worte als Goethes Gesten ziemten sich noch, und wer sie nachplapperte log sich und andre an.

Es ist das Verdienst des »Naturalismus« dies er kannt zu haben. In seinem besten und echtesten Streben (wir sehen hier immer von den privaten Begleiterscheinungen jeder Tendenz ab, der Profitgier und der modischen Mitläuferei) in seinem Grunde ist der Naturalismus der Versuch, dem Zeitalter der Arbeit, der Wirtschaft, der Wissenschaft sein eigenes Wort, seine ehrliche Stimme zu geben, seine Wahrheit. Denn was die Romantiker und Epigonen spielten, die »Schönheit«, ging keinen mehr etwas an: es war gewiß nicht von dieser harten und bösen, massigen und gierigen Welt, und es war auch [6] nicht von einer Überwelt die man hätte scheuen oder ersehnen können .. es war aus den Trödelbuden der Großväter, verspielt, bieder, flau, unerlaubt harmlos in seiner Anmaßung wie in seiner Bescheidenheit. Es war recht und not daß dies Zeitalter nach einem eigenen Wort verlangte wie nach eigener Luft und nach eigenem Raum. Denn erst das Wort erhebt eine Welt über das Chaos wie den Menschen über das Tier – tiefsinnig haben die Alten die heiligende Mitte ihres geistigen Daseins Mythos 1 genannt. Es war redlich und sachlich daß man sich nicht mehr abspeisen wollte mit dem erhabenen Erbe Goethes und Schillers, sondern sich selber ein Gut erringen – und eben daran daß man mit diesem Erbe nicht mehr zu hantieren wußte, erkannte man das neue Bedürfnis. Man meinte nun alles getan und geheilt wenn man nur die durchdringendsten Geräusche der Gegenwart, besonders die wirtschaftlich-sozialen Schreie und Seufzer belauschte und aus den Werkstätten, Straßen, Kneipen, Bordellen, oder wo immer ihr Hall und Widerhall vernehmlich war, in die Bücher und Bühnen übertrug – wenn man aus der Not des Alltags die Tugend des Feierabends machte.

Hier kann nicht die Geschichte des deutschen Naturalismus geschrieben, nicht seine Theorie und Technik erklärt werden, zumal nicht sein Gemisch von Wohlfahrtsstreben mit Bosselei, von Weltbeglückung mit Reizsucht (denn gerade für sein eigentliches Publikum, die Premièrentiger der Großstädte, war die minutiöse Elendsmalerei lediglich ein neuer Kitzel) – genug, sein Ursprung ist, genau wie der des Epigonentums, Dienst an der baren Zeit, für die bare Zeit, aus ihr allein heraus, gleichviel ob er Sachen anhäufen oder Seelen ausweiden wollte, Soziologie oder Psychologie trieb. Das Wort das er brachte, der rechtschaffene Verzicht auf alle spielerisch verlogenen Schönheitsschnörkel, die unbarmherzige, etwas schulmeisterische Wiedergabe jeder Notdurft, bald um der Notdurft, bald um der Wiedergabe willen, die Verschiebung der sogenannten Wirklichkeit auf die [7] gesellschaftlich unteren Ebenen, die Übertragung naturwissenschaftlicher Gemeinplätze auf die Kunst, die mikroskopische Zerlegung des Stoffs und des Geschehens, die selbstgenugsame Nachahmung der unbefriedigenden Sachen – all das stand und fiel mit dem engsten Inhalt der Zeit und hatte keinerlei Haft, Grund und Würde in sich selbst oder in einer überzeitlichen Idee. Diese »Wahrheit«, diese »Natur«, diese »Menschheit« selbst waren nicht mehr Wesen, Summen eines menschlichen Seins, sondern Mittel des Darstellens, Gesichtswinkel, Zielsetzungen, kurzBeziehungen des Schriftstellers zu seinem Stoff. Gerade aus dem neuen Wahrheitsstreben ergab sich die fanatischste Zeitdienerei und damit bald ein um so grundsatzloseres Literatentum. Es gehörte ja gerade zur Aufgabe des Wahrheitsuchers, hinzuhorchen »auf den leisesten Pulsschlag« der Zeit, wegzuhorchen also von jeder inneren, ferneren, höheren Stimme. Es gab ja keinen höhern Herrn als die Wahrheit, und die war eines mit der vor-liegenden, sinnlich beschreibbaren, seelisch zerlegbaren Erscheinungsmasse. Und wenn die Zierlinge der Epigonenwelt wenigstens irgendein stehengebliebenes und darum wandelloses Wolkenkuckucksheim aus Vergangenheit, Ferne oder sittlicher Weltordnung als Boden ihrer müßigen Spiele festhielten, so liefen die Naturalisten immer stier besessen hinter dem verstockten oder zerfaserten Heut, hinter der wahllosen Dringlichkeit, hinter der zuchtlosen Nähe her und verloren an sie nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihre Wahrheit selbst. Wahrheit gibt es nur von einem unverrückbaren Maß, von einem ewigen Sinn aus, und so führt diese Art Wahrheitsuche zum völligen Relativismus. Das Zeitalter hatte zwar ein Wort gefunden, nachdem es den Lug des Epigonentums von sich abgetan: aber dies Wort war, von seiner Dürftigkeit und Häßlichkeit ganz abgesehen, keine Erlösung, keine Verewigung wie das Wort gotthaltiger Zeiten, es war nicht die Stimme des ewigen Lebens im Wandel. Kein »Mythos«, sondern ein sinistres Gespräch der Gegenwart mit ihrem eigenen Echo: sie vernahm immer wieder sich selbst, nicht den Grund der sie herauftrieb, nicht den Himmel zu dem sie schrie.

Wenn ich von »Epigonentum« und »Naturalismus« spreche, so fasse ich damit den Grundwillen dieser Richtungen zusammen, der sich nicht in »Meinungen« Weltanschauungen oder Leistungen einzelner[8] Autoren, und seien es Genies, bekundet, sondern in dem Gesamtzustand, dem Niveau der Sprache. Weil die Muttersprache der Träger der jeweiligen Gesamtseele eines Volkes ist, kann auch der größte gleichzeitige Genius des Auslands sowenig wie der größte Genius einer Vergangenheit oder der größte Meister der Musik und Bildnerkunst das Wort, den Mythos, den erfüllenden Ausdruck geben oder ersetzen. Das Fleisch muß Wort werden, und nicht bloß Klang oder Form, und jedes Fleisch muß sein eigenes Wort finden. Es hat nun im deutschen 19. Jahr hundert nicht an Genies gefehlt. Nicht das ist entscheidend, nicht das Vorhandensein oder die Zahl der Genies bestimmt den Wert, den Gott- oder Weltgehalt eines Zeitalters, sondern ihre Kraft einheitlichen Seelenausdrucks: dessen höchste Stufe ist einheitlicher Sprachgeist mit sichtbarer Mitte, von der aus in allen Graden und Lagen seine Bewegung als Rhythmus, als Tonfall, als Stil hinabwaltet, immer dünner, bis sie sich an den Rändern ihres Wirkungskreises verliert. Dies ist der tiefe Sinn von Georges Wort


In jeder ewe
Ist nur ein gott und einer nur sein künder.

Dabei mag der Künder ein Gründer oder ein Vollender sein, das Gesetz auflösen oder erfüllen. Jeder neue Gott schafft neue Sprache, daran erkennt man fast ob er ein Gott ist. Alle religiösen Genien sind Sprachschöpfer und alle Sprachschöpfer, auch die weltlich gesinnten, sind eine neue Feier und Weihe des Lebens überhaupt. Mit einem gewaltigen Ruck oder mit einer fast unmerklichen Umbildung haben die geistigen Erneuerer vor allem die Sprache ihrer Völker verwandelt – für Deutschland nenne ich nur Luther und Goethe. Nicht die besondren Gedanken, oder die neuartige Fragestellung, oder die Entdeckung eines frischen Stoff- oder Reizfeldes, nicht ein noch so erfreulicher oder kräftiger Charakter, oder eine außergewöhnliche Kunstfertigkeit geben einer Zeit die neue Sprache oder das neue Wort, überhaupt keine Eigenschaften des bloßen Genies, sondern zunächst die Herkunft aus einer neuen, bisher unerschlossenen Seelenebene, aus der Ferne, dem Jenseits aller bisherigen eingereihten und rückgewandten Ordnungen, aus einem die fertige Welt umlagernden Chaos. Nur neuer Weltblick wandelt unwillkürlich das Sagen. Darum sind, ihrer persönlichen und zeitlichen Sonderverdienste ungeachtet, [9] Genies wie etwa Hebbel oder Gottfried Keller abseitige Riesen innerhalb des Epigonentums, aber keine Befreier oder Verwandler: sie bedienen sich – mit mehr persönlicher Kraft und Lauterkeit vielleicht – durchaus der vom Goethischen Zeitalter übernommenen Sprache. Was bei Keller darüber hinausreicht ist nicht Sprachschöpfertum, sondern die dichte Frische eines abgeschlossenen minder ausgebeuteten Sonderwesens, des Schweizertums .. gegen Jeremias Gotthelfs massige, aber lokale Ländlichkeit erscheint er fast schon glatt und weich. Das Epigonentum haben auch die genialen Epigonen nicht erlöst.

Der eigentlichen Aufgabe des Dichters, aus neuer Ansicht der Welt neue Kraft des Sagens zu gewinnen, kommen im 19. Jahrhundert noch die drei großen Geschichtsschreiber Ranke, Mommsen, Burckhardt am nächsten. Wissenschaft liegt freilich immer schon innerhalb dessen was ein Zeitalter als letzte Wahrheit voraussetzt, während der Seher gerade der Verwandler dieser Wahrheit ist. Aber wenn man später aus der Vogelschau das deutsche Schrifttum der Epigonenspanne überblickt, werden Rankes Bilder der Reformation, Mommsens Römische Geschichte und Burckhardts Renaissance am ehesten etwas von mythischer Leuchtkraft behalten (unbeschadet ihrer wissenschaftlichen »Überholtheit«) während die Dramen, Romane und Gedichte selbst der begabtesten Schriftsteller längst nur noch die Psychologen oder die Literarhistoriker angehen.

Den Riß zwischen dem Zeitalter Goethes und der Zersetzung bezeichnet allerdings ein Genie, dessen Sprache eben als die Lautwerdung dieses Risses eine überpersönliche Bedeutung und Wirkung hat: Heinrich Heine. Er hat die letzten bald fiebrig gesteigerten, bald erschlafften Kräfte der sterbenden alten Welt noch einmal heraufgereizt und sie in den Dienst der Modernität, des bloßen Zeitalters gestellt, die Zauber der Goethischen Sprachhöhe am gierigen Heut erprobt und die Weihe dadurch zum Reiz gemacht. So ist er der Begründer des Journalismus geworden, des Tagesdiensts. Er ist das als voreilender Meister was seitdem unzählige als arme Sklaven sind: Journalist bis in seine Lyrik hinein .. während Goethe noch bis in seine Tagesarbeiten hinein Dichter, Träger der überzeitlichen Schau war. Ja selbst Voltaire, den man fälschlich als ersten europäischen Journalisten bezeichnet [10] hat, ist mit all seinen Aktualitäten der Vorkämpfer einer in seinem eigenen wie im Weltgefühlewigen Ordnung. Er hätte den Ruhm Diener seiner Zeit und seines Volkes zu sein abgelehnt .. seine Aufklärung geschah noch von den Ideen, d.h. von der Ewigkeit her, nicht wie die Heines von dem Bedürfnis der Masse oder der »Persönlichkeit« aus .. und so ist Voltaires Sprache die letzte einheitliche glänzende Entfaltung des gesamtfranzösischen Stiltriebs, Heines Sprache eine reizende, aber hybride Mischung aus Elementen der Goethischen Seelenrede, der romantischen Traumtöne, der politischen Rhetorik Byrons und des französischen Salongeplauders: kurz verschiedener zersetzter europäischer Stile aus dem letzten Halbjahrhundert. Eben diesen europäischen Anklängen, dieser schillernden Unverbindlichkeit, die aus dem Mangel der Einheit den Reiz der Buntheit, die erste sprachliche »Poikilia« zieht, verdankt er, abgesehen von seiner Zeitnähe und seiner agitatorischen Grazie, das allgemein europäische Verständnis weit über Goethe hinaus: er stellt an das Ausland nicht die Anforderung, ihn aus deutschen Wurzeln zu begreifen. Die europäische Aktualität trägt und nährt sein Verständnis überall wo und solange der »Fortschritt« noch währt. Seine Flachheiten und nicht seine Tiefen, nicht seine deutschen und jüdischen Qualen, machen ihn beliebt.

Für die deutsche Sprache ist er der verhängnisvolle Erleichterer, Vermischer und Verschieber geworden. Erst seit Heine kann jeder von Dingen reden die über seinem seelischen Bereich liegen. Er hat die Wendungen der Weihe, des Glaubens, des Meinens und des Zwecks, des Strebens und des Forderns, der Erschütterung und des Getändels, die noch bei Goethe durch eine immanente Wertordnung geschieden waren, durcheinander gebracht und den Sinn für Gewichte ersetzt durch den Sinn für »Nuancen«. Er hat dem Ladenschwengel den Ton des Priesters ermöglicht, dem Redner die Lyrik, dem Bänker die Salbung. Er betritt viele Ebenen nach Willkür und zerstört damit jedes Niveau. Nicht ein neues Niveau der Sprache hat er geschaffen, wie Nietzsche, der bei der unermeßlichen Mannigfaltigkeit der Töne doch nur eine Höhe und Tiefe hat (gleichsam den Generalbaß), eben weil er den archimedischen Punkt außerhalb seines Blickfeldes besitzt. Heine beginnt, und das ist keine kleine Leistung, die Anarchie der deutschen [11] Sprache .. was bei ihm noch Virtuosität, Vergeudung eines geerbten Reichtums ist das wird bei seinen Nachfolgern Ohnmacht und Bankerott. Was bei ihm noch Mischung ist wird nachher Durcheinander. Vor allem aber: er hat keine neue Idee seines geschichtlichen Augenblicks, sondern nebeneinander das Neuheidentum Goethes als Gesinnung ohne Leib und Haltung, das protestantische Judentum als Pathos ohne Ethos und die französischen Revolutionswünsche als Ziele ohne Glaube. Das Nebeneinander dieser Ideen, die Möglichkeit dieses Nebeneinanders ohne Verschmelzung, das ist sein Neues, seine Verführung. Die reizbare Seele die all das balanzieren konnte und das Leiden, die Spannung, die Wollust so vieler Widersprüche: das hat er in die deutsche Sprache gebracht. Diese Seele gehörte ihm allein, Stil konnte sie nicht schaffen, wohl aber durch ihren Reiz zur Buntheit und Splitterung vieler Stile verlocken .. nicht ihre Substanz weiterstrahlen in dünnere Medien, wie die Sonne Goethe, nicht ihre Erschütterung einblasen in schwächere Seelen, wie das Gewitter Nietzsche, sondern ihre Beziehungen, entweder Techniken oder Richtungen, vermitteln. Vor ihm gibt es wohl niedrige und leere Sprache als Ausdruck niedriger und leerer Gesinnung, platter Gedanken, stumpfer Gefühle, aber erst seit Heine gibt es in Deutschland Worte ohne Werte aus allen seelischen und gesellschaftlichen Schichten. Auch damit leitet er, ohne selbst Epigone zu sein, das Epigonentum, die zwecklose Maskerade ein, wie er den Journalismus eingeleitet, die unsachliche geschmückte Zweckrede – das Feuilleton, den Leitartikel .. das raumlose, maßlose, bodenlose Wort.

Der Naturalismus hat dann von vornherein die Sprache nur als notdürftiges Mittel der Zeitnachahmung gekannt und selbst auf die Fiktion verzichtet, als habe sie eine Weihe von dem »Ideal« her – verzichtet zugleich auf alle Reize und Spannungen die ihr Heine gegeben. Wenn dann seine Führer sich später wieder der gehobenen Ausdrucksweise beflissen, den Vers wieder pflegten und ihre Stoffe aus der Ferne holten, so war diese »Neu-Romantik« schon die literarische Wirkung und Spiegelung und zugleich ein Mißverständnis des Geistes der mit Friedrich Nietzsche und Stefan George sich angekündigt hatte. Die »Neuromantik« verhält sich dazu genau wie das Epigonentum sich zum Geist und zur Sprache des Goethischen Zeitalters [12] verhält: sie nahm als Kostüm, als Theater und Reizmittel, oder als Meinung und Gefühlsweise, als Gewürz der Gegenwart, als eine neue »Sehnsucht«, als »Individualismus« – d.h. als unverpflichtende Ergänzung des zeithaften Massendienstes, was der Beginn einer Überzeit war, eines Jenseits von »Gut und Böse«, Jenseits von Masse und Persönlichkeit: das Wiedererscheinen des welthaften Menschtums. Doch davon später!

Nur müssen wir kurz verweilen bei den Gegenwirkungen des Zeitgeistes auf diesen Einbruch: bei seinen Mißverständnissen, Anpassungen, Rückfällen. Denn woher auch der neue Geist kommen mochte, in dem Augenblick da er auf der Ebene des Zeitalters erschien, mit ihm zusammentraf, begann außer dem notwendigen Widerstand auch sofort seine Verarbeitung, Umdeutung und Einsaugung. Jede Kraft und jede Gestalt, was sie auch sein mag, ist durch ihr bloßesErscheinen ein Element des Zeitalters dem sie erscheint – durch ihre Umrisse, womit sie auch gefüllt sein mag, hebt sie sich dem vorgefundenen Raum ein und ab, schafft und erleidet Grenzen. Der Naturalismus, der um 1890 seine Stunde hatte, war die folgerichtigste und ehrlichste Form des Zeitdienstes. Dieser Zeitdienst hatte zwei verschiedene Antriebe: die Reizsucht und die Nutzsucht, oder – um es mit den pathetischen Schlagworten zu sagen: Individualismus und Sozialismus: der eine das Wohl des Einzelnen, der andere das Glück der Gesamtheit erstrebend (wobei Zweck und Mittel beider oft vertauscht und vermischt werden). Auf die Einen wirkte nach den schalen historischen und romantischen Gemütlichkeiten das Harte Böse selbst Ekelhafte als neuer Stachel, und diese »Wahrheit« war ihnen ein pflichtloser Kitzel, halb Grusel halb Wollust. Den Andern war die Wahrheit ein sozialer Mahnruf. (Der französische Naturalismus, die Madame Bovary Flauberts hat ästhetischen Ursprung .. der nordische, etwa Ibsens Gespenster, ethischen: im deutschen vermischen sich beide Tendenzen, z.B. Gerhart Hauptmanns Weber.)

Auf diese beiden Empfänglichkeiten traf nunmehr die neue Sprache Georges: denn zunächst wurde er nur bemerkt als ein neuer Sprachtechniker, als der Bringer seltener gewählter Worte, feierlicher Tonfälle und – von den Belesenen – als der Vermittler der romanischen Stimmungskunst. Zuerst reagierte die immer neugierige Reizsucht [13] darauf und berauschte sich an den Mitteln und Flächen Georges ohne irgend nach dem Grund zu fragen. Dieselbe Menschenart die gestern sich an dem Elend der schlesischen Weber geweidet hatte fand jetzt Geschmack an den Prächten des Algabal. Kein neues Wesen, sondern eine neue Mode ergab sich aus der Berührung des neuen Mittels (Mediums), der gehobenen und dichteren Rede, mit der zeithaftigen Reizsucht: diese neue Mode ist das sogenannte »Ästhetentum«. Vor dem Epigonentum hatte es voraus die größere Buntheit und Spannung der Sprachmittel, die gewandtere Technik und den auch vom Naturalismus geschulten Blick für die Dinge, für sachliche Einzelheiten, das Getast für Maser und Stoff. Vor dem Naturalismus hatte es voraus den weiteren seelischen Spielraum, es war nicht nur auf den vordersten Alltag beschränkt, sondern konnte die Fernen jeder Art als Schmuck und Kulissen benutzen. Es hatte Auswahl und Wähligkeit, d.h. Geschmack. Dem Epigonentum wie dem Naturalismus stand es nach an Ehrlichkeit: jene beiden glaubten an ihre Zeichen, der Ästhet will mit ihnen nur wirken. Das Ästhetentum ist ein weiterer Schritt zur Entwertung aller Inhalte, zur Lüge und zwar zur zweck-und nutzlosen Spiel-lüge geworden. Nicht zufällig trifft zeitlich das epidemische Auftreten der Pseudologia phantastica mit der Blütezeit des Ästhetentums zusammen. Das Ästhetentum hat die Sprachmittel und -scheine jeder Erhebung, Ferne, Ergriffenheit schauspielerisch verwendet, um zu reizen, ohne den seelischen Gehalt und Boden, ohne den dazu gehörigen Glauben und Gott. George als Schöpfer oder Bringer dieser neuen Mittel galt für den Begründer des Ästhetentums, dessen deutscher Meister und Vollender Hugo von Hofmannsthal ist: von diesem aus ging es dann in die Bildungsschriftstellerei, auf Presse und Theater über. Wegen der Mannigfaltigkeit seiner Stoffe und Techniken ist das Ästhetentum weniger eindeutig als der Naturalismus .. aber ob neuromantisch oder neuklassisch, romanisch oder exotisch oder russisch und nordisch gefärbt, ob Seelen- oder Raum-poesie, ob dekorativ oder musikalisch: gemeinsam ist all seinen Schillern der Ursprung aus dem Reiz und die glaubenslose Handhabung der Mittel und Stoffe.

Den längsten Widerstand hat Georges Kunst – als »Wortkunst«, »Mystizismus«, »leerer Formalismus« – gefunden bei den redlich [14] Nutzsüchtigen: den fanatischen Dienern des Zeitgeistes, mochten sie den »Fortschritt der Menschheit« oder die »Entwicklung der Persönlichkeit« erstreben. Diese konnten sich mit dem eigentlichen Ästhetentum noch eher abfinden insofern es »ins Leben ging« wie der technische Ausdruck dafür lautete, d.h. sich der üblichen Fortschritts- und Entwicklungsgeräte, des Theaters und der Presse, bediente, insofern es Geschäfte machte und rasche Erfolge suchte, insofern es den Massen entgegenkam und entsprach. Als alle Ästheten außer George »ins Leben gingen«, erschien seine unnachgiebige Abseitigkeit als das »Ästhetentum« schlechthin: denn auch hier sah man im Abseitigen nicht das Drüber und Jenseits das ihn füllte, nur das Anders wodurch er sich abhob.

Dies änderte sich zuerst, als George etwas zu wollen und mit den Zeitgedichten sich an der Gegenwart, gleichviel ob freundlich oder feindlich, zu beteiligen schien. Gleichzeitig trafen die Reize ohne Geheimnis und Gehalt auf immer stumpfere und gierigere Gaumen, die das arrivierte Ästhetentum zu immer schnellerem Wechsel der Modeschüsseln nötigten. Ein neues Mißverständnis begann und erweiterte Georges Wirkungszone in der Zeit: man begann ihn als »ethischen Willen« oder als »religiöses Erlebnis« zu nehmen, d.h. als eine Bereicherung der Zeitinhalte um ein neues Streben oder um eine neue Innerlichkeit. Das Schlagwort vom »neuen Pathos« kam auf, der Vorläufer des »Expressionismus«. Auch jetzt wollte niemand die gewohnte Zeit-ebene, die einzig vorstellbare, verlassen, niemand den ganzen Menschen wandeln, auch jetzt begnügte man sich mit einer Umlagerung der vorhandenen Seelengewichte oder mit einer heftigeren Gebärde des Genießens und des Forderns. Das neue Pathos nahm in sich auf die mißdeutete Gesinnung Georges und das Ästhetentum wie dieses den Naturalismus und die mißdeutete Sprachzucht Georges aufgenommen hatte: all diese Elemente mischten sich jetzt darin und kamen in verschiedenen Dosen bei seinen einzelnen Trägern zum Vorschein. Die einen ballten in Georgischen Tonfällen (hauptsächlich aus seinem Baudelaire) qualvolle und widrige Bilder um der Bilder willen, andere benutzten die Bilder und die Tonfälle zu sozialen oder politischen Manifesten, andere lockerten die neue Gespanntheit zu süß schwelgender Seelenvergötzung oder Dingverinnigung oder[15] blähten die neue Schwebe zu slavischer, menschheits-wütiger Mitleidsemphase. Innerhalb des »neuen Pathos« können wir mehr zielstrebige und mehr beschauliche Tendenzen unterscheiden, »aktivistische« oder »mystische«. Gemeinsam ist ihnen, zum Unterschied vom Naturalismus, die gepflegte Form und die Heftigkeit des Sagens (sei es Innigkeit oder Ausbruch), zum Unterschied vom Ästhetentum die grimmige Lust am Gegenwärtigen und am Wilden Lauten Jähen. Gemeinsam mit Naturalismus und Ästhetentum ist ihnen die Entstaltung nach außen durch Ziele oder nach innen durch Triebe .. die Zerlösung der Formen in Seele- oder Stoffbrei, der Mangel an Grenze, Maß und Mitte, an umwölbender Welt und festem Herzen, die zügellose Hingabe an jedes äußere oder innere Anders, die bald als Weltfreundschaft, bald als Gottsuche, bald als Menschheitsdienst verbrämte Zeitfron und Selbstflucht (oft bei schmatzendem Ich-genuß). Ein überzeitlicher Kosmos, ein »Gott« wird nun und nimmer erstrebt oder erlebt, sondern geschaut und gelebt – und dazu gelangt kein Seelenschwelger, kein Zielsüchtiger, kein Dingesammler und kein Geschmäckler.

Sie alle sind verbunden durch die Wahllosigkeit gegenüber den Reizen, den Wirrwarr der Werte und die absichtliche oder unwillkürliche Mischung der menschlichen Ränge und Stufen. Nicht zufällig verherrlichen einige das Aas, denken sich andere ins Ungeziefer, alle in Sachen hinein – und mit Wollust wühlen die meisten bald in untermenschlichen bald in außermenschlichen Zuständen, mit animalischem Stofftaumel, amerikanischer Maschinen-romantik, abstrakter Menschheitsumarmung: lauter Erregungen die nicht verpflichten, Hingebungen die nichts heischen, bloße Wallungen im Dumpfen und Rufe ins Leere. Alle meiden sie geflissentlich die besondere menschliche Gestalt im bedingten Raum und mit dem unabdingbaren Gesetz. Den Willen kennen sie nur als Trieb oder als Programm, die Liebe als weiches Mitleid mit der beliebigen Kreatur, als Geilheit oder als Utopie, die Leidenschaft verwechseln sie mit der Aufregung oder mit dem Fanatismus, die Ehrfurcht mit dem Begeistertsein und die Frömmigkeit mit der Wallung, dem Untertauchen und Hinfließen. Durchgehends trachten sie nach dem Glück, d.h. nach Aufhebung des Schicksals durch Einzelgenuß oder Allwohlfahrt, nicht nach dem [16] Werk, der Erfüllung des Schicksals durch Sein, Tun oder Bilden. Von allen Existenzen ist nur eine ihnen durchaus zu wider: der heroische Mensch: sie können ihn nur als Kranken oder als Unternehmer erklären. Dagegen wird ein besonderer Kult getrieben mit dem Weib, dem dumpfen Fleisch, und mit dem Heiligen, der puren Seele: beides die menschlichen Pforten ins Außermenschliche, sei es hinunter ins vormenschliche Chaos, sei es hinaus ins nachmenschliche Nirwana.

Fragen wir nach dem einen Grundwillen dieser Zeichen, so heißt er: weg vom leibhaften, gottgestaltigen welthaltigen Menschen! »Weil die dünne Lymphe Gottes Kraft nicht mehr erträgt«, weil dem geschwächten Blut das menschliche Leibgesetz zu streng wird, strebt es vom europäischen Menschen der ewigen Gestalt hinweg entweder zum tropischen Pflanzentum der unbedingten Ruhe, zum exotischen Tiertum der heißen Einfalt, zum russischen Seelentum der ausschweifenden Wallung, zum amerikanischen Maschinentum der sensationellen Wohlfahrt, zum Chinesentum der alt-klugen Wohlfahrt, zur Allerweltsmenschheit worin alles gilt und nichts mehr west. Diese Welten – in ihrer Stätte und Stunde richtig und sinnvoll – sind für wurzellose Europäer nicht »Welten« sondern Reize, Wähne, bestenfalls Gleichnisse ihrer unruhigen Selbstflucht inmitten der rollenden Zeit. Ihr eigener Boden ist ihnen verloren und darum wird auch die beste Fremdwelt sie nicht wurzeln lassen, und kein Gott wird aus dem Tanz um gewesene Götter entstehen: es bleibt beim naschhaften Erlebnis, meist beim bloßen Erlebenwollen. Eine Unmenge Anregungen, Aufregungen, Betäubungen, Entzückungen einerseits, eine Unmenge Forderungen, Bestrebungen, Verheißungen und Utopien anderseits: »Fülle fehlt«, weil gerade die eine Stufe übersprungen oder ausgefallen ist die all das halte und binde: der leibhaftige Mensch. Darum zwar Rudel von Talenten, von Könnern, Wissern, Fühlern, Träumern, Leidern, aber keine Ächtheit und Größe, und meist bei bunten Virtuositäten der Seele und des Hirns eine gewisse Öde des Wesens. Niemals hat es so gewimmelt von aufgeblasnen Schulmeistern, verrückten Pfaffen, phrasentrunknen Hochstaplern, von Poeten und Profeten wie Nietzsche sie zeichnet: Leuten »die von allen Möglichkeiten der Größe, auch der sittlichen Größe, zu strotzen scheinen und es dabei im Leben nicht einmal bis zur gewöhnlichen Rechtschaffenheit [17] bringen«. Maß-lose, im eigentlichen Sinn maßstab-lose Eitelkeit und Verlogenheit ist nicht mehr ein Charakterfehler Einzelner, sondern naturnotwendige Eigenschaft eines Geschlechts das nicht den Menschen will, sondern das Chaos, das Atom, das Nirwana. Denn nur vom Menschen aus gibt es ein Maß der Größe und der Wahrheit, gibt es Götter und Werte hinauf und hinab.

Mag jedes Zeitalter sich anders nach den ewigen Sternen richten: das pure »Zeit«alter, unseres, ist das erste das die Aufhebung aller Maßstäbe theoretisch wünscht und praktisch betätigt. Nicht die Umwertung der bisherigen Werte, sondern die Entwertung aller Werte: der »absolute Relativismus«. Nicht kühne Neuerer und folgerechte Verbrecher wollen das, sondern Quallen und Wellen, und die sind diesmal nicht wie ehedem die Nachzügler und Mitläufer, sondern die Vorläufer des Zeitgeistes, sein vorgeschrittenstes Stadium. Das ist etwas neues in der Geschichte, wie zum erstenmal in der Geschichte ein Zeitgeist, das Fließen, das Abrollen, die Beziehung, der Fortschritt sich als Welt und Gott genommen hat. Zum erstenmal ist Beziehung das einzige Wesen. Für jeden der dies bejaht ist das Quallentum das bloße Schwabbeln und Wohinfließen auch die Erfüllung. Der Fortschritt zu immer überholbaren Zielen, der Genuß immer wechselnder Reize, das »Pathos« als Sensation, das »Erlebnis« als Lebensgehalt, das sind nur notwendige Vorstufen der Entwertung, wie es notwendige Folgen der Verzeitlichung und notwendige Formen der Entmenschlichung sind.

Der »pfeilgerade Willen« führt notwendig in das »Nichts«. Der Mensch der die wandelnden, werdenden, weder starren noch vergänglichen d.h. überholbaren Gesetze lebt, der allein schafft Kosmos, der allein kann ihn erleben: und dieser Mensch ist nicht wie Münchhausens Bohnenranke, auch nicht Münchhausens Zopf, sondern er ist eine Kugel mit wachsendem, mit strahlig weitergreifendem Umfang bei immer gleicher Mitte, immer gleicher Form, d.h. immer gleichem Gesetz, wie sehr auch immer neues Chaos ihr einbezogen werde. Wer aber statt dieser ewigen Kugel die zeitliche Flugbahn, die Fortschrittsbahn will, statt des Menschen irgend ein Ziel des Menschen oder den Weg zu diesem Ziel, der verliert notwendig mit dem Menschen so wohl Ziel als Weg. Das ist die Entwicklung die der europäische [18] Geist mit immer wachsender Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert genommen hat. Es begann mit dem Glauben an ein in der Zeit zu verwirklichendes Ziel, dann wurden die Mittel dazu selbständig, dann der Weg selbst.

Wir haben das deutsche Schrifttum bis zum Krieg nur als das uns zunächst angehende Zeichen dieses Hergangs betrachtet, um nachher Georges Sinn deutlicher zu begreifen: der ist einfach genug, aber schwer vorstellbar denen die in den Gedanken und Gefühlen des puren Zeitalters verstrickt sind, die pfeilhaft denken statt kugelhaft – gleichgültig ob sie Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft oder bloße »durée« wollen .. sie wollen Zeit und er will den Menschen: das Maß, nicht das Geschöpf der Zeit. Es mußte einmal der Zeitpunkt kommen da die Menschflucht nach außen zu immer leereren Zielen, die Menschflucht nach innen zu immer feineren, wilderen, dunkleren Reizen sich selber vernichtete, in ihren eigenen boden-losen Ab-grund starrte .. da alle Teleskope zur Menschheit oder zum Chaos oder zum Nirwana hinaus, alle Mikroskope in die Seele, in die Nerven, ins Geziefer hinein nicht mehr das schauderhafte Ungenügen stillten. Der Stolz auf Errungenschaften war schon länger erschüttert, aber man mußte zwangsläufig weiter erringen. Noch betäubte man sich an primitiven exotischen, möglichst entlegenen, möglichst unverpflichtenden Fernzaubern, solange noch irgendein unangetatschtes Abseits zu entdecken schien – Altägypten, Frühchina, Gilgamesch, Neger, Maya .. all das nicht mehr als Wissenschaft, Historismus, sondern als Verkindung, als Narkotikum. Nur möglichst weg vom eigenen Sein, denn man ahnte das Loch das da gähnte.

Der Krieg hat dies Loch endlich vielen gezeigt, und nun erscholl bei vielen der Schrei: los von den Mitteln! los von den Stoffen! los von den Zielen! ein ganz neuer Beginn muß geschehen, ein innerstes Werde, ein Ur, ein Ansich, ein utopisch unbedingter Grund der nichts mehr mit den Gründen und Dingen des Zusammenbruches zu tun hat .. wir müssen mit dem anfangen was wir jetzt ganz sicher haben! Und nur zwei Dinge hatten sie ganz sicher: das Loch und den Schrei. Dies ist (zurückgeführt auf seinen ehrlichen Ursprung und entlaust von modisch gesindelhaftem Mitläufertum) der Expressionismus. Er gehört ganz wesentlich zum Krieg und ist nicht seine[19] Folge, sondern das geistige Symptom derselben Krise deren weltliches Symptom der Krieg ist – wie dieser durch mancherlei Vorboten angekündigt und wie dieser umlagert, gemengt und beschmutzt mit vielen Resten und Trümmern seiner Vorschichten und Vorgeschichte. Er ist ein gewaltsames Aufbäumen des beraubten nackten und zerschlagenen Zeitgeistes gegen seine bisherigen Täuschungen, zunächst ein rasendes »Nicht mehr das!«, ein entlastendes Geheul, Schluchzen, Stöhnen, Hilfe- oder Ermunterungsrufe Ertrinkender und verrücktes Gelächter. Kein Zufall, daß der Schrei schlechthin als Erlösung gelten soll!

Auch diese Opfer des Zeitwahnsinns haben keinen archimedischen Punkt, auch der Schrei, der Ausbruch, der Ausdruck schlechthin gehört durchaus zur Zeit und die Zerschlagung der Sprach- und Formgefüge schafft noch keinen einzigen neuen Laut. Darin nun gehören die Expressionisten mit all ihrer Anfangswut, mit allem programmatisch tobenden Utopismus durchaus zu der zertrümmerten Zeit, daß auch sie nicht »den Menschen« wollen – alles, nur nicht den Menschen! sondern abermals entweder die »Menschheit«, (diesmal nicht als Gesellschaftszustand sondern als Seelenlage) oder den »guten Menschen« d.h. die Qualle, oder den Schrei in Permanenz, die Revolution um der Revolution willen, das Chaos: kurz, die meisten Ideale des Fortschritts, ihres Fortschritts-charakters ledig als bedingungslosen »Ausbruch«. Aktivismus, Mystizismus, Ästhetentum fallen hier zusammen, Reizsucht und Nutzsucht sind aufgehoben in einem einzigen ziellosen Ausdruckstaumel, der zugleich die Notdurft befriedigen, das Herz entlasten und das Heil bringen, vielmehr vorwegnehmen, bedeuten soll. Der Schrei ist zugleich tierische Regung, politisch soziales Programm und geistige Spannung. Man schreit nach dem Unerfüllbaren, nach der Utopie, weil das Schreien selbst schon Entladung, Erlösung ist, ganz gleichgültig wonach man schreit. Man zerschlägt die Sprache in ihre alogischen, augenlosen Kleinteile, in ihr vorgeistiges Kinderlallen, weil dies Zerschlagen selbst schon etwas »ausdrückt«.

Was auf bloßem Zweck oder Trieb beruht wird mit irgendeinem Selbstzweck oder Selbsttrieb enden, d.h. in der Atomisierung .. das Atom ist das Unzerlegbare: drum nimmt es sich leicht für den Anfang, [20] doch es ist das Ende. Jeder Fortschritt an sich läuft endlich ins bloße Fort und ins bloße Geschreite aus .. jede Zielerei endet im Tanz der Atome durcheinander oder im Kreisen der Atome um sich selbst. Der Expressionismus schafft keine Keimzellen des neuen Lebens, sondern zeigt die Atome des alten. Und wenn einige Ältere kopfschüttelnd wohlwollend sagen, man müsse abwarten was daraus werde, so ist auch das fortschrittlich gedacht: der Mensch ist immer am Ziel, die Zeit und der Fortschritt nimmer und »was ihr heut nicht leben könnt wird nie«.

Der Expressionismus leugnet das was ihm hier nachgesagt wird gar nicht sondern bejaht es .. auch ist es eine Feststellung, keine Anklage. Es ist kein Vorwurf Atom, Dauer-säugling, Qualle zu sein: es sei denn, man beanspruche was anderes und das Einzige zu sein. Berechtigt ist durchaus der Anspruch des Expressionismus die vorgeschrittenste heutige Menschheit auszudrücken, den Endschrei des »Zeit-Alters«, und mit Fug blickt er auf Naturalismus und Ästhetentum als auf altmodische Vorstufen und Hemmnisse herab. Wer den Fortschritt und das Zeitalter will der muß ehrlicherweise auch seine Letztlinge wollen: das programmatische Säuglingslallen ist das »letzte Wort« (le dernier cri) des bloßen Zeitalters, und die vorletzten Worte haben keinen Grund zu mildem Lächeln oder zur entrüsteten Abwehr. (Ich rede von dem Willen der diese Geisterwelle treibt, nicht von den privaten Meinungen und Motiven einzelner Personen. Es gibt hier wie überall bloße Dummköpfe und schlaue Literaturschieber, Prinzipienreiter und Schmöcke, Interessenten und Opfer. Ich wäge hier nicht persönliche Verdienste und Leistungen ab, sondern die Bewegungen der Zeit, gewissermaßen eines einzigen Wesens. In jedem heutigen Schriftsteller ist vielerlei Erbschaft und keiner ist mit seinem ganzen Werk der chemisch reine Ausdruck seiner eigenen Richtung, diese wallt über die Privatpersonen hinweg, in ihnen, mit ihnen, durch sie, wie der Sturm durch Wellen. Man klage also nicht über Unbilligkeit gegen einzelne vortreffliche Köpfe, wackere Herzen, gute Leistungen – darum handelt es sich hier nicht .. nicht um die hundert Iche, sondern um das eine Es. So rede ich auch nicht von den Handwerkszeugen und Bedürfnisanstalten des Zeitgeistes: Theater, Presse und Lichtspiel, von den Mitteln Lyrik, Roman, Drama, nicht von den [21] Kunstfertigkeiten Einzelner in der Benutzung dieser Mittel – so wenig ich beim Blick auf die Mechanisierung der Welt jedem genialen Erfinder und Mechaniker gerecht werden kann: Verdienste innerhalb der Zeitmittel bleiben ungeschmälert und unberücksichtigt, wo der große Kampf des ewigen Menschen gegen die fortschreitende Zeit in Frage steht. Virtuositäten sind freilich fast der einzige Ruhm den die verschiedenen Vertreter der wechselnden Stadien beanspruchen und den man irrigerweise George selbst zugebilligt hat. Angesichts jenes Kampfes ist es müßig, heute noch von geschickten Dramatikern, Lyrikern usw., von einer neuen Psychologie oder Verstechnik Aufhebens zu machen. Fortschritte des Bühnenwesens sind so gleichgültig, so wünschenswert oder beklagenswert wie Verfeinerungen des Hotelbetriebs. Es handelt sich nicht mehr darum was auf der alten Ebene Neues, Gutes oder Schlechtes geschieht, sondern darum auf welcher Ebene sich fortan das Leben abspielt.)

Hierin ruht zunächst, von dem Ausmaß und Umfang seines Wesens abgesehen, Stefan Georges geschichtlicher Sinn: er allein beherrscht heute die neue Ebene die Nietzsche zuerst wieder sah, die Ebene des ewigen Menschen, nicht die der modernen »Menschheit«. Er allein hat den archimedischen Punkt außerhalb des Zeitalters, und sowohl sein Anders-er scheinen als sein Wirklichsein, sein Lockendes und sein Drohendes kommt heute daher. Er wird heute erst allgemeiner sichtbar, ja verständlich, da die bloße Zeit nicht mehr weiter weiß. Wenn jetzt wieder vom »Kosmischen« d.h. von einer übergesellschaftlichen, außerzeitlichen Lage die Rede geht, wenn der Expressionismus nach einem Ansich, nach urtümlichem Ich verlangt, so entnimmt er dabei (wohl unwissentlich) die Zeichensprache für seinen eigenen Endschaftswirbel abermals dem mißdeuteten Bereich Georges. Nicht durch seinen höheren Grad innerhalb der modernen Welt, durch sein höheres Können ist George wichtig, sondern durch ein Sein das ohne ihn verschollen oder sagenhaft bliebe. Er allein hält heute den lebendigen Zusammenhang mit der wesenhaften Vorwelt aufrecht, in seinem Blut, seiner Gestalt und seiner Schau .. nicht durch Gedächtnis, Romantik und Pietät, nicht durch rückgewandte Bewahrertreue, starre Orthodoxie, Träumersehnen und Trümmerwehmut, Gelehrtenaltgier und Ausgrabungszärtlichkeit. All das gibt es genug und es [22] soll nicht gescholten werden: doch nur George hat heute den lebendigen Willen und die menschliche Wesenheit die zuletzt in Goethe und Napoleon noch einmal Fleisch geworden, die in Hölderlin und Nietzsche zuletzt als körperlose Flamme gen Himmel schlug und verglühte. Er hat nicht ein klassizistisches Streben, sondern er ist eine antike Natur, er ist Katholik nicht durch Glauben oder gar aus Geschmack, sondern durch Geblüt: er bewahrt die ewigen Kräfte die geschichtlich bisher in klassischen und katholischen Gebilden erschienen sind, in der heutigen noch unbenamten Form. Wir bedienen uns der geschichtlichen Namen nur als annähernder Chiffern, um ihn zu verdeutlichen und abzugrenzen gegen das eigentlich »moderne«, aber es wäre ein ebensolches Mißverständnis ihm die Wiederholung der geschichtlichen Niederschläge »Antike« und »Mittelalter« zuzuschreiben wie den Willen zur »Modernität«. Nochmals, soweit solche Dinge formulierbar sind: er will das Ewige im heutigen Kairos, nicht eine edle Vergangenheit und nicht eine zeitgemäße Neuheit. Er will, das heißt nicht: er erstrebt o der fordert oder möchte als etwas das ihm fehlt, sondern er entwirkt es als etwas das ihn treibt, von dem er besessen ist – nicht wie das Tier Futter will, sondern wie die Blüte Frucht will und die Idee Erscheinung. George ist uns das Zeugnis einer Welt die war und von der wir ohne ihn nur historisch wüßten, d.h. fruchtlos – denn »Luft die wir atmen gibt nur der Lebendige«. Er verheißt in dem er vergegenwärtigt ein Es das heraufkommt, wie jedes Exemplar einer Pflanze eine ganze Flora und ein ganzes Klima mitankündigt für den Boden worin sie wächst.

Davon wird dies Buch noch handeln. Hier sollen zunächst nur einige Grundzüge genannt sein die George von seiner ganzen Zeit abheben: sie eignen ihm nicht als einer besonderen Spielart, als Gaben des Sonderlings oder Tugenden des Genies, sondern als Normen eines Menschtums das einst das weltgültige, dann das welterneuernde und bis an die Schwelle unserer Zeit das welthegende war, von dem er aber heute das einzige sichtbare Beispiel ist. Nennen wir es eben der Kürze halber das antikische, doch unter Abwehr jedes klassizistischen Beigeschmacks! Beinahe alle moderne deutsche Genialität von Luther angefangen enthält den Zwiespalt zwischen Streben und Sein, Schicksal und Leben, Ideal und Wirklichkeit, Gott[23] und Seele – oder wie immer man ihn formulieren mag – ja, sie geht oft aus diesem Zwiespalt hervor und die eigentlichen Triumphe des modernen Geistes bestehen in der Unterdrückung des einen von Beiden oder in ihrem Ausgleich, in ihrer Aus-einandersetzung .. Mit dem Ringen und dem Segen seines ganzen Lebens ist Goethe schließlich dahingelangt die Einheit wieder in sich herzustellen, und das deutsche Weltgedicht, der Faust, ist das Denkmal auch dieses Ringens. Nietzsches Lehre ist ein Versuch in der Menschheit diese Einheit wieder zu erzwingen die er in der eigenen Seele nicht besaß. Es ist die christliche Erbschaft – und in ihr liegt der Keim des »Fortschritts« .. Der war jahrhundertelang noch unterirdisch und umschlossen von der langsam absterbenden Antike und dem langsam reifenden Katholizismus, der die schwerkräftig-sinnlichen, weltwölbenden Elemente der Antike rettete. Erst mit der deutschen Reformation wurden jene sprengenden Kräfte übermächtig, und das Streben nach Erlösung, nicht mehr umzirkt und gebändigt von der irdisch erreichbaren Heilsanstalt einer Kirche, selbständig, die Kluft zwischen dem gelebten oder lebbaren Da-Sein und der göttlichen Forderung unüberdrückbar .. und erst jetzt begann hemmungslos – unter selbstverständlicher Voraussetzung daß das wie auch immer Gegebene kein Heil sei – die Jagd nach dem Heil, bis die Jagd schließlich Selbstzweck wurde und sich der Jäger überall das Heil versprach, nur nicht in seiner eigenen Haut und Stätte.

Die Suche nach Erlösung und die Sucht nach Gütern, nach dem einen Unendlichen und nach tausend Endchen sind (bei verschiedener Richtung) desselben geschichtlichen, ja seelischen Ursprungs: aus der modernen Unwirklichkeit, Unerreichlichkeit, Ungreifbarkeit Gottes, des Ideals, des Heils usw. Dies moderne Suchen, ohne das man sich den höheren Menschen gar nicht mehr denken kann, hat man auch in die Antike, z.B. in Platon, fälschlich hineingedeutet, und im Katholizismus, worin es eine noch gehemmte Triebkraft war, fast allein gesehen. Das Ungenügen, das Schuldgefühl, die Reue, die religiösen Skrupel waren noch im Mittelalter Formen der religiösen Technik, der gottbannenden Magie. Seit Luther sind sie selbständige Erlebnisse, Formen des Strebens. Die »ringende Seele«, die mit ihrem Schicksal nicht fertig wird, die nicht sich dar-stellen, gestalten, erfüllen,[24] sondern er-lösen, weg-stellen, ent-bilden will, der gute Mensch in seinem dunklen Drange, ist das innere Ideal der Modernität, wie der rastlos arbeitende raffende strebsame Unternehmer das äußere Ideal ist: beides Typen deren Schwerpunkt außer ihnen liegt, die ihr Schicksal nicht wesen, sondern suchen oder machen wollen, die ihr Heil oder Ziel nicht verkörpern, sondern erringen müssen, und die ihr Wesen nicht leben, sondern erleben oder verwenden. Das ist nicht antik und wir müßten glauben daß jene antike Einheit verloren sei für immer, als eine glücklicherweise überwundene Stufe oder als ein leider versunkener Traum, wenn sie nicht in Stefan George leibhaftig wieder erneuert wäre.

Sein Werk ist völlig frei von den Zerrissenheiten, Skrupeln, Zweifeln, Zerknirschungen ohne die man sich in Deutschland seit Jahrhunderten tieferes Leben nicht mehr denken konnte, und das ist der Grund warum man ihm solange die Leidenschaft, das Streben, das Gefühl sogar abgestritten und sein Dichten kalte Mache oder Schwäche genannt hat. Dieser Typus Mensch war verloren gegangen. Seinem stetig tiefen Herzen, weiten Geist und mächtigen Willen, der von sich und andern fordert wie kein Deutscher außer Nietzsche je gefordert hat, mangeln alle die deutschen Lieblingseigenschaften, die eben jener Zwiespalt erst zeitigt: das »Gemüt«, das wohlige oder schmerzlich-dumpfe Überwölken des Zwiespalts .. der »Humor«, das schillernde Spiegeln des Zwiespalts, und die »Phantasie«, das bunte Umkränzen und Beblümen des Zwiespalts. Es fehlen bei ihm alle wühlenden Selbstanklagen, denn er ist da, das in ihm beschlossene Gesetz zu erfüllen, nicht zu glossieren, d.h. es zu bejammern oder zu preisen. Wo er nicht tun, leiden oder bilden kann schweigt er. Es fehlen alle tiefsinnigen Grübeleien über Unerforschliches: denn er ist da, sein gegebenes Menschtum im zugemessenen Raum auszuwirken durch Tat und Schau, und das Unerforschliche ruhig zu verehren an den Grenzen seines Wirkungsfeldes. Es fehlt ihm jede Seelenschnüffelei, Mitleid wie Selbstgenuß: wie er sein eigenes Schicksal sachlich bejaht, so sieht er auch an den anderen die überseelischen Lebensgesetze sich notwendig vollziehen. Was einer ist, nicht wie einem zumute ist, geht ihn an. Mitleid mag haben wer an sich selber leidet, nicht wer sein eigen Wesen als Schicksal nimmt und nutzt, [25] tuend wie erleidend. Amor fati und Mitleid schließen sich aus. (Mitleid gehört nicht zur Güte: Güte umfaßt das andere Wesen und hilft ihm in seinem Bezirk. Mitleid schlüpft ein: Güte ist wirkend und tätig, Mitleid fruchtlos und wehrlos.) Die menschlichen Zustände sind für George kosmische Lagen, nicht seelische »Erlebnisse«: er kriecht nicht in sie hinein, sondern er ordnet sie in ein Rund von Höhen und Tiefen des Seins.

Wie ihm all die beliebten Formen der Zerrissenheit mangeln, so besitzt er drei Grundeigenschaften in antiker Reinheit die den Heutigen nur getrübt und verschwemmt erträglich sind: Würdegefühl, das ist unbestechlicher Sinn für eingeborne menschliche Grade, Gewichte und Stufen. Der Moderne kennt das nur als Kastengeist, d.h. zweckmäßige Regelung sozialer Abstände. Sodann Schicksalsgefühl: das ist Sinn für die innerste Einheit von Sein und Geschehen, von Tun und Leiden. Wir kennen bald klug eudämonistische Berechnung von Ursachen und Folgen, bald wehleidige und trotzige Ergebung in das Naturgesetz oder in den ewigen Ratschluß, bald mystische Selbstentäußerung, die mit dem Charakter zugleich das Schicksal aufhebt. Und drittens erneuert George die Liebe als übergeschlechtige (aber nicht ungeschlechtliche) weltschaffende Leidenschaft. Wir kennen nur die sinnlich-übersinnliche Gefühlswallung, den animalischen Trieb oder den Phantasie- und Nervenkitzel, und daraus erklären wir uns Platon, Dante, Shakespeare und Hölderlin!

Schicksalsgefühl, Würdegefühl, Liebe sind antikische Seelenkräfte, nicht antikische Lebensinhalte – wir werden später sehen welche eignen und neuen Inhalte George mit diesen Kräften bewegt .. denn freilich bliebe er eine Kuriosität, wenn er nur eine Wiederkehr antiker Kräfte wäre. Hier wollen wir ihn abgrenzen gegen das Nur-moderne und sagen was heut nur ihm eignet, und zwar nicht als einer neuen Nüance sondern als einer ewigen Art. Wäre er keine Norm, sondern bloß ein modernes Genie unter anderen Genies, ein Hexenmeister mit etwa antiken Zaubereien, so brauchte man nicht von ihm zu reden. Nur was einzig und zugleich gesetzlich, durch seine Einzigkeit gesetzlich, durch seine Gesetzlichkeit einzig ist, kann uns helfen. In einem Zeitalter das mit Stolz und Bewußtsein nur Zeitalter ist verkörpert George dasewige Menschentum .. verkörpert, nicht nur [26] verkündet, sein Wort ist Fleisch und sein Fleisch Wort, deutsche Sprache, bis zum Rand gefüllt mit diesem gelebten Weltgehalt. Wir haben an einigen Eigenschaften Georges verdeutlichen wollen wohin er gehört und was an ihm anders ist als alles Heutige, zugleich was er gemein hat mit der Antike, der bisher reinsten Form des »ewigen Menschtums«. Ich bin mir dabei der Schwierigkeit bewußt, Geistiges durch Worte sichtbar zu machen: keiner begreift was er nicht sieht und keiner sieht wovon er nichts ist. Auch entsteht aus der Zusammenfassung vieler Einzelzüge leicht nur ein neues leeres Schlagwort: der »ewige Mensch« oder »Gesamtmensch« ist für mich eine dichte Idee, aber zugleich ein Hülfszeichen, er wird vielen ein bloßer Schall bleiben. Genug wenn man ahnt daß Anschauung zu Grunde liegt, und wenn einige sie sehen – gleichviel ob sie ja oder nein dazu sagen.

Der Gesamtmensch hat in George allein heute seinen Dichter gefunden, unter zahllosen Schriftstellern der Menschheit, der Gesellschaft, der Persönlichkeit, oder andrer Teilfunktionen des Zeitalters. Das mag man die »Idee« nennen deren Erscheinung er ist .. man mag später andre Namen für sie finden. Sie ist keine literarische Technik wie »Symbolismus«, keine Lebensanschauung wie »Ästhetizismus« – keine politisch-gesellschaftliche Gesinnung wie »Aristokratentum«. Sie ist die Einheit einer Person mit einer kosmischen Lage und einem geschichtlichen Augenblick .. die Einheit einer Seele mit einem ewigen Raum und einer einmaligen Zeit. Diese Idee setzt entgegen der Verheutigung (Aktualisierung) der Werte das Ewige, der Veröffentlichung der Werte das Geheimnis, der Benutzung und dem Genuß den Zauber, der Masse die Gestalt, der Einzelung (Atomisierung) den Bund. Dem reißenden Fluß, deß eine Welle die andere verschlingt, setzt George entgegen die wachsende Kugel, die alles bewahrt und immer neues einbegreift mit der verborgen strahlenden, nie ertastbaren Mitte.


Aus einer ewe pfeilgeradem willen
Führ ich zum Reigen, reiß ich in den Ring.

Will man die seelischen Weltbilder der Antike, des Mittelalters, des Fortschritts und Georges unterscheiden, so mag man sich eines geometrischen Gleichnisses bedienen:

Die Antike lebte in ringsumschlossener Scheibe

[27] Das Mittelalter in unweigerlicher Überwölbung

Der Fortschritt in unendlicher Linie

Der »Gesamtmensch« Georges in der strahligen Kräftekugel.

Etwa mit dem 19. Jahrhundert beginnt der Verteidigungskampf des »Gesamtmenschen« gegen die Alleinherrschaft des »Fortschritts«. Der Kampf des Fortschritts gegen die Alleinherrschaft des Mittelalters – oder des Katholizismus – der seine religiöse Form ist – beginnt etwa mit Luther und seine großen Siege heißen Kepler, Leibniz, Voltaire, Rousseau, Kant, französische Revolution. Von da ab ist sein Sieg entschieden und Schritt für Schritt sind die Bewahrer des Ewigen Menschen in die Verteidigung gedrängt. Viele klammern sich nun lediglich an historische Formen unter denen der Ewige Mensch (man nehme ein für allemal dies unzulängliche Sammelwort hin oder setze ein einleuchtenderes dafür) früher oder zuletzt sich bekundet hatte: das sind die Romantiker oder Klassizisten, »Konservative« oder »Reaktionäre« aller Schattierungen .. die vielleicht achtbaren aber unfruchtbaren Grabwächter. Sie bestatten als Tote das Tote und beobachten den Buchstaben aus dem der Geist entwichen ist. Es sind die »Eingereihten und die Rückgewandten«, Krankenpfleger der sterbenden Weltgedanken, Leichenbitter der gestorbenen. Einige wenige aber, die von den Zeit-genossen, den Nur-heutigen mit jenen verwechselt werden, hegen den Ewigen Menschen in Kraft und Geist und bereiten den neuen Leib worin er dereinst wieder erscheine: denn der ewige Mensch stirbt nicht, wenn er auch lange schläft. Er teilt nicht das Schicksal der Zeitalter in denen er sich inkarniert und überlebt sie wie das Wort Gottes die Lippen seiner Verkünder.

Seit der Fortschritt Herr der Erde ist, hat der Gesamtmensch, der kosmisch beseelte, der tragisch oder heroisch gehobene Mensch, fünf sinnbildliche Bewahrer gehabt, die seine neue Idee, das noch unbenannte Wesen, gegen die zerfahrende Beziehungswelt, gegen das Zeitalter schützten, und durch ihr bloßes Dasein die Gewähr geben daß er noch lebt, der Auferstehung in neuer Gestalt gewärtig ist und jedes bloße Zeitalter überdauert: Goethe, Hölderlin, Napoleon, Nietzsche, George. Sie sind nicht die einzigen Personen und jeder dieser Namen steht nur für eine sinnbildliche Haltung des Gesamtmenschen [28] gegenüber demZeitalter: aber sie sind die deutlichsten, die reinsten, am wenigsten durch private Schrullen, durch romantische oder fortschrittliche Beimengsel getrübt, wenn auch alle fünf von ihren Zeitgenossen bald als Fortschrittler bald als Romantiker mißverstanden und mißverwendet.

Goethe, noch am weitesten hineinreichend in die Breite der absterbenden Welt, ins Heilige Römische Reich, die letzte Schicht des Mittelalters, in das Rokoko, die letzte Welle einer durchseelt geschlossenen (stabilen) Gesellschaft, hatte noch Luft zu atmen und konnte sein Gesamtmenschentum mit dem bereits gewaltigen, doch noch nicht erdrückenden Fortschrittsgeist abfinden. Er litt darunter, aber er suchte das Beste daraus zu machen, sein Ewiges mit dem noch holden Vergangenen und dem noch nicht ganz wüst und toll gewordenen Modernen zu verschmelzen. Noch rannten die Mittel des Fortschritts nicht selbständig darauf los, und noch konnte der Weise sich ihrer zu seinen Zwecken bedienen, noch waren die Massen keine unübersehbare Verschwemmung des Volks, der Kapitalismus keine hemmungslose tyrannische Funktion des Geldes, die Technik und der Verkehr noch kein leerlaufendes Gerase, die Presse keine giftig fressende Wucherung des Geistes – kurz: all diese Mittel waren noch Mittel und noch so nah an der menschlichen Seele und Bildung daß ein gütig schönes Herz, wenn auch unter Zweifeln und Enttäuschungen, hoffen konnte, darauf oder damit zu wirken. Goethe versuchte das: noch sah er vor sich Reste einer gesitteten Gesellschaft, eines bildsamen Volks, einer empfänglichen Jugend inmitten der fressenden »Jetztzeit«. Seine Haltung gegenüber dem Fortschritt ist schmerzlich heitere Entsagung und erzieherischer Kompromiß.

Sein jüngerer Zeitgenosse Hölderlin hatte kein so breites Erbe noch erträglicher Umwelt, keine solche Anverwandlungskraft, weniger Auswege und Mittel .. er war enger, zarter, stoff-loser, un-bedingter und er hatte zudem die überscharfe Witterung der ätherisch feinen Seele für die Zukunft: er spürte schon 1800 als Schicksal was erst zwei Menschenalter später als Zustand eintrat. Ausschließlicher, heftiger besessen von seinem Ewigen, war er nichts als dessen steile lautre Flamme. Er konnte nicht mehr verzichten und nicht paktieren mit dem nicht ganz ihm Wesensgleichen: ihm blieb nichts als der opferhafte[29] Untergang. Es ist die zweite Haltung des Gesamtmenschen gegenüber dem Fortschritt.

Die dritte ist Napoleon, nur möglich durch die eine weltspaltende Krise, grad auf der Kluft zwischen altem und neuem Wesen, da beide noch betäubt sich gegenüber stehen. Da fährt von einer unerschöpften Insel her die verschollene Kraft der Antike, zu einem riesigen Menschen verdichtet, in die Bestürzung, Zertrümmerung und Zersetzung der müderen und der unreiferen Menschheit hinein und zwingt sie eine Weltstunde lang als Herr und Sieger. Napoleons Sieg und Untergang beschleunigten dann erst recht den Fortschritt.

Als der Ewige Mensch sein Haupt zwei Geschlechter später wieder erhob, fand er sich bereits in fürchterlicher unübersehbarer Einsamkeit. Da war kein Kompromiß mehr möglich – was Hölderlin erst geahnt, war da bis zum Erwürgen. Kein Sieg war mehr möglich, denn der Fortschritt hatte keinerlei Gegenwelt mehr, Reich und Kirche waren seine Anstalten, ja selbst die Genien Wagner und Bismarck seine Werkführer geworden und sein Wille war der einzige Inhalt der fließenden tausendschillerigen Zeit. An der Wüste wuchs die Stimme des Predigers. Nietzsche ist nicht mehr ein stilles Opfer, sondern derrasende Kampf des Einsamen gegen das Milliardensame – und wenn ihm auch »die Kehle barst«: das Wort des ewigen Menschen war wieder in der Zeit, um nicht mehr zu verstummen, bevor es Fleisch geworden. Er riß die Kluft wieder auf die der allmächtige Fortschritt schon verschüttet wähnte, er schuf ein neues Drüben durch Umkehr des allein-sichtbaren Hier.

George konnte schon in freierer Luft atmen, in einem vom neuen Wort geschwängerten Klima. Er ist nicht mehr Kämpfer und Rufer, sondern wesentlich Bildner (auch wo er Kämpfer scheint) Bildner im weitesten Sinn. Sein Dienst am ewigen Menschen ist die keimartige Neubildung eines allmählich mitten in den Fortschritt rundum vordringenden Eigen- und Gegenreichs. Zu dieser Aufgabe bedarf er nicht der Mittel des Zeitalters die man ihm anmutet und deren Ablehnung man Weltflucht, Eigenbrödelei, Konventikeltum schilt: ja es gehört zu ihr recht eigentlich daß er gegen diese sämtlichen Mittel der Widerwelt gefeit, keines Vertrags mit ihnen fähig ist und aus dem gesamten All zäh und sicher, leise und scheu die Elemente an [30] sich zieht die ihn reifen und steigern, »ungreifbar und wirklich wie den Keim«. Seine Einsamkeit, dann sein Kreis, dann seine Gemeinde sind seine Not, nicht sein Vergnügen. Er weiß daß jede echte Kraft unmittelbar nur das Verwandte verwandelt, und nur wenig Verwandtes findet heut der Ewige Mensch, darum sucht sein Dichter die Wenigen 2 und nicht gleich die Masse. Er weiß daß nichts Wert hat was gleich zerschwatzt, verwendet und erleichtert werden kann: darum ist er dicht, schwer, geheim (nicht geheimbündlerisch, oder geheimnistuerisch: das ist schon abgelernte Geste der Schwindler und Mitläufer). Er kennt menschliche Stufen und Grade und vermittelt kein Wissen für alle, sondern Gebilde aus denen jeder den seiner Stufe erreichbaren Sinn entnehmen kann. Das Volk ehrt er als dunklen Behälter des Wachstums, nicht als öffentliche Meinung – und nicht den rasch wechselnden lauten Wünschen der Allgemeinheit kann er lauschen, wenn er den stillen Ruf des ewigen Lebens vernehmen will, das langsam unterirdisch heranreift zu seiner neuen Gestalt.

Die Gestaltung, die Gemeindung und – langsam stufenweise – die Volkwerdung des Ewigen Menschen, dessen letzter Ruf Nietzsche gewesen, und damit das Ende des Fortschritts, die Voll-endung des Gesamtmenschentums, das ist Georges besondere Sende. Betrachten wir nun wie er als Person dazu ausgestattet ist.

Fußnoten

1 Heute nennt man gutmütigerweise Mythen was phantasiebegabte Eigenbrödler aus ihrem grundlosen Inneren herausspinnen, das selbstige Tummeln privater Träume. Mythos ist Wort und Schau von Volk und Gott, von wirklichem Geschehen, nicht das Bilderspiel einer wenn auch noch so fruchtbaren Innerlichkeit.

2 Was den »Kreis« betrifft, so wird er wie jedes Fremdartige heut schon viel mißbraucht von Gaunern und Gecken. Ein sichres Zeichen dafür daß einer nicht ihm angehört ist, wenn er sich rühmt ihm anzugehören und mit seiner Kenntnis diskret oder indiskret sich wichtig macht. Der Kreis ist weder ein Geheimbund mit Statuten und Zusammenkünften, noch eine Sekte mit phantastischen Riten und Glaubensartikeln, noch ein Literatenklüngel (die Mitarbeiterschaft an den »Blättern für die Kunst« ist an sich noch kein Zeichen der Zugehörigkeit), sondern es ist eine kleine Anzahl Einzelner mit bestimmter Haltung und Gesinnung, vereinigt durch die unwillkürliche Verehrung eines großen Menschen, und bestrebt der Idee die er ihnen verkörpert (nicht diktiert) schlicht, sachlich und ernsthaft durch ihr Alltagsleben oder durch ihre öffentliche Leistung zu dienen. Alles was darüber draußen gemunkelt wird ist Klatsch von Dummköpfen, Witzbolden, Schwindlern oder Verleumdern.

Ursprünge

Die geschichtlich nachweisbaren Ursprünge eines Menschen sind nicht die Ursachen seines Werdens, sondern die Grundstoffe seines Seins und wenn wir nach seinem Haus, Stamm und Volk fragen, so suchen wir was in ihm gestaltet ist, nicht was ihn gemacht hat. Nur was wir als Wesen und Werk wiederfinden, geht uns als Umgebung und Einfluß an, und es ist müßig Ahnenreihen und Ortsüberlieferungen aufzustöbern, um zu erfahren woher etwas kommt, wenn wir in vollendeter Gegenwart aus ihm selbst entnehmen was es ist. Nur zur Verdeutlichung, nicht zur Erklärung dienen die Fremdschaften die sich in den Eigenschaften eines Charakters wiederholen. Über Dante und Shakespeare wissen wir nicht weniger, weil uns ihre Herkunft dunkel ist, und wenn seit Herder, und erst recht seit Goethes Dichtung und Wahrheit, das Augenmerk auf das Werden gerichtet ist, so hat man auch hier den Sinn Beider mißverstanden, indem man die Zeitform des einheitlichen Wesens zur Kausalitätskette von Ursachen und Wirkungen auseinander legte. Seinen Umkreis gab Goethe, weil er sich als »Welt« zeigen wollte, nicht um hinter dem Ur-phänomen »Goethe« die Lehre seiner Entstehung greifbar zu machen. Sein Milieu gehört zur Dichtung, nicht zur Wahrheit seines Lebens.

Georges Leben ist seit einem Jahrhundert des Werdens das erste das im Sein sich er-füllt und das seine Entwicklung als gegenwärtige Gestalt, nicht als Ablauf darstellt. Das gehört sogar zu seiner geschichtlichen Aufgabe: »zum Reigen zu führen, in den Ring zu reißen.« Darum schon bedarf er keiner Werde-biographie, wie denn überhaupt jedes geschichtlich bedeutende Dasein nicht nur einmaligen Gehalt verkörpert, sondern auch einmalige Darstellungsart fordert. George hat in einem Gedicht des Siebenten Rings seine »Ursprünge« gefeiert als sinnliches Natur- und Geschichts-erbe wie als Seelengewalten: die zugleich groß gegliederte und heimelig raunende Flußlandschaft des Rhein-Nahe-winkels mit ihrem pathetischen Schauer und ihrem lockenden Rausch .. den Boden, unverlierbar geprägt und getränkt mit Imperium Romanum, und über dieser Schicht greifbarer Spuren und geisterhaften Nachhauchs die seelenformende und sinn-umwölbende [32] noch gegenwärtige Ordnung der Katholischen Kirche. Die drei umfassendsten Welt-elemente seines Schaffens sind damit genannt. Diese lokalen und geschichtlichen Sinnbilder enthalten die Urkräfte die George bestimmen: Rhein, Antike und Kirche sind nur örtliche und zeitliche Namen seiner Grund-lagen.

Diese weiten Gewalten durchdringen und bedingen sich mit dem täglichen dichten Anhauch von Haus und Stadt. Ein würdig heiterer und gütiger Vater, werk- und weinfroh, eine tieffromme strenge, sachlich ernste, unermüdlich arbeitsame Mutter, gediegene Ruhe, geregelte Tätigkeit, gemessenes Behagen eines wohlhabenden Bürgerhauses in einer katholischen Kleinstadt des hessischen Rheingaus, kurz nach dem Krieg mit Frankreich: das waren die ersten Bildungsmächte des Knaben. Dazu kam noch die Erziehung durch die kirchlichen Bräuche und Feste, die das ganze Jahr begleiten und gliedern mit ihren eindringlichen Freuden, Schauern und Befehlen .. sodann Spiele mit der Stadtjugend in den Gassen und den Flußniederungen und das Mitangucken, wohl auch Mitmachen der sämtlichen handwerklichen und bäuerlichen Gewerbe. Halb auf dem Land halb in der Stadt war George schon früh tätig-vertraut mit den Stoffen, Gesinnungen, Gebärden des Volks und sammelte unwillkürlich den reichen Anschauungsschatz des einfachen Tuns ohne den noch kein großer Dichter gewesen ist und den der Großstädter sich nur spät, litterarisch, absichtsvoll und bruchstückhaft aneignen kann .. das selbstverständliche Wissen um die ersten Lebensbedingnisse, um


den fug von scholle und gesteinter tenne
Den rechten mit- und auf- und unterstieg
Das knüpfen der zersplißnen goldnen fäden.

Er hat die dümmliche und dörperliche Heimatsimpelei, das volkstümelnde Getue erholungsbedürftiger Großstädter verachten dürfen so gut wie die Verkehrs-und Rekord-extasen, die Maschinenhymnik und die Börsenromantik aufgeregter Provinzler vom Cafétisch. Sein »Freund der Fluren« ist weder Dorfpoesie noch Bukolik, sondern mythisches Bild eignen Gehalts. Die Fülle von Volkssagen und Sittenkunde, von uraltem Mythengut in Georges Werken ist nicht gelehrte Folkloristik aus Büchern und Sommerfrischen, sondern sinnlich leise, [33] fast dumpfe Erfahrung des Kindes, die der Mann nur begriff, erweiterte und verknüpfte mit seinem helleren Wissen.

Dieser Mann, der einmal für die lesende Menge das Muster des »lebensfremden Ästheten« war, und von dessen phantastischer Ziererei und leerem Formalismus ein Nicht-leser dem anderen nachschwatzte, wurzelt weiter und tiefer im Volk als irgendein deutscher Dichter seit Goethe und kennt die Gründe woraus es sich speist und erhält, wandelt und zersetzt, treuer und inniger nicht nur als die Sachwalter der öffentlichen Meinung, sondern auch als alle sogenannten Volksschriftsteller, die den Stoffbereich »Volk« zu Motiven ausschlachten und das Volk »bilden« wollen, indem sie den Geist der Studierstuben und Caféhäuser auf die Märkte schütten oder in Hütten kolportieren. Man vermengt heute, wenn man vom »Volk« spricht, schlagworthaft folgende ganz verschiedene Wesenheiten:

1. die jeweils lesende und schreibende Bildungsschicht bei welcher die Schriftsteller Erfolge suchen: das Publikum, das in Presse, Theater, Hörsal, Parlament oder Salon öffentliche Meinung vertritt, macht oder empfängt – eine diffuse, bereits ganz entdumpfte, entwurzelte Menge. Sie kann heute nur durch ihre ungeheure Zahl als »Volk« erscheinen: es ist gerade das was in strengen Bildungsaltern sich durch bestimmte Übereinkünfte und Ansprüche als »Gesellschaft« gegen das »Volk« abschloß, sich als Gegensatz des Volkes betonte. Heute fehlen diese Übereinkünfte und Maße und der Geschmack des Publikums entsteht aus einem Mischmasch intellektueller Bestrebungen und Anregungen, nicht aus dem einheitlichen dumpf wählerischen Geisttrieb der Volk schafft und zusammenhält.

2. die Masse: »Volk« in diesem Sinn ist ein soziales, innerpolitisches oder wirtschaftliches Schlagwort das die sogenannten unteren Stände zusammenfaßt gegen die sozial und wirtschaftlich besser Gestellten: dieser Begriff bezeichnet nicht ein Gesamt von Kräften, sondern eine Gesellschaftsstufe.

3. das »Volk« als eine politische und kulturelle Kollektiv-persönlichkeit im Gegensatz zu anderen, mit besonderen Eigenschaften, Schicksalen und Gewohnheiten. Dieser Begriff umfaßt wirklich die Summe der Mitglieder einer Nation und kann als Unterlage der Kräfte gedacht werden die man als Träger und Boden der Bildung feiert: [34] dies Volk denkt und weiß nicht, sondern es lebt und will .. und seine Helden und Weisen denken und wissen aus ihm, ja es entsteht oft erst durch das Denken und Wissen solcher Mitte-menschen.

4. endlich bezeichnet »Volk« schlechthin die »Volkheit« (nach Goethes Wort), den gesteigerten und verdichteten Geist der Nation, ihren Bildungsgenius, wie er in seinen höchsten sinnbildlichen Personen und Werken sich ausdrückt, ohne darin endgültig verhaftet zu sein .. »Volksgeist« oder »Volksseele« Herders und der Romantik, die geistige Seite dessen was man stofflich Volkstum nennt, zu dem es sich verhält wie der Charakter zum Leben, wie die Form zum Gehalt des Menschen. Dieses »Volkes« Stimme ist Gottes Stimme, und nur auf diese Stimme, den sinn-vollen, tief-sinnigen Urlaut lauschen die echten Männer des Volks und fangen ihn auf in ihrer von Vor-sichten, Rück-sichten, Ab-sichten unbeirrten Einsamkeit, denken ihn, mehren ihn und erhalten ihn. Sie bedürfen dazu nicht eines neugierigen Ohrs und eines spähenden Blicks, sondern sie müssen nur selbst Volk sein, aber Volk und Geist zugleich. In ihnen muß die Stimme aufbrechen, hinunterreichen müssen sie schon mit ihrem Geblüt und Gewächs in den keusch-fruchtbaren Grund woraus Geist und Form, Wort und Wissen erst sich klärt. Was ihnen als »öffentliche Meinung«, als »Forderung des Tages« entgegen kommt das ist meist der matte und wirre Nachhall, die schon verspätete, ausgeleerte, platt und schmutzig gewordene Weisheit eines ihrer Ahnen, die schon ihren Umlauf vollendet hat vom einsamen Urwort aus dem Herzen der Volkheit zum Streitruf neuer Jugend zur allgemein anerkannten Wahrheit zur ungeprüften Banalität zur verlogenen Phrase. Es kann Schicksalsstunden für ein Volk geben, da Ein Blitz alle in eines schmilzt und da öffentliche Meinung und Volkes-stimme, der millionensame Schrei und der einsame Ruf dasselbe wollen – aber dann erfahren beide dasselbe gleichzeitig und spontan. Niemals wird der wahre Sprecher des Volks horchen was die Menge will und sein Wort danach richten, das hat kein Prophet getan und selbst Luthers Licht kam aus stiller Mönchszelle. Die Menge empfängt bald die Stoßkraft, bald den Stoff, bald die Richtung, selten den Geist, am seltensten die Form eines Ur-worts, und »unverständlich« bleiben ihr zuerst alle solchen Worte bei denen Kraft, Stoff, Geist und Form unscheidbar eines sind [35] und keines der Elemente heraus gerissen werden kann. Alle Propheten dieser Art (und es gibt so viele Wege der Prophetie als es Nöte des Menschen gibt) wirken nur stufenweise und langsam, und meist erst durch Mittler die das geballte Zentralfeuer allmählich in immer laueren Strahlen weitergeben an die blöderen Augen. Mit der Ursprünglichkeit, der Volkhaltigkeit hat die Massenwirkung nichts zu tun. Es gab Zeiten in denen die Erstickung des heiligen Feuers drohte .. dann war der Retter, der Wisser dessen was not tat, der echte Gottesmann, der Mund der Volkes-Stimme derjenige der es hinaustrug in den freien Wind. Es gibt andere in denen die Gefahr seiner Verschleuderung besteht, ja seiner Zerstiebung in Millionen glutlose Fünkchen .. dann ruft der Dämon eines Volkes den Heger, den Verdichter, den Umschließer und Verberger, und stattet ihn aus zu diesem Amt mit der Kraft der Zucht und des Geheimnisses, mit dem Schutz der bewahrenden Form und der unnahbaren Weihe. Auch dieser spricht aus dem gefährdeten Geist des Volkes, aber nicht populär.

Ein solcher ist Stefan George, denn es ist eine solche Zeit. Wie jeder Weise muß er die Gegenkraft der Gefahr sein, und wie nie ein Tag heilloser öffentlich, breit, flach, geschwätzig und öd betriebsam war, so tat auch noch nie mehr als heute not wenigstens einer der geheim, gedrungen, tief fest und still die unsterbliche Volkheit verkörpere und verkünde. Wer freilich Volk mit Publikum verwechselt, Gewöhnlichkeit mit »Natur«, Häufigkeit mit »Normalität«, Saloppheit mit »Schlichtheit«, das Bequeme mit dem Einfachen, Buntheit mit Fülle, dem erscheint George künstlich, unnatürlich, kurios, geziert und karg. Den andren, vor allem aber den ganz Einfachen und den ganz Gebildeten, d.h. solchen die sich durch Selbstzucht und Vernunft auf umfänglicherer Ebene die Einheit zurückerobert haben die dem echten Bauern durch Gewohnheit und Beruf in engem Kreis gegeben ist, erscheint er als Person schlicht und natürlich, klar und bestimmt, von gesundem Menschenverstand. So Gebildete gewahren in seiner Dichtung als eherne Wucht, reinen Bau, Hoheit und Glut dieselben Eigenschaften die jeden unbefangenen unliterarischen Begegner in seinem Gespräch und Gebaren als gehaltene Kraft, heiterer Ernst, Würde und Wärme überraschen, zumal nach dem geläufigen Zerrbild. Das rechte Maß, »der rechte Mit- und Auf- und Unterstieg« .. [36] das Gleichgewicht zwischen Kraft und Wollen, das Ruhen auf breitem Grunde bewährt sich in solcher Haltung – die kräftige Urbanität die den nährenden Boden, die unteren Lagen, die »dauernde Erde« noch beherrscht und von ihnen genährt wird. Diese saftvolle Sicherheit mit Ruhe und Breite wird heut der bloße Städter nicht leicht erlangen, sondern bestenfalls die schon mehr abgeleitete der Zwecke, der Begriffe und der Berufe. George hatte diese Grund-lage von Kind auf und trägt ihr Gepräge bis in seine feinste Geistigkeit hinein. Er kennt das Volk von innen, durch Gegenwart, nicht durch Sehnsucht, und darum ohne Romantik: er liebt es, wie man den Acker liebt in dem man säen soll, doch er verklärt es nicht mit phantastischer Ungeduld und er schwärmt es nicht verlogen an wie unsere volksfernen Literaten.

Wie das Volk hat George auch die Natur nie romantisch sondern heilig nüchtern angeschaut als ihr früh Vertrauter und Verwandter, nicht als ihr schmachtender Werber. Zwar ist er zu sehr Deutscher, um der Natur nur als Herr oder Benutzer gegenüberzustehen wie der Romane .. auch er fühlt und schaut sie mehr mit der Seele als der antike Beter. Aber obwohl er seit Goethe und Jean Paul der erste Neu-Seher und -Sager der Landschaft war, ist ihm die romantische Natur-schwelgerei, -verzückung und mystik völlig fern. Die Natur ist für ihn weder die Form des All-Gottes wie für Goethe, noch das Sinnbild der Seele wie für Jean Paul, sondern die große Nährerin des Menschen. Nach dem panischen Naturgefühl Goethes und dem psychischen der Romantik begegnen wir bei ihm zum ersten Mal wieder seit dem Altertum, doch verwandelt durch christlich germanische Erfahrungen, dem magischen Naturgefühl: die Natur zwar gotthaft, aber dem Zauber zugänglich, weder bloß sinnliches Element noch alldurchdringende Weltkraft, sondern Gegenkraft des Mensch-Geistes, in Kampf und Ehe mit ihm verbunden, seine Helferin als Herrin oder Magd, seine Feindin als Siegerin oder Gefangene. Ihr Mittel oder ihre Waffe ist der Zauber, den sie hütet oder den man ihr entreißt. Dieser Glaube, der Georges gesamte Naturansicht durchwaltet, ist am mächtigsten formuliert im Schluß der »Templer«


Und wenn die große Nährerin im zorne
Nicht mehr sich mischend neigt am untern borne
[37]
In einer weltnacht starr und müde pocht
So kann nur einer der sie stets befocht
Und zwang und nie verfuhr nach ihrem rechte
Die hand ihr pressen packen ihre flechte
Daß sie ihr werk willfährig wieder treibt
Den Leib vergottet und den Gott verleibt.

Römische und katholische Instinkte (nicht Lehren!) sind in dieser Gesinnung lebendig: sie ist es durch die George sich am weitesten von dem Goethischen Weltgefühl entfernt und am tiefsten die ganz von Goethe erzogenen Gemüter sich entfremdet. Wir werfen einen Blick auf die beiden »Ursprünge« die ihm gleichzeitig mit seiner Heimat, mit Familie, Volk, Landschaft, ja in diesen und als diese mitgegeben, eingeboren und umgelagert waren, das antike und das katholische Erbe .. sie alle sind nicht als Nach- und Nebeneinander von Ursachen zu denken, sondern als ein Rund von Wechselwirkungen, man kann sie unterscheiden, aber nicht aufeinander zurückführen – sie sind zugleich Eigenschaften und Einflüsse, Ausdruck und Eindruck, persönlichstes Gepräge und weitester Raum, Gebärde und Atmosphäre .. und eben dadurch gewichtig daß sie in einem Dichter auf neue Weise sich einen zu Gestalt und Sprache. Es bestimmt die Größe eines Menschen wieviele Erbschaft der Geschichte in ihm wiederauflebt zu Wirklichkeit – wie weit der Umfang schlafenden Geschehens und starren Stoffes ist den sein Wesen wieder füllt und weckt, wie tief er hinabreicht in die versunkenen Schichten, um ihre Säfte emporzusaugen. Zwar wir alle sind Ergebnisse der ganzen Geschichte, doch das meiste schläft in uns und schweigt. Aus wem nur das Heut und Gestern spricht der hat dem Morgen nicht mehr viel zu sagen: Gesamtmenschen nennen wir die in denen Jahrhunderte, Jahrtausende Wort und Fleisch werden, nicht nur dumpfes Geblüt oder hirnliche Erinnerung bleiben. [Denn freilich ist es keine Wiedergeburt wenn man verschollene oder entlegene Kulturen aufgräbt und anfrischt, und das modische Interesse für ägäisches oder akkadosumerisches Kunstgewerbe, für Amenophis oder Neger-plastik erweckt nicht jene Substanzen, es bleibt eine müßige oder fleißige Feinschmeckerei. Es können keine europäischen Stufen übersprungen werden – und wer von heute unmittelbar zu Indien oder [38] zu China Beziehungen findet, hat eben nur »Beziehungen«, nicht Wesen].

Das Nachleben früherer Welt bekundet sich nicht durch Stoffe und Lehren, sondern durch Kräfte und Gesinnung. Jene können aus der Vergangenheit von außen entnommen und übertragen werden, diese wirken im Blut und sind Schicksal und Charakter. Man ist nicht dadurch schon antik daß man antike Formen nachahmt, das ist Klassizismus, Romantik so gut wie das Goteln .. aus der Sehnsucht stammend, nicht aus der Fülle. Erst wem selbstverständlich und gemäß die Wiedergeburt glückt, beweist seine geheime Verwandtschaft, sein echtes Heimweh: z.B. Goethe und Hölderlin, nicht Klopstock und Platen.

Indem wir also George antik nennen wie keinen zweiten Mann der Gegenwart, meinen wir von vornherein weder antikische Versmaße (die er nie anwendet) noch seine Verherrlichung von Hellas noch seine umfassende Kenntnis des Altertums: sonst müßte man gar Mommsen oder Wilamowitz, eingefleischte moderne Protestanten, für antike Charaktere halten. Nicht durch irgendwelche antike Einzelheiten, etwa pythagoraeische, pindarische oder cäsarische Züge, die man an ihm finden mag, ist George antik – sondern durch den einen großen Willen der das gesamte klassische Altertum von Homer bis Augustus bei all seinen tausendfältigen Lagen und Arten als eine gemeinsame »Welt« abhebt von allen früheren und späteren »Welten«: die Vergottung des Leibes und die Verleibung des Gottes. Ich weiß keine einfachere und gewichtigere Formel für alle Ergebnisse des antiken Lebens: sie umfaßt (richtig und in ihrer ganzen Tiefe durchgedacht, und nicht gleich zur Phrase verflacht) das homerische Epos und die äolische Lyrik, die attische Tragödie und die Hymnen Pindars, die Plastik und die Polis, die platonische Ideenlehre (auch und gerade sie!) und den römischen Kaiserkult. Sie alle sind nur denkbar unter Menschen die das sinnlich begrenzte Dasein bejahen, weihen, vergotten und das unsichtbare als Kraft, Trieb, Schicksal gefühlte, geahnte, gedachte Leben versinnbilden. Dabei darf man freilich unter Leib nicht modernerweise einen physiologischen Apparat verstehen, den »Körper«, sondern eine metaphysischeWesenheit .. unter Vergottung nicht ein psychologisches Erlebnis, »Vergötterung« [39] sondern einen kultischen Akt und eine mythische Schau. Wer hier die Antike nach »Analogien« verstehen will der tappt im Dunkel, wie denn überhaupt Analogien allenfalls über Maße, nie über Inhalte etwas aussagen.

Die Vergottung des Leibes ist als Lebenstrieb verdichtet in der antiken Liebe, dem Eros (der kein Geschlechtsgott ist, sondern ein Seelengott und keine Analogie in irgendeiner Religion hat) und als Schicksalsgefühl in dem Kairos, dem glühenden Augenblick, der unwiederbringlichen, nur einmal fruchtbaren Gelegenheit, dem zeugenden Jetzt. Die Verleibung des Gottes ist verdichtet als mythische Schau in der plastischen Schönheit. Auch sie ist nur antik: was man später unter diesem Namen verehrte ist der Sinnen-Reiz, nicht die Seelen-Gestalt. Der kultische Akt der Gottverleibung ist die Weihe, der Zauber der das Göttliche in Menschenform oder Menschenraum ruft und bannt: dies ist im katholischen Sakrament mit verändertem Sinn übernommen. Diese vier antiken Urgewalten, Eros, Kairos, Schönheit und Weihe hat George und heute nur George erneuert. Wer sie nicht ahnt oder mißkennt der versteht keinen Vers Georges und meine Sätze können ihm bestenfalls Wegweiser an ein verschlossenes Tor sein. Um sie zu verdeutlichen, grenze ich sie ab gegen die vier christlichen Gegenerlebnisse: Caritas, Ewigkeit, Heiligkeit, Gnade. Caritas ist die Hingabe der Seele an das Andere um der Hingabe willen, nicht so sehr die Suche des Du als das Opfer des Ich, sei es an Gott, sei es an die Frau, sei es an die Sache: der Leib ist dabei schlechthin gleichgültig, der eigene wie der andere. Ewigkeit ist die Aufhebung der Zeit im Unendlichen, nicht ihre Einfüllung, Eingießung in den allhaltigen Nu. Heiligkeit ist die vollendete Entselbstung des sinnlich-leibhaften Ich in der überweltlichen Gottheit. Gnade ist der Zustand der Gottgefälligkeit, unabhängig von jedem Tun oder Wesen, jeder Selbstdarstellung oder Äußer-ung: das Gefühl dieses Zustandes ist der Glaube. All diese christlichen Grundwerte sind im bewußten Gegensatz gegen den Leib ausgebildet und setzen seine Verneinung voraus: sie sind die Umkehr und wollen nicht die Erfüllung des Nächsten, sondern die Erlösung vom Nächsten. Gott ist nicht das Hier, sondern das Drüben. Was die Gestalt als Mitte hat und zur Gestalt drängt wird verneint [40] oder bestenfalls geduldet, nicht bejaht, geschweige vergottet. Alle Fortschrittsideale kommen aus diesem Fort vom Gegebenen, derart daß zuletzt jene antike Zustände nicht einmal mehr verstanden wurden.

Als die christlichen Werte sich später verweltlichten, kamen nach der Zerspaltung in Diesseits und Jenseits, in Leib und Seele, nur die Gegenhälften der Seele herauf, nicht mehr das antike Gegen-ganze: statt der Caritas die Voluptas, die sinnliche Begier, statt der Ewigkeit die Unendlichkeit, statt der Heiligkeit die Moral, statt der Gnade das Streben. Entgottet blieb die sinnlich ergreifbare Welt .. höchstens daß man sie pantheistisch oder mystisch als Zeichensprache für ein Fernstes, Übersinnliches gelten ließ. Das ist aber durchaus unantik: zur antiken Religion gehört das innerste Ergriffen- und Gefüllt-sein von der erscheinenden, im ganzen Wesen, einheitlich mit allen Sinnen empfangenen göttlichen Gegenwart, die Durchbildung und Auswirkung des Göttlichen im ganzen gegebenen Da-Sein, nicht die gelegentliche Erhebung, Entrückung der Seele in Überwelten, nicht mystische oder extatische Ausnahme-zustände oder Abzahlungen an Gott bei übrigens unheiligem Alltagsgang, wie sie sogar dem modernen Spießer geläufig sind in den schwelgenden Erhebungen der Musik. Das Heidentum wird heut beinahe nur als bloße Bejahung der Begierden, der Triebe, als Genuß und Hedonismus begriffen, besonders von Mißverstehern Goethes und Nietzsches. Das ist grundfalsch: die Vergottung des Leibes ist etwas völlig anderes als die »Vergötterung« der körperlichen Funktionen, die Verleibung des Gottes etwas völlig anderes als das ästhetische Spiel mit religionsgeschichtlichen Symbolen .. sie ist eine ebenso strenge und hohe, wenn nicht strengere und schwerere Religion als die weltfeindlichen! George ist als der einzige antike Mensch unserer Tage dem echten Christentum, also den eigentlichen Gegenwerten der Antike immer noch näher als den modernen ästhetischen und hedonistischen Verweltlichern der heidnischen wie der christlichen Götter. Er steht wenigstens auf derselben Ebene, wenn auch als Gegner. Eros, Kairos, Weihe und Schönheit sind Gesetze, nicht Genüsse und Güter. George hat sein ganzes Leben unter diese Gesetze gestellt mit unerbittlicher Strenge gegen sich und andere, er hat so gut sein »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« [41] wie Luther .. und sein Gott fordert nicht weniger, sondern mehr von ihm als der des gewaltigen Glaubers.

Eros, die menschenformende, weltschaffende, nicht genießende Liebe legt ihrem Bekenner die ganze Verantwortlichkeit des Erziehers auf: er darf weder nach Geschmack und Laune, noch nach Glück und Gefühl fragen, sondern nur nach dem Wert und dem Gesetz. Er darf nicht versuchen und nicht spielen. Nur im Edlen und Gleichen darf er zeugen und nur den Ächten kann er sein eigenes immer gefährdetes, mit mehr als dem eigenen Gewicht beladenes Herz entlasten .. nicht den Spiegeln, den Echos, den Sieben, den Weibern. In allen Menschen darf er nur den Gott suchen, der schwer zu finden, schwerer zu fassen ist. Ein beständiges Ringen mit dem Engel um den Segen, d.h. um die Erfüllung des eigenen Berufs ist ihm selbst die Liebe, die den Meisten Genuß oder Rausch bringt.

Der Kairos kommt seinen Günstlingen nicht als Zufall wie dem Fortunat die Fee mit dem Glücksäckel, sondern als Frucht eines wachen, gespannten und bei allen Leidenschaften und Erschütterungen weisen Wandels. Man kann ihn, einen Schicksals-gott, weder erzwingen noch überlisten, weder erschmeicheln noch erbitten – und das sind ja meist die Lebenskünste und -griffe womit die moderne Seele dem Schicksal begegnet. Nachsicht mit eigenen und fremden Schwächen, Klage und Hader, Ungeduld und Empfindelei scheuchen ihn für immer .. und wenn er kommt, verlangt er volle Bereitschaft, rückhaltslose Lauterkeit, treueste Hingabe. Niemand hat ihn tiefer erfahren und herrlicher gesungen als George im XI. Gedicht des »Vorspiels«.

Wer Schönheit schaffen und schauen will bedarf der gleichmäßigen Durchbildung des ganzen sinnlichen Da-Seins, von der Idee bis zur Kleidung herab .. im Stil seines Werkes muß noch derselbe Geist walten wie in der beiläufigsten Gebärde und Handreichung. In wessen Lebensart Genüßlichkeit, Tändelei, Schlaffheit oder Risse und Sprünge, Hast und Gier möglich sind, dem erscheint sie nicht oder er bemerkt sie nicht. Schönheit ist spröder als Moral und unerbittlicher als Heiligkeit .. sie läßt sich durch Reue, gesteigerte Anstrengung oder jähe Aufschwünge, Demut und Opfer nicht versöhnen: sie will ein ganzes gleich gehobenes Leben, stete Pflege aller Mittel und Organe des [42] Sehens und Bildens. Sie gedeiht nur in einer Luft von sinnlicher Fülle, von Reinheit der Helle wie des Dunkels, von Ernst und Freude – der tiefen Freude des Blutes, die Schmerz, Trauer, Leid und Tragik erträgt, aber Zweifel, Neid, Furcht, Gezänk und niedre Sorge ausschließt. Sie liebt die großen Schicksale, sie ist blind für kleine Zufälle. Sie hat nichts zu tun mit Kitzel und Geschmack.

Die Weihe, die den Gott in die Erscheinung ruft, will nicht künstliche Steigerung durch Rauschmittel oder Askese, sondern das dauernde Edeltum, die Lauterkeit und Wahrhaftigkeit bis ins kleinste: sie ist die feinste Blüte eines lebenlangen Umgangs mit schönen Bildern, erhabenen Gedanken und echten Geheimnissen. Sie umlagert die Abgründe, Geburt und Grab, und nur wer in jeder Stunde zum äußersten Opfer bereit ist, den würdigen Götter ihres Anblicks. Große Taten und Werke sind nichts einzelnes – sie sind Reife gesammelter Energien und auch die Gipfel des Menschenlebens ragen nicht aus dem flachen Sand, sondern aus Gebirgen und Hochebenen empor.

Diese vier Gesetze Eros, Kairos, Weihe, Schönheit sind dem Altertum selbstverständlich gewesen bis in den Verfall hinein. Gewohnheit, Überlieferung, Verfassungen machten sie selbst dem Pöbel geläufig und erhielten die Atmosphäre worin die ewigen Taten und Werke gediehen als natürliche Früchte. Heute müssen Einzelne mit ungeheurer Mühe, mit schmerz lich-strenger Abwehr der Widerwelt überhaupt erst wieder daran erinnern daß es solche Lebensgesetze gibt, die so wenig ungestraft versäumt werden wie die hygienischen und so wenig zu durchbrechen sind wie die Naturgesetze.

Von beiden sind sie verschieden, auch von dem Sittengesetz. Die hygienischen Gesetze regeln die Funktionen des Körpers, nicht des Leibs – des Tiers, nicht der seelischen Wesenheit .. die Naturgesetze regeln die unbeseelten Stoffe und Massen, das Sittengesetz das Verhalten der Menschen zueinander.

Jene Lebensgesetze sind genau das was das Altertum Götter nannte: die in allem Geschehen, Wesen und Werden wirksamen Kräfte, gebunden an das sinnenhaft wirkliche Da-Sein. Darum starben sie, d.h. wurden vergessen, als die eine übersinnliche Gottheit aufkam und den Dienst der Wirklichkeit, der Leibwelt verbot. Sie erwachen, sobald einem Menschen diese Vergottung des Leibes und Verleibung [43] des Gottes wieder gemäß und notwendig ist. Die Kenntnis und Verkündung jener Lebens-Gesetze ist Georges Beruf, ihre Befolgung und Darstellung im eigenen Wandel befugt ihn dazu. Daß sie ihm nicht eine erklügelte Philosophie oder eklektische Theosophie sind, eine jener zahlreichen allgemeinverständlichen Geheimlehren und bequemen Askesen die das metaphysische Bedürfnis des Publikums durch Schleier und Blößen, durch Halbwissen und Hokuspokus locken und letzen, sondern die ihm natürliche strenge und einzige Art des Seins, das ist sein antikes Erbe.

Er verwaltet dies antike Erbe als Deutscher, nicht als Grieche oder Römer, wie es denn dem Deutschtum selber als eine Schicht des Imperium Romanum einverleibt ist. Jene vier »Götter« sagen noch nichts über das Was des Lebens das sie beherrschen, sondern nur über das Wie ihrer Herrschaft: sie sind kein Reich, sondern eine Verfassung. Der Mensch, die Natur, die Geschichte womit George es zu tun hat sind keine antiken, und wenn Eros, Kairos, Schönheit, Weihe an die antiken Stoffe gebunden wären, so käme bei ihrer Erneuerung nur Klassizismus heraus. Sie sind ewig, und wir nennen sie nur antik, weil sie dort die Alleinherrscher waren und ihre reinsten Offenbarungen gefunden haben, wir können sie dort am deutlichsten aufzeigen .. aber nochmals: sie sind keine Vergangenheit, sondern Ewigkeit.

Gestaltung, die Vergottung des Leibs, das ist die antike Religion. Das ganze antike Leben ist kunstartig, es gibt dort keine Kunst als eigene Lebensform. Darum ist die antike Kunst selbst Religion, nicht wie die mittelalterliche ein Mittel der Religion, wie die moderne ein Ausdruck der Zeit oder gar »religiöses Erlebnis«. Man begreift jetzt vielleicht eher warum heute ein Künstler zugleich Prophet sein kann. Die Religion der Leib-vergottung kann immer nur von einem Gestalter gelebt und gelehrt werden. In einer durchaus gestaltigen Welt wie die Antike kam die Umkehr, die erneuende Prophetie, von Er-lösern, von Gestalt-sprengern, heut in einer entstalteten, mitteflüchtigen zergeisteten Fortschrittswelt kann sie nur von einem Verleiber kommen – freilich einem dem Kunst Vergottung, nicht Zier, Spiel, Reiz ist. Dies unterscheidet Georges Kunst von allem Ästhetentum.

[44] Die antiken Kräfte sind in die neuere Welt eingegangen als Kirche, verschmolzen mit Elementen der römischen Spätzeit und des germanischen Mittelalters. Auch diese sind in George noch lebendig als deutsche Sprache: der geduldig wölbende römische Bau-wille, die sinnliche Glut des Ostens, germanisches Seelengrauen und Traumdunkel. Auch als Katholik ist er nirgends Romantiker. Weder die Lehre und Glaubensart die seit der Gegenreformation die heutige Kirche beherrscht, noch das politische System des Ultramontanismus noch der weichliche Geschmack an schönen Überlieferungen und Gebräuchen, der müde Genießer in den ruhevollen Schoß treibt, haben mit dem Katholizismus des Blutes und Willens etwas zu tun – es sind intellektuelle Gegenbewegungen gegen den Fortschritt, doch gleicher Art mit ihm: geschichtliche Reliquienkulte, nicht Erneuerung schlafenden Lebens, sondern Erhaltung alter Kostüme. Was der Katholizismus seit der Reformation in Deutschland durch sein Dasein geleistet, war die Bewahrung, die stumme Umschließung unverstandener und unbenützter Substanzen. Seine bewußten Ziele waren entweder Museumskuriositäten oder mittelalterliche Träume oder mystische Reize. Das herrschende Leben des deutschen Geistes ging von der Reformation aus, Luther, Böhme, Leibniz, Kant, Bach, Hegel, Bismarck, und von der Renaissance, Holbein, Hütten, Winckelmann, Goethe, Mozart, Hölderlin, Nietzsche – oder von beiden zusammen, und auch die großen Katholiken waren nicht durch ihren Katholizismus fruchtbar. Mit Stefan George ist zum erstenmal wieder seit dem Mittelalter der deutsche Katholizismus lebendiges Wort und neue Gestalt, nicht in alten Dogmen und Zierden verkrustet, sondern fähig seinen Seelen-gehalt in eigenen freien Formen wieder heraufzuheben.

Katholik ist George freilich nur insofern die Kirche die gesamtmenschlichen Substanzen hegt und denLeib rettet vor der Entäußerung des protestantischen Fortschritts und dem mitteflüchtenden Jenseits. Katholisch sind an George »das Maß der Höhen und der Tiefen«, der Dantische Sinn für Stufenfolge, den so schroff weder Altertum noch Neuzeit kennt, und der mindestens für Europa ohne die Prägung der Kir che nicht denkbar ist. Katholisch ist seine Lust an der lang ausgehaltenen, stetig steilen Spannung, die den sinnlich breiten Boden [45] mit dem Sternengewölbe verbindet, orientalische Extase, deutschen Flug und römische Wucht einend. Katholisch ist die Einheit von Stille und Pracht, von Geheimnis und Feier, von abgründigem Seelenschauder und freudiger Sinnenhelle: das Altertum und der Osten kannten beide nur neben oder gegeneinander – die Kirche erst hat sie ineinander, und erst George hat die deutsche Sprache dieses katholischen Zaubers mächtig gemacht. Dante und Shakespeare haben ihn auch. All das sind keine »Ingredienzen«, sondern Kräfte eines einheitlichen Charakters und nur wir trennen hier, indem wir benennen.

Das Blutserbe von Haus, Gau, Antike, Kirche ist für George entscheidender als irgendein späterer Bildungseindruck. Durch kein Buch, keinen Menschen, keine Reise ist er je so schicksalshaft bestimmt worden wie etwa Goethe durch Shakespeare, durch Herder oder Italien: dessen ganze Wegrichtung und Lebenshaltung läßt sich mit Vorbildern, Lehrern, Erfahrungen zwar nicht erklären, aber bezeichnen. Georges Grundform war schon früh geprägt, und was er lernte und verarbeitete, hat eher seinen Umfang erweitert und erhellt als seine Art gewandelt. Er hat Ahnen und Voraussetzungen wie jeder Mensch, aber keine Führer und Meister, darin den Tätern und Propheten, einem Luther oder Napoleon ähnlicher als den Männern der Bildung. Auch so gehört er mehr dem Wesen als dem Werden, mehr berufen neue Mitte zu gründen als eine Überlieferung auszuleiten. Schon an seinen Jugendgedichten fällt diese musterlose Selbstigkeit auf: sie sind schülerhaft, auf dem Sprachniveau der Durchschnittslyrik nach Goethes Tod, noch ohne eigenen Ton, und doch wüßte man kein Einzelvorbild zu nennen dessen Ton darin nachgeleiert wird, weder Goethe noch Schiller noch Heine .. die Person ist schon selbständig, sie muß sich noch im fremden Medium ausdrücken, aber nicht in einem menschlich bestimmten. Das ist nicht Eigenbrötelei: George hat einen angeborenen Trieb der Verehrung und ist ein Meister im Danken und Huldigen .. doch sieht er in großen Menschen eher Ur-bilder als Vor-bilder, mehr »Trost und Beispiel« in ihrem Dasein als Stoff und Anregung in ihrem Werk .. er grüßt sie als die Fleischwerdung des ewigen Menschtums, als Verleibungen des Gottes dem auch er dient.

Wir müssen sein Pantheon kurz beschreiben. Die große Gestalt an [46] der Schwelle war auch für ihnGoethe, zunächst einmal, wohl unbewußt, als der weiteste Umfang und die reinste Form des Elements worin er sich auszudrücken hatte, der deutschen Sprache. Über Goethe führte der Weg in all ihre Gründe, und woher George auch sein Wort schöpfen mochte: es konnte nicht ohne die Goethische Breite geschehen, sondern nur durch Vertiefung und Läuterung der von ihm gehobenen Sprachmassen, die inzwischen verschwemmt und verschlämmt waren durch das Epigonentum. Eine unmittelbare Anregung durch einzelne Goethische Werke und Motive freilich ist bei George nicht zu finden: Goethes Welt, ob die aus deutscher Vorzeit genährte des Sturm und Drang, ob die klassizistische der italienischen Reise, ob die weltlitterarische seines Alters, ist nach Gefühls- und Bildungsart Rokoko – d.h. gesellschaftlich idyllisch, wie tief auch gespeist aus kosmischen Quellen .. und eben jenseits aller »Gesellschaft« fängt George erst an. Hier ist ein Hauptgegensatz zwischen ihren Seelenebenen, und erst innerhalb gleicher Seelenebenen sind Entlehnungen, unmittelbare Ein-flüsse möglich. Man kann nur entnehmen wo man empfänglich ist. Wenn der Dichter Goethe für George mehr Sprachschöpfer als Formengründer blieb, so ist ihm dagegen der Weise, der einzige Deutsche vollendeter Kalokagathia auf jeder Altersstufe, immer die höchste deutsche Gestalt geblieben, der eigentliche Erzieher deutscher Jugend durch gelebtes und geberdetes Wissen um die Lebensgesetze, durch die Einheit von Streben und Sein, durch das einzige Gleichgewicht von Lebensfülle und Geistesfreiheit, von Würde und Anmut, von Adel und Gewalt, die einzige Überwindung tüdesker Barbarei ohne Einbuße an irdischer Wucht und Frische. Und so wenig Goethes Griechenbild dem Georges entspricht, so sehr ist der hellenische Wille und Sinn Goethes von ihm schon früh als Ahnentum empfunden worden, als der Ruf nach dem Ewigen Menschen.

Hölderlin trat erst später in Georges Gesichtskreis, und erst die Wiederentdeckung der letzten Hymnen, als seine eigne Weltschau schon völlig herausgestellt war, hat ihm die Verwandtschaft ihrer Sendung ganz offenbart: Hölderlin ist ihm das nächste Urbild des Seher-Dichters, die lauterste Flamme des heiligen Feuers im deutschen Wort, die Gewähr der unmittelbaren Gemeinschaft deutscher Seele mit der überzeitlich hellenischen Welt-glut, der erste Verkünder des [47] deutschen Schicksals-geheimnisses. George hat 1919 ihn gefeiert als »Eckstein der nächsten deutschen Zukunft und Rufer des neuen Gottes«. Doch gehört Hölderlin zu den Ahnen, nicht zu den Bewirkern seiner eigenen Dichtung.

Als solchen hat er neben Goethe den Klang- und Farbenzauberer der deutschen Sprache Jean Paul anerkannt. Aber Jean Paul war bisher nie ein der deutschen Sprache unlösbar eingegeistetes Element wie Goethe, und ist auch für George mehr ein unverbindlicher Zauber, ein Fluidum, als ein Urbild und eine Kraft geblieben. Freilich nicht nur der Sinnenreiz von Jean Pauls Sprache, sondern mehr noch die magische Seelenglut, deren Funkeln und Sprühen, Schimmern und Wallen sie ist, hat ihn verwandt angesprochen. Er ahnte hier eine Lage der deutschen Seele die für das Gesamtmenschentum fruchtbare Zukunft enthält, wenn sie auch bisher abseitiges Wunder und Spiel geblieben.

Goethe, Hölderlin, Jean Paul sind die einzigen deutschen Dichter die in Georges eigenem Seelenbezirk als Götter oder Gewalten erschienen sind. Zumal zwei Mächten ohne deren unmittelbaren Einfluß kein neuerer deutscher Sprecher denkbar ist hat er sich verschlossen, soweit sie nicht durch Vermittlung Goethes ihn erreichten: Luther und die Romantik. Die Bibel war ihm selbstverständlich so gut wie das klassische Altertum ein mythischer Bereich von Bildern, Sitten, Geheimnissen, und was in der Kirche davon lebt ist schon mit seinem Katholizismus wach. Das Lutherdeutsch ist die erste Schicht neuhochdeutscher Sprache und somit auch Georges Deutsch noch eingeboren. Aber das eigentlich lutherische Pathos, sein Ton, seine Sinnesart und seine Sprachgebärde, d.h. Seelengebärde, hat ihn nie verlockt: kein deutscher Dichter von Rang, kaum Hölderlin ist so lutherfern wie George. Hier ist er gleichsam gefeit durch seinen heidnischen Blutskatholizismus: er ist der unprotestantischste Deutsche der seit Luther sich geäußert.

Die Romantik aber, das Schwelgen, Spielen, Schweifen, die nurgeistige oder nur-seelische oder nur-triebliche Zentrifugalität deutschen Wesens, zur literarischen Bewegung geworden durch das Saugen und Wuchern »schon gebildeter Säfte«, Spiegelung, Filterung, Echo, Ableitung – zugleich Entwurzlung und Zergeistung, war ihm [48] von vornherein fremd, zu dünn und schattenhaft. Was die Romantik an »Mond-und Geisterscheinen«, an altem Volksglauben und -brauch, Spuk, Wunder und Märchen für unsere Bildung herauf hob das hatte er als Kind des Volkes noch unmittelbar aus seiner Herkunft und mußte es nicht aus Büchern saugen.

Wie die Reformation und die Romantik, so fehlt in Georges Schaffen auch die deutsche Philosophie, die beider Kind ist. Die idealistischen Systeme und Methoden sind Verselbständigungen und Verherrlichungen von Einzelkräften, sie zerreißen das Gesamt oder überspannen die Sonder-organe auf Kosten des menschlichen Gleichgewichts, sie entbilden die Welt. Man hat nun vielfach den Vollender und Zerstörer des Idealismus, den Erben und Umkehrer aller geistigen Bewegungen seit Luther, Nietzsche, als einen unmittelbaren Erzieher Georges betrachtet. Beide haben dieselbe Erbschaft und damit dieselbe Aufgabe vorgefunden: einer zerfahrenden Menschheit wieder Mitte, Maße und Tafeln zu bringen. Beide treffen sich hierin von sehr verschiedenen Seiten und mit entgegengesetzten Mitteln: Nietzsche stellt ein neues Ziel in die höchste Höhe: den Übermenschen, die Vision eines erhabenen Einsiedlers, die Umkehr der Wirklichkeit, eine eschatologische Wunschfigur .. er ersinnt das Andere, das weder er selbst noch seine Zeit schon füllt. George stellt ein gesteigertes Leben dar das er selbst schon verwirklicht, kein spannendes, ziehendes Droben und Drüben, sondern ein bindendes, verbindendes Hier und Jetzt. So ist denn Georges Sprache der zersprengenden, blitzenden und musikalisch schweifenden Geist-Sprache Nietzsches so entgegen wie seine eine Wirklichkeit und Notwendigkeit Nietzsches tausend schweifenden, aus-schweifenden Möglichkeiten. Nur wie jeder höhere Mensch ist heute auch George dem gewaltigen Zersprenger und Befreier verpflichtet, der zuerst in die mörderisch-bürgerliche Stickluft neuen Odem wehte und mit seinen Gewittern überhaupt erst wieder die Atmosphäre schuf worin große Gedanken und Geschicke gedeihen können.

Georges Empfänglichkeit beginnt unterhalb des schon »Gebildeten«, in den Schichten woraus alle Bildung erst entsteht. Wie nur die Geschichte ihn erregt die noch Natur in seinem eigenen Blut ist, antikische, katholische, so auch der Geist nur, solange er sinnliche, vorgedankliche [49] Sprache ist, mindestens keine bloß gemeinte, gedachte, geschriebene Rede, nur das lebensträchtige, gestalt-schwangere, keimhafte Wort. Die Sprache in ihrem ganzen Umfang ist für ihn das nährende und tragende, das seelisch sinnliche Element, das für Goethe die Natur, für Schiller etwa die Geschichte war. Er beherrscht fast alle europäischen Sprachen: neben dem Deutschen Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Holländisch, Dänisch, Polnisch, dazu Latein und Griechisch. Aus der Sprache als einem sinnlichen Element, nicht als der Vermittlung bestimmter Meinungen und Gesinnungen, muß man zunächst sein Verhältnis zur außerdeutschen Weltliteratur verstehen. Die neueren europäischen Dichter die er übersetzt sind für ihn nicht, wie man vielfach annahm, literarische Muster oder auch nur Anreger gewesen, sondern zunächst einmal Sprachkörper, Träger einer frischen für ihn noch jungfräulichen Masse in der er zeugen und formen konnte. Was er von seiner Baudelaire-umdichtung sagt gilt von ihnen allen: er hat nicht verdeutscht »um fremdländische Verfasser einzuführen, sondern aus der reinen ursprünglichen Freude am Formen«, aus der dunklen Wollust die das Untertauchen in die unerforschte Flut Sprache, das Ringen mit dem spröden Stoff Sprache, das Zeugen in dem warmen Leib Sprache erregt.

Wenn man ihn als Jünger der französischen Parnassiens und Symbolisten in die »Richtung« Swinburnes oder d'Annunzios eingereiht hat, so verwechselt man die Oberfläche mit dem Grund: diese Dichter waren für ihn – einerlei was sie ihrem Land als Literatur-richtungen bedeuten, welche Motive oderTechniken sie brachten – lediglich willkommen als die damals dichtesten, reinsten oder feinsten Sprachkomplexe ihres Volks. Baudelaires Höllenweihe und Verlaines Endschafts-anmut und Müdigkeit, d'Annunzios Sinnenprunk, Swinburnes rauschende Seelenwoge, Rossettis keltisch-italische schwermütige Glut, selbst die Poesie seiner persönlichen Freunde Verwey und Lieder, gingen ihn nur insofern an, als sie die Sprache um neue Massen, Gewichte, Widerstände, Bewegungen, Tiefen und Lichter bereicherten. Es ist ein Literatenmißverständnis, wenn man nachher auf Georges Spuren all diese Dichter als »Richtungen« oder Seelenwerte, als Stimmung oder Manier importierte, und ihren ersten Vermittler als Jünger ihrer Gesinnung ansah. Als Übersetzer ist George zunächst »Artist« [50] d.h. werkfroher Ergründer und Bewältiger seines Ausdrucksmittels, und freilich wußte der Jüngling den Männern Dank die zur Zeit deutscher Sprachverwahrlosung ihm die reine Lust des Sagens, die »Tugend der Worte« wiesen, eh er noch etwas besaß außer seinem überfüllten Selbst mit dem heißen Willen zum reinsten Ausdruck: diesen Dank enthält sein Zeitgedicht »Franken«.

Aber wenn jene ausländischen Meister und Freunde das Ende und die duftigste Blüte einer jahrhundertelangen Sprachkultur waren, so mußten dem jungen deutschen Beginner ihre Inhalte so fern sein wie ihre Ausdrucksart verlockend. Am Fremden hat er sein Eigenes sagen gelernt, doch nicht ihr Fremdes hat er nachgesagt noch sein Eigenes auf fremde Weise: Schüler der Franzosen ist er genau so sehr wie der Bildhauer der Schüler des Marmors oder der Segler der Schüler des Windes. Da es freilich keine Sprache an sich gibt, sondern nur die Sprache bestimmter Menschen die das und jenes zu sagen haben, so hat George auch als Übersetzer die ganzen Inhalte seiner Originale bis zum Grund mitgespürt und von der Sprache aus so mit-erlebt wie Schlegel die Inhalte Shakespeares. Hier ist nicht zu erörtern warum damals die Sprachmeister der Franzosen und Engländer gerade solche Inhalte hatten oder vielmehr warum gerade die Endschaft dort die ergreifendsten und gedrungensten Worte fand: wichtig ist daß George von der Sprache und nicht von den Inhalten aus zu diesen Dichtern kam. Mag er auch Baudelaires »glühendem Verewigungsdrang« und schlackenschmelzender Kunstglut, Mallarmés lauterer Unbedingtheit, Verlaines unverwüstlichem Zauberleichtsinn huldigen: Muster sind sie ihm nie gewesen. Wohl aber hat das unablässige Ringen mit sieben reifen, satten und runden Sprachen, das leidenschaftliche Tasten und Wägen, Hämmern und Biegen, Filtern und Sieben die Sonorität, Fülle und Pracht seiner angeborenen Sprache steigern helfen, unabhängig von den fremden Inhalten, für die Stunde seiner eigenen noch schlummernden Inhalte.

Da Georges Bildung sich nährt von den Urstoffen – den Elementen, deren eines die Sprache ist – und von den vollendeten Gestalten, unter Ausscheidung der abgeleiteten reflektierten Zwischenschicht worin der pure »Geist« waltet (Philosophie, Wissenschaft, Moral, Politik) so gibt ihm auch dasAltertum mehr durch seine [51] plastischen als durch seine sprachlichen Überlieferungen: die toten Sprachen können keinem aktiven Dichter als Element soviel bedeuten wie die mitlebenden. Die hellenische Plastik muß für den Anbeter der Schönheit immer die eigentliche Offenbarung bleiben, die greifbare Gewähr seines Glaubens. Von den Augen her hat George den Zugang zum antiken Gesamtmenschentum gefunden: Werke wie der delphische Wagenlenker, der Parthenon-fries, der Venus-thron haben ihm erst das Verständnis der griechischen Dichtung und Weisheit erschlossen. Von hier aus glühte ihm der gesamtmenschliche Gehalt Homers, der Tragiker, Pindars und Platons erst herauf. Doch sind diese ihm zumeist mythische Gestalten, Urbilder eines Glaubens der ihm als Lehre erst in den letzten Jahren sich klärte und prägte. In dem Maße als sein eigenes antikes Blutserbe ihm von innen her deutlicher, deutbarer wurde, fand seine Natur-Antike in der Geschichts-Antike mehr und mehr die »ferne Ähnlung« und die verwandten Zeichen. Je mehr sein Wille ins Bewußtsein hinausstrahlte und lehrbar wurde, desto näher kam ihm von den Sehern und Sängern vor allem der Herrscher-weise und Menschenbildner Platon. DessenWerk ist wohl das einzige aus dem Altertum das er brüderlich und nicht nur mythisch begreift, zugleich als einmalige persönliche Sprache und als ewige Gestalt.

In noch höherem Maß gilt das von den beiden größten Schöpfern der lebenden Sprachen: vonShakespeare und Dante. Hier sind ja Element und Gestalt, Sprache und Kosmos, Natur und Menschenart die George will im größten Umfange vereinigt, und diese beiden sind ihm darum der Inbegriff des Dichtertums: der tragische, heldische, adlige Gesamtmensch der das All in seine gehobene Sprache bannt, und dadurch die weltschaffenden Kräfte zugleich bewahrt und steigert: Shakespeare durch die Verewigung jeder hohen Leidenschaft und Verzauberung alles Erdenlebens, Dante durch die Schau eines Gottesreichs und die Offenbarung der heiligen Seelengesetze. Diese beiden hat George verdeutscht nicht nur um der Sprache, sondern auch um der Gestalt willen die in ihnen Sprache geworden ist, um der Welt willen die in ihrem Worte liegt. Wenn Shakespeare ihm die reichste Welt ist, so bleibt ihm Dante der höchste dichterische Mensch. Der richtende Seher, in Schauer, Zorn und Entzücken gelenkt [52] von ewigen Sternen, der erschütterte Minner mit der neugeweihten Sprache, allfühlend und unbestechlich, glühend und gerecht, hassend aus Liebe und verachtend aus Ehrfurcht, einsam und mißkannt, doch stolz in der Fülle des Herzens, der einzigen Sendung gewiß – dies hehre Gesicht leitete ihn von früh mit leiser Zauberkraft, wie nur das geheimverwandte und das unerreichbare Wunschbild uns leiten können. In dem germanisch-romanischen Begründer der europäischen Dichtung, der zum letztenmal einen ganz durchseelten und ganz geschlossenen Kosmos wölbte worin jedes Wesen seine menschliche Gebärde und seinen göttlichen Platz hat, in dem Wiedererwecker aller adligen und süßen Seelentöne, aller »gentilezza« wie aller menschenbildenden und -ordnenden Leidenschaft, in dem Lober verschütteter Größe und dem Rufer der künftigen – in Dante fand George das erhabene Gleichnis seines eigenen Berufs und bis ins Körperliche hinein der eigenen Art.

[53]
I. Hymnen
Die Gestalt im Werk
I. Hymnen

Georges dichterische Anfänge enthalten nur das was er als Zwanzigjähriger ganz besaß und bis zum Rand füllen konnte. Schon damals duldete er nichts Halbes, Leeres, kein Ungefähr. Die bequemen Füllsel der öffentlichen Bildung oder die wolkigen Vorwegnahmen der Jugendschwärmerei, verblasene Ideale, ungreifliche Ziele und entrückte Denkmale, sowie den ganzen Vorrat der ihm fremden Zeit hat er sich von vornherein versagt. Die ungewohnte Steile und Dunkelheit seiner ersten Bücher ist Abwesenheit der vertrauten Allgemein-inhalte und Mittel-werte, der lockeren und läßlichen Umgangsbilder und -wendungen womit die Epigonenpoesie sich begnügte, aber auch aller handfesten Rohstoffe und Gegenstände die der Naturalismus ankarrte .. kein Droben oder Draußen ging ihn an, bevor er es sich völlig einverleiben und anverwandeln durfte. Er konnte nicht wie noch Goethe mit Behagen aus dem wesensverwandten Erbe einer breiten Kultur schöpfen, und der Glaube an die Wirklichkeit der Rousseau- und Kant-ideale, der noch Schillers erste Werke schwellte und beflügelte, war erloschen. Er mußte ganz und nur in dem ihm zugemessenen eigenen Da-Sein haften, den Grund des ersten Schrittes sichern, ehe er den zweiten tat, jedes Wort meiden worauf der Menge Stempel fleckte, und lieber hart, eng, karg die bedingte Bahn wandeln als mit entlehnten Scheinreichtümern glänzen, mit unerworbenem Erbe wuchern, im unbeherrschten Raume schweifen.

Was war dem rein und sicher gegeben der zunächst weder Geschichte noch Zeit noch Ideale nutzen oder lügen mochte? Als Kraft die glühende Seele mit dem Drang zugleich nach Entlastung und Reinheit, nach Hingabe und Bewahrung, als Mittel des Ausdrucks die deutsche Sprache, als nächster Raum heimatliche Stätten – Landschaften oder Gemächer, als Gegenstände die Träger der Begier oder der Heiligung: Geliebte und Priester.

Georges früheste Gedichte worin er über die kindlichen Nachklänge und Nachempfindungen hinaus zu sich selbst erwacht, die [54] »Zeichnungen in Grau« und die Legenden der Fibel bewegen sich schon in dem Kreis dieser einen leidenschaftlichen Grundspannung, um die später seine Weltstoffe angeschossen sind. Wie Goethes Seele leidet und wirkt aus der Polarität von Formtrieb und All-Suche so die Georges aus der zwischen Leidenschaft und Weihe – zwischen dem rückhaltlosen Drang ins Einzel-Schöne und dem steten Willen schöne Welt zu schaffen, dem Ruf sich dem Gott zu opfern und dem den Gott zu bannen, ja zu zeugen. Jeder Mensch hat nur eine solche Grundspannung, wie er nur ein Gesetz, einen Leib hat: sie bedingt sich nach den Jahren, den Erfahrungsmassen, der steigenden oder sinkenden Kraft, so daß sie vieler Formen und Lagen fähig ist. George wäre seinen Zeitgenossen verständlicher, wenn seine Grundspannung der modernen Welt nicht fremd geworden wäre: man begreift wohl die heftige Leidenschaft, als Gefühlswallung oder Sinnentaumel, man begreift zur Not noch eine gewisse Erhebung oder Versenkung, doch man steht stumpf vor dem gleichzeitigen, gleichstarken und gleich unerbittlichen Verlangen nach tiefer Lebensglut und frommer Bindung. Man vermag beides nicht zugleich zu sehen und kann sich die eine nur durch Ausscheidung der anderen denken. Und doch beruht auf diesem Gleichgewicht mehr als bloß das Verständnis von Georges Dichtung: auch der Sinn seiner Sendung liegt darin daß ihn allein jenes Verlangen füllt nicht nur für sich, sondern für die Menschheit, die solch Gleichgewicht eingebüßt hat .. die ihre letzten Gluten wahllos verschleudert und zerstäubt, ihre letzten Weihen zu leeren Idealen oder billiger Mystik verbläst. Um diese furchtbare Gefahr – die »Entzauberung« der Welt durch Vergeudung der Erde und Aushöhlung des Himmels – zu wittern, zu wissen und zu bannen, mußte George schon als Knabe sie am eignen Leib spüren, und eben dazu aus gestattet sein mit der Grundspannung woraus all seine Worte, Bilder und Lehren stammen: denn es gibt kein wahres Wissen das nicht im Leib seinen Ursprung hat. Auch hier ist die scheinbar privateste Anlage Georges zugleich der persönliche Grund, der geschichtliche Wert und der ewige Sinn seiner Dichtung – und das allerinnerste Menschliche ist mit dem allerweitesten Göttlichen so geheimnisvoll eines wie der unsichtbare Same mit dem ausgefalteten Gewächs und dessen Wirkungsreihe. Hier waltet die »Coinzidenz[55] des Besonderen und des Allgemeinen« wie es Jakob Burckhardt nennt: das heißt die notwendige Entstehung auch der umfassendsten Ideen und Wandlungen aus der unabdingbaren Besonderheit der einmaligen und einzigen Person.

Die »Zeichnungen in Grau« der Fibel geben Georges erste Erschütterung und Spannung noch ohne eigene Sprache – doch schon ohne fremde – die schülerhaften Hüllen sind abgestreift, doch die Form, freie Rhythmen, ist noch befangen, ein schüchternes verhaltenes herbes Sagen mehr als ein Singen, ein unbeholfen trotziger Ausweg zwischen dem Ausdruckverlangen und der Ausdrucksscheu. Schon hier keinerlei bloße Redewendung, künstliche Aufschönung und Stimmungsnebel! .. manch eckige, gläserne und brüchige Stelle, aber keine einzige leere, schwiemelige, weichliche. Sie sind bis zum Rande gefüllt mit »Figur« und unter der Krust ungefüger Worte pocht und hämmert der heftige Puls. Dem Verfasser fällt das Reden schwer und er erschrickt vor dem Wagnis der eigenen Stimme die sein Inneres hinaustragen soll – das Wort ist ihm noch kein Gesetz, sondern erst Ausbruch, und die Scham der Enthüllung ringt mit der Lust der Entladung. Durchaus fehlt die Freude am Spiel, das Hofmannsthalische Wiegen in der beherrschten Klangfülle, das Behagen am hin und wider webenden Gleichnis. Kein Wie: das Gesagte ist wörtlich prall und schwer zu nehmen. Es hat den Sager genug gekostet es sich abzutrotzen, und es widersteht ihm einen Schmuck aus der Not zu machen. Freilich ist auch noch keine Gnade, keine Erlösung in diesen Skizzen – sie sind glanzlos, spröde, beinah heiser. Sie entstammen keinem gehobenen oder entzückten Nu, keiner bezauberten Wallung, und der rosige Nebel, die süß schwebende Jünglings-schwermut, die Frühreife der romantischen Lyrik ist hier eingesogen, weggesengt von der steten lichtlosen Glut einer unterirdischen Begier, worin heiße Sinnlichkeit und eiserner Wille sich durchdringen.

Die Begier wird zwar nicht als Sünde empfunden, aber als Gefahr und Lockerung .. mitten in dem schwelenden Düster hält der Jüngling fest an seinem Wunschbild von Reinheit, Höhe, Jugend, dem die Begehrte oder er selber sich opfern muß. Derselbe Kampf der sich bekundet in der Form dieser Versuche beherrscht auch die Motive. Die Suche und die Abwehr, die Anbetung und die Bewältigung, [56] der Ausbruch und die Selbstbehauptung sind nur als Seeleninhalte was die Verse als Sprachgebärde darstellen, und schon hier wird nicht von »Sünde oder Sitte« gesprochen, sondern von dem eingeborenen Adel der das Gesetz seines Trägers enthält. Das schwerste Leid ist, wenn


das göttliche ziel verschwindet
Und des augenblicks flamme
Ein bild von lehm verklärt.
Das ist der schüchterne Vorklang zu den späteren Versen:
Und wenn wir endlich unser gut umklammern
Daß es gekrönt verehrt genossen kaum
Den sinnen wieder flüchtet fahl und mürbe ..
All unsre götter schatten nur und schaum.

Aber noch kennt der Jüngling nur das Leid, nicht die Lösung dieses Schicksals .. noch gehört er zu den »Priestern die selber zum Opfer sich bringen«, da der Gott in ihnen sich noch nicht offenbart hat, und die ihn vernehmen, ohne ihn schon bannen zu können. Um diesen Punkt kreist Georges ganze Frühdichtung: den Gott aus sich herauszustellen, von dem er sich besessen und gepeinigt fühlt, das gepreßte Innen zu füllen in die entleerte Welt, kurz: dem Wort Fleisch zu schaffen.

Die drei Legenden der Fibel sind nur ein weiterer Schritt auf diesem Weg: sie haben wenn auch noch keinen volleren Ton, so doch bereits längeren Atem, dichtere Anschauung, festeren Stil und Abstand als die »Zeichnungen.« Auch hier noch dieselbe Scheu vor der rednerischen Ausladung, aber energisch eigenwilliges Wortgepräge und Satzgefüge .. die Zagheit vor der Sprache ist dem gewaltsamen Griff gewichen und der Dichter kündigt sich an der jedes Wort aus der Alltagsluft reißt und ganz in den einmalig eignen Sinnbereich bannt .. hier noch krampfhaft, ungestüm und gleichsam gegen den Willen der Worte die ihm später freudig oder fromm gehorchen. Er hat Herrschaft über die Sprache, aber eine Tyrannis, noch kein wahres Königtum. Auch das entspricht nur dem inneren Zustand den die Legenden als Inhalte wiedergeben: alle drei, »Erkenntnis« »Frühlingswende« »Der Schüler« zeigen das Ringen zwischen Leidenschaft und Weihe doch sie stellen es dar als persönlichen Zwiespalt, [57] als »Erlebnis« des puren Ich, noch nicht als Geschehen des welthaltigen Selbst und gesetzliche Form des überpersönlichen Seins. Antik gesprochen: sie sind noch »titanisch«, nicht »heroisch«.

»Erkenntnis« handelt von den Skrupeln der ersten leidenschaftlichen Liebe, die im ersehnten Wesen das unerreichbare Wunschbild wähnt, beargwöhnt, erschafft und zerstört. Die Enttäuschung oder der Zweifel an der Geliebten ist ein typisches Jünglingserlebnis und ein Grundthema aller Lyrik, doch nur George konnte daran als an Selbstentweihung leiden, da nur in ihm die wilde Begier und die Heiligung von vornherein untrennbar eines sein wollen: schon hier als dumpfer Trieb: Vergottung des Leibs. Es ist abermals eine unreife Vorform zu dem XII. Gedicht des Vorspiels, gefüllter, wissender, wilder als die erwähnte Skizze »an eine Sklavin«, doch immer noch ohne Lösung. Nur der Riß der Gegensätze, nicht ihre Überwölbung kommt zu Wort.

Dieselbe Erfahrung die hier von der Liebe aus gemacht wird zeigt sich in der zweiten Legende von der Weihe aus: die Liebe enttäuscht hier nicht, sondern stört die Weihe – diese ist hier der ursprüngliche, gemäße, fromm gehegte Zustand, wie dort die Liebe das alldurchdringende Glück und Leid ist. Dort fällt die Weihe der Leidenschaft zum Opfer, hier die Leidenschaft der Weihe. In der dritten Legende wird derselbe Gehalt nicht als eine Einzelerschütterung, sondern als eine Gesamtentwicklung dargestellt: das allmähliche Erwachen des bisher ganz dem Gottesdienst streng geweihten Adepten zum sinnlich schönen, gefährlichen Lebenszauber: zur »Weisheit der Leiber, der Blumen und der Wolken und der Wellen«.

Über allem Einzelnen wichtig für Georges Gesamtart ist uns die frühe Polarität, d.h. die Spannung dieser beiden Seelenmächte. Sein ganzes Werk beruht später auf der Einung beider nicht nur in seinem Ich, sondern zu einer Welt der lebenhaltigen Sprache.

Der Kampf zwischen Leidenschaft und Weihe kennt drei typische Entscheidungen: einmal den Satanismus, das Lucifertum, die titanische Abkehr von der unerreichbaren, doch im Herzen nie vergessenen Weihe. Urfaust, Byron, Baudelaire sind drei moderne Stufen dieser Lösung – die sich vom Genußtum und Triebtum der gewöhnlichen »Sünder« immer durch hoffnungsloses Heimweh nach dem Himmel [58] oder dem Gesetz sondert. Die zweite Entscheidung ist die priesterliche oder mönchische Weltflucht. Georges eigentümliche Größe ist daß er die dritte Lösung gefunden hat: den Drang als Weihe, die Weihe als Drang, eben die Vergottung des Leibs und die Verleibung des Gottes. Dem bloßen Sonder-ich, dem noch so genialen Eigenwillen, der titanischen Anstrengung bleibt diese dritte Lösung versagt: es ist eine Sache der Gnade, einer Allkraft der die Einzelseele eins wird.

Um ein Element das ihm ganz eigen und neu angehöre und dem er dennoch ganz sich einlassen, worin er sich ausweiten könne, um eine solche Eingebung, Eingießung sehen wir George schon früh ringen. Die bloße Leidenschaft ist für ihn solange Frevel, als er ein solches Element der Weihe nicht gefunden hat. Dem geborenen Dichter erscheint es als Verkündung, als Wort. Das Heilige will von ihm nicht nur gefühlt, es will geschaut, offenbart werden – und so erscheint der Engel mit dem er ringt dem Dichter schon früh als Sprache.

Die Sprache ist kein Einzelding, kein Handwerksgerät, kein Kleid, sie ist für den Dichter das Blut seiner Seele – und die Heiligung die diese fordert muß in seiner Sprache sein. So wenig der Alltagsbürger etwas ahnt von dem Bedürfnis nach Würde, und Reinheit so fremd bleibt ihm das Verlangen nach der geläuterten Sprache: beide gehören zusammen. Der Eingeweihte schweigt entweder oder er schafft sich seine eigene Sprache. Unüberbrückbar wird der Abstand zwischen der Alltagsrede und der dichterischen freilich erst in Zeiten entgotteter Gesellschaft. Die Sprache ist zugleich das Eigenste und Besonderste, die unterscheidende Gebärde des Dichters und das allgemeinste geistige Element das er mit seinem Volke teilt. Ein Schriftsteller der Ausdruck und Diener seiner Gesellschaft sein will wird mühelos deren Tonfälle und Inhalte nutzen und sie durch sein Temperament färben, durch sein Talent schmücken oder steigern. Dahin gehören etwa Horaz, Ariost, Voltaire. Ein Schriftsteller der vor allem seine eigene Seelenfülle entladen muß, als Urgeist oder Neugeist, wird neue Worte prägen, neue Klänge suchen und den gegebenen Sprachschatz umschmelzen und bereichern, aus verschollenen Bildungsschichten oder aus augenblicklicher Eingebung – wie der junge Goethe .. in kleinerem Maß jedes bloße »Genie«.

[59] »Genie« hat nicht immer den gleichen Wert: in gesellschaftlich gefügten Zeiten kann es ein Befreier und Erneuerer sein, in Zeiten der Seelenwillkür und der Allerweltserlaubnis ist die bloße begabte Einzelperson gleichgültig oder schädlich. Da hilft alle bloße Originalität nichts, sondern nur das über die Einzelbegabung hinausreichende, in ihr beschlossene welthaltige Gesetz. Es gibt für tiefere Menschen solcher Zeiten nichts armseligeres als den Trutz des puren Originalgenies: »ich bin ich selbst allein«. Es ist die Not Nietzsches gewesen diese Kluft zu überschwingen: das erhabenste Genie seit Goethe in einer Zeit, da bloßes Genie nichts mehr half, schon mit dem Wissen dieser Lage, – mit dem Willen, aber nicht der Fülle neuer Weihe, neuen Gesetzes, neuen Gottes. Denn »Weihe« hat man nicht als noch so große Person: sie ist Ausfluß und Zeichen eines ewigen Himmels oder einer neuen Welt. Weihe haben heißt welthaft gottgefüllt sein .. nicht durch »Erlebnis« oder Pathos oder Gefühlswallung oder erhabene Gedanken, sondern durch Sein, Tun und Wirken.

Auf der Geniestufe ist George schon in den Legenden .. sie haben eine völlig eigenartige Sprache, bis zum Bersten mit Inhalt gestopfte, bis zum Reißen gespannte Rhythmen, brennend zähe und scharfe Naturansicht, persönliche Erfahrung, Erkenntnis, Gesinnung und Seelenkunde. Die letzte Legende, nicht mehr krampfig geballt, schon gelöst und vollströmend, ist auch formal ein Meisterstück. DieWorte, die Grammatik, die Bildinhalte sind einmalig, sie gehören einem deutlich umrissenen unverwechselbaren Ich an, die Tonfälle tragen Georges heftiges Geblüt und stetigen Willen, und überall waltet eine gequälte ungeduldige Leidenschaft die nicht ihresgleichen in deutscher Sprache hat. Dennoch verkünden sie keine eigene Welt: sie stehen und fallen mit dem Ich ihres Verfassers. Sie haben noch nicht den ebenso unbeschreibbaren wie unverkennbaren überselbstigen Ton der sich weder machen noch lügen, weder rufen noch zwingen läßt, weil er dem Kairos untersteht. Ein reicher und starker Geist kann sein Ichbild und sein Weltbild durch den bloßenWillen hinausstellen. Die Wortwahl, die Zeichenwahl, sogar das Tempo, den größeren oder geringeren Nachdruck, alles Räumliche, Stoffliche und selbst Klangliche hat er weitreichend in der Gewalt die ihm überhaupt als einer Person zusteht, womit er »begabt« ist: aber mit aller Begabung [60] kann er den Seelenton nicht finden der ihn »zum Dröhnen der heiligen Stimme« macht, und der ganz allein das Zeichen der Weihe, der Einweihung ist, des Durchbruchs auf eine Ebene jenseits der bloßen Personalität oder des Einbruchs überpersönlicher Welt, Zeichen der wirkenden Einswerdung mit dem Urwesen, man nenne es Natur oder Gott.

Dieser Ton ist nicht wissenschaftlich zu erklären: man vernimmt ihn oder man vernimmt ihn nicht. Er gehört zu den Urphänomenen die nicht aufzulösen sind. Wo er fehlt verraten auch die erhabensten Inhalte und Aussagen das Nichtwissen, das Nichtinnesein.Wo er da ist hat die Einweihung stattgefunden, von was auch immer die Rede sein mag: es ist kein Orakelton und kein Prophetengetue, keine Aufhöhung, sondern eine natürliche Höhe. Z.B. ist der weltliche Shakespeare eingeweiht .. dagegen die ganze neuere Mystik und Theosophie bleibt altkluges Reportergerede, Hintertreppenklatsch übers Jenseits, nicht weil sie inhaltlich wahnschaffen ist, sondern weil ihr Ton die Leere und Plattheit verrät. Napoleons Proklamationen sind in jedem Sinn eingeweihter als die »Geheimlehren« der Indien-gänger. Auch mit »gutem Stil« hat der Ton nichts zu tun, wie er denn überhaupt durch Merkmale nicht bezeichnet wird. Merkmale lassen sich immer lernen und fälschen, bis sehr hoch hinauf. Wir verweilen bei diesem Punkt, weil der Durchbruch von dem persönlichen Stil der Legenden zu dem überpersönlichen Ton der Hymnen das entscheidende Ereignis für George und nicht nur für George ist. Der Ton ist kein ästhetisches Zubehör, sondern das Zeichen des seelischen Raums, der Welt welcher sein Finder und Künder angehört, und die ihn von allen heutigen Autoren trennt. Innerhalb dieses Raums haben erst seine Bilder und Sätze ihr Gewicht. Man muß sie in ihrem Ton hören: mit dem Es dem sein Ich sich eingelassen hat, das in sein Ich eingebrochen ist.

Welches Erlebnis George diesen Ton finden ließ hat er nicht ausgesprochen: die Findung ist selbst das Erlebnis und als solches leitet es das eigentliche Georgische Schaffen ein. Das Eröffnungsgedicht derHymnen feiert die »Weihe« als Vision .. eine der ewigen Grundformen wodurch das Überschreiten des Ich-bannes, die Offenbarung weiteren Daseins, der Zuspruch der Gottheit, das Gewahr-werden [61] der Berufung sich dem seh- und sagewilligen Geist aufdrängt. Mächtiger als die noch konventionelle Erscheinung selbst kündet George den Zustand der ihn für sie reift: die vollkommene Verdichtung aller Kräfte auf das Ursprüngliche, Reinigung von »allen fremden Hauchen«, von »der Denkerstörung« (denn alles Grübeln gehört der bloßen Person an) Zurücktauchen in die vorgedankliche Einheit von Seele und All für die »Raum und Zeit nur im Bilde bleiben« – philosophisch ausgedrückt: unmittelbare Schau des Seins jenseits der Kategorien. Dies als dichterischer Zustand, als jähe Erleuchtung ist der Eingang zu Georges Werk.

Es bleibt bei ihm nicht ein einmaliges Seelenereignis: er hat die neu erschlossene Ebene schrittweise erobert, zäh behauptet und nie wieder verlassen. Er hat sich nirgends mit dem bloßen »Erlebnis« begnügt. Sein Kairos ist nicht der Einbruch der Weihe in den Unbereiten, sondern ihr Ausbruch in dem immer Bereiten. Ein neuer Raum, nicht ein neuer Inhalt war mit dem Ton gewonnen – Stimme, nicht Worte. Die Leiden und Spannungen Georges waren zunächst noch dieselben – nur spielten sie sich nicht mehr in der bloßen Gefühlssphäre ab, im maß- und bodenlosen Innern: ein Fußbreit festen Grundes, ein Gesetz war da. Die Sprache war durch die »Weihe«, – ihren Akt wie ihr Ergebnis – dem Bereich der Einzelwallungen und -schwankungen entrückt. Die Rettung der Sprache, die allererste Aufgabe des Dichters, noch ehe ihm objektive Ich- und Weltbilder glücken konnten, war gesichert.

Wodurch unterscheidet sich nun der neue Ton? Was bedeutet er neues im deutschen Schrifttum überhaupt, abgesehen von den Inhalten die er trug, abgesehen von Georges Charakter? Die frühere deutsche Lyrik, die liedhafte wie die odenhafte, die volkstümliche wie die kunstmäßige, kommt aus dem jeweiligen Einzeldrang der Gefühlswallung, auch wo mehrere Einfälle zyklisch gereiht werden. Die einzige Ausnahme macht der späte Hölderlin: seine letzten Hymnen sind das Schwingen eines lyrischen Dauerzustandes, das Ertönen anhaltender Weihe, beständigen Verkehrs mit den Göttern. Sie sind nur die dichterische Stimme eines dichterischen Schweigens – nicht die dichterische Unterbrechung eines Werktags, der jähe Ausbruch verschlossener Melodien in die Sprache. Der Zauber der Goethischen [62] Lyrik, die durch Höhe, Tiefe und Breite hier für die deutsche Gesamtlyrik stehen darf (Klopstock und Platen sind viel mehr lyrische Rhetoren als Lyriker) ist der immer neue einmalige Durchbruch, das »imprévu«, der Einfall, die »Gelegenheit«, das Auf und Ab – die Melodie, die Er-hebung, Schwellung, Ent-zückung, das »Motiv« (die »Bewegung«). Jedes solche Gedicht ist eine einheitliche Weltschwingung, ein geschlossenes Sonder-bild (Eidyllion) oder das Glied einer unendlichen Reihe. Der individualistische, protestantische Zug des deutschen Gemüts, der Riß zwischen Ich und Welt, der nur durch Sehnsucht, Ausbruch oder Aufschwung überbrückt wird, beherrscht auch seine Dichtung, und eben aus diesem Abgrund ist sie entstanden.

Die antike Lyrik (an der die katholische Hymnik und die romanische Versrhetorik miterzogen sind) setzt dagegen eine stete Festlichkeit voraus, einen durchgehends gehobenen Gesamtzustand der durch den Ton seiner stärksten, vollsten und dichtesten Stunden ausgedrückt, nicht aufgehoben oder durchbrochen wurde. Antike Dichtung ist Feier, nicht Wunder .. Weihe, nicht Gnade, und ihr Zyklismus ist geschlossenes Rund, nicht gereihte Kette. Es ist dabei gleichgültig ob die dauernde Festlichkeit, der stete Götterdienst, öffentlich oder priesterlich, esoterisch oder exoterisch war: genug, die Dichter waren nicht Improvisatoren ihrer persönlichen Erlebnisse, sondern Verkünder der gelebten Götterkräfte, sie hatten daher von vornherein einen durchgehaltenen Ton, eine durch waltende Rhythmik, die unendlicher Modulationen fähig war, aber keine Stegreif-melodien für jede Erregung.

Den Dauerton, das Zeichen der antiken oder katholischen Dichtgesinnung, hat George – polyphoner, schallender und gedrungener als Hölderlin – endgültig der deutschen Sprache erobert, nicht nur als eine persönliche Begnadung, sondern als eine Gesamt-Lage, als Stil, als Schule. Man mag seine wenigen freiwilligen und zahllosen unfreiwilligen Schüler einschätzen wie man will: zum erstenmal seit dem mittelalterlichen Minnesang (der europäischen, nicht deutschen Gesetzen folgte) gibt es in Deutschland durch und um George eine dichterische Tradition, nicht der Motive oder der Gattung, sondern des Stils. [Die schlesischen Schulen der deutschen Barockzeit waren [63] Rhetoren- und Gelehrten-Zünfte und haben mit Dichtung so wenig zu tun wie die Meistersinger.] Auch hier ist George antik als Deutscher und sein neuer Ton ist die Wiedergeburt, nicht die Nachahmung jener gesamtmenschlichen Ursprünge. Die katholische Hymne, Dante, Shakespeare und die besten romanischen Dichter haben aus verwandten Gründen gleichfalls die rhythmische Lyrik gegenüber der melodisch individuellen, und Gedichtkreise statt der Gelegenheitslieder. Wie Georges antike Lebensart ist auch sein Ton ein Wie das sich an jedem Was bewähren kann, eine Form des Gesamtsagens, nicht ein neuer Stoff.

Man hat nun die auffallende, Den anziehende, Jenen abstoßende Neuheit des Georgischen Tons, zumal eh seine Inhalte deutlich waren, erklären wollen aus technischen Kunstgriffen, aus allerlei den Romanen abgelernten Handwerksmitteln, eigentümliche Vokalauswahl, »audition colorée« und dergleichen. Das wird sehr überschätzt. So gewiß George ein Künstler ist und das Handwerkliche der Dichtung mit kundiger Sorgfalt pflegt, so falsch ist es, sein Können oder Wissen von seinem Sein, sein Handwerk von seiner Art zu sondern: es gibt bei ihm keine Einzelheiten, und noch seine Schreibweise, die kleinen Anfangsbuchstaben und wenigen Satzzeichen, bezeugt den selben Willen zur letzten Einfalt, zur harten Schlichtheit und dichten Sachlichkeit, zur Ausscheidung aller nicht für die Gestalt unbedingt notwendigen Erleichterungen und Schnörkel, Vermittlungen und Zierrate, der noch seine höchsten Gedanken formt. Es gibt für ihn nur das notwendige Wesen und dessen notwendigen Ausdruck: was nur verständlich und bequem, üblich oder leidlich ist hat in seinem Werk keinen Platz. Ein selbständiges Spiel mit bloß sinnlichen Formen und Lauten kennt er ebenso wenig wie eine selbständige vom Leib und Leben ablösbare Lehre. Die Betonung des Handwerklich-Sinnlichen der Dichtung in den ersten Heften der Blätter für die Kunst, das »Ästhetenhafte«, ist nur die zeitlich-erzieherische Abwehr der formblinden, bürgerlich-lehrhaften Kunstauffassung und -übung die damals gäng und gäbe war. Jene Sätze sind nur relativ zu nehmen mit Bezug auf die jeweilige Widerwelt: sie enthalten das was jeweils dem Draußen zu hören gut ist, nicht die ewige Wahrheit.

Die äußerste Klangreinheit, Bildfülle und Tonstärke sind allerdings [64] Gebote der Schönheit und der Weihe: sie sind mehr als ein »Formales«, sie gehören zur Verleibung des Gottes die Georges Religion ist, und nur von dieser Religion aus, nicht als Ateliergeheimnisse haben die Sprach-mittel Georges einen Sinn. Er hat sie nicht gemacht oder verwendet: sie sind mit dem unwillkürlichen Durchbruch des neuen Tons von selbst entstanden.

Aber freilich ist in den Hymnen die Rettung der Sprache, die Eroberung der Weihe noch eine neue Aufgabe und trägt die Zeichen jedes Durchbruchs an sich: die Gewaltsamkeit, die heraustreibende, übertreibende Scheu vor dem Rückfall in das Überwundene, das Pochen nach schwerer Müh, die Anstrengung des ersten Siegs. Dazu kommt noch der Mangel an äußerer Welt, an Weite und Wölbung, da George nichts berührt was er nicht füllen kann .. und noch eignet ihm ja nichts als das neue Wort für die steile und stete Spannung der einsamen Seele zwischen Leidenschaft und Weihe. Um diese Achse mußte gleichsam die »Sprache an sich« zunächst noch rotieren inmitten der leeren Zeit, noch geschichtsfremd und naturscheu. So erklären sich die Zwänge, Künstlichkeiten und Härten des Erstlingsbuchs. Es ist durchaus extrem und nicht nur die innere Dichte, die demantene Festheit des eigenen Gebildes lag dem Neuerer am Herzen, sondern auch die schroffste Abgrenzung, der zackigste Umriß. Der neue Ton sollte nicht nur ruhig da sein, sondern auch undurchdringbar und unnahbar den alten ausschließen.


Dein geist zurück in jenes jahr geschwenkt
Begreift es heut nicht welche sternenmeilen
Vom ort dich trennten wo die menschen weilen.

So hat George später vom schon gesicherten Sprachraum aus die beseligende und schaurige Ferne und Einsamkeit seines Durchbruchsjahres besungen. Die seltenen Worte, die gepflegte und abgewogene Klangfülle – zumal der runden und reinen Reime, die oft absichtlich gewaltsame Syntax: all das sind nur die Sprachgebärden des Dichters dem zum erstenmal die weltweite Kluft zwischen Eingebungswort und Mitteilungswort, zwischen »Urduft« und »Denkerstörung«, zwischen Schau und Gewohnheit aufgerissen ist. Auf keinem Wort durfte mehr der Menge Stempel flecken, jede Verknüpfung mit dem etwaigen Prosasinn, mit dem bloß schriftstellerischen oder gesprächlichen [65] Gebrauch der Worte sollte zerschnitten, am liebsten nur einmalige, erstmalige, nur dieser Dichtung erlaubte Worte geprägt werden .. »Worte aus Anschauungsfreude, aus Rausch und Klang und Sonne«, gereinigt von allem Staub des Verkehrs und der Bildung oder Lehre. Die Sprache sollte für George zuerst ein keuscher Urstoff sein, nur für ihn da, und eine Form seines Ich, nur durch ihn da.

Er hatte diesen dunklen dichterischen Urtrieb nach einem ganz unentweihten erst von ihm zu weihenden, ganz ungestalten erst von ihm zu gestaltenden Ausdrucksmittel schon als achtjähriger Knabe betätigt, also noch bevor er sich in irgendeinem Gegensatz gegen die Zeit fühlte: Jahre lang hat er immer wieder sich Geheimsprachen mit eigenem Laut- und Wortschatz, eigener Grammatik und eigener Schrift ausgesonnen. Diesen Drang hinunterzutauchen in die vorgedankliche Sprache, in das Blut und das dunkle Meer »Sprache«, ehrt er neben der Antike und der Kirche als einen seiner »Ursprünge« im Siebenten Ring, und er schließt dort eines seiner Gedichte mit Sätzen aus dieser Erstlingssprache. Wörtlich und tatsächlich zu nehmen sind die Verse:


Schon als die ersten kühnen wünsche kamen
In einem seltnen reiche ernst und einsam
Erfand er für die dinge eigne namen.

Also nicht aus einem Gegensatz, sondern aus einem Urtrieb kam Georges Sprachschöpfertum. Freilich konnte erst eine so völlig entweste, mit Ableitungen begnügte, stoff-fremde Zeit dies Sprachschöpfertum so deutlich, so leidenschaftlich und einsam machen. Es war ein kindliches Spiel aus dem bloßen Ich heraus ein Element zu ersinnen, es war ein Jünglingstraum und -überschwang den Ur-zauber aus dem Fernsten und Fremdesten zu erschaffen .. erst dem gereiften Dichter erschloß er sich im Gesetz mächtiger als in der Ausnahme, in der breiten Fülle reiner als in der einsamen Höhe, und er bewährte seine Gewalt nicht mehr knabenhaft in der Ersinnung eines neuen Mediums, nicht mehr jünglingshaft in der Erzwingung eines besonderen, sondern meisterlich in der Verwandlung des allgemeinen Elements.

In den ersten Büchern ist das Verlangen nach seltener Klangfülle [66] noch gefärbt mit der Lust am Fremden, und auf dieser Stufe wirken noch die Steigerungen und Filterungen der romanischen, vor allem der neuen französischen Lautkunst auf das Gehör des jungen Dichters. Er hat sie für sich triebhaft entdeckt, lang eh sie in Deutschland bekannt, geschweige Mode war. Georges Verhältnis zur parnassischen und symbolistischen Lyrik des Westens war durchaus sinnlich, nicht geistig .. weniger der gepflegte Geschmack, die abgefeimte Bildung hat ihn gelockt als die ungewohnten Tonfolgen und -fälle und die knappe Spannung, vor allem Baudelaires. Nicht die endschaftlichen Einzelinhalte, sondern den rätselhaften Duft, die gesammelten Energien und das unterirdische Pochen eines neuen europäischen Schauers, den Beginn einer unbürgerlichen Welt hat er darin vernommen und sich daran »verhört« wie man vom Versehen der Schwangern spricht: denn weit weniger bewußtes Lernen oder gar Nachahmen bewirkt den romanischen Flaum auf Georges Frühwerk als eine solche magisch-sinnliche Einwirkung.


Lag im vergnügen an faßlichen tönen
Die mir seit monden im munde dröhnen
Zu neuer erscheinung ein keim?

Von diesem Vers der Pilgerfahrten aus versteht man den »romanischen Fernzauber« dem Georges Anfänge unterlagen: die faßlichen und zugleich fremden Töne, die klare und zugleich satte Farbe, die bestimmte und zugleich entrückte Form der Nachbarn suchte er im deutschen Schrifttum vergeblich. »Luft die wir atmen gibt nur der Lebendige« .. alle großen Gedanken und selbst Gebilde deutscher Vergangenheit konnten ihn nicht nähren mitten in zuchtloser Banalität, schwammigem Behagen oder gierigem Lärm zeitgenössischen deutschen Versgeredes. Darum hatte er außer dem zwar sichern und gefüllten aber noch beklommenen und engen eigenen Muss, bei seiner Abwehr aller bloßen Bildung, bei seiner eigensinnigen Beschränkung auf das Urtümliche des Herzens und der Sprache, von der Sprache her zunächst keine Anregung, kein »Außen« als das lebende Frankreich. Als später englische und italienische, holländische und polnische Zeitgenossen in seinen Gesichtskreis traten, hatte er bereits seinen eigenen Sprachraum erobert und bedurfte keiner Anregung mehr. Rossetti, Swinburne, d'Annunzio, Verwey, Lieder konnten ihm [67] auf seiner Höhe nicht mehr das sein was ihm in seinen Anfängen Baudelaire, Verlaine und Mallarmé waren: beflügelnder Hauch und erster Fremdzauber.

Das weitaus wichtigste an den Hymnen und den Pilgerfahrten ist der neue Ton. An ihm bewähren sich zunächst das neue Menschentum und die neue Seelenebene die mit George erscheinen. In seiner Findung, in der Hebung und Rettung der deutschen Dichtersprache, im Durchbruch aus gesellschaftlichem Bildungsgerede und romantischen Gefühlsergüssen zum ursprünglichen Wort ist vorerst noch beinahe die ganze Kraft Georges gebunden und es wird nur wenig frei für Bild, Lehre oder Bekenntnis .. für dichterische »Selbstdarstellung« oder »Weltanschauung«. Von Georges späterer Entfaltung rückschauend kann man in der Art seines Sagens freilich schon erkennen daß hier mehr am Werk ist als gleichsam abstraktes Sprachschaffen, weil neue Kunde zuerst ein neues Künden sein muß, das neue Was ein neues Wie fordert: aber wer nach Motiven, nach ablösbaren Inhalten in den Hymnen suchte und noch nicht aus Sprachgeberden, Rhythmen, Tonfällen und Wortwahl die »Welt« eines Dichters vernehmen konnte der durfte von ihnen enttäuscht werden. Sie enthalten freilich keine Weltanschauung, keine tiefen Gedanken oder Sinnbilder, sondern zunächst nur »Weltart« noch eingebettet gleichsam in das Sagen, noch nicht herausgestellt als Gesagtes. Sie steckt mehr in der Motio als in den Motiven.

Die überpersönliche Weihe, die persönliche Liebesleidenschaft mit ihren Erhöhungen, Freuden, Bräuchen, Qualen .. die Spannungen zwischen Wunsch und Ruf, zwischen Ich und Du, die Jünglingshaften Begierden, Träume, Verzichte, – das sind die Beweger dieser Hymnen, aber alle streng beschränkt auf sinnlich umrissenen Raum, ohne gefühlsmäßige und gedankliche Ausladung. Straffstes Ansichhalten, ja Zurückpressen, und äußerste Verdichtung, lieber Härte und Nüchternheit als hohler Bausch und verblasenes Gewölk, keine Abstraktionen, keine großen Worte, sondern nur bezeichnende, lieber Bild als Erguß, und das Bild mit einem Mindestmaß von Rede .. weder Romantik noch Rhetorik, weder Schwung noch grüblerischer Tiefsinn. Angeborene Intensität und Großheit der Seele, unabhängig von der Größe der Stoffe und der Fülle der Erlebnisse die man nur [68] sehen, nie messen kann, geben das Gewicht: »Monumentalität« ist hier nicht Hoheit der Gedanken, Tiefe der Probleme oder Weite des Horizonts, sondern ein Urgepräge, wie etwa römische Nutzbauten nicht durch die Zwecke oder Ideale ihrer Erbauer »monumental« sind, sondern durch deren angeborene Macht.

Der moderne Mensch kennt Größe kaum noch als ein Urphänomen, sondern bemißt sie nach einem Quantum von Kräften, Inhalten und Wirkungen. Das ist an sich richtig und notwendig: denn diese sind das sicherste Zeichen und praktisch fast der einzige Maßstab der Größe. Geschichtlich ist niemand groß ohne die Bewältigung der Weltmassen, die sich in Leistungen, Inhalten, Wirkungen ausdrückt. Dennoch ist Größe vor diesen ihren Funktionen da und hat sie zur Folge, nicht zur Voraussetzung. Wer Größe erst aus einer Summe von Folgen, nicht als ein angeborenes Sein kennt, weiß nichts von ihr. Den ursprünglichen Seelenrang bestimmen keine Meßbarkeiten, und wie im Tierreich etwa nicht Gaben und Leistungen das angeborene Adlertum oder Spatzentum bestimmen, so auch in der menschlichen Größenreihe. Goethe ist nicht groß, weil er den Faust geschrieben, sondern er schrieb den Faust, weil er groß war und dies war er an sich, und wiederum ist der Faust nicht groß, weil er sich mit den ewigen Menschheitsfragen beschäftigt, sondern weil Goethes angeboren großer Seele diese Fragen begegnet sind. Früher oder später wird freilich jede große Seele die weiten Inhalte, Räume, Mittel suchen, um nicht zu ersticken. Aber wer Sinn für Größe hat muß sie nicht nur in der Ausdehnung, sondern in der Eindringlichkeit fassen, und dies ist die einzige Form unter der sie bei George zuerst erscheint. Seine Kraft äußert sich vor allem als Konzentration, Aufbau, Auswahl. Jedes Gedicht enthält in straffstem Gefüge einen Lebenszustand, eine Situation, aus jedem Wort wird das äußerste zugleich an Klang- und Bildwirkung herausgeholt, nichts bloß gebeichtet, das Ich als Er oder Du vergegenständlicht, Stimmungen zu Landschaften, Gefühle und Gedanken zu Geberden, Winken, Haltung verdichtet und entrückt. Das ganz gefüllte Bild, das lückenlose Gefüge, die geschlossene Schau bei solch leidenschaftlichem Beben des gehaltenen Tons und solcher Glut des in Bildern verfangenen Lichts, das ist das erste engste Zeichen des Willens zum Kosmos. Die Scheu [69] vor Ausbruch, vor Gefühlserguß, vor subjektiven Klagen und »Eröffnungen«, die Strenge, Ferne, Kargheit und Keuschheit, das ist das erste Zeichen für den Willen zum Gesetz. Wäre nicht der Ton, so könnte es dekoratives Genügen des »salbentrunknen Prinzen«, marmornes Parnassiertum sein. Aber Georges Herz, nicht der Geschmack verrät sich im Rhythmus und selbst in den Motiven, in dem was ihm zum Motiv werden kann.

Was Georges spätere Gedichte und Mahnrufe immer wieder enthalten, die Urlehre vom Fortgang des Lebens durch den Zauber, vom Schutz des heiligen Feuers durch die Gestalt, von der Bewahrung der Kräfte durch stumme Tat und heiliges Bild, seine bis zum Weltgraun gesteigerte Scheu vor der Lösung der Siegel, dem Zerschwatzen des Geheimnisses und dem Ausguß der Seele in töriges Spiel und lockere Geisterei – all das regt sich schon keimhaft in den Hymnen und Pilgerfahrten, noch nicht als Weltmysterium dargestellt und verkündet, aber bereits als heimlicher Selbstschutz einer gefährdeten Natur merkbar. Denn wer ist gefährdeter als der Empfängliche und Entzündbare durch die Reize der Sinnenwelt? Die süßen Stimmen raunen ihm inniger, die Farben leuchten ihm lauterer, und all ihre Fasern umsaugen und umdrängen ihn mächtiger und zärtlicher. Und wer ist versuchter sich hinzugeben, sich auszuschütten, sich zu erleichtern als das besessne Innere, das selbständige Herz dem Sitten und Gebote von außen keine Bindung bedeuten? Wer muß so erschütterlich und so verwundbar sein, so dehnbar und schwank wie die Träger geistiger Sendung? für sie gibt es keine Wände, keine Puffer und Schalen .. sie haben nackt mit den nackten Gewalten zu tun. Sie sind immer von Zerreißung und von Zerfaserung bedroht, wie die Lenz, Bürger, Lenau, wenn sie nicht wissentlich oder triebhaft sich schützen durch ein eigenes bindendes, hegendes und sammelndes Seelengesetz. Fast überängstlich hat George zuerst seine bedrohte und verlockte Seele mit Form, mit Augen- und Tast-zeremoniell umhegt, als einer der eine Gefahr ahnt, ohne sie noch zu kennen. Je deutlicher er sie erblickt, desto sicherer, kühner, freier bekämpft er sie, später macht er das Wort nicht mehr zum Versteck, sondern zum Leib der Weihe.

Schutz der Weihe vor den Sinnen und Wünschen, Verzicht der [70] Sinne und Wünsche vor dem Gebot der Weihe – das ist der Grund der Hymnen und Pilgerfahrten. Die Lockungen sind verschieden, von den lieblichen Stimmen eines Maitags im Park bis zu den verzehrenden Wunschbildern der Liebe und der Macht, von den leichten Spielen zärtlicher Geselligkeit bis zu den beschaulichen Wonnen des Frommen, von morgendlichen Hügellandschaften bis zu den schwülen Rauschnächten des Neusüchtigen .. Lockungen aus dem Geberdenkreis des Velazquez wie des Fra Angelico, aus dem Stimmungsbereich Watteaus und Baudelaires, immer verfangen und verhalten im rhythmischen Gefüge und in geberdeter oder räumlicher Sicht, nie bloß herausgeklagt oder -getönt. Wie die Bewegung dieser Reize begrenzt wird durch die strenge Form, so ihr Inhalt durch Zucht, Scheu und Stille:


Der Dichter auch der töne lockung lauscht
Doch heut darf ihre weise ihn nicht rühren
Weil er mit seinen geistern rede tauscht ... ..
Schon nahm er scheu das göttliche geschenk
Von leiser trennungswehmut nur betaut
Der klage bar des ruhmes ungedenk ... ..
Des glückes hoffnung mißt ich gern für immer
Nach deinem preise schlöß ich meinen psalter
Und spottete dem schatten einer ehre
Und stürbe wertlos wie ein abendfalter.

Wie auch immer »frommer Wunsch mit süßer Gier sich mischt«, nie darf die Erhebung und Versenkung der Seele gestört werden durch Mißklang und Unmaß. Maß ist freilich nicht die »aurea mediocritas«, sondern Harmonia, Zusammenklang der Seele mit dem Schicksal es sei wie es wolle – Ausgleich zwischen der Leidenschaft und der Weihe ohne Bruch, Riß, Schrei, ohne das Hadern oder das Toben des unbefriedigten Ich. Schon damals kennt George »vorm Schicksal wenig Klage, wenig Haß« und meidet »was siecht und vermorscht, was hastet und brüllt.« Eh ihm das Gesetz seines Daseins bewußt ist, erfüllt er es durch die dumpf-sichere gespannte, ja wohl überspannte Abwehr des Ungesetzes, und gemäß seiner damaligen Enge, Zärte [71] und Gefährdung findet er für dies Maßgefühl jene überfeinen Formeln die ihm das übliche Gelächter eingetragen haben:


In jenen chören
Wird jungfräulicher flaum den einklang stören.

Je strenger er seine eignen damaligen Grenzen spürt und schützt, desto strenger füllt er sie auch aus: er geht im Gefühl wie im Ausdruck immer bis an den äußerst möglichen Rand der Sprache und der Regung. Je enger der Kreis ist worin er sich noch bewegt, desto gepreßter und gespannter ist auch alles was darin geschieht, so daß man fürchten muß er zerreiße. Wenn er keine leere, bildlose, tonlose Stelle duldet, so glückt ihm noch selten eine gelöst quellende, frei ausladende und goethisch blühende ... Alle Kraft wird noch aufgezehrt von der Beherrschung des persönlichen Zwiespalts, und die Rundung die damit erzielt werden kann ist die eines gottbesessenen Ich mit seiner Sprache. Noch fehlt der äußere Raum worin dieses Ich seinen Gehalt entladen kann – es fehlt an sichtbar ausgefalteter Welt, zumal an ergiebiger Menschenwelt. Ein geliebtes Du, einige Landschaften, einige Gemälde und einige fremdartige Situationen (»Neuländische Liebesmahle«) waren das ganze Außen worin ein so überfülltes, weltdurstiges und weltmögliches Innere sich spiegeln oder gießen konnte, zu ehrlich um sich etwas vorzutäuschen, zu herb um mit so engem Stoff Mannigfaltigkeit zu spielen. Ein bloßer Gefühlspoet hätte mit solchem Innen eine ergiebige Beredtsamkeit entfalten können: für den ich-scheuen Sinnbildner, der nichts sagen durfte was nicht Bild, Form, Geberde war, wurde sein Reichtum an Spannungen zu einer künstlerischen Not und Gefahr. Es fehlt ihm noch an realen Bildern seines Sinnes, und so mußte er vielfach undeutlich schweigen, wo er am meisten gedrängt war, oder halb-sagen, weil er keinen ganz gemäßen Umriß fand. Den Ton für seine Bewegung hatte er gefunden, die Sprache für seine Weihe, aber noch nicht die Schau für seine Fülle – die Ausfaltung seiner intensitas, die Helle seiner Glut. Vieles von dem was man als gespreizte Ziererei und zeitflüchtige Genüßlichkeit verhöhnt hat, ist die peinvolle Ehrlichkeit des noch verschlossenen und umschränkten Charakters und seine keusche Weltsuche in ihren Anfängen. »Welt« ist nicht nur Kraft, sondern auch [72] Raum und Masse, nicht nur Gesetz, sondern auch Fülle und für den Seher Gestaltenfülle.

Es war Georges nächste Aufgabe, Qual und Lust, seine engen Grenzen zu erweitern und den spärlichen Anschauungsvorrat mit dem er bisher seine Innenfülle äußern mußte zu mehren. Erst allmählich reifte er der Augenwelt zu oder sie ihm. Erst langsam wuchs er zur Einsicht was seinem Gesetz unterstand und schrittweise eroberte er sich von draußen sein vorbestimmtes Erbe. Die eine Form die Dinge zu künden war ihm seit den Hymnen gewiß, um aber die tausend Formen der Dinge zu fassen bedurfte er eines Menschenalters. Nicht hastig ließ sich das ihm eingeborne Gesetz erfüllen durch sein Ich und mit Welt.

II. Pilgerfahrten

Zu einem runden Gesamtbild seines Gehalts über Ton und Wort hinaus kommt George erst im Algabal. Die Pilgerfahrten sind dazu der Übergang, noch wechselnd zwischen rhythmischen Ausklängen der Erregungen, landschaftlichen Spiegelungen der Zustände und Geberdenbildern der Gesinnung. Schon der Titel ist bildhafter als das abstrakte »Hymnen«, und zum erstenmal begegnen wir in Georges Werk einer Selbstschau des eigenen Daseins, der Stilisierung seiner Gestalt. In den Hymnen bereits empfindet er sich in dritter Person – der erste Schritt aus dem bloßen Innen-ich hinaus in den objektiven Raum –, aber noch begnügt er sich dort mit Situationen oder Geberden und die Gestalt ist mehr gefühlt als geschaut .. die Lyrik, der Drang des Ich wird noch nicht Vision und hält noch nicht Sicht und Raum genug um sich herauszustellen, dar-zustellen: mit der Raum-werdung beginnt erst die Welt-werdung des Ich ... und mit der Selbstschau 1 der Blick in das Gesetz und das Schicksal. In den Hymnen ist das Selbst noch unbestimmt, gattungshaft, ohne Eigenschaft und Personalität: der Dichter, der Jüngling, der Liebende[73] – wo es sich verdeutlichen will da lugt es schüchtern noch durch fremde Medien, wie das Bild des Infanten, oder durch schleirige Ferne, wie am Ende der »neuländischen Liebesmahle«:


Mir dämmert wie in einem zauberbronnen
Die frühe zeit wo ich noch könig war.

Erst der Schlußvers der Hymnen ruft eine bestimmtere Gestalt, die nicht nur ein allgemeines Dasein, sondern ein besonderes Tun und Gebaren vergegenwärtigt: den Pilger. Hier knüpft das zweite Buch an. DieHymnen geben innere Zustände und Spannungen fast beziehungslos, schicksalslos. Ihr einziges Bildmaterial sind Landschaften oder Situationen. DiePilgerfahrten bringen bewußt menschlicheErfahrungen.. bereits die Figur des Pilgers setzt Erfahrung, Suche, Wanderung voraus .. und dies ist die erste Erweiterung (zugleich Distanzierung) die erste Versachlichung (zugleich Verdichtung, Konkreszenz) und Steigerung (zugleich Stilisierung) des bisher zuständlich gespannten und befangenen Ichs zum Selbst, zum Es.

Die Aufschrift des Werkes deutet den Ursprung dieser Erfahrung an: den Drang des eingesperrten Ich nach dem Du, den Keim jedes Wirkens, jeder geistigen wie leiblichen Zeugung:


Also brach ich auf
Und ein Fremdling ward ich
Und ich suchte einen
Der mit mir trauerte
Und keiner war.

Die Urzustände der Hymnen, Weihe, Leidenschaft, Scheu, Rausch, die der Seele mitgegeben sind noch vor den Gegenständen, treten durch die Suche heraus und nähren sich mit menschlichen Wirksalen: Erfüllungen, Enttäuschungen, Betäubungen, Erhebungen Erniedrigungen legen eine zweite Schicht seelischer Inhalte um den innersten Spannungskern .. ihr Träger lernt zum erstenmal über das notwendige, einfach gegebene und einfach hinzunehmende So-sein und So-leiden hinaus tun und wählen, nehmen und verwerfen. Indem er sucht, lernt er sehen .. indem er sichtet, lernt er gestalten Er erfährt, ihm widerfährt Schicksal und Gesetz und sein Selbst an ihnen. Das ist der Sinn solcher Gedichte wie »Siedlergang« wie die beiden »Gesichte« [74] wie »Mahnung« – die ersten Bilder von Georges Seelen- und Schicksalsart. Aber auch die anderen Gedichte, die nur Zustände und Spannungen liedhaft oder geberdenhaft austönen, sind schon panoramischer als die Hymnen, das Blickfeld ist weiter, der Blickpunkt höher – überall merkt man schon den Drang fühlbar das eigene Leben als Gesamtheit notwendiger Augenblicke, als Einheit von Leidenschaft, Schau und Schickung zu begreifen, zu umgreifen. Noch ist die eigene Gestalt nicht die bewußte, rundum deutliche Mitte, aber mancher Bogen des Horizonts lichtet sich, und mit dem Träger des Schicksals erscheint zugleich ein Bereich zugehöriger Dinge, ein Beginn gewählter Welt.

Im selben Maße als der Raum weiter wird, wird die Sprache vieltöniger und farbenreicher, die Hingebung freier, die Glut heller, die Andacht klarer. Der Kampf zwischen Leidenschaft und Weihe durchdringt das menschliche Draußen und greift über auf die Natur. Was bisher ein Zwiegespräch der gespannten Seele in sich gewesen das wird sichtbares Ringen zwischen Menschen oder Mächten: die Qual der beherrschten Begier, die Demut des gebrochenen Stolzes, die leid volle Süßigkeit vergeblichen Liebeharrens, die Selbstbetäubung des erschütterten, aber nicht zu entadelnden Herzens, das Gewahrwerden der wunderreichen Ferne und der eigenen Abgründe, das Zusammenraffen unter der fast erdrückenden Last .. Erwartung, Enttäuschung, Überwindung – alles löst sich jetzt und verschmilzt mit einem frisch erschlossenen Sinnenbereich zu einer Einheit von Pracht und Stille, Glut und Entrücktheit, Stäte und Scheu, Geberde und Landschaft die ihresgleichen in deutscher Sprache noch nicht hatte.

Der eigentümliche Zauber solcher Strofen wie »Gesichte« »Mahnung« »Verjährte Fahrten« ist am besten als »monumentale Intimität« zu bezeichnen. (Für beide Seelenwerte gibt es kein entsprechendes deutsches Wort: »Großheit« oder »Erhabenheit« schließt nicht zugleich Gestalt und Gefüg ein, die zum Begriff »monumental« gehören »Vertraulichkeit« »Innigkeit« »Heimlichkeit« bezeichnen mehr Gesinnung und Zustand als Wesensart und Dunstkreis, die bei »intim« mitschwingen – und »lauschig« läßt wieder das geistige vermissen.) »Gestaltige Seelenhöhe« und »sinnenhaftes Geheimnis«: Georges Pilgerfahrten haben beides, weil hier zum erstenmal eine welthaltige [75] Seele ihre eigenste Einsamkeit ohne entgegenkommende Beichte, ohne Gefühlspreisgabe, ohne öffentliche Mittel und Zeichen, in sinnlich gedrungenen Formen dar-stellt. Monumental spricht nur wer über persönliches Erlebnis, Gefühl und Glauben hinaus sich als Gesetz und als Macht kennt und kündet, zugleich begrenzt und entrückt. Intim ist nur wer sein Inneres offenbart ohne sich preiszugeben, ohne herauszutreten aus seinem geweihten Kreis, ohne sich auszuschütten .. wer geschlossen bleibt indem er sich erschließt, wer seinen Raum zeigt indem er ihn umhegt. Dies geschieht nur wo die Seele sinnlich erscheint. Nur die ganz durchseelte Gestalt, nur der ganz durchlebte Raum, nur die ganz versinnlichte erschienene räumliche Seele können zugleich monumental und intim sein. Darum haben öffentliche Kulturen keine Intimität, Privatbildungen keine Monumentalität. Intimität setzt immer einen Wesens-gegensatz zur Gesellschaft, zur gültigen Öffentlichkeit voraus, Monumentalität die Abwesenheit des Privaten. Nur wo in der Geschichte ein Einzelner außer aller Gesellschaft steht und zugleich über sich hinaus ein neues Ganzes, ein Gesetz, einen Raum hegt, ist die Einheit beider Eigenschaften möglich wie bei George.

Auch bei ihm konnte diese Einheit erst entstehen, als er zur Tonwerdung seines Gesetzes (in denHymnen) die Raumwerdung (in den Pilgerfahrten) gefunden hatte. Die Monumentalität wuchs, die Intimität schwand wo sein Gesetz ins Bewußtsein trat und kündbare Lehre wurde, in dem Maß als sein Seelengesetz aus einer Geheimkraft und einem Geheim-raum eine offenbare Welt, ein »Kosmos« wurde: das beginnt mit dem Vorspiel zumTeppich des Lebens. Die Pilgerfahrten sind auf dem Weg zur Weltwerdung der Übergang vom intimen Ton zum intimen Raum, von Spannung zu Richtung. Durch die Wünsche – landschaftlich ausgeweitete oder geberdlich verdichtete – schimmern jetzt schon die Wunsch-bilder: zarte oder stolze, kindlich schlanke, erhaben hingegebene Frauen, berauschende Wunderlande, liebliche Gehege, dunkel-schaurige Fernen, und ein Königreich für wilden Willen und Traum. Es sind die frühdumpfen noch ausschweifenden und pflichtfernen Vorgefühle des dichterischen Herrsch- und Zauberberufs. George selbst hat empfunden daß die üppigen Gesichte und ungestümen Ballungen seiner [76] ersten Freiheit noch nicht seine wahre Reife seien. In der Bändigung der schweifenden und begierigen Kräfte sah er die höhere Bestimmung, aber noch wußte er sich dazu jetzt nicht sicher genug und machte aus der Not seines noch maß-losen, d.h. einsamen Überschwangs zuerst die Tugend seiner seltsamen Traumpracht. Diesen vorläufigen Verzicht auf die keusche Einfalt der Vollendung meint das Schlußgedicht der Pilgerfahrten:

Die Spange.
Ich wollte sie aus kühlem eisen
Und wie ein glatter fester streif
Doch war im schacht auf allen gleisen
So kein metall zum gusse reif.
Nun aber soll sie also sein
Wie eine große fremde dolde
Geformt aus feuerrotem golde
Und reichem blitzenden gestein.
So kündigt sich Algabal an.
Fußnoten

1 Das ist nicht Ichbetrachtung, Spiegelung: diese ist ein Willkürakt, die Selbstschau ein unwillkürlicher Vorgang bei dem man sich als Gesicht wie im Traum erscheint. Sich spiegeln kann man jederzeit .. sein Selbst schauen, sich erscheinen so wenig als man Träume schaffen kann: sie sind Eingebung oder Schickung.

III. Algabal
III. Algabal.

Der Keim zu diesem Werk ist die »Mahnung« aus den Pilgerfahrten, worin der Kampf zwischen Leidenschaft und Weihe den bisher heftigsten und drohendsten, bildlichsten und lautesten Ausdruck gefunden hatte. Die angeborene Herrschsucht jedes starken Willens, der unversöhnliche Ingrimm jeder hohen Seele gegen die breite Gemeinheit, die Qual der einsamen Fülle in der massenhaften Öde hat sich hier verdichtet zum Wunschbild des schrankenlosen Herrn, zum Angstbild zugleich des entweihenden Machtfrevels. Denn schon hier wird nicht die Allmacht der erhabenen Person gewollt, sondern die des Gesetzes wodurch sie erhaben ist, nicht das »Sich-Ausleben«, die Erlaubnis zu »jeder Lust und jedem Mord« sondern die Heiligung des eigenen großen Überschwangs. Nur die Hemmung durch das niedrige Fremde steigert den Willen zur Macht, und freilich wird das Recht und der Wert jeder Handlung erst bestimmt durch die Art ihres Begehers. So wenig wie ein Wissen gleich für alle gibt es eine Sittlichkeit an sich, wohl aber gibt es für jeden eine [77] unbedingte Sittlichkeit: die ist für George kein bestimmtes Tun und Lassen, sondern ein Sein das all seine Taten und Leiden, welche auch immer, umschließt wie ein Klima seine Gewächse. Dies Sein, zum erstenmal zur Gestalt verdichtet im Algabal, muß gesetzlich, lauter und bis in die wildeste Leidenschaft hinein gotthaft sein, jeder Tat, jedes Opfers fähig, aber keines Abfalls von der Weihe – die Bejahung aller eigenen Möglichkeiten, zu denen nichts Niedriges gehört, aber zugleich ihre Bändigung:


O überhöre jenen lockungsschrei
Und sag nicht daß dein leid dein führer sei
Und wechsel nicht ein würdiges gewand!

Der Algabal hat den Traum von unbedingter Auswirkung des eigenen Gesetzes, das zugleich Leidenschaft und Weihe ist, zum erstenmal dichterisch erfüllt, indem er die Wunsch-gestalt mit ihrem Wunsch-reich zusammen beschwört. Dieser Traum ist nicht romantische Sehnsucht, kein »Ich-möchte-gern«, sondern Dichtung eines Besitzes und einer Besessenheit. Zu der angeborenen Heftigkeit der Triebe und ihrer erreichten Heiligung ist jetzt eine wirkliche Herrschaft gekommen, die für den Dichter nicht weniger bedeutet als für den Täter die Entscheidungsschlachten: die schrankenlose Gewalt über die Sprache. In den Hymnen ist Durchbruch, in den Pilgerfahrten siegreiches Ringen, im Algabal die vollendete Macht. Die letzten Härten und Krusten sind weggeschmolzen, Klänge, Worte, Wendungen schmiegen sich willig den verwegensten Griffen, das innere Aug dringt in die verschlossensten Grüfte .. eine vorher nicht einmal vermutbare Leuchtkraft der Laute, Saftigkeit und trunkene Schwere der Rhythmen, Dröhnen und Raunen, Wölben und Ragen, Schmeicheln und Gleiten des lang umworbenen heißumstrittenen Seelenelements ist erobert. Von der heutigen Sprachhöhe aus, die jedem leidlich begabten Schüler Wohllaut und Wortwahl gestattet worum Platen ihn beneidet hätte, begreift man kaum den Triumph und den Rausch ihres ersten Ersteigers, die tiefe Genugtuung und die herzschwellenden Fernblicke über das neue Gebiet. Das Entzücken das inmitten der epigonischen Fläue und der naturalistischen Gräue oder Bräune die ersten hörfähigen Leser beim Algabal empfanden kann er heute nimmer wecken, da es um andere Dinge geht [78] als um Entdeckungsräusche. George selbst hat diese Ebene längst überholt. Wohl aber durfte er damals seine Gewalt feiern – und weil bei ihm alles Frucht und Same zugleich ist, erweiterte die neue Sprachkraft seinen Raum, und der erweiterte Raum gab seiner Kraft neue Höhe und Helle.

Müßig zu fragen ob die neue Sprachgewalt die Herrschaftsvision hervortrieb oder die Herrschaftsvision die Sprachgewalt beflügelte – Macht und Schau sind nur zwei Ereignisse derselben Begabung, wie Leidenschaft und Weihe nur zwei Zustände desselben Charakters sind. Was in den beiden ersten Büchern noch nebeneinander oder nacheinander in einzelnen Augenblicken zur Sprache kam, das schoß jetzt zusammen um eine kreisbildende Mitte die alles in sich aufnehmen und wieder ausformen konnte. Das erste Finden eines solchen einheitlichen Seelenträgers ist der nächste große Schritt nach der Findung des eigenen Mittels und der eigenen Bahn. Nun erst bekommen die gestaltigen Schicksale ihren Grund und ihre Ordnung, nicht nur ihre Fülle in sich, sondern auch ihr Gewicht in einem Lebensganzen. Jetzt erst ist Georges dichterische Masse geründet. Nach der Stimmungseinheit der Hymnen, der Richtungseinheit der Pilgerfahrten bringt der Algabal zuerst, bei noch reicherem Gehalt und stärkerer Beherrschung der Mittel, die Gestalt- und Raumeinheit. Das Pilgertum konnte noch nicht alle bisherigen Motive Georges so umfassen wie das Herrschertum .. es war ein unzulängliches Symbol für die Inhalte der »Mahnung« oder der »Gesichte«. Das Priesterkönigtum aber nahm offen und willig in sich auf: Verlangen nach dem eigenen Reich, qualvolle Einsamkeit und fromme Seligkeit des Entrückten, Vermessenheit der Träume, den Schauder an den Grenzen und den Allmachtrausch des Sprachgebieters. Leidenschaft und Weihe, Gewalt und Qual, Fülle und Opfer hatten hier zuerst eine gemäße Menschenform, ein zureichendes Gleichnis der erscheinungssüchtigen Triebe gefunden.

So ist Algabal auch das erste rein durchkomponierte Werk Georges geworden, dreigegliedert, in drei Zonen von derselben Gestalt durchstrahlt. Das »Unterreich« gibt ihren Dunstkreis, die Landschaft, die Wirkung und Schöpfung zugleich der Königpriesterseele, »Tage« ihren menschlichen Umkreis in Geberden, Taten und Bräuchen, [79] »Andenken«: ihr inneres Geschick als Umblick, Rückschau und Einkehr.

Was sagt nun die Wahl des Sinnbilds (mag sie auch mitbestimmt sein durch den Eindruck des Königs Ludwig von Baiern) über Georges damaligen Willen aus: der spätrömische Kultkaiser, der verrufenste Name der Geschichte, als Träger eines Traumes von Weihe, Höhe und Ferne? Ideale werden nicht erfunden, sondern gefunden, und zu jeder Urform bietet die Geschichte Erscheinungen: es gilt nur wahlverwandt aus dem Vergängnis des Gewesenen das Wesen herauszuschauen, ohne romantische Gespensterbeschwörung und epigonische Mumienmaskerade. Durch das schaurig tolle Fratzenbild der spätantiken Überlieferung vom göttermischenden Sonnenbuben, Weibjüngling und Lasterpriester aus dem Osten hat George Urformen menschlicher Triebe und kosmischer Mächte geahnt, jenseits der bürgerlichen Sittenbegriffe und der christlichen Werte. Dabei lag ihm weder die Ehrenrettung oder Seelendeutung eines Verkannten im Sinn noch eine psychopathische Studie über geheimnisvolle Abarten noch gar das immoralistische Auftrumpfen das so manche Catilina-, Tiberius-, Nero- und Borgia-poesien gezeitigt hat. Weder das Exotische noch das Abnorme, weder das Laster noch das Rätsel, weder Psychologie noch Historik zog ihn an.

Er ist hier sowenig Historiker, Romantiker und Problematiker wie irgendwo. Ihn bewegen einfache Urformen und Grundspannungen, für die er freilich seiner damaligen Stufe gemäß den extremen Ausdruck, die allersinnlichste Steigerung sucht. Die durchtriebene, d.h. durch-getriebene Sinnlichkeit ist eine Handwerkseigenschaft, nicht der Erlebnisanreiz dieses Werks. Zumal der billigen Cäsarenschwelgerei der Epigonen, den Auslebe-phäntasmen der Nietzsche-affen und dem Zähnefletschen der Weltschmerzler ist es durchaus fremd: das gemäße Geschichtsgleichnis für diese Stimmungen des aufgebäumten oder aufgeblähten »Individualismus« wäre etwa Nero, der Nachfolger des Lucifer, die Verklärung oder der Trotz des Lasters, Moralpfäfferei mit negativem Vorzeichen. Georges Algabal steht jenseits aller Moralfragen wie jedes wahre Gewächs und jedes ursprüngliche Gesicht. Schon der antike Heliogabalus bedeutet weit weniger den Schwall persönlicher Lüste als den (freilich in der Zerfallszeit fürchterlich [80] zersetzten, durch die ratlose Überlieferung völlig verfratzten) Taumel überpersönlicher Schauer und Gewalten bei einem weder genialen oder titanischen noch irgendwie persönlich gewichtigen Geschöpf. Bei den Bräuchen, Suchen, Feiern des heidnischen Priesterkaisers, nicht bei seinen Lastern, Freveln oder Greueln konnte Georges Umbildungslust ansetzen, als ihm dies Symbol begegnete. Algabal ist kein individualistisches, sondern ein kultisches Buch .. nicht widersittliches Bekenntnis eines Genießers, sondern außersittliches Gesicht eines Frommen. Diesem Frommen freilich war seine eigene Zeit mit all ihren Werten damals völlig versunken und daher die ihr fremdeste, fernste, unfaßlichste und widerlichste Art gerade willkommen für seine sternenweite Entrücktheit. Gegen Heliogabal war Nero schon beinahe eine bürgerlich vertraute Theaterfigur, ein geschätzter Frevelbold. Etwas von dem unheimlichen Abscheu und Anderssein das aus den Schlußversen des Knaben Manlius in der »Porta Nigra« (im Siebenten Ring) spricht, liegt schon in der Verklärung des Heliogabalus zum Gleichnis des Herrschertums.

Aber auch abgesehen von dieser Zeitferne kam keine geschiehtliche Figur Georges damaligem Traum so entgegen wie gerade diese. Was bedurfte er? ein einheitliches Gleichnis der Allmacht, der Weihe, der Schönheit und der Traumfreiheit. Für den europäisch klassischen Gesichtskreis ist immer noch das römische Kaisertum die höchste Form der menschlichen Allmacht. George war schon als Künstler zu den deutlichsten Formen gedrängt. Er war kein Schweifer und Geschichtler und mußte sich innerhalb seines noch lebendigen Bluterbes bewegen .. dazu gehörte das Imperium Romanum, aber nicht mehr Pharaonen, Achämeniden oder Kalifen. Unter den römischen Cäsaren wiederum – all den Soldaten, Waltern oder Weisen – ist Heliogabal wohl der einzige Priesterkaiser, der einzige Jüngling und der einzige zu dessen wesentlichen Zügen die Schönheit gehört. Zudem hat er am wenigsten ein geschichtlich umrissenes Gepräge: er ist ein dämmriger Typus welcher der steigernden Dichtung am wenigsten stofflich spröden Widerstand bot, gerade konkret genug um keine leere Allegorie zu bleiben, und unbestimmt genug um von dem neuen Wesen seine Form zu empfangen, ohne daß immer eine unvergeßbar deutliche Geschichtsfigur störend durchschimmert. Selbstverständlich hat [81] George dies rundum gemäße Symbol sich nicht erblättert, sondern die symbolreife und formträchtige Seele schlug wünschelrutenhaft an, als es ihr begegnete.

Urformen sind Gesichte, nicht Deutungen: diese gehören immer den wechselnden Zeiten an, sind verknüpf bar und begründbar, vertauschbar und ableitbar, und wo sie sich eines Anschauungsstoffes bemächtigen, werden daraus Allegorien oder Schablonen. Seelenlehre, Gesellschaftskunde, Empfindungsreihen und Fragestellungen gehören dahin und jedes Urding kann auch auf dieser sekundären Ebene behandelt werden: z.B. das Herrschertum als soziale Einrichtung, ab Gefühlslage, als geschichtlicher Konflikt, das Priestertum als Glaubenstechnik, als Denkart, als Problem .. und so sind fast alle Weltkräfte in Romanen, Dramen oder Bekenntnissen des 19. Jahrhunderts erschienen. Die Schriftsteller haben über dies oder jenes Problem »nach-gedacht«, es hat sie beschäftigt, ja gequält, sie haben es behandelt: die gefeierten Namen der europäischen Weltlitteratur im 19. Jahrhundert, Balzac, Tolstoi, Dostojewsky, Hebbel, Ibsen sind Problem-dichter d.h. sie zeigen im Beobachtungsstoff ihrer Zeit Konflikte die sie erlebt haben durch gewisse mehr oder minder philosophische, mehr oder minder gestaltete Grundgedanken. Etwas völlig anderes sind Urgesichte, werden aber meist damit verwechselt, d.h. für erste Ursachen oder letzte Dinge gehalten.

Im Algabal haben Grundwesenheiten wie Priestertum, Herrschaft, Opfer neue Ur-sprache gefunden: gelöst von Gesellschaft, Psychologie, Kausalität, sind sie im Wort Georges un-mittelbar gegenwärtig als Naturtümer, Menschformen der Natur: als Wesen deren beide Eigenschaften ursprüngliche Schau und sinnen-einheitliche Sprache sind. Beide sind bei George untrennbar.

Im Algabal ist noch, deutlicher als in den beiden Erstlingsbüchern, weil geräumiger, die Geist-sinneneinheit der Sprache (vor der Scheidung in die fünf Sinne und in Begriffe) völlig vergegenwärtigt .. nicht etwa nur die Suggestion der gewollten Vorstellungen durch gewählte Lautfolgen, die einigen deutschen Romantikern und französischen Lautsymbolikern geglückt ist, nicht der Ersatz der Aussage durch Wort-Musik, nicht eine neue malerisch dekorative Verwendung der Bildinhalte, oder kunstvolleVerknüpfung von Effekten geschiedener [82] Sinnenreiche. Dies alles gibt niemals das Sein der Elemente, sondern ihre Bedeutung für den Geist oder ihre Wirkung für die Sinne, also entweder Gegenstand oder Zustand, Stoff oder Reiz, in jedem Fall also Vor-stellung eines Wie durch ein Was, oder Um-setzung eines Was in ein Wie, ein Aus-einander, Nacheinander, Zueinander aber nicht das unscheidbare In-einander von Was und Wie, d.h. die lebendige Gestalt, die zugleich Form, Akt, Stoff und Gehalt ist.

Es ist schwer das deutlich zu machen, da es sich nur durch Beziehungen, Abgrenzungen, Verneinen ausdrücken läßt, keinen eigenen Namen hat und nur erfahren, nicht begriffen werden kann. Analogien zeigen nur was es nicht ist: keine Eklektik des abgefeimten Geschmacks am Ende der Kultur, sondern noch ein dichtes kräfteträchtiges Geblüt. Auswahl freilich ist in den Paradis artificiels der späten Kunstfranzosen wie in dem »Unterreich« des Algabal-dichters: doch das eine ist die wägende, schmeckende, tastende, zärtliche Auswahl des sammlerischen Kenners, das andere die wilde zwanghafte unnachgiebige Auswahl eines Wachstums. Die erste trägt zusammen aus allen Zonen was zueinander stimmt, die andere scheidet bei ihrem Gang und Drang durch die Widerwelt aus was nicht nährt, nicht praller, fester, zäher macht. Die eine glättet, schmückt und rundet eine Oberfläche, die andere treibt, stößt und ballt einen feurigen Kern heraus. Die eine sucht den endlichen Zusammenklang fertiger Zierrate, die andere den ursprünglichen Einklang unverbrauchter Dinge. Gemeinsam ist beiden im Positiven die Lust am Äußersten, an der letztmöglichen Heraustreibung des Gesichts, im Negativen die Abwehr aller Denkerstörung und Moral. Beide wollen ein Sinnlich Schönes erschaffen und kennen kein Sollen außerhalb dessen. Ihr Gesetz ist »Vollkommenheit der Erscheinung«, aber die Franzosen und ihr ästhetisches Gefolge, Jacobsen, d'Annunzio, Wilde, Hofmannsthal, suchen die Verschönung, das schöne Schauspiel, den »schönen Schein«. George will das Schöne, das schöne Da-sein, die schöne Gestalt. Der europäische Ästhetizismus kommt von der Romantik her. Schon das Symbolum »le goût de l'infini« ist eine typische Romantiker-formel und sucht wie alle Romantik »Vorstellung des Andren«. George ist antik und sucht »Darstellung des Gleichen«. Sie suchen Vergeistigung und er Verwirklichung.

[83] Auch Algabals »Unterreich« ist die Verwirklichung eines Traums und nicht ein Traum von Unwirklichem. Was ist nun dieser Traum? Die Eingebung eigener und neuer Welt von der jedes schöpferische Herz besessen ist, bevor es die gegebene durchdrungen oder verwandelt hat .. der Eifer des Menschen der eine Natur in der Natur sein will und ein Schicksal über dem Schicksal, das Pochen eines innersten Anfangs beim Ausgang jedes Zeitalters: all das entlädt und erfüllt sich in der Gründung von berauschender Pracht, keuscher Ferne, makelloser Einheit und Neuheit, in der


Schöpfung wo er nur geweckt und gewaltet,
Wo außer dem seinen kein wille schaltet
Und wo er dem wind und dem wetter gebeut.

Der Dichter dessen Sprache die Essenzen der Natur nicht nur als Bilder, sondern als Sinnenstoff enthält, dem die Stein- und Pflanzenkräfte als Wortwesen im Blute weben, die Kristalle, Farben, Düfte und Lichter nicht nur ein totes Außen, nicht nur ein erlebtes Innen, sondern zugleich ein sprachhaftes Mitten sind, erschafft aus sinneneinheitlicher Ursprache eine Wider-Natur ohne Zeit und Vergängnis, aber auch ohne Leben und Schicksal, das Gebild einer sinnlich-seelischen Hybris, die durch den Tod vernichtet oder durch das schicksalhafte Leben gesühnt werden muß.

Ein Weltfieber wirkt sich in diesem Traum zu Ende, indem es seine äußersten Gesichte bannt: das »Unterreich« (und nur dieser Teil des Algabal) ist in Georges Zeit dieselbe Stufe wie in Goethes Entwicklung der »Prometheus«: die Titanenstufe –


Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde ...

Prometheus' Titanentum ist gefühlsmäßig schöpferisch, das Algabals willenhaft-bildnerisch, beiden gemeinsam ist die Vermessenheit des Einsamen gegenüber der Welt, des Neuen gegenüber dem fertig Gültigen und der Jünglingstrotz gegen Mächte außer ihnen. Im Prometheus lebt sich der Gefühlsüberschwang zu ende, im Algabal ein Sinnenüberschwang, und beide Vermessenheiten mußten einmal heraus, um ihre Träger nicht zu ersticken. Beides sind Extreme, d.h. Enden, aber zugleich Voll-endungen. [Ich vergleiche sie hier nicht als Werke und Gebilde, sondern als Ausdruck einer Krise des schöpferischen [84] Menschen die sich in jedem Zeitalter erneut.] Auch der Algabal, dies scheinbar abseitigste und verstiegenste Werk, ist der schroffe Ausdruck einer Norm: des unbedingtenKunst-triebs, Kunst als Wider-Natur begriffen: denn auch das ist sie, wenngleich nicht nur das. Nur die Bürger, die weder die Natur noch die Kunst kennen und von beiden dasselbe möchten, vermanschen gern beide. Jeder echte Künstler will das schlechthin Neue, d.h. Ursprüngliche, jeder »Schöpfer« das Ungewesene das durch ihn erst entsteht. George ist hier der Gipfel und das Ende jener dichterischen Kunst von der Flaubert, Baudelaire, Mallarmé, Huysmans geträumt haben .. sie jedoch sind auf dieser Stufe stehen geblieben: die Kunst selbstgenugsamer Schein, sterile d.h. endhafte, voll-endete Schönheit jenseits des Lebens, nicht Leben als Schönheit. Die höchsten Anstrengungen dieses Formtitanentums sind Baudelaires Paradis artificiels und Mallarmés Herodias. Diese beiden scheiden das nicht mehr durchdrungene und beherrschbare Naturleben aus, Georges »Unterreich« das noch nicht durchdrungene. Das Ergebnis, Autonomie der reinen Form gegenüber dem wuchernden panischen Alldrang, ist scheinbar gleich, der Sinn und Ursprung bei den Franzosen und dem Deutschen sehr verschieden. George fängt an wo sie aufhören und sein Formwille wendet sich, unbefriedigt von der kämpflosen Abwehr der Lebensmächte durch geschlossen reine Schau kraft eigenen Schöpfertums, schon im Algabal selbst dem gefährlichen Ringen mit ihnen zu.

Denn bei seinem überschwänglichen Verlangen nach reiner Schau und noch in der bildnerischen Hybris bewahrt George auch in seinen naturfernsten Stunden den unbeirrten Wirklichkeitssinn, der ihm verbietet die Gewalten des Daseins zu leugnen. Sind sie Gesetze, so muß er sie zu seinen Gesetzen machen: die Welt »schön sehen« ohne sie, nach romantischer Art mit dem Geist das Nicht-Ich wegdeuten darf er nicht. Die Macht welche die reine Traumschau des »Unterreichs« zersprengt, d.h. auch für ihren Herrn ungenügend macht, ist das Leben – als Wachstum und Welktum, eben natura und moritura. Vom Auge aus, als Raum, als nicht gewachsenes sondern gezaubertes Panorama ist freilich eine Gegen-Natur möglich. Doch sobald der Beschwörer in seinen makellosen Traum auch den Zauber des Lebens hereinziehen will, versagt sie: machen, beschwören, bannen[85] kann er einen Raum durch die magische Gewalt des Wortes, aber zeugen nicht das kleinste Gewächs wider Natur und Schicksal. Diese Grenze seiner Magiermacht anerkennt Algabal in der Schlußstrophe des »Unterreichs«


Wie zeug ich dich aber im heiligtume
– So fragt ich wenn ich es sinnend durchmaß
In kühnen gespinsten der sorge vergaß –
Dunkle große schwarze Blume?

Die schwarze Blume ist das sinnlich-dunkle Zeichen für das Geheimnis der Zeugung, des Wachstums, das nicht mehr der Schau und dem Willen untersteht und ohne dessen Erzwingung der Vollkommenheitstraum eben doch unvollkommen ist, d.h. aufgehoben wird.

Man sieht hier übrigens besonders klar den Gegensatz Georges zur Romantik, wenn man diese Schwarze Blume mit der Blauen Blume des Novalis, ebenfalls einem Natursymbol für eine Seelenlage, vergleicht: George verdichtet darin die unabweisbare Wirklichkeit des Lebens, die er erzwingen und seinem Seelengesetz noch einbegreifen will. Novalis verklärt darin die unerreichbare Ferne, das gegenstandslose Sehnen, das süße Schweifen. Die schwarze Blume ist die finstre Bejahung einer noch unbeherrschten unbegriffenen Kraft, die blaue die selige Flucht von Wesen zu Geist, Gemüt, Phantasie. George ist es um Weltwerdung seines Willens, um Da-Sein selbst des Traumes zu tun, Novalis um Scheinwerdung selbst des Ich. Die schwarze Blume ist die eine bedingte und bedingende herrische und wahrhaftige Gegenwart, die blaue Blume das Spiel der Möglichkeiten, das tausendfältige Überall und Nirgendwo. Das Verlangen nach der schwarzen Blume schon trennt George von den Suchern der blauen Blume, den Leben-Züchter von den Geist-Zauberern.

Was im außermenschlichen Leben als Wachstum den reinen Traum zersprengt, das verhindert ihn im Menschlichen von vornherein als Schicksal. In den »Tagen«, dem Mittelstück des Algabal, wird der menschliche Wandel des Priesterherrschers dargestellt, der Kampf seines gesetzlichen Willens mit derjenigen Form des Lebens die nicht durch Traum bewältigt oder ersetzt werden kann, die dem Menschsein selbst schon eingeboren ist: eben dem Schicksal. Dem Schicksal kann der Edle nicht ausweichen, er muß es erfüllen. Im [86] Vorspiel zum Teppich heißt es: »Vorm Schicksal wenig klage wenig haß.« Und noch im Stern des Bundes:


Wer adel hat erfüllt sich nur im bild,
Ja zahlt dafür mit seinem untergang.
Das niedre fristet larvenhaft sich fort
Bescheidet vor vollendung sich mit tod.

Die »Tage« des Algabal offenbaren zuerst diesen Sinn der später als Wissen und Lehre sagbar wird. Schon damals, in dem ersten Werk wo George sich zur Gestalt wird, erscheinen Charakter, Schicksal und Gesetz als eine Einheit, als notwendige Ausstrahlungen derselben Lebens-Mitte, nicht als eine Reihe von Ursachen und Wirkungen, Eigenschaften und Ereignissen, Taten und Zwängen: der uralte Zwiespalt von Freiheit und Notwendigkeit ist in diesem ganz gestaltigen Dasein aufgehoben, das nur erleiden und tun kann was es west:


Ich habe eures handelns wahn erfaßt
O laßt mich ungerühmt und ungehaßt
Und frei in den bedingten bahnen wandeln.

– Frei in den bedingten bahnen! George hat nichts tieferes gesagt über sein Schicksalsgefühl, aus dem seine gesamte Sittlichkeit sich ableiten läßt. Mit diesem einfachen hellseherischen Wort ist der Titanismus wie die Romantik – der Schicksalstrotz und die Schicksalsflucht – abgewiesen, die christliche Demut wie die hedonistische Unzucht: es ist die Grundformel für den tragisch-heroischen Sinn, der das »Joch der Notwendigkeit« auf sich nimmt, es komme von außen als Ananke und Tyche oder von innen als Daimon: er schließt die rückhaltlose Bejahung des eigenen Charakters, selbst der Leidenschaft und der Vermessenheit ebenso in sich wie die rückhaltlose Ehrfurcht vor dem Leiden und dem Glück.

Von diesem Sinn schon sind einige Tage des Algabal ewig gültige Ereignisse, die keimhaft in persönlichen Geberden die Rufe des Vorspiel-Engels, die Gestaltenpaare des Siebenten Rings und die neuen Tafeln aus dem Stern des Bundes vorauskünden.

Aus derselben Einsichtslage leuchten die ersten hellen Selbstzeugnisse Georges über sein Wesen und seine Pflicht gegen sich und das Andere, seine ersten dichterischen Grund-Sätze herauf:


[87]
Sieh ich bin zart wie eine apfelblüte
Und friedenfroher denn ein neues lamm
Doch liegen eisen stein und feuerschwamm
Gefährlich im erschütterten gemüte ...
Es ziemt nicht in irdischer klage zu wanken
Uns die das los für den purpur gebar ...
Ich bin als einer so wie sie ab viele
Ich tue was das leben mit mir tut.

Solche Verse bestrahlen vorläuferisch vereinzelt die ganze Seelenschicht die dann umfänglicher im Jahr der Seele herauf kommt und im Vorspiel zum Teppich in vollem Lichte sich breitet: die dichterische Weisheit.

Aber noch sind diese einzelnen Strahlen des Wissens umlagert von den Gewittern furchtbarer Spannung. Auch die Einsicht in sein Schicksal überhebt niemanden der Bürde, und der Jüngling muß noch in Taten und Geberden dem verhüllten Gott dienen den der Mann einst schauen, anbeten und verkünden wird. Er muß das Gesetz erfüllen das er noch nicht begriffen hat. Die Weihe und die Leidenschaft fordern ihre dunklen Opfer .. die Reinheit des gehobenen Augenblicks und der unbedingte Wille. Zwei schroffe und durch ihre Schroffheit erschreckende Gleichnisse für diese äußerste Spannung sind die Erdolchung des Sklaven der den Kaiser beim Taubenfüttern stört und die Vision von der Hinrichtung des Bruders der die Herrschaft bedroht – es sind beides Steigerungen des frühen Künstlers, Überspannungen des verschlossenen Jünglings, beide aber drücken nicht, wie Gegner und Nachahmer es oft mißverstanden haben, das Behagen des Ästheten an der schönen Allmacht-geste aus, sondern die Qual eines unbedingten Gemüts an den Bedingungen .. seien es Mißtöne im heiligen Einklang oder Eingriffe in den gebührenden Bezirk. Oberstes Gesetz ist der Einklang und die Ausfüllung des eigenen Raums, und kein Opfer ist zu schwer (denn Opfer und nicht Lust oder Laune ist die Vernichtung des treuen Dieners und des geliebten Bruders) wo es dies Gesetz gilt. Nicht der Tyrannenkitzel und der Blutrausch, sondern die Überspannung der eigenen [88] Lauterkeit und Hoheit hat diese fürchterlichen Gleichnisse herausgetrieben. So wenig wie Nietzsches Flüche kommen sie aus leichtem und sattem Herzen und ebensowenig steht bequemen Genießern ihre Wiederholung an. Nur wer einem Gesetz so unerbittlich gehorcht und der Selbstopferung so fähig ist wie Algabal hat ein Recht zu solchen Geberden wie: »Ich raffe leise nur die Purpurschleppe.« Sie ist ein adlig karges Verschweigen finstrer Pein und nicht dekoratives Prunken mit kaiserlichem Gleichmut oder ostentatives Leichtnehmen des Mordes.

Algabals »Ästhetentum« (wenn man einmal Verlangen nach Reinheit, Stille, Stärke und Höhe so nennen will und in seinem mitleidslosen Herrentum mehr die Einzelgeste als die Gesinnung bemerkt) ist nur ein frühes, darum zugleich noch enges und steiles Gleichnis für Georges kosmischen Willen, vor dem allerdings bloße Ästhetik genau so hinfällt wie bloße Ethik. Die Frage nach gut und böse wird hier ebensowenig gestellt wie die nach recht und unrecht oder sogar nach schön und häßlich; die welthaltige Rundheit die all dies umfaßt und umwölbt, die Einheit von Wesen und Erscheinung, das ewige Maß der Kräfte, die Ordnung der Ränge und Grade ist ihm das oberste Gebot.

So heißt auch Bejahung des eigenen Wesens nicht Auslebung der Triebe, sondern Anerkennung des Gesetzes das man ist und wodurch man ist. Auch darin ist »Algabal« nur die steilgesteigerte, frühkunsthaft stilisierte Zelle zu Georges späteren, runder gewölbten Tempeln, der erste Temenos seines Reiches. In einem Alter da das Geblüt mit gutem Gewissen sich austobt oder mit religiösen Skrupeln ringt hat George, ohne Taumel und Askese, in der Form es gebändigt und geheiligt. Algabal ist sowenig Stoiker als Epikuräer, und in den »Tagen« haben die Räusche, Verführungen und Betäubungen genau so ihre Feiern wie die Verhängnisse und die Opfer. Sie sind so wirklich wie diese und werden nicht durch Entsagung ausgeschieden, sondern durch Harmonie geweiht. Solchen Sinn hat neben den strengen und gedrungenen herrischen Bändigungs- und Abwehrstrophen die dunkel-wogende, süß-üppige, überschwingende Musik der »Flötenspieler«, des Rosenfestes und die unruhig-lockende und wühlende der Syrer:


[89]
Leise triller: verjüngen gesunden
Laute stöße: mit lachen vergeuden
Gelle striche: die bohrenden wunden
Helle schläge: die brennenden freuden.

Der dionysische Untergrund der apollinischen Gesetz-und Gestaltwelt kommt in solchen Gedichten nach oben, keineswegs als Ich-genuß, als losgelassene Sonderlüste, sondern als gefährliches Chaos das die menschliche Bindung, die heilige Schau und die »göttliche Norm« zu sprengen droht, aber ohne das niemals eine heilige Schau und göttliche Norm, eine lebenhaltige Leibwelt entstehen könnte. Diese Gefahr muß da sein, sie muß nur immer neu gebannt werden. Sie muß immer wieder locken, raunen, rauschen, doch sie darf nie herrschen. »Nur durch den zauber bleibt das leben wach«, doch nur durch Gesetz wird aus dem zauberischen Leben Mensch und Welt.

Die Versuchung zurückzutauchen in die Seelen-nacht oder wenigstens sich zu betäuben in den weichen Wogen des vorgestaltlichen und untergesetzlichen »Traumdunkels« wird jeden beladenen und gespannten Träger einer Sendung immer wieder einmal anwandeln. Durch Georges gesamtes Werk geht die Polarität von Helle und Rausch, Gesetz und Stoff: »Gestalten« und »Traumdunkel« im Siebenten Ring .. Vorspiel und Lieder von Traum und Tod sind nur die deutliche Sonderung beider Seelenlagen zu eigenen Bezirken. ImAlgabal sind sie noch nebeneinander geschichtet, obwohl schon unterscheidbar. Beide Bezirke unterstehen Göttern, d.h. sie werden – einerlei ob schaffend oder verderblich, ob gesetzlich oder gefährlich – gefeiert. Man mag sie nach Apollo oder Dionysos nennen: bei George haben sie keine Namen – sie sind keine Bildungstatsachen, sondern Weltkräfte in einer neuen Seelenform .. wie denn George fern ist von jeder Art poetischer Kultur- oder Religionsphilosophie womit neuerdings belesene Autoren ihre seelische Dünne würzen und schmälzen.

Es erscheint durch ein einziges Gedicht im Algabal noch eine dritte Lage jenseits der Seelenpolarität – nicht nur vorgesetzlichen, sondern vormenschlichen Seins: der barbarische Schauder, den die klassischen Völker überhaupt nicht kannten oder nicht mythisch fassen konnten. Erst die Germanen haben ihn spät zum Odin verdichtet: [90] das Urgrauen nach und vor aller Gestalt .. nicht mehr, wie noch der dionysische Rausch, blut- und seelehaft, wenn auch ungestaltig, sondern sausender Sturm und Wirbel, der die geschlossene Weltform bewegt, den Weltstoff durchwühlt, keine Schöpfung zeitigt, aber die Wenden bringt oder verkündet.


Graue rosse muß ich schirren
Und durch grause fluren jagen
Bis wir uns im moor verirren
Oder blitze mich erschlagen ... ..

Neben dem Gestaltertum und dem Priestertum kündigt sich hier zuerst bei George das Sehertum an, die Besessenheit von einem unentrinnbaren Weltverhängnis. Da er den Ursprung dieses fmster-wilden Raunens damals selbst noch kaum ahnte, hat er es durch die Schlußstrophe seelisch abgerundet und dadurch erst überhaupt dem Algabal eingefügt, der auch die kosmischen Wirbel nur in Menschengeberden duldet. Dies Gedicht würde ohne den Schluß den ganzen Zyklus sprengen und zugleich unverständlich bleiben. Es ist das erste und unbegriffene Zittern des Muspilli-schauers, den George seitdem nie wieder losgeworden ist. Er schweigt freilich in den Büchern der Hirtengedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten, die lebendigen Gehalt europäischer Bildung in neue Seelenform bannen: innerhalb dieser reifen und reinen Kultur schläft die Weltend-Angst. In den Natureinsamkeiten der Traurigen Tänze (Jahr der Seele) regt sie sich wieder und wird – der Gesamtluft des Werkes gemäß – zur Landschaft (wie im Algabal zum Tun):


Zu traurigem behuf
Erweckte sturm die flur ... ..

Im Teppich des Lebens kehrt sie, immer noch ihres Ursprungs nicht kundig und vom Gesetz des Raums bestimmt worin sie auftaucht, als Luft balladischen Geschehens wieder, in der »Verrufung«. Im Siebenten Ring wird sie mit Georges wachsender Prophetie, Zeithelle und Sendung voller und klarer durch manche Zeitgedichte und Tafeln, zumal durch die Apokalypsen »Widerchrist« und »Einzug«. Endlich im Stern des Bundes, im Krieg, imBrand des [91] Tempels 1 findet sie fast gleichzeitig ihre Deutung, Offenbarung und Erfüllung vom äußeren Verhängnis her. Hier wie überall ist Georges Schaffen das allmähliche Schwellen eines menschlichen Keims, das sich selbst kaum begreift, aber mit geheimnisreicher Sicherheit und Stete vollzieht zu immer hellerem Wissen und offnerem Dasein, bis schließlich die einsamste und abseitigste Stimme das Wort der Weltenstunde ausspricht. Dies verborgene Menschtum lebte und webte erst dumpf, dann klar in dem Geschehen selbst das alle andern die es anging, blind und lärmend umirrten.

Der Schlußteil des Algabal, »die Andenken«, löst die Spannungen der »Tage« in elegischem Rückblick. Wie im Unterreich so waltet auch hier wieder reine Traumschau, aber nicht des Raums, sondern der Zeit. Das »Unterreich« ist zeitlos, die »Tage« sind Gegenwart, die »Andenken« Vergangenheit: drei Formen der einen Seele, drei Zustände des Daseins von dem dies Werk die Erscheinung ist. Bändigung des triebhaften Lebens ist Algabals Gesamtwille, der Sinn der ganzen Gestalt: im »Unterreich« wird das Leben abgewehrt, in den »Tagen« wird es geberdet – in den »Andenken« wird es verklärt zu Gesichten einer glühend reinen, erhaben traurigen und unergründlich süßen Jugend. Kein ruhender Raum mehr, kein Kampf um das eigne Gesetz, sondern die »Er-innerung« vollendeter Augenblicke, – priesterlicher, herrscherlicher, knabenhafter – von einem Punkt jenseits ihrer. Dieser Punkt liegt schon außerhalb der Algabal-welt, wenn auch Algabal noch der Erinnerer ist. Die Not welche die Algabal-gestalt hervortrieb ist gehoben, sobald er sein Dasein überschauen kann. Dies Dasein ist vollendet, wenn er darauf zurückblicken kann. Der einmalige Jugend-traum, ganz aus dem eigenen Sein eine Eigenwelt zu erschaffen, frei von aller fremden, früheren und äußeren Gewalt, ein zauberhaftes Innenreich der überschwänglichen Seele (Urdrang jedes Schöpferherzens, der im Algabal seinen bisher letzten Ausdruck gefunden) ist ausgeträumt, wenn er als Traum erkannt, beweint und gesegnet wird wie in den »Andenken«. Er ist ein Ideal, nachersehnt und entrückt wie alle Ideale, verewigt und todgeweiht. Diese Totenluft, der Hauch von Verewigung, weht durch [92] die letzten Gedichte desAlgabal, etwas von dem Nachruf: »Dies Lied ist aus«.

Dies Lied, nicht der Sänger .. der Traum »Algabal«, nicht der ihn träumen mußte und konnte. Er ist bereits herausgetreten aus dem Prunk ins Freie und Ungebahnte. Daß er dieses Heraustretens aus solchem Traum noch fähig war, das ist die Gewähr neuen Lebens. Darum ist der Schlußklang des Werks, »Vogelschau«, nicht Trauer sondern Ahnung, nicht Endschaft sondern Ausblick. Die Wunderwelt von einsam-finsterer Pracht ist versunken, das verzauberte Gehau, der Weihrauchwald – der tropische Glutwind ist verweht .. nur die Traumkraft selbst ist ihm geblieben und muß sich noch erproben im kalten und klaren Wind der beginnenden Mannheit. Der Algabaltraum selbst – für seinen Beschwörer und Besessenen als Lebenszustand überwunden – ist verewigt in der deutschen Sprache, die er mächtiger ertönen und erglänzen ließ als jeder Traum der Romantik, weil er nicht eine schweifende Gemütswillkür war, sondern das Aufglühen schlummernder Erdkräfte in einem antikischen Willen. Daß er möglich war ist ein Zeugnis von der Wiederkehr der alten »Götter« die George suchte oder die ihn suchten. Um sie fest zu halten, bedurfte er eines weiteren Umfangs und einer helleren Erde als die Wunderkrypten des Unterreichs .. denn Götter wollen, über den Seelen- und Schicksalsraum eines welthaltigen Menschen hinaus, die menschenhaltige Welt: Geschichte und Natur. Wenn ein neuer Zauber sie locken kann, so wollen sie doch bewahren was einmal und immer ihnen gehörte, Vergangenes und Dauerndes. Jeder neue Erwecker muß nicht nur ihre Kraft, sondern auch ihren Raum wieder beschwören, mit seiner Stimme wie mit seinem Blut. Dies war Georges nächste Aufgabe.

Fußnoten

1 Blätter für die Kunst, XI. und XII. Folge.

IV. Hirten- und Preisgedichte

Sie war für ihn schwerer als für Kulturerben, weil er nur mit Urstoffen und nicht mit bloßen Spiegelungen sich einlassen und ausdrücken konnte und die Geschichte, die bisherige Bildung erst umschmelzen, durchwirken, renaturieren mußte, eh sie ihm sprach, leuchtete, lebte. Auf seinem Weg zu neuer Welt konnte er nicht vorbei an der menschgewesenen Vorzeit. Die Frage war nur ob er [93] erst der ungestalten Natur, der vormenschlichen Erde oder den einst gebildeten Geschichtsmassen sich einformen solle: Natur und Geschichte umlagerten noch starr und dumpf sein fertiges Traumrund und harrten der Entsprödung durch seine Bildnerglut, der Weltwerdung durch das neue Ich das in ihnen zeuge – nicht nur romantisch sich in ihnen spiegle oder mit ihnen spiele. Nichts leichter ab aus der Geschichte »Bildung« und aus der Natur »Stimmung« zu holen: gerade George konnte sich damit nie begnügen: Vergottung des Leibes, Verleibung des Gottes heißt Wesen wirken, nicht es erfahren, erfinden, fühlen .. und für den Dichter heißt es Götter rufen, nicht davon sprechen.

Mit dem Algabal hatte George in der Geschichte den nächsten Ansatzpunkt gefunden. Die Gestalt des Priesterkaisers, ein Gleichnis für antikische Nöte und Triebe seines eigenen Geblüts war sein erster unwillkürlicher Schritt in die unbetretene Geschichts-Natur. Er war ausgezogen, um ein Gleichnis seiner Einzigkeit zu finden, und er hatte einen verwandten Blut- und Geisterbann erschlossen. Abermals ist die Entspannung zugleich Erweiterung des Sehfeldes, Schmeidigung des Ausdrucksmittels und Lösung der Geberde: frei von der Algabal-besessenheit kommen die freudigeren, gelinderen, geselligeren Kräfte des Dichters zu Worte. Er hat seine Beschwörer- und Bildnermacht erprobt, er kann aufatmen und sich entstraffen. Und wie das Schicksal zugleich von außen und von innen waltet, beginnt um dieselbe Zeit, alsAlgabal vollendet wird, Georges Einsamkeit sich zu lichten, zum erstenmal findet er Freunde die ihn begreifen, Mitstrebende die ihn fühlen und fördern, lebende Dichter die er menschlich ehren und von denen er künstlerisch lernen kann, eine geistige Luft die er atmen mag 1. Sein Erfahrungs- und Beziehungskreis erweitert sich durch Reisen in die europäischen Hauptstädte, und so wenig äußere »Einflüsse« sein stetig zähes Wachstum bestimmt oder sein Gesetz gewandelt, sowenig zumal einzelne Ereignisse oder Menschen ihn geprägt haben, so hat doch die sinnliche seelische sachliche Breite dieser Wanderjahre ihm außer reichem Anschauungsstoff [94] und freierem Umblick zuerst die Urbanität und männliche Gelassenheit gebracht die auch der stärkste Urgeist nicht gegen die Welt, nur in ihr erwirbt .. den sicheren Menschensinn der den Seher erst zum Weisen macht.

Entspannung von innen und Erweiterung von außen, das Zusammentreffen seines Wachstums mit dem Schicksalsklima hat für George erst die Bildungsmassen, den Stimmungs- und Anschauungsniederschlag der Geschichte, dichterisch gereift, d.h. symbolfähig gemacht. Noch beim Algabal war ihm der Geschichtsgeruch der diesem Seelenträger anhaftete als solcher gleichgültig, und höchstens um der Entrücktheit willen recht. Er zog das Fremde in sich hinein und verwandelte es da mit eigensinniger Glut. In den Hirtengedichten begreift er zum erstenmal an geschichtlicher Fremd- oder Fernwelt ein Eigenes und Verwandtes und läßt sich in sie ein, auch hier nicht, ohne sie zu durchdringen, doch nicht mehr mit der herrischen Gewalt die den sklavischen Stoff zwingt, sondern mit der feurigen Milde die um die bräutliche Seele wirbt. Auch ist es nicht mehr eine kultische Figur, sondern eine mythische Luft, mit der sich hier sein Wille vermählt .. der Algabal schießt um eine spätrömische Einzelheit an, dieHirtengedichte wachsen aus einer griechischen Sinnesart. Auch hier freilich keine Auffrischung des Vergangenen, sondern Vergegenwärtigung eines Ewigen! Nur daß er dessen Zeichen zu verstehen anfing, daß sie ihm mehr wurden als toter Stoff für seine Flamme, daß ihn ein Äußeres, Gewesenes, Anderes verwandt und zärtlich ansprach, daß er in Fernem zeugte, nach der Parthenogenese aus der Muttersprache und der Schöpfung aus dem Traum, das ist ein neuer Umfang seines Willens. Indem er zum erstenmal eine Bildungswelt als seinesgleichen anerkannte, machte er sie bluthafter und sich urbarer, wurde er welthaltiger und sie seelehaltiger. Eine seiner Grund-Lagen kam breit ans Licht ... Kommt man zu denHirtengedichten vom Algabal her, so spürt man die Genesung .. liest man sie in sich, so empfindet man augenhafte Stille, reines Maß, gelassene Anmut, Helligkeit (hilaritas und serenitas, das was der alte Goethe »Heiterkeit« nannte) doch alles auf dem Grunde leiser Traurigkeit, die keine besondere Ursache hat, sondern die angeborene Farbe dieser Seele ist. Sie ist das Zeichen jeder Einzelseele worin das All schwingt [95] und zur Erscheinung drängt: die Farbe der Ewigkeit in jedem endlichen Gefäß – in Platons Dialogen wie in Shakespeares Komödien, im Lächeln der Gioconda wie in der Festlichkeit von Giorgiones Gemälden. Sie fehlt bei selbstgenugsamen Idyllikern und hat nichts mit schwermütigen Affekten zu tun. Solche Traurigkeit allein verriete schon in dem neuen Werk daß es kein Begnügen mit dem nächsten Sichtbaren, kein Verzicht auf die allhaltige Weihe, keine lauschige Bukolik und Bildchenmacherei ist. Die Schönheit wird beschworen als die Erscheinung der ewigen Weltkräfte in irdischen Grenzen und gepriesen als das Fest edlen Menschentums im gemeinsamen Tun und Dulden. Sehen und Loben, Zeigen und Verherrlichen – diese beiden Grundpflichten des Dichters erfüllt George hier und reinigt das Wort von dem Wust der Jahrzehnte die es nur zum Bekennen und Erklären benutzt.

Wiederum hat er nur mit Urdingen zu tun, nicht mit historischen Spiegelungen und psychologischen Problemen. Wie im Algabal das Herrschertum seelische Urform und menschliches Schicksal ist, so hier das Hirtentum: es ist das durch den Mythus am meisten geläuterte, durch den Alltag immer wieder geforderte, nie alternde und nie entbehrliche Zeichen für das einfache und reine Leben mit den Elementen, mit den ersten nährenden, tragenden, hegenden und drohenden Gewalten unserer Erde. Von hier muß die Schönheit des Leibes beginnen, und sobald die leibvergottende Seele nimmer aus ihrer eigenen Fülle ein Schönheitsreich erzwingen will, wird sie diesen Boden zuerst weihen müssen: die menschgewordene Natur hat im Hirtendasein ihren ersten wenn auch nicht ihren umfassendsten Beruf. Wenn der Held die Urform, d.h. dem Dichter durch alle sozialen Hüllen hindurch: das Grund-sinnbild für den ewigen Kampf, der Herrscher für die ewige Gewalt, der Priester für die ewige Weihe bleibt, so ist der Hirt die Urform des werkfrohen Gebets, des flehenden wie des dankenden. Auch diese Urform haben die Griechen zuerst als solche gewahrt und gezeigt, und darum behält jede Hirtendichtung die etwas vom beginnlichen Sinn dieses Stoffbereichs rettet den griechischen Geruch – auch bei George, nicht aus Griechenkult, sondern weil er wie die Griechen zurückdringt in den Grund der Typen.

[96] Hirtentum will hier Schönheit aus der Erde, auf ihr, mit ihr, wie Herrschertum im Algabal Schönheit aus der Seele, für sie und durch sie wollte. Hier ist ein Außen das vor der Seele da war: es wird gesehen und bejaht, es beglückt und genügt, es steigert und begrenzt Im Algabal ist zwar schon Raum, aber als Vision geschaut, nicht erblickt, und die Schönheit ist dort eine Glut die zwar die geschauten Dinge durchdringt und umwittert, ein Seelenstoff, reich genug um Gesichte herauszutreiben, aber nicht tastbar, im tiefsten unerreichlich wie jedes Selbst für dies Selbst. Die Schönheit in den Hirtengedichten ist die ruhende Gegenwart erblickbarer, greifbarer Gewächse und Leiber, die dem inneren Gesicht nicht mehr entspringen, sondern entsprechen – ein zugestaltetes Du des verlangenden Ich, ein willkommenes Hier des umherlugenden Wo.

Das ist mehr eine neue Gesamt-seelenlage, der die Einzelerfahrungen eben dieses Charakters eingehen, als eine neue Erlebnisart. Der Charakter mit seinem Willen und Gesetz bleibt der gleiche und seine Eigenschaften richten sich nicht nach den Gegenständen, sondern geben den Gegenständen die Farben des neuen Klimas. Die Forderungen an das eigene Dasein, die Kräfte und Schichten des Geblüts die den Algabal so herrisch, jäh und finsterglühend, so unnahbar schwermütig und abgründig einsam gemacht haben, das Verlangen nach dem makellosen Einklang, der freien Erfüllung seines Bereiches und der Zwiesprache mit Göttern, kommen auch in dem morgendlichen Hirtenlande zu Wort und Bild: nur die Schranke zwischen dem unbedingt bejahten Innentraum und dem unbedingt abgewehrten Draußen ist gefallen. Das Draußen – Natur, Geschehnis, Menschen sind hier gleicher Art mit dem Innen, oder vielmehr sie sind seine wahren Formen. Das schönheits- und weihevolle Gemüt verbreitet sich zur arkadischen Landschaft und erscheint, nach dem besessenen bildlos glühenden Kult des unsichtbaren Gottes, in klarer Vielgötterei, gesellig und zum erstenmal gestillt in menschlichem Gespräch und Gehaben. Auch die Sprache ist, ohne an Lauterkeit und anschaulicher Rundung einzubüßen, ohne gedanklicher oder redehafter zu werden, ebener und geselliger, gleichsam geschwisterlicher Ohren und Antwort gewisser. Sie ist weder so steil und herrisch zusammengerafft wie die des erwiderungslosen Gebieters noch so geschwellt [97] vom ersten Machtrausch des Wort-eroberers noch so pochend und beladen von Geheimnis: ihre Macht ist verteilt an die Dinge die sie umgreift, in die Bilder die sie vergegenwärtigt, und ihr Geheimnis ist das sichtbare schöner Haltung und Bewegungen, nicht das verschlossene des Herzens und des Blutes. Das ganze Pathos der Abwehr, das Wissen um eine unheilige Menge, um Sklaven und Feinde, die priesterliche Angst um Zerstörung des Weihe-traums ist verschwunden, da der Dichter zum erstenmal reinen und klaren Raum genug hat. Wenn im Algabal die Eroberung der Sprachgewalt die neue Freude war, so hier die Eroberung des ruhigen, runden stetigen Sehens, nach dem brennenden Herausreißen der Vision aus dem Chaos oder dem Alltag. Die Dinge halten still und das Wort kann geduldig sich ihnen nähern und sie rund umwandeln, ja befühlen. Die Vision hält nicht still und die fieberhafte Spannung des Blicks auf die unwiederbringliche merkt man noch dem Ton des Algabal an: kurz, das neue Buch ist »objektiver« .. vom Stil aus plastischer, von der Gesinnung aus gerechter oder geselliger, von der Stimmung aus heller und stiller.

Doch ist es kein wahlloseres oder läßlicheres Werk. Wenn die Abwehr der Widerwelt, das heißt künstlerisch die Auswahl der Sinnbilder, hier nicht mehr selbst leidenschaftlichen Ausdruck findet, so ist sie stillschweigend vorausgesetzt in der beherrschten Ruhe und kampflosen Reinheit jeder Geberde, Landschaft oder Gestalt. Diese Wesen sind schon unter sich, sie müssen gar nicht erst sich absondern, sie haben mehr als der Dulder und Verächter Algabal die angeborene Unschuld ihres Adels und sie müssen nicht ihre Welt erst erschaffen oder erzwingen .. sie ist ihnen mitgegeben. Die Möglichkeit eines solchen Arkadien hatte George nur damals: nach der Überwindung der ersten Einsamkeit, an der er fast erstickt wäre, und vor dem Andrang dichterer Massen, die der Bewältigung harrten. Nur über den Hirtengedichten liegt diese Frühe der geklärten Jugend, die sich ihres erstrittenen Landes freuen, die Fülle des Herzens rein ausbreiten kann. Das Wort ist ihm gewiß, der Raum gemäß, eine Seelenstunde lang schweigen die Leidenschaften. Die Unwelt ist außer Sicht, das Auge regiert, und soweit es eben reichen kann findet es soviel Schöne als es braucht. Das Wissen daß alles Böse, Finstre, [98] Wilde noch dahinter lauert, das Gefühl des ewigen Wandels schwingt nur als leise Wehmut und vertieft nur die Huld der heute gnädigen Götter. Für Goethe war die italienische Reise eine solche Rast zwischen Schöpferqualen des Jünglings und Schöpferpflichten des Mannes. Für George sind die Hirtengedichte das Geschenk der plastischen Stunde, da Fühlen, Schauen, Wollen für ihn eines wurden. Vorher mußte er sein Blut in die Schau drängen, nachher seine Schau in die Welt. Hier fanden sich Blut und Welt einmal in der gelösten Schau auf halbem Weg von innen und von außen.

Wir betrachten wie die Georgischen Triebe und Gesetze sich auf dieser Ebene verkörpern, die immer eigene Art im fremden Stoff neue Gestalt gewinnt. Wieder erscheint der Unbedingtheitsdrang der das algabalische Unterreich erzwungen hatte, aber nicht als widernatürliche Gründung einer Gebieterseele, sondern als jungfräuliches Eiland, als zugleich wirkliche und sagenhafte Natur: »Der Herr der Insel«. Die Natur – im Unterreich das Andre, das Draußen – ist hier selbst die Trägerin des holdesten Zaubers, der Weihe, des Traums, sie ist von Urzeiten her da, sie erzeugt aus sich selbst das ersehnte Lebenswunder ausbündiger Pracht und Süße: was dem Algabal alle Macht nicht erzwingen konnte, die schwarze Blume, das wird hier weit überboten von dem Rätselvogel. Die ganze Zauberei des Wachstums, der Überschwang der fruchtbaren Stille, die bunte Herrlichkeit des animalischen Reifens und Webens, der tropische Glanz und die stumme Gelassenheit des selbstgenugsamen Erdgedeihens ohne Menschenschweiß und - zwang, ohne Befehl und Lärm, all das ist zusammengeschossen zu diesem sagenhaften Phönix. Keiner künstlichen Schöpfung mehr bedarfs, um das hohe Herz zu stillen – die Natur selbst hegt das Wunder, hegt es ohne Müh und Gewalt, schenkend und verschwenderisch.

Nicht deutlicher konnte Georges neues Ja sich bekunden: denn es ist derselbe Urtrieb der dem »Unterreich« und dem »Herrn der Insel« zugrunde liegt, dieselbe Begier träumt von der schwarzen Blume und dem purpurnen Vogel .. dieselbe Macht beschwört das schöne Leben dort vergeblich gegen die Natur, hier – begnadet – mit ihr. Freilich wie dort die Vollkommenheit des inneren Gesichts nicht erzwungen werden kann, so muß sie hier vergehen: wenn Fremd-linge die [99] selige Stätte mit ihrer begehrlichen Unruhe und Neugierde erreichen, verscheidet ihr Genius. Hier wie im Unterreich scheut der Traum das betriebsame Volk, aber wieviel sanfter und ergebener stirbt er hier »in gedämpften Schmerzenslauten« – ohne Ingrimm, ohne Titanen-trotz .. und mit welch andrer Milde erscheint hier das Draußen! Auch macht sich nur dies einzige Mal in den Hirtengedichten dasFremde geltend als Brandung an ein Blumenufer.

»Der Herr der Insel« gibt im Natursymbol was die übrigen Hirtengedichten in menschlichen Gesinnungs-und Geberdenbildern darstellen: das Schönsein. Schönheit ist hier das selbstverständliche Gesetz wie im Algabal die oberste Forderung. Algabal hegt sie neu und eigen in der Seele, wölbt sie ringsumher, um den niedrigen Tag abzuwehren: hier ist sie von vornherein unschuldig, frei und sicher und scheidet nicht durch gewaltsamen Willen, sondern durch natürliches Geschehen das Ungemäße aus, das ihr Maß verletzt oder ihm nicht genügt. Denn Schönheit ist vor allem das rechte Maß der natürlichen Fülle, das leibhafte Gleichnis des kosmischen Einklangs, der Harmonia. Unedles, Gottloses, Seelloses gibt es in diesem Bezirk der reinen Natur und ihres beginnlichen Menschentums überhaupt nicht, doch nicht alles darin ist schön, nicht alles genügt dem Anspruch des heiligen Maßes der ihren Geschöpfen, erreichbar oder nicht, mitgeboren ist. Es gibt häßliche Götter und Heroen, und selbst die Unsterblichkeit, die Kraft, das Heldentum, ja jeder bloße Einzel-vorzug gilt nicht, wenn er den Einklang stört, und ihn zu stören, d.h. nicht schön zu sein, das ist hier in wechselnden Formen das einzige Leid, der einzige Frevel, das einzige Unheil. Die Schönheit ist hier unschuldig und unbarmherzig wie die Natur selbst, wie die Kinder – sie kennt kein Gesetz als sich selbst, und ihre Opfer gehorchen ihr ohne Trotz, voll Ergebung und Trauer. Gegen ihren Spruch gibt es keine Berufung: der Flurgott, unsterblich wie er ist, weicht vor dem Gelächter der schönen Mädchen in den verhüllenden Abend und klagt dem Pan »weil er zum ewigsein die schönheit nicht verlieh«. Der liebende Satyr muß seine traute Stätte verlassen, weil er die schöne Nymphe stört: kein Werben, keine Bestechung, kein Recht, keine Kraft, kein Erbarmen, kein Opfer besiegt ihren Wunsch. Die gefeierte Sängerin vergißt die Welt über dem schönen Jüngling. Die [100] Knaben die im Agon der Schönheit unterlegen sind fühlen sich des Lebens nimmer wert. Sogar der Heros den eine ruhmreiche Wunde entstellt will im Dunkel sterben. Mit dichterischer Unbedingtheit ist hier die Welt unter das Gesetz der Schönheit gestellt. Die Schönheit, immer wieder sei es betont, ist bei George kein einzelner Reiz, keine Eigenschaft bei anderen Eigenschaften, kein Eindruck eines Wesens auf andere, sondern eine Gottheit, d.h. ein Gesetz das alles durchdringt, ja die Welt zusammenhält, unsichtbar wirkend im ganzen All, sichtbar erscheinend in menschlichen Leibern durch Sein und Tun. In den Hirtengedichten wird eben dieses Gesetzes menschliches Erscheinen gefeiert, überall sonst auch sein kosmisches Wirken. Denn damals hatte George diese Form des Weltgesetzes entdeckt, und der Dichter feiert reiner was er eben erschließt als was er lange besitzt. Zur Eingebung gehört die Offenbarung, das Erkennen mehr als das Wissen .. die Erleuchtung ist schöpferischer als die Helle.

Man darf auch diese Gedichte nicht vereinzeln, sie gewinnen ihren Sinn von der damaligen Gesamtansicht Georges, und diese wieder ist nur die neue Form seiner einen Grundspannung: Weihe und Leidenschaft. Weihe ist hier die Schönheit, das schöne Maß des Lebens .. Leidenschaft das Verlangen des Einzelnen sie zu haben oder zu wesen. Das Ungenügen der hohen Seele erscheint hier in der Trauer über den Mangel an Schönheit .. die Erfüllung, die Weihe erscheint als gewachsenes, gelebtes, geberdetes Schön-sein. Dabei fasse man aber Schönheit so kosmisch tief und weit wie die Alten, und seit den Alten erst wieder Goethe und Hölderlin: als das Sinnenbild des Weltfugs der sich in einer schlichten griechischen Statue unmittelbarer und tiefer offenbart als in einem kosmogonischen System, und faßlicher in einem schönen Leibe erscheint als im Sternenhimmel. George bannt die kosmischen Gewalten und Gedanken immer jeweils in die Gestalt: er bedarf keiner schweifend erhabenen Vorstellung, sondern sinnlich dichter Gegenwart und immer hat er die Götter im Menschen wirklicher geschaut als im Firmament. So hat er uns erst »das größere Wunderwerk der Endlichkeit« wieder erobert: die Gestalt .. freilich Gestalt als menschliche Erscheinung der Allkräfte (die an sich für uns »transzendental« sind) nicht als Idyll, als Selbstzweckliche Sonderform. Die bloße Mystik und die bloße Artistik liegen [101] ihm gleich fern. Dem Menschentum, das nun einmal auf dieser Erde unsere Stufe ist, offenbaren sich die Götterkräfte, die Allgesetze (diese Namen sind nur Näherungen) raum- und zeitbedingt, grenzhaft, gestaltig und wer sie bannen, auswirken, durch »Tat und Bild« darstellen (nicht nur über sie grübeln, sich in sie verlieren oder sie bereden) will, also der Künstler, der Erzieher, der Held und der Dichter kann die Gestalt-stufe nicht überspringen.

Von den Hymnen bis zum Algabal drängt Georges Göttersuche zur Gestalten-ebene hin: in denHirtengedichten betritt er dies gelobte Land zum erstenmal. Wenn er später tiefere und weitere Himmel über sie wölbt: hier ist die morgendliche Freude und das stille Genügen der ersten Sicht .. hier ist alles, Natur, Schicksal und Seele in den Bereich der schönen Leiblichkeit gebannt: diese ist hier das Gesetz und das Gleichnis des Lebens schlechthin. Als Gesetz ist sie das Schicksal ihrer Opfer, der Häßlichen, der Vereinzelten, der Siechen, als Gleichnis ist sie Natur ihrer Günstlinge.

Das Schicksal ist hier keine feindliche Gewalt wie noch im Algabal, kein Tyrann: in diesem Gau der Schönheit gibt es keinen lauten Kampf. Begnadete wie Unbegnadete nehmen ihr Maß hin – und auch die Klage ist leis oder verborgen, die Trauer still und ergeben. Der amor fati hat niemals keuschere und edlere Geberden gefunden als hier, da das Schicksal die Natur der Dinge, der schönen Dinge, ist – kein Wille der Götter, dem man trotzt, erliegt oder sich unterwirft, keine Ananke, keine Tyche, sondern das Klima der wohlgeratenen Geschöpfe. Es ist einfach da, man lebt und leidet und stirbt ihm »gemäß«. Das »Gemäße« ist die jedem erreichbare Vorstufe des Schönen, ihr Anteil daran. So siegt das Schöne kampflos, wenn auch nicht ohne fromme Opfer. Aber ebenso selbstverständlich ist die Schönheit hier ihren Trägern: nichts Errungenes, Errafftes, das man bejauchzt oder laut feiert. Man trägt sie wie man atmet, geht, betet – mit Würde, Unschuld und Stille. Überall ist ein ganzer Lebenszustand hier ausgedrückt, in einer kargen Geberde .. Andacht, Trauer, Freude, selbst die Vernichtung. Die Triebe selber bedürfen keiner priesterlichen oder herrscherlichen Bändigung, sie sind voll Zucht schon im natürlichen Wachstum .. im Menschlichen so sicher, im Schicksalhaften so lauter wie die Pflanzen in ihrer schicksallosen Reife. [102] So das Erwachen der Neigung im »Erkenntag«: sanft, frei und stet und doch voll von der ganzen Gewalt solchen Erwachens:


Jedes im andern erst forschend und an sich haltend,
Sichrer allmählich in hoher und heiterer stille.

Ein Mindestes von Wort und Regung enthält das Höchste von seelischer Spannung: wie im »Loostag«. Der Gottesdienst ist nur das milde Atmen eines werkseligen Hirtentages:


Er krönte betend sich mit heiligem laub
Und in die lind bewegten lauen schatten
Schon dunkler wolken drang sein lautes lied.

Das entscheidende Los feiern die »Erstlinge« ohne Pochen, ohne Zaudern, ohne Hast und Schwanken mit kindlicher Sicherheit als ein Geschehen der Reife und vollziehen die Bräuche wie ein Baum seine Blüten öffnet und seine Früchte abwirft. So einfach, richtig und wahr ereignen sich Alltag und Feste, als könnten sie nicht anders sein. Das Schicksal ist ein Reifezustand, ein Naturvorgang des Menschen und schön, ob leicht, ob schwer:


Wir ziehen gern: ein schönes ziel ist uns gewiß
Wir ziehen froh: die götter ebnen uns die bahn ...

Selbst das »Geheimopfer«, der Orgiasmus des dionysischen Untergangs, findet seine Todgeweihten bereit und geheiligt »zum Dienst des Schönen: des Höchsten und Größten«. Sie verbrennen wie Früchte auf dem Altar, lautere Gaben lauterer Erde, die sogar der Tod nur verherrlicht, nicht zersprengt. Die Lieblinge des Volkes, der schöne Ringer und der schöne Saitenspieler, wissen und spiegeln ihre Schönheit nicht .. sie hegen und hüten sie, sie strahlen sie in die empfängliche Menge, tierhaft und kindhaft, immer im Maß mit der gesamten noch ungebrochenen, in sich runden Natur. Natur: hier ist sie ganz Mensch geworden, d.h. ihre Fülle hat sich in menschliche Leiber gegliedert, in menschliche Seelen gebreitet, in menschliche Geschicke geströmt. Noch hat der Geist sie nicht zerrissen in Hyle und Eidos, noch kennt sie keine Arbeit, nur Wirken, noch ist sie göttlich, weil sie nichts Widergöttliches kennt, sie bedarf keiner Priester, Herrscher und Seher, keiner Heilande: es ist die Urform der Schönheit, das schöngewachsene Menschtum, da Erde, Tier, Gott noch ein und dieselbe »Bildung« haben: Sein, Reifen, Vergehen.

[103] Dem Mißverständnis sei vorgebeugt, George habe hier ein »goldenes Zeitalter« ausgemalt, ein Wunschbild arkadischer Seligkeit: auch hier ist keine Romantik. In den Hirtengedichten stehen nur Erfahrungen die George selbst gelebt hat und die von uns noch gelebt werden können. Sowenig die alten Griechen sich ihre Götterbilder und Mythen aus den Fingern sogen, sowenig hat George seine schönen Men schen erfunden: vielmehr ist hier wie dort der mythische Bezirk die Bildwerdung, die Sinn-bild-werdung wirklicher Wesensarten und Seelenlagen. Geschichte ist die Zeitwerdung von Seelen und in jeder kosmischen Seele liegen immer die ewigen Kräfte die einmal Geschichte gewesen sind – das macht sie ja »kosmisch«. Dem Dichter ist es gegeben Geschichte zu beseelen die er in sich hat, und Seele zu vergeschichtlichen die sich wiedererkennt. Georges Hirtenwelt ist ein Zustand seines eigenen Wesens, wie es ein Zustand des Menschtums ist, war und immer sein kann. Ein Zustand, kein Wunsch .. eine Darstellung, keine Vorstellung, keine Vorwegnahme. Mit gutem Grund und nicht ohne fast ironischen Bezug nennt George darum den zweiten Teil seines arkadischen Buches »Preisgedichte auf einige junge Männer und Frauendieser Zeit«. Dieser Zeit gehören die Sinnbilder der Hirtengedichte so gut an wie die Bildnisse der Preisgedichte. Aus dem Umgang mit diesen Freunden und Freundinnen, aus der Möglichkeit dieses Umgangs, aus dem Genuß ihrer Art und ihres Gesprächs, aus dem Anblick ihrer Gestalten und Geberden, aus den Ansprüchen dieser gehobenen Geselligkeit adelig schlichter Jugend hat er erst die Hirtenschönheit entnehmen können, d.h. die Zusammenschau natürlichen Wachstums mit reiner Bildung. Die Hirtengedichte enthalten ja keine Urstoffe des Tiers Mensch, sondern Urformen des Gottes Mensch: beides wird leicht verwechselt. Das »goldene Zeitalter« ist nicht das Gleichnis der zeitlichen Anfänge, sondern die Sage (Mythos!) der seelischen Ursprünge höherer Menschenreife, wobei Reife zugleich das Wachsen (natura) und das Bilden (cultura) bedeutet.

Die Preisgedichte leiten die lange Reihe jener Hymnen, Oden und Freundschaftsgesänge ein worin George den Gehalt seiner Gemeinschaften, das Vereinende, Trennende, Erhöhende oder Bindende der Gefährten-jahre oder -stunden, die Landschafts- oder Schicksalfeste [104] seiner seelischen Geselligkeit zugleich überblickt, darstellt, feiert und richtet. Auch sie setzen wie die Hirtengedichte einen gesicherten Kreis voraus .. die Algabal-einsamkeit und -abwehr muß überwunden sein. Wir sehen hier gleichsam den Menschenkreis am Werk der dem Dichter sein Arkadien ermöglichte .. das »Schönsein« nicht als mythischer Raum, sondern als täglicher Verkehr. Hier herrscht wie in den Hirtengedichten die Schönheit, das Maß als selbstverständliches Gesetz, doch es bekundet sich weniger im geschlossenen Sein als im offenen Wandel, im Zueinander der Menschen, im Tun und Lassen, in ihrem gegenseitigen Geben und Nehmen, im Wechselspiel von Ich und Ihr. Den Raum seiner Seele, die Schau der Schönheit und die Formen der höheren Gemeinschaft, der übergesellschaftlichen Geselligkeit hat George gleichzeitig errungen und gleichzeitig die dichterische Luft dafür gefunden in einem überhistorischen Griechentum. So widersinnig es zuerst scheinen mag: die Bukolik der Hirtengedichte und die Urbanität der Preisgedichte, die Wiedergeburt der menschlichen Natur und der geselligen Kultur, ist im tiefsten Grunde dasselbe, nämlich die Erneuung des antiken Lebenssinnes, abermals: die Vergottung des Leibes, die Verleibung des Gottes. Sie ist nur denkbar wo die Einsamkeit überwunden, Raum, Maß, Gesetz der regen Kräfte gefunden ist und der Seher nicht nur sein Wunschbild sucht, sondern seine Urbilder erblickt.

Um der Urbildlichkeit willen zeigt George die Bukolik wie die Urbanität in griechischer Fassung und Ferne: nur dort hatte die Natur eine völlig gebildete Körper- und Geberdensprache, ohne Barbarei und unbehaust schweifende Tierheit .. und nur dort hatte die Geselligkeit noch ganz die gelöste blutvolle Unschuld und beginnliche Würde, den freien und leichten Stil des natürlichen Wachstums, ohne die Verdüsterungen der Moral, die Verschnürungen oder Wülste der Mode und die Reize und Krämpfe, den »gequälten Effort« der Spätzeiten. Auch Geselligkeit ist eine menschliche, eine seelische Urform, ist »Natur«, und am Urdichter ist es sie zu beschwören, wenn er nur selbst noch genug in sich hat, um in der Geschichte sie zu erkennen. Ihre Elemente sind sichere Augen, Hände und Füße, Gefühl der Ränge, Lust und Gewalt des beherrschten Ausdrucks, Tastsinn der Seele für Atmosphären und Gewichte, Würde der eigenen [105] Gegenwart und Ehrfurcht vor der fremden: all diese Elemente der Geselligkeit keimen schon im wohlgeratenen Tier als Trieb, Stimme, Witterung, Scheu .. sie werden im wohlgeratenen Menschen zu Sitte, Sprache und Bildung, im Dichter zu Gestalt, Wort und Schau. Die Hirten- und Preisgedichte genügen vielleicht am reinsten dem Verlangen Nietzsches nach dem neuen Dichter »des schönen Menschenbildes«. Jene Stelle aus »Menschliches Allzumenschliches« (II,99) liest sich heute wie eine Weissagung wenn nicht des gesamten George, so doch dieser Stufe seines Lebens.

In der deutschen Geschichte des griechischen Gedankens bedeuten sie die Entromantisierung von Hellas. Von Winckelmann bis Nietzsche waren die Griechenbilder wesentlich Gesichte deutscher Sehnsucht nach einem überdeutschen Ideal, nach einer unerreichbar geglaubten, ja gewollten Höhe und Ferne: Winckelmanns und Goethes klassisches Hellas war so gut wie des späten Hölderlin orphisches und des frühen Nietzsche dionysisches, wenn auch gespeist aus deutschen Stoffen und hervorgedrängt aus deutschen Nöten, zunächst gefaßt und schließlich formuliert als das Noch-nicht-deutsche. Dem bürgerlich beengten Märker war das Griechische die freie Anmut und hohe Einfalt, dem Bildner-ungestüm Goethes die reine Stille und das klare Maß, dem überschwänglichen Beter Hölderlin die Versöhnung zwischen Natur, Volk und Genius, dem Werte-rufer des Untergangs das schöpferisch hohe und starke Leben .. aber immer das Andere. Erst indem sie ihr Verlangen oder ihre Fülle dem Fernsten eingossen, entstanden die fruchtbaren Gedanken der höheren deutschen Menschenbildung. Die Gelehrten, die dann die Ferne von den Trübungen (nämlich den Scheinen, Farben und Verklärungen) der hohen deutschen Träume reinigten, hatten doch nie die Kraft ein eigenes Hellas herzustellen, sondern sie ergänzten und mehrten entweder die antiken Trümmer, oder sie gaben ein historisch »richtiges«, d.h. ein ihrem dürftig platten Heute entsprechendes und verständliches Bild, das freilich kein Traum mehr ist, aber auch keine Wirklichkeit. Denn Vergangenes begreift man nicht, weder durch Analogie noch durch Einfühlung – nur was man selbst ist sieht man und nur den Geist dem man gleicht beschwört man.

George ist der erste Deutsche der zu griechischen Formen gedrängt [106] war aus seinem Gleichen, nicht aus seinem Andren. Ich habe im zweiten Abschnitt sein eigentümlich antikes Bluterbe bezeichnet und erinnere hier nur nochmals daß ihm die Natur der Hirtengedichte, die Kultur der Preisgedichte nicht Bildungsideale einer schöneren Vorwelt waren, sondernSchichten seines eigenen Charakters und Urformen des ihm notwendigen Menschentums. Allem früheren »Hellas« vor Nietzsche liegt »das Allgemein-Menschliche« zu Grunde, d.h. die Abstraktion eines immer gesollten, nie ganz verwirklichten, zeitlosen Ideals von Schönheit, Wahrheit, Gutheit, dem die Griechen am nächsten kamen. Nietzsche hat an Stelle dieser zeitlosen Forderung die mythisch-geschichtliche Lebensspannung Apollo-Dionysos als Wert gesetzt. George hat es weder mit einem Ideal noch mit einer Geschichte zu tun, sondern mit seinen ihm ganz eignen und doch überpersönlichen Kräften: bei ihm ist Hellas nicht mehr allgemein menschlicher Himmel, nicht mehr mythisches Leben, sondern kosmisches Menschentum, vor Zeiten verwirklicht als Geschichte und heute als Person. Dabei nährt sich Georges Schau freilich von einer ergiebigeren Griechenkunde als die seiner Ahnen. Das ästhetisch- moralische Bildungsgriechentum des Klassizismus, des Laokoon, des Zeus von Otrikoli und der Juno Ludovisi, ist überwunden, die orgiastische Kluft Apollo-Dionysos ist geschlossen durch den Bildner Eros und den Zauberer Kairos. Zum erstenmal wird das frühe plastische Hellas des delphischen Wagenlenkers und des Venus-throns in deutscher Sprache fruchtbar .. und ihre Wiederkunft kündigen an, nach den Kunst- und Geistgöttern Goethes, nach den Bluts-und Naturgöttern Nietzsches, die griechischen Schicksals- und Seelengötter.

Fußnoten

1 1892 gründet er mit Carl August Klein die Blätter für die Kunst, eine erste Sammelstätte und Heimat seiner Geistesverwandten.

V. Sagen und Sänge

Wie das Hellas der Hirten- und Preisgedichte, so ist auch das ritterliche Mittelalter in den Sagen und Sängen gegenwärtiges Leben Georges, etwa gleichzeitig und aus denselben Gründen damals sichtbar und bildsam, geschichtlicher Sinnbilder fähig geworden. Es ist keine Bildungswählerei, wenn Griechentum und Mittelalter, wenn überhaupt verschiedene Zeiten zusammen in einem Menschen leben – freilich leben und in ihm, nicht bloß geistern und um ihn .. eben das wäre abermals Romantik, die sich in jede Vergängnis beliebig [107] einfühlen und aus jeder herausschlupfen kann. Der Romantiker ist nicht geschichtshaltig, sondern geschichtssüchtig, wie er natursüchtig ist, und so verschieden von dem schöpferischen Besitzer und Besessenen wie ein Schauspieler von dem Wesen dessen Rolle er spielt. Es ist auch nicht Zwiespalt oder Vielfalt, wenn ein Dichter gleichzeitig das hellenische Leibtum und das katholische Seelentum hegt .. es ist nicht einmal Vielgötterei, sondern Mehrschichtigkeit, die jedem lebendigen Geschöpf, jedem geschichtlichen Charakter, erst recht dem kosmischen Gestalter eignet. Wir alle sind komplexe Wesen .. Heidentum oder Christentum, Mittelalter, Renaissance oder Barock kann unser Leben ineinander, unser Denken, Nennen und Blicken nur nacheinander oder nebeneinander fassen. Der Begreifer muß sie sondern und ordnen, der Bildner muß sie läutern und runden, wenn er sie beherrschen will – und wer auswählt, benennt, beleuchtet und formt wird eben dadurch das Ganze als ein Sonderes zeigen: .. er muß »ins Licht setzen« »hervortreten« »zu Wort kommen lassen« »heraustreiben« »zur Geltung bringen«. Nicht alles was in uns wirkt kann auf einmal reden und gelten, und wenn das Sein raum- und zeitlos ist: seine Erscheinung ist nur in Raum- und Zeitformen, d.h. Sonderungen, möglich.

So scheinen die Sagen und Sänge ein den Hirtengedichten fremder Bereich nur wenn man sie auf Begriffe oder Stoffe abzieht. Sie enthalten dieselbe Seele, ja dieselbe Sinnesart, wirksam in anderer Lage, in anderer Richtung und an anderen Massen. Sie haben denselben Grundwillen, aber in neuer Stimmung und Farbe, durch ein bisher verborgenes Seelenfluidum, das zugleich ein Geschichtsfluidum ist! Als Seelenfluidum benennen wir es am besten mit Georges eigenem Wort »Ferndunkel und Fahrfreude« .. als Geschichtsfluidum: Rittertum in seinen menschlichen Urformen Andacht, Minne, Fehde, Treue. Gemeinsam ist beiden Büchern, wie beiden Zeitaltern denen sie ihre Sinnbilder entnehmen und ihrem Dichter, im Gegensatz zumal gegen unsere Zeit, das Maß und die Weihe: in den Hirtengedichten ein Maß des schönen Leibes und die Weihe der sinnlich selbstgenugsamen Gegenwart, des gefüllten Ich .. in den Sagen und Sängen das Maß »der Höhen und der Tiefen« und die Weihe des erstrebten Ziels, der wunderhaften Ferne, des ersehnten Du, sei es Gott, Geliebte[108] oder Freund. George müßte kein Deutscher sein, wenn ihm nicht auch dieser Drang nach dem Andren neben dem Halt im gegebenen Raum und Augenblick eingeboren wäre, das gotische Wandern, Wundern und Wölben neben dem griechischen Haften, Hegen und Stellen, und nur dadurch daß er beide Triebe vereint war er fähig auch seinen gotischen Drang so unromantisch darzustellen wie es in den Sagen und Sängen geschehen ist.

Der bloße Romantiker kann das romantische Schweifen zwar ausdrücken, aber nicht formen – man lese Tieck oder Novalis .. ein bloßer Plastiker könnte es zwar schildern, aber nicht füllen und durchseelen – wie etwa der geruhsame Walter Scott oder seine bürgerlich-deutschen Nachahmer, bis zu Gustav Freytag herab. Ebenso konnte kein nur-faustischer Mensch, kein Suchender und Strebender den Faust vollenden, sondern nur ein überfaustischer Bildnerwille. Alle wirklichen Gefäße des Mittelalters, alle Denkmale denen unsere romantischen Schulen ihre romantischen Zeichen entnahmen, stammen von Menschen in denen außer dem »Mittelalter«, wie die Romantiker es einseitig verstanden und entdeckten, noch der antike Raum- und Leibsinn gewaltig war: vor allem Dante, Shakespeare, Cervantes. Ja die katholische Kirche mit ihren Ordnungen und Bauten, das Rittertum mit seinen Burgen, Fehden und Sängen waren selbst weit entfernt von der dämmrigen Dumpfheit, dem verblasenen Geträume, der schwelgerischen Sehnsucht und minnigen Verschwärmung die seit dem Ofterdingen und dem Sternbald selbst bei genauerer geschichtlicher Kenntnis die populäre Vorstellung vom Mittelalter beherrschten. Zwar weiß das der Gelehrte und der Gebildete, ja der Halb- und Drittelsgebildete, und dennoch hat erst George wie für das Griechentum so auch für das Rittertum die dichterische Entromantisierung vollbracht, aus den in ihm noch bild- und wort-wachen überzeitlichen Kräften jener Zeitalter. Die Sagen und Sänge sind keine lyrischen Minne-, Andachts- und Fahrt-Stimmungen eines empfindsamen Geschichtsbetrachters, oder eines Schauspielers in Ritterrüstung, sondern die persönliche Heraufkunft der überpersönlichen Kräfte die im Rittertum Geschichte sind. Es ist die Er-innerung (anamnesis) eines neuen Menschen – die Er-neuung (nicht Wiederholung) einer alten Zeit, die Äußer-ung einer ewigen Lage.

[109] Was ist das Neue an Georges Mittelalter? Was trennt es ebenso von dem Walters und Wolframs wie von Novalis und Tieck seine Echtheit es trennt? Zunächst schon der Ausgangspunkt: Georges Dichtung ist der persönliche Durchbruch übergesellschaftlicher Geschichtskräfte. Rittertümliche Sinnbilder sind ihm gekommen, weil sie die ausdrucksvollsten Formen für bestimmte einmalige Spannungen und Schichten seines Wesens waren, die faßlichsten Geschichts-zeichen für kosmisches Geschehen in seiner menschlichen Seele: hier wie überall sucht er die Urbilder, und hier wie überall erfindet er sie nicht, sondern findet sie in der Geschichte, die in jedem ihrer Augenblicke ein neues Urgeheimnis offenbart und ihre unerschöpfbare Ewigkeit in menschlichen Zeitaltern nach und nach auswirkt. Die schweifende Gottsuche, die sinnlich-übersinnliche Minne, die Mannentreue, die Fahrfreude und der Fernenzauber haben im Rittertum ihre musterhafte Gesellschaftsform gefunden. Die deutschen Dichter des Mittelalters haben das Urbildliche dieser Kräfte weder gewollt noch gesehen, nur das Gesellschaftliche davon: Walter, Wolfram und Gottfried sind Gesellschaftssänger hohen Ranges, aber auch ihre persönlichsten Verse durchbricht nirgends ein Urton, ein übergesellschaftlicher Schauer, höchstens außergesellschaftliche Probleme und Gedanken. Sie sind die Dichter der ritterlichen Sitte, Gesellschaft und Gesinnung: einen Dichter der ritterlichenSeele, der ritterlichen Lebenskräfte, die in den Staufenkaisern, in den Kreuzzügen, Fehden und Turnieren und in manchen Bildwerken alter Dome glühen, gab es nicht. Diese Kräfte sind wohl in den Minnesängern Fleisch und Blut gewesen, aber nicht Sprache geworden, nicht dichterisches Wort. Was sie sagen und singen sind nicht die ritterlichen Lebenskräfte selbst sondern deren gesellschaftliche Niederschläge und Spiegelungen. Der einzige Dichter in dem die Seele und das Leben des Gesamtmittelalters selbst Sprache, Urton, kosmisches Wort gefunden hat ist Dante. Schon seine Vita nuova wiegt als dichterische Offenbarung mittelalterlichen Wesens (nicht mittelalterlicher Dinge, Verhältnisse, Sitten – das verwechselt man immer!) die gesamte höfische Epik und Lyrik auf .. doch gerade das Rittertum ist bei ihm nur beiläufig zu Wort gekommen.

Damit der Geist eines Zeitalters, einer Gesellschaftkosmische [110] Sprache (nicht nur gesellschaftliche Rede, gleichviel ob gebundene oder ungebundene) werde, muß er übergesellschaftliche Person werden, und das geschieht nur in Durchbruchs- und Wende-zeiten. Nur diese bringen Menschen hervor denen die bisher sprachlosen Lebenszustände fragbar und sagbar, persönliche Leidenschaft, einmaliges Schicksal werden, in ihnen zum »Brenn- punkt« verdichtet – vollendet, erfüllt und damit überwunden. Sind solche Erben sterbender Zeit Dichter, so geben erst sie ihr, aus ihr heraus und jenseits von ihr, die überzeitliche Sprache, das ewige Leben: so Dante dem Mittelalter, Shakespeare der Renaissance, Goethe dem Rokoko. Das deutsche Rittertum hat einen solchen Dichter bei seinem Untergang nicht gefunden. Jedoch wie bei uns nie ein Zeitalter als Gesellschaft sich rein ausgelebt hat, sondern unausgelebt durch unsere ganze Geschichte als unerlöstes Element unterirdisch mitgeführt wird (und nicht nur unsere deutschen Kräfte, sondern fast alle europäischen, die anderswo längst zu einem geschichtlichen Sein kristallisiert sind, geistern oder gähren bei uns immer noch als kosmisches Werden) so hat bei uns auch noch spät die Seele des Rittertums eine persönliche, übergesellschaftliche Dichtersprache finden können: das ist geschehen in Georges Sagen und Sängen – eine Wiedergeburt also der ritterlichen Seele, nicht eine Wiederholung der ritterlichen Sitte.

George hat aus den dinglichen Niederschlägen der Ritter-Kultur, Geräten, Bauten, den überlieferten Gesellschaftsgeberden (dazu gehört auch das Empfindungszeremoniell des Minnesangs und der Epik) all das herausgesogen was seine persönlichen Spannungen färben und fassen konnten. All diese Dinge – in der Ritterpoesie selbst entweder kindliche Sachenfreude, behagliche Schilderung, selbstgenugsame Augenweide oder Konventionen, Gemeinplätze, mehr Chiffern als Ausdruck gewohnheitlichen Denkens, Fühlens und Begehrens – hat George aus ihrem Konventionsbereich gelöst und mit seinem Willen durchglüht, mit seinem Schicksal gefüllt. Jetzt erst sind die Sachen der Feudalzeit, welche die Romantik zu Stimmungsrequisiten benutzte, zu wirklichen Sinnenbildern seelischer Zustände geworden, zu geistigem Raum. Erst bei George atmet die alte Kapelle die mystische Inbrunst eines jungen Minners und Gottesstreiters – die ritterliche Form der Georgischen Spannung zwischen Weihe und [111] Liebe. Erst hier ist »die Stadt mit alten Firsten und Giebelbildern« die bis zum letzten Schnörkel durchseelte Schicksalsstätte für ein wirklich gelebtes »Leben dunklen Duldertums«. Erst hier ist jedes Kleid, jedes Gemach, jedes Gerät getränkt bis in die kleinste Faser mit dem Sinn der jeweiligen Beter-, Minner-, Kämpfer-, Suchermotive die nur George so herzlich ergriff.

Wie mit den Dingen so auch mit den Gebärden und Gefühlen. Erst bei George, nirgends bei den deutschen Minnesängern sind die Bewegungen wirklicher Ausdruck des seelischen Geschehens, die Gefühle wirklich verkörpert: nichts wird bei ihm bloß berichtet oder ausgesagt. Mit der gewaltigen Verdichtung ganzer Atmosphären in einen einzigen Wink, ganzer Schicksale in ein vor- und rückdeutendes Wort, mit der seit den Hymnen erreichten beseelenden und ballenden Bildkraft und durch Wegfall jeder bloßen Beziehungsrede hat George hier Stoff, Kraft, Geschehen des Rittertums, die bei der höfischen Poesie nebeneinander lagen und redselig sich sonderten zu Schilderei, Bericht oder Erguß, in eins geschaffen und so erst der Seele den Leib, dem Leib die Sprache und der Sprache den Ton gegeben. Man wird im ganzen deutschen Mittelalter kein Gedicht finden das die ritterlich keusche zwischen Minneglut und Gottesfurcht ringende Jünglingsseele knapper zugleich geberdete, austönte und enthüllte wie die wenigen Verse der »Sporenwache«:


Der jüngling bittet brünstig Den da oben
Und bricht gelernten Spruches enge schranken
Die hände fromm vors angesicht geschoben,
Da wurde unvermerkt in die gedanken
Ihm eine irdische gestalt verwoben.

Ja, das Parsival-tum selbst wird in dem umfassenden Epos des Wolfram mit all seinen Abenteuern, Taten und Kämpfen nirgends so augen- und seelenhaft gegenwärtig, dringt so unausweichlich uns nirgends als Art und Gestalt mit seiner Luft entgegen wie in solchen Versen:


Der bodenblumen stilles und bescheidnes heer
Der knappe ging darüber hin gedankenleer ....
oder:

Die schönen blicke still und grad zum himmelrand ....


[112] Nirgends ist der Geist des Abenteuers, die trutzig glühende Gefahrgier eindrucksvoller gebannt als in den kargen Worten:


Am abend nach den wäldern die vor schrecknis pochen
Ist er nach tod und wunden gierig aufgebrochen.

Alle Lichtensteiner und Wolkensteiner verblassen zu farblosem Gerede gegen die bebende Selbstvernichtung des verschmähten Minners »Im unglücklichen Tone dessen von ...« Wo hat der unverlierbare Adel und der martervolle Überschwang bewußt hoffnungsloser Hingabe aus Stolz und Demut solche Töne gefunden? Nur Dantes Vita Nuova hat diesen Gehalt lyrisch bewältigt: bei den eigentlichen Minnesängern bleibt er Konvention oder Fratze.

Und so jedes der typisch mittelalterlichen Motive: die Essenz der Gralssage, das Wesen des frommen Geheim-bundes, der zu Gottes Ehre und der Menschen Heil jede Gefahr und Not auf sich nimmt, ohne irdischen Lohn nur in der göttlichen Weihe sich verherrlichend, es ist inniger duftiger kerniger in der »Irrenden Schar« enthalten als in allen Lohengrin- und Titurel-legenden zusammen. Die Mannentreue – dies mittelalterliche Aufglühen des dorischen Eros, der blutgeschweißte Bund aus Liebe und Tat, aus »Wachs und Eisen«, aus Zärtlichkeit und Härte – hat in George spät ihren Seelengesang erhoben: »Der Waffengefährte«. Das Verliegen des Rittertums ist ein vielgenanntes und beredetes Motiv der ritterlichen Gesellschaft: seinen Schicksals-gehalt hat erst George herausgeholt mit wenigen pochenden und horchenden Tönen, deren jeder lebt, nicht nur sagt. Die holde Stille und Wehmut gottseliger Beschaulichkeit, die zärtliche Reife des Frommen der für sich entsagt hat und doch die schweifende, weltoffene Jugend fühlt und hegt, die firne Weisheit des alternden Herzens im Einklang mit dem ungeduldigen Drang des Jünglings, die vita activa und die vita contemplativa, Gurnemanz und Parsifal, Lorenzo und Romeo – dies ewige Paar hat George in zwölf Versen mittelalterlich, gegenwärtig, ewig beschworen – mit einer sinnlichen Fülle, seelischen Tiefe, Rundung und Ferne die kein feudaler Poet auch nur ahnte: »Der Einsiedel« ist ein reines Beispiel für Georges Kraft der Raum-, Zeit- und Lebensballung.


Ins offne fenster nickten die hollunder
Die ersten reben standen in der bluht,
[113]
Da kam mein sohn zurück vom land der wunder,
Da hat mein sohn an meiner brust geruht.
Ich ließ mir allen seinen kummer beichten,
Gekränkten stolz auf seinem erdenziehn –
Ich hätte ihm so gerne meinen leichten
Und sichern frieden hier bei mir verliehn.
Doch anders fügten es der himmel sorgen –
Sie nahmen nicht mein reiches lösegeld.
Er ging an einem jungen ruhmes-morgen,
Ich sah nur fern noch seinen schild im feld.

Niemals ist der Wunderglaube des frommen Herzens, der Marienkult, die Gebetsglut unsrer alten Dome und Kapellen in ihrer eigentlichen Geschichtszeit so zu innerstem und äußerstem »Wort« gekommen wie in »Das Bild«, niemals die ekstatische, opfersüchtige, entsagungstrunkene Spannung der Minne, die tiefblaue und rosenrote Innigkeit der Marienliebe, das jungfräulich flaumige Zittern und Brennen und das Staunen und Raunen des Märchens wie in den »Sängen eines fahrenden Spielmanns«.

Genug, alle mittelalterlichen Motive sind hier wirklich erst »Motive« d.h. Beweg-Gründe, oder tiefer verdeutscht »Wirksamkeiten« geworden – weil sie hier erst ganz Mensch geworden sind .. sie waren vorher Dinge, Begebenheiten, Verhältnisse. Der welthaltige, geschichtshaltige deutsche Dichter hat sie aus ihrer dinglichen Starre gelöst, als sein Schicksal an diese Lage seines Lebens rührte. Denn das Mittelalter hat nicht ihn geweckt, sondern in ihm wachten Begierden, Gebete und Gewalten auf die im Mittelalter ihre Zeichen fanden. Sie wählten sich jene Motive, wie wir uns Worte wählen die in der Sprache schon immer waren, um das auszudrücken was uns grade eben und grade uns bewegt: es muß aus uns kommen und vor uns da gewesen sein.

Genau so wie das Verhältnis jedes Redenden zum Wortschatz seiner Sprache ist das Verhältnis des Dichters zum Zeichenschatz der Geschichte. Die Geschichte selbst kennt noch nicht ihren Bedeutungsgehalt, sie west, aber sie wählt nicht – der Grieche weiß nicht was »griechisch«, der Ritter nicht was »ritterlich« ist: er tut es, aber er [114] sagt es nicht. Die Geschichte ist die Sprache, aber nicht der Sprecher. Dem geschichtshaltigen Dichter allein fallen die nötigen Zeichen ein, weil er das in sich hat was durch sie ausgedrückt werden will. So ist George der Singer und Sager der deutschen Vor-welt (Vor-welt wie man von Vor-bild spricht) wie der Seher und Sager der griechischen. Auch in diesem Bezirk menschlicher Urbilder hatte er die Schatten beschworen und mit Blut getränkt, bis sie ihm Rede standen: keine edle Form des Menschentums, kein wahres Bild darf verloren gehen, wenn nicht der Mensch selbst verarmen soll. Bewahren, d.h. bald wecken und rufen, bald zeigen und zaubern, kann die wahren Bilder menschlicher Haltung nicht der bloße Kenner, d.h. der gelehrte Historiker, und nicht der bloße Genießer oder Sucher, d.h. der Romantiker, sondern nur der in jedem Sinn echte Dichter, der Seher der sie als Blutserbe, als Verhängnis, als Anamnese (oder wie man es auslegen mag, vom Leib, vom Schicksal, von der Seele her – physiologisch, historisch, metaphysisch) in sich hat, ja der sie west.

VI. Die hängenden Gärten

Erblicken wir in den verschiedenen Bildungswelten der Geschichte die Zeit- und Raumwerdung ewiger Kräfte, die in jedem echten Menschen schlummern und im Dichter manchmal aufwachen, wie die griechische Leibgegenwart in den Hirtengedichten, das germanisch-ritterliche Seelenschweifen in den Sagen und Sängen, so hat sich mit Georges Buch der Hängenden Gärten die Phantasie-ferne des Ostens, der Fremdzauber aus Tausendundeinernacht, die üppige Gartenpracht, die Wüstenglut und der heiße Märchenzauber wieder wachgesungen: die dritte der drei Bildungswelten die dem Europäer in Fleisch und Blut eingedrungen. Vieldeutig wie alle Geschichte, ist auch der Orient in mannigfachen Brechungen und Lagen gesehen und erneuert worden: auch er hat seine deutsche Mythik, seine Romantik und seine Historik gefunden, von Luthers Bibel bis zu Nietzsches Zarathustra. Sehen wir ab von den Kreuzzugs-fluiden und von der Bibelreligion, so beginnt die sinnliche Gewalt des Ostens über deutsche Seelen mit dem Salomonischen Hohen Lied, einem Urklang von Liebesfeuer und wollüstigem Überschwang, sie wird genüßliche [115] Schnörkel- und Farbenfreude bei Wieland, Patriarchenluft, satter Erdenglanz und morgenländische Reife in Goethes Divan, der dann bis auf unsere Tage die Vorstellung beherrscht hat, unter manchen Erweiterungen durch Romantik und Epigonen. Mehr als sonst ein Kulturbezirk ist uns Morgenland das Andere, das Fremde und Ferne, die Erholung von Gewohnheit, Gesetz, Pflicht, die Durchbrechung des Alltags, Wunder und Märchen, Buntheit und Prunk gewesen, und deshalb vorzugsweise »romantisches Land« auch bei den Hütern der Gegenwart und der Heimat.

Diese Phantastik ist so gut ein menschlicher Urgehalt wie das Maß des Leibes und die Sehnsucht der Seele, und schon deshalb mußte sie in dem Rufer der menschlichen Urformen unwillkürlich einmal als Werk erscheinen. Sie ist eine Gefahr der Zerlösung wo sie allein herrscht, wo sie von keiner Willensmitte und Gestaltkraft mehr gebunden wird, eine Verflüchtigung nach außen, wie das Gemüt eine Verflüchtigung nach innen, beides »Romantik«. Das Schweifen der Sinne kennt George so gut wie das Schweifen der Seele, und beiden Gefahren ist er nicht ausgewichen: er hat sie gezwungen unter sein Gesetz, sie gebannt in die schöne Gestalt und in den schicksalhaften Kairos, gehorsam den Göttern seines Raums und seiner Zeit. Dadurch hat er die Romantik der Phantasie überwunden in den Hängenden Gärten wie die Romantik des Gemüts in den Sagen und Sängen. Von den Hirtengedichten zu den Sagen und Sängen und zu den Hängenden Gärten verbreitert sich der Schauplatz, die sinnlichen Beschreibungen nehmen zu, Farben und Klänge häufen sich .. die Einheit der Bücher ist lockerer. Was in den Hirtengedichten ganz zu Haltung und Geberde verdichtet war, durchdringt in den Sagen und Sängen einen beseelten Raum, brennt und flimmert, duftet und wallt in den Hängenden Gärten als Farben- und Klangspiel: es ist immer dasselbe Wesen, dasselbe Blut und Schicksal, derselbe Mensch, aber gleichsam in immer loserem Aggregatszustand, in immer flüchtigeren Geschichtsstoffen inkarniert.

Denn immer müssen wir von beiden Seiten her diese drei Bücher begreifen: von dem Innern des Dichters her und von dem Außen der Bildungswelten. Jenes will Aus-druck in geschichtlichem Sinnenstoff, dieses Er-Innerung in kosmischer Blutskraft, und beide Attribute [116] derselben Substanz werdenSprache. Auch hier ist der Dichter als Person dasselbe was die Geschichte als Element ist. Die orientalische Lage seines Gesamtwesens ist genau wie die orientalische Lage der Gesamtgeschichte (des elementischen Makrokosmos zu seinem persönlichen Mikrokosmos) gestaltloser, lockerer und wehender als seine griechische und seine ritterliche Lage: d.h., das Menschwesen das sich als Griechentum (der Geschichte wie der Person) auswirkt in Gestalt, bildhaft, tathaft »tat-sächlich«, das sich als Rittertum offenbart in bewegtem Raum, seelenhaft, süchtig, drängend, schweifend, das zeigt der Orient umgesetzt in das bloße Spiel der Sinnenkräfte, in die Erregungen des Leibes, in antwortenden Reizen, in Scheinen,Erscheinungen. Das sinnbildliche Naturspiel des Morgenlandes beherrscht auch seine Geschichtsart: die Fata Morgana, der selbstgenugsame Schein, der zwar Wesen voraussetzt und umsetzt, aber keines ist: Umsetzung eines Wesens durch eine Kraft in einen Schein. In der griechischen Gestalt ist Glut und Helle, Kraft und Stoff, Leben und Leib eines, im gotischen Raum sind sie zusammen, in der orientalischen Erscheinung sind sie auseinander. So ist auch Georges östliche Dichtung zwar immer noch menschlich, schicksalhaft, aber nicht mehr gestaltig, sondern gelöst in menschliche Erregungen und deren Zaubereien, d.h. Fünfsmnen-reize – zumal Blick-reize. Denn wie weit George sich auch von seiner antikischen Mitte entfernt: Augenmensch bleibt er selbst noch im Wogen der Scheine und im Brennen der Triebe.

Das Auge und das Schicksal führen ihn selbst aus dem Osten der Hängenden Gärten immer wieder zurück in die europäische Leibwelt, sein gesetzliches Menschenreich, das er zwar überschreiten und überfliegen, aber nie aufgeben darf. Dieser feste Grund hat ihm die Heimkehr aus dem Traum des Algabal ermöglicht und geboten, ehe er noch die Geschichte als gegenständliches Außen sich erobert hatte. Sie rettet ihn jetzt wieder, bei seinem verwegensten Aus-flug in die Geschichte, vor der romantischen Gefahr der Ent-staltung durch Zerflattern oder Zersprühen. Um Georges Hängende Gärten zu begreifen, müssen wir auch in ihnen wieder hinter Scheinen und Reizen sein Schicksal gewahren, und das Maß selbst seines maß-fernen Märchens. Daß er überhaupt auch märchen-bedürftig und -fähig war, [117] gehört zu seinem Beruf, als welthaltiger Dichter alle Mächte zu beschwören. Daß er sich nicht entfremdete, sondern sogar dies Fremdeste aneignete, ist ein Zeugnis seiner angestammten Art, die wir noch in diesem bunteren Gewirke und Schimmer wieder erkennen .. auch hier, in östlicher Wandlung und Stimmung, die gleichen Lenker: Eros und Kairos.

Die Hängenden Gärten erneuern innerhalb der Bildungswelt, auf einer »objektiven« Ebene, die Spannung des Algabal zwischen der herrscherlichen Weihe des Ich und dem Drang des Herzens nach unbedingter Hingabe an ein würdiges Du. Ja, das Buch hat in der Reihe der geschichtshaltigen Trias genau denselben Platz wie der Algabal in der noch vorgeschichtlichen reinen Sprach- und Traumtrias Hymnen Pilgerfahrten Algabal: es ist die letztmögliche Ausweitung des leibhaftigen Ich ins Räumliche und Schweifende bis an die Grenze der Verflüchtigung, das jeweilige Ende des Wegs von der Gestalt über den Raum zur Erscheinung. Nur war die erste Trias noch ohne einen vor-selbstigen Gehalt außer der Sprache und mußte sich erst ihren Seelenraum erwirken .. jetzt ist ein Geschichtsgehalt bereits mit dem einsamen Ich gefüllt und vermählt. Eben dadurch wird die Algabal-spannung anders, ja umgekehrt gelöst. Für den Dichter des Algabal war die Rettung der Weihe, die Erprobung seiner Gewalt, die Bewahrung seines von Überkräften erschütterten Herzens die oberste Aufgabe. Er mußte zurückdämmen all die ausbrechende Hingabe, opfern jede zärtliche Weichheit und unterdrücken jede Begier die nicht der heiligen Herrschaft, der neuen, schweren, unwiederbringlichen und unersetzlichen, diente. Im Algabal ist die Weihe das oberste Gebot, weil sie der schwerst errungene und meist bedrohte Wert ist, der letzte und höchste Schicksalsaugenblick des damaligen George, die Gewähr seiner Macht .. und ihr muß selbst Eros zwar nicht weichen, aber fronen. Der Dichter der Hängenden Gärten hat seinen gesicherten Raum, seine unbestrittene Gewalt über »das Land das ihm von früh auf eigen war«. Er kann von seinem Reiche, d.h. von seiner nun bewährten Macht über sich selbst, über Menschen, Dinge und Worte zurückschauen auf den vorwegnehmenden Traum vom »Kindlichen Königtum«, auf die Wünsche und Spiele des Knaben als auf Vorgefühle der eigenen Kraft und Sendung. [118] Frühere Gefahren, Kämpfe, Siege erscheinen jetzt traumfern und traumklar, als Gesichte einer überwundenen Vergangenheit .. und die Herrschaft selbst – im Algabal die furchtbare Bürde eines bis zum Zerreißen gespannten Geistes, dem der bloße Aufruf und Bann des Traums die Kräfte bindet – diese Herrschaft ist jetzt fast müßiges und üppiges Fest, schwelgendes Verliegen, süßes Spiel, fast eine »Lüge von Wesen und Welt«.

Das ist der Eingang zu den Hängenden Gärten .. bekränzt mit allen Duft- und Farbenranken des östlichen Märchens, gewiegt, umklungen, überflimmert von den Strahlen des Unwahrscheinlichen, die Feier pflichtloser Phantastik, gegenwartlosen Voraus-und-zurücksinnens, innig badender Versunkenheit, blumiger Beschauung und Inbrunst .. die Herrschaft nicht als Ziel, Pflicht, Tat oder Macht, sondern als Genuß bis zum Überdruß, als milde Gunst und Laune der Güter, als Kalifenherrlichkeit. Zurückübersetzt aus der östlichen Zeichensprache in die Schicksale des Herzens das ihrer fähig war heißt das: es ist in Georges Dasein eine Stunde der heißen und gelassenen Stille gewesen, da für ihn Erreichtes und Ersehntes ineinander schwammen zur Mär, da ihn sättigte und fast schon übersättigte die eigene Fülle der Gesichte und da er versucht war zum Augenblick zu sagen: »Verweile doch« oder vielmehr, da der schöne Augenblick ihm versank in dem zeitlosen Frieden vollkommenen Genügens. Dies war die Stunde die ihn reif machte für Morgenland. Er hat nichts süßer Schwüles, üppiger Buntes geschrieben wie die Verse dieser tropischen Muße – nirgends ist der von Erinnern und Erwarten, von Lockungen und Drohungen gleich trächtige Halbschlummer ausruhenden aber nicht ruhigen Lebens, die besonnte Windstille der Seelenflut so heimlich unheimlich verdichtet worden wie in dem »Friedensabend« .. jene Lage zwischen Wachen und Träumen wo uns das Gefühl für Dauer schwindet, deren Vorgänge Tage zu Minuten, Minuten zu Tagen machen, kurz, wo Zeit und Raum aufgehoben scheinen.


Wie schemen locken nur die festgepränge
Die wilden schlachten lauten untergänge.
Im dichten dunste dringt nur dumpf und selten
Ein ton herauf aus unterworfnen welten.

[119] Gerade die bewegtesten und leidenschaftlichsten Herzen sind für solche Stunden – mehr als Stunden können es ja nicht sein – am empfänglichsten und sie auszudrücken am fähigsten .. denn sie genießen den Abstich in seiner ganzen Stärke. Wer hat den Sabbath des südlichen Meers, die halkyonische Seligkeit so gefeiert wie Nietzsche? Fausts Schlummer auf dem Elfenplan, die heiße Pansstunde in Jean Pauls Flegeljahren, Dantes Blumenwandeln im irdischen Paradies sind verschiedene Sinnbilder desselben Erlebnisses. Nur der Dichter des Romeo konnte die Johannisnacht so warm und golden träumen. Nur auf dem Grunde des dunkelsten Grauens gedeiht das üppige Märchen, in der Nachbarschaft des Todes und während das Schicksal verschnauft.

Die polaren Gewalten sind immer da und warten nur auf den Wink ihrer jeweiligen Allmacht. Der Herr der Hängenden Gärten ist noch der gleiche Charakter wie Algabal, nur seine Aufgabe, seine Schicksalsstunde, sein Sternenstand ist anders: nicht mehr die Herrschaft, sondern die Hingabe wird das Gebot für den der sicher besitzt. Dasselbe Geheiß das den Algabal in die Höhe treibt, wo er sein wahres Ich rein, d.h. un-bedingt verwirklichen kann, verwehrt dem Gebieter zu rasten und zwingt ihn hinzugeben was er errungen. Nicht das Ich und nicht die Herrschaft ist das Lebensgesetz, sondern die Polarität des ewigen Ich und des ewigen Du, »das Gleichgewicht der ungeheuren Wage«, kraft dessen der hohe Mensch Welt in sich und sich in Welt füllen muß. Beides ist Drängen und Ringen, aber auch ewige Ruh in Gott – und augenblickliche Ruh im Menschen, wenn die Zünglein der Wage gerade sich streifen. Das Naturgesetz das Goethe in die Formeln von Polarität und Steigerung faßt, das Aus- und Einatmen, die Systole und Diastole, ist auch ein Lebens- und Seelen-gesetz, und so hat George es erfahren. In einer höheren und weiteren Spirale (wiederum ist Goethes »Spiraltendenz« ein aufschlußreiches Gleichnis) wiederholt George seinen Weg von Ich zu Du, und vom Du zu immer weltvollerem Ich, immer neue Schichten einbegreifend in sein Ich und sie wieder ausströmend in immer höheres, immer würdigeres Du. Die Umläufe zum Ich hin stehen unter der Weihe, die Umläufe zum Du stehen unter dem Eros .. und beide gehorchen dem Kairos, der die Stunde des Nehmens und des Gebens bestimmt.

[120] Auch die Form der Hingabe, das Verlangen nach dem Untergang im Du wird bestimmt durch das Schicksalsklima das der Charakter gerade durchschreitet. Nicht von Laune oder Stimmung hängt ab wie er sich opfern will, sondern von der Geschichte die gerade in ihm wacht und waltet. Da George aus dem gotischen Schicksalsklima in das östliche tritt, oder vielmehr da seine östliche Stunde zu Wort kommt, steigert sich die Minne, die Erhöhung des Du – die germanische Urform der äußersten Hingabe – der Überschwang der Treue, zur Prosternation, zur Niederwerfung des Ich vor dem Idol. Je reicher das Ich selbst ist, je mehr es preiszugeben und zu verschwenden hat, desto tiefer die Demut, und je höher die Würde und der Stolz des Besiegten, desto reißender die Qual des Opfers. Mehr als bei der gotischen Minne, die Er-hebung und Aufhebung der Seele zugleich ist, Lösung und Erlösung des Ich in ein höheres Du, empfindet und leidet hier das hohe Herz den eignen Drang. Nicht mehr die Unerreichbarkeit ist das Leid, sondern die vergebliche Selbstopferung. Mit voller Gewalt werden hier alle Reize und Zauber der Sinnenwelt bejaht: sie soll ja nicht verlassen, sondern verschenkt werden .. und mit voller Gewalt bejaht sich der Liebende selbst, denn er will besessen, nicht vernichtet sein. Er will spenden und huldigen als der Reiche, als der Hohe, und seine Liebe ist kein Gebet das erst von der Göttin Sinn und Weihe empfängt, wie die Minne, keine Askese, sondern eigenherrliche Glut die sich ergießen und kühlen will, und zugleich weihen was sie berührt.

So durchdringen sich im Mittelstück der Hängenden Gärten – einem Hohelied der sinnlichen Leidenschaft, der inbrünstigen Demut und des gemarterten Stolzes – die schwellende Pracht der heißen Erde mit dem nachhaltigen Willen und der Würde eines griechisch gesinnten Leibes. Nur aus östlichen Lagen konnte George eine solche tropische Phantasmagorie hervorzaubern .. nur ein griechisches Maß- und Würdegefühl konnte so leiden an dem Zwang der Besessenheit, an dem Befehl der Sinne »verschwende und diene«! Diese Gedichte überbieten an Sinnenglut weit die Sagen und Sänge: denn die Sinnenwelt ist hier ein wirkliches Gut. Sie erreichen an Stolz und Höhe den Algabal: denn das Ich ist auch hier ein unbedingter Wert. Sie sind gespannter als beide Werke: denn das Opfer muß hier eine viel weitere [121] Kluft zwischen Ich und Du füllen. Nur ein Herz das so östlich durchdrungen ist von der Pracht der zu opfernden Welt und so westlich durchdrungen von der Würde des Menschen konnte diese Gesänge empfangen. Weder ein purer Genießer noch ein purer Minner, weder ein einfach demütiges noch ein einfach stolzes noch ein einfach begehrliches Herz konnte diesen Konflikt überhaupt erfahren, sondern nur eines in dem Welt-freude, Ich-würde und Du-dienst gleich mächtig wirkten. Diese äußerste Spannung östlicher griechischer und gotischer Gegenkräfte in einem Mann macht die Liebesgedichte der Hängenden Gärten einzig durch die Einheit von üppiger Pracht, strengem Maß und wilder Leidenschaft. Der Osten kennt nicht diese höchste Steigerung der natürlichen Menschenwürde .. einseitiges Herrentum und Sklaventum macht dort die Macht und den Dienst zu leicht. Die Gotik nimmt die Sinnenwelt nicht wirklich und wichtig genug, um an ihrem Opfer bis zum Grund zu leiden. Das Griechentum nimmt sie zu wichtig und würdig, um sie maßlos zu verschwenden und um des Opfers willen zu opfern. Es bedurfte eines solchen Charakters wie George und einer solchen Schicksalsstunde für diesen Charakter, um diese brennend-bunten Scheine voll trunkner Süße, sengender Begier und zehrender Qual, voll keuscher Stille und gebändigtem Beben zu ermöglichen. Er mußte reich genug sein zum Verschwenden, stolz genug zum Herrschen, fromm genug zum Knien .. so stolz, daß das Knien zur Qual und so fromm daß es ein Gebot wurde. Der Osten bot ihm das äußerte Sinnbild (und jeder echte Künstler bedarf des äußersten für die königliche Demut die nicht Erhebung des Du, sondern Verschwendung und Opfer des Ich ist.

Der Eingang der Hängenden Gärten enthält den Zustand der dies Opfer nötig macht und vorbereitet, die Mitte die Verschwendung und Opferung selbst in mannigfachen Graden und Momenten. Das Ende gibt die Armut und die Verlassenheit des Vergeuders, das »Trauern dess der ein Königtum verlor«. Auch dieser Gehalt ließ sich in seiner höchsten Steigerung nur von einem algabalischen Menschen durchleben und nur unter orientalischen Zeichen versinnbilden. Die algabalische Schwermut der völligen Einsamkeit ist hier gesteigert und gemildert zugleich durch die Wehmut des Weltverlustes, [122] durch die Ehre der erhabenen Rückschau auf das Verlorene und die Demut die den Bettler- und Sklavenrock so groß trägt wie den Purpur .. ein äußerstes Gleichnis für den amor fati: durch innere Würde und Höhe überlegen bleiben dem eigenen Unheil, dem verhängten wie dem erwählten. Diese Haltung hat schon Algabal gefordert:


Es ziemt nicht in irdischer klage zu wanken
Uns die das los für den purpur gebar.
Doch erst dem Herrn der Hängenden Gärten wird zur Bewährung das Leid
Verbannter herrscher, ihr erhabnes trauern
Und unbemerkter tod.

Das Schicksal das durch dieses morgenländische Sinnbild sich ausdrückt ist die notwendige Einsamkeit jeder schöpferischen Seele und die abgründige Trauer nach jedem großen Aufschwung, sobald sie einen Lebensbereich ganz ausgeschöpft hat und der neue ihr noch nicht aufgeschlossen ist. In eine östliche Mär gebracht ist hier der Zustand von dem es später heißt:


Ihr bangt der Obern pracht nie mehr zu nennen ....
Der stoff ward ungefüge, spröd und kalt.
Im Jahr der Seele lautet er:

Ich zeige euch in der erfüllung das grausamste schicksal.


Seit der Dichter zu den Müttern einsam steigen, die kosmischen Gewalten als Einzelperson bannen muß, um sie der entgötterten Gesellschaft wieder einzugeisten, hat diese Art Trauer immer wieder ihren Ausdruck gefunden .. schon bei dem spätesten Shakespeare in der Gestalt des Prospero, zumal in der Abschiedsrede an die Geister. In dem Ungenügen Fausts schwingt sie mit und in dem Untergang des Empedokles, zu schweigen von Zarathustra. Wo sie erscheint ist sie überall verbunden mit dem Wunsch einzutauchen, aufzugehen und unterzugehen im Element, die Trugbilder der einsamen Person zu löschen im schöpferischen Wogen des allhaltigen Chaos oder im bildlosen Ur-sein – Versuchung gerade der bildbesessensten gesichtevollsten Geister. So auch bei George: am Schluß der Hängenden Gärten lockt und raunt die Versuchung der Wellen, in denen das menschliche Sonderleid sich auflösen darf. Als Ende des Märchens [123] von den Hängenden Gärten heißt dies: Erlöschen der Phantasmagorie, der Leidenschaft und der Einsamkeit, Übergang der Erscheinung in Sein des Alls, in Un-sein des Selbst. In Georges Seelengeschichte verkündigt es die Wendung zu dem neuen Kräftereich das bisher in seine Dichtung nur hereingespielt hatte: zur unmittelbaren Natur! Mit den Hängenden Gärten hatte er die drei Bildungswelten die noch in ihmlebten (nicht ihren unendlichen historischen Stoff, aber ihren ewigen kosmischen Gehalt) erschöpft – von der griechischen Gestalt bis zum östlichen Erscheinungsspiel, und war abermals vor der Leere oder vor dem Chaos angelangt. Abermals war, seelisch gesprochen, ein Traum zu Ende geträumt, kosmisch gesprochen eine Kräftelage ausgebeutet. [Nochmals: es handelt sich bei diesem Dichter nicht um »Erlebnisse« die er lyrisch behandelt, sondern um Leben das ihm Sprache wird, indem es ihn durch-scheint, durch-wandelt, durch-wirkt]. Er bleibt zwar derselbe Mensch, aber er wiederholt sich nicht, da immer neues Leben von ihm Wort verlangt und das schon durchdrungene eingeht in das noch zu durchdringende. Der Übergang von einer Lebenszone in die andere kann unmerklich erfolgen oder durch jähe Erschütterung. Nur in diesem Sinn mag man von Er-lebnissen Georges sprechen: sie sind das Gewahrwerden des neuen Kräftekreises den er nun durchwandeln oder der ihn durchwandeln muß – beides ist dasselbe.

VII. Das Jahr der Seele

George hatte die Bildungswelten die er durchseelte und die ihn durchbildeten renaturiert d.h. entromantisiert und enthistorisiert, bis in ihnen nur ihr urtümlich ewiger und ihr einmalig persönlicher Gehalt zu Wort kam: das was darin schon überhistorisch mögliche, historisch verwirklichte Menschen-natur war und das was noch seines eigenen Wesens heutiges Schicksal war. So waren ihm in drei Kreisen anverwandelt, eingeeignet die Grund-Lagen des europäischen Deutschtums .. aus seinem Blut waren in seine Sprache und Schau, aus seiner Energie in seine Entelechie gestaltet griechische, gotische, morgenländische Urformen, die der Romantik als Stimmung, Wissen, Spiegelung, Abglanz genügt hatten. Hier war höchstens noch Vermehrung der dinglichen Masse, nicht mehr Steigerung und [124] Verdichtung des menschlichen Gehalts möglich. Ein Gehalt ist für den Dichter erschöpft, sobald er sein Sinnbild gefunden .. nur die Schriftsteller verweilen auf den Fundstätten ihrer Symbole und suchen weiter.

Der Dichter will Chaos bezwingen und seine schmerzlichsten Stunden sind die ungestalten Dämmerungen zwischen einem fertigen Tag und der trächtigen Nacht, die nach seinem Willen verlangt wie er nach ihrer Fülle. Je größer die schon bewältigte Masse war, desto leerer erscheint die Zukunft, desto unwahrscheinlicher eine neue Schöpfung, desto tiefer die traurig finstre Einsamkeit zwischen erledigtem und ersehntem Werk .. Ruhe auf Lorbeeren kennt nur der Fant. Zwischen dem Algabal und den Hirtengedichten lag keine Öde dieser Art: der Algabal war die erste Bewährung der eigenen Kraft, nicht die Bewältigung eines Wirkungsraumes und das neue Land schimmerte dem Bereiten und Gerüsteten verheißend entgegen .. in die Hirtengedichte ist etwas eingeflossen von diesem Morgenlicht des selbstgewissen Entdeckers, und die Entspannung nach dem Algabal war nicht Abspannung, sondern Lockerung und Lockung. Hinter den Hängenden Gärten aber lag zum erstenmal ein volles Leben mit und in einer weiten Welt. Da schien keine Jugend vollendet, sondern ein Mannesalter erschöpft und wer die Bewegungsstärke und Fülle dieser drei schmächtigen Bücher gewahrt der mag das Alter des Dichters nach Tagen statt nach Jahren bemessen.

Die Trauer der Erfüllung, die Trauer »dess der ein Königreich verlor«, das heißt, der einen Machtbereich zu Ende gelebt, lastete zum erstenmal auf George hinter den Mauern der Hängenden Gärten und noch sah er keine frische Weite vor sich. Diese abgründige Trauer ist die Luft in der seine nächste Dichtung reifte, das Schicksalsklima des Jahrs der Seele. Noch eh die künftige Schicht Form gewann war sie bereits getränkt mit dieser Schwermut. Ein bloßer Erlebnislyriker hätte mit ihr allein, samt der bisherigen Sprachgewalt und Motivenreihe, bereits neuen Gehalt gehabt. George bedurfte eines jungfräulichen Bodens, den keine bloße Stimmung geben konnte, einer neuen Dimension des Wesens. Diese lag damals für ihn nicht in der hellen Breite, sondern in der finstern Tiefe. Das Schlußgedicht der Hängenden Gärten, ein Untertauchen, ist dafür ahnungsvoll [125] symbolisch. Indem George die neue schöpferische Nacht seiner Seele suchte, fand er zugleich den neuen Raum eben dieser Seele und ihr neues Schicksal: in der geschichtslosen, gestalt- und scheinlosen Natur. Ihr Geschichte, Gestalt und Schein zu geben, seine geschichtshaltige Seele und Sprache in sie einzugießen, seine geschichtssatte Seele und Sprache mit ihrem Chaos wieder zu verjüngen: das war ja zugleich die Aufgabe die er dunkel suchte und das Schicksal das ihn an dieser Wende seines Daseins fand, als er sein Ich bis zum Überdruß besaß und seine erste »Welt« hinter sich hatte.

Seine Grundspannung, dichter und breiter durch den Zuwachs anverwandelter Geschichte, brachte er auch in das Chaos Natur mit und auch hier hatte er das Urmenschliche wieder heraufzuholen. Die Natur, so vormenschlich und untermenschlich sie erscheinen kann, enthält doch die animalische Masse und das schöpferische Leben des Menschtums .. sie ist Pan, Dionysos und Aphrodite. Der welthaltige Dichter muß bis in den Bereich selbst hinunter steigen aus dem diese Götter emporstiegen: sie dürfen ihm nichtgeschichtliche Mittler sein: das wäre Romantik. Wie George aus der Geschichte die menschlichen Urbilder selbst emporhob, so mußte er auch die Natur entromantisieren. Die Natur entromantisieren (das ist die negative Seite des Welthaftmachens, des »Ur-hebens« – wenn man dies Gegenwort zu »ableiten« gestattet) heißt nicht mehr Urbilder erneuern, sondern Urkräfte bannen. Vor der ursprünglichen Welt, – ob Bilder der Geschichte oder Kräfte der Natur – lag ein Schleier von Mitteln, ein Zwischen das erst aufgehoben werden mußte. Dieser Schleier vor der Natur ist der Mythus und die Stimmung, die antikisierende, panische, dionysische oder apollinische Allbelebung der Goethe oder Hölderlin und die christliche Allbeseelung der Klopstock, Novalis, Tieck, Eichendorff, Lenau.

Vielleicht läßt Georges »Natur« sich am besten verdeutlichen, indem man sie zunächst abgrenzt gegen die bisher geläufigen »Natur«-erlebnisse der Neueren, denen allen ein Symptom gemein ist: der Riß zwischen Natur und Einzelseele. Derselbe Zwiespalt zwischen Alltag und gehobenem Einzelaugenblick aus dem die gesamte neuere Erlebnislyrik entsteht und wodurch sie sich von der antiken, dem Ausdruck einer dauernden Feier unterscheidet (s. S. 63), bestimmt auch [126] das Verhältnis der großen deutschen Lyriker vor George zur Natur, und sein Jenseits dieses Zwiespaltes gibt seiner Naturdichtung ihre eigene Stelle. Der junge Goethe empfängt die Natur als ein Gesamt von Lebenskräften in der eigenen Seele und drückt ihre Wirkung aus mittels der sinnlichen Bilder die ihm jeweils begegnen: die Landschaften werden Formen der durch die Naturkräfte erregten Seelenzustände. Die Natur, ein vormenschliches Werden, wird im Dichter menschliches Gefühl und erscheint als sinnlich-beseelter Raum (der beim späteren Goethe sich gegenüber dem Gefühl immer mehr verselbständigt). Dies ist der eine Grundtypus deutscher Naturdichtung geworden, den man den anthropomorphen Pantheismus nennen könnte. Seine höchste Steigerung ist Hölderlin: er hat die Kräfte die Goethe noch durch menschlich beseelte Landschaft vermittelt zu Göttern verdichtet und so aus der Natur einen Seelen-olymp geschaffen, der dem antiken Sinnen-olymp verwandt erscheint, aber durch die Erfahrungen der christlichen Jahrhunderte geistiger und einsamer geworden ist. Goethe und Hölderlin erfahren beide die Natur unmittelbar und werden ihrer eigenen Seele erst gewahr durch diese Erfahrung, durch diese Sympathie mit dem All: die Natur ist das Sinnbild oder der Mythus des naturgeborenen Seelengeschehens – beseeltes Heidentum.

Demgegenüber steht das Naturgefühl das in Klopstock zuerst Stimme gewann. Hier ist die Seele wach durch das Er-lebnis der supranaturalen Gottheit, und die sichtbare Natur, die Landschaft, wird lediglich eine Grenze, ein Schmuck oder Beweis für die Erhebung des betenden Gemüts: sie hat keinen Eigenwert, sondern empfängt ihn mittelbar durch den Gedanken an ihren Schöpfer oder an ihre Empfängerin, die gotterfüllte Seele. Sie ist nicht mehr die Fülle des Seelengeschehens, sondern Stimmung, d.h. eine Farbe oder Eigenschaft der von Gott gefüllten und bewegten Seele. Diesen Typus steigert die Romantik, nur daß hier der supra-naturale Gott mit dem unbedingten, aber ebenfalls supra-naturalen Ich (sei es als Geist, Seele, Phantasie, Wille gefaßt) eines und die Natur bei einigen Romantikern aus einem bloßen Schmuck zum zentralen Gleichnis der Anbetung wird. Sie bleibt aber Gleichnis des Ich, Gleichnis eines supra-naturalen Seins, nicht wie bei Goethe und Hölderlin Ausdruck [127] oder Form eines naturhaften Seins – versinnlichtes Christentum, theomorpher oder amorpher Panpsychismus, wenn man solche Formeln mag. Die Seele wird bei Goethe und Hölderlin Leben, das heißt innere Natur. Das Leben wird bei Novalis, Tieck, Eichendorff Seele, das heißt naturloses Innen. Die romantischen Naturbilder sind geisternde Scheine, unwirkliche Spiegelungen naturleerer, aber natursüchtiger Seelen. Die Landschaften Goethes und Hölderlins sind Räume und Formen naturgefüllter, naturgewirkter Seelen. Zwischen beiden steht Jean Paul, der eben aus der Mischung des mythischen und des stimmungsartigen Naturgefühls im Ringen zwischen Seele und Natur die reichsten Farben, Stauungen, Schmiegungen gewann und beide aneinander steigerte und reizte.

In beiden Fällen entsteht das Naturgefühl aus der Ehe zwischen Natur und Seele, einerlei welche empfängt und welche gibt. Naturmythus wie Landschaftsstimmung setzen Natur und Seele aus-einander, oder ineinander um: sie sind Ergebnisse eines Werdens, eines Aktes, Zeichen einer Bewegung von Natur zu Seele oder umgekehrt. Bei George besteht dies ursprüngliche Auseinander ebensowenig wie in der Antike: die Natur und die Seele sind dort nicht zwei verschiedene Mächte die sich mischen, einen, bewältigen oder scheiden können, sondern zwei verschiedene Zustände, besser zwei Ansichten desselben Wesens oder zwei Attribute derselben Substanz. Erst das Christentum hat die Menschenseele aus dem Kosmos herausgerissen und sie als Gott oder Geist der fortab entgötterten Natur gegenüber gestellt, derart daß wir von da an in der vorplatonischen Antike eine »Natur für sich« sehen, welche die Antike gar nicht kannte: der Mensch war nur die faßlichste Form der Natur, jeder Leib war Seele, die Götter waren beseelte Naturbilder – d.h. verkörperte Lebenskräfte, und »Natur« war nur das räumliche, in verschiedenen Graden bis zum schönen Leib, bis zum Gott hinauf sinnlich faßbar gemachte Leben: der Kosmos. Ein seelisches Innen als sinnliches Außen zu sehen bedurfte es keines »Erlebnisses«, keines Aktes .. es war die gegebene Seinsart daß Seele nur als Leib, Raum, Landschaft, Gott lebte und erschien. Homer oder Äschylus hätte nicht begriffen wie eine Landschaft einen Gemütszustand ausdrücke .. sie war ein Lebenszustand, aber ihr eigener, nicht der eines Erlebers. Kein antiker Dichter [128] konnte auf den Gedanken kommen Landschaften zu beseelen oder Gemütszustände zu verkörpern! Erst moderne Ästhetiker lesen dergleichen ins Altertum hinein. Die Alten sahen Leiber nur lebendig, also beseelt, und Leben, also auch Seele, nur leibhaft .. sie zeigten was war als seiend, aber sie »erlebten« nicht etwas Seelisches im Sichtbaren oder umgekehrt.

Und zwar hat die Einheit der klassischen Antike, der Kosmos, durchaus die Farbe dessen, was wir heute die »Natur« nennen, nachdem diese Scheidung nun einmal unumgänglich ist. Es ist ein Kosmos den Pan regiert: das Leben als blutliche Fülle – nicht Psyche: das Leben als seelische Kraft .. oder vielmehr das gesamte Leben, auch die seelischen Kräfte wurden nur panisch erfahren. Das bedeutet nicht daß sie umgesetzt oder unterdrückt wurden, sondern unter bestimmten Formen erschienen. [Die Erscheinung einer Kraft ist sehr verschieden von dem modernen »Erlebnis«. Das Erlebnis setzt eine Sonder-seele voraus die erlebt, die Erscheinung Menschenorgane denen erscheint. Erleben ist ein subjektiver Akt .. Erscheinen ein objektives Geschehen .. Erlebnis eine Beziehung, Erscheinung ein Ding.]

Wenn wir bei George nun nach dem christlichen Zwiespalt zwischen Natur und Seele wieder die Einheit eines Kosmos wiederfinden worin beide nicht nur zusammen, sondern eines sind, so regiert im Jahr der Seele, das diese Einheit dichterisch darstellt, im Gegensatz zur antiken »Natur«-poesie, allerdings nicht Pan, sondern Psyche. Die Natur zu der George in diesem Stadium seines Lebens gereift oder, was dasselbe heißt, die in ihm jetzt erwacht, verwirklicht ist, dieses All von Lebenszuständen erscheint unter einem seelischen Gesetz, nicht unter einem blutlichen Trieb. Antik ist dabei das Wie, die unbedingte Einheit des Menschen mit der Natur, mit dem Sinnenganzen. Christlich mag man daran finden ein Was, nämlich den Eigenwert der Menschenseele, die nun so hochgesteigert ist, daß sie als Gesetz der Natur erscheinen kann – während sie im Heidentum ihr Gesetz von Pan mitempfing. Aber die Seele ist, sehr unchristlich, der Natur immanent und nicht transzendent: sie ist Naturseele, nicht Geistseele. Von dem Goethisch-Hölderlinschen Pantheismus wiederum unterscheidet sie (zu schweigen vom persönlichen Sinn und Verhalten) [129] daß sie der Natur nicht eingeht, sondern inne-ist, also nicht durch einen Akt die Einheit erstrebt und erlebt, sondern als einen Zustand zeigt und darlebt.

Darum heißt das Buch: Das Jahr der Seele. Dieser Titel schon verkündet das objektivste Geschehen, den zeitlichen Ablauf der Naturvorgänge, als das innere Leben eines Menschen – nicht um die Natur zu ver-ichen, auch nicht um das Ich zu naturieren, sondern weil diesem Dichter die Natur als Seele, als innere Kraft und heimlichster Zustand, und die Seele als Natur, d.h. als sinnliche Schau und gesetzlicher Wandel, gegeben ist. Die Einheit, nicht das stimmungshafte Wechselspiel beider, beherrscht dies Buch. Weder enthält es Landschaften, gefärbt von einem traurigen oder fröhlichen Gemüt, wie die Byrons, noch Gemütszustände, vergegenständlicht in Gärten oder Wäldern, nach Art Mörikes oder Lenaus, noch Beschreibungen wie die Stifters aus Blick- und Mal-freude .. nicht beseelte Landschaften oder Landschafts-Erlebnisse: sondern eine Seele die durch Landschaften ihr Sein und Schicksal verwirklicht .. die als Natur erscheint. Die Seele die hier spricht ist nirgends ein bloß erschüttertes Ich, eine willkürlich wallende Person, sondern ein Gesetz das wohl eines menschlichen Trägers bedarf um zu sprechen, aber wenn auch individuell, doch so wenig individualistisch, wenn auch Subjekt, genau so wenig subjektiv ist wie der Baum, die Welle, das Wetter .. wie Pflanzen und Tiere ist sie willkürloser Träger eines ewigen Wachstums-Gesetzes, das nur walten kann durch und an wirklichen einmaligen Gewächsen. Das »Jahr« das wir hier mitwandeln ist weder ein äußerer Ablauf von Naturvorgängen noch eine landschaftsmalerische Programm-musik zu einem Herzenstext, sondern die Naturform des Seelenschicksals, der Raum innerer Zeit, ein sichtbares Gesetz des Wandels.

Will man die eine Substanz wovon das »Jahr« (die Natur) und die »Seele« die beiden Attribute sind – den Kosmos wovon sie die beiden Anschauungsformen sind – mit einem gemeinsamen Namen bezeichnen, so nenne man sie in einem prägnanten Sinn das Schicksal: freilich ein Schicksal das weder Ananke noch Moira, eherne Not und Schickung, noch Tyche, persönlicher Zufall, Glück oder Unglück ist (mit den entsprechenden Gemütslagen Glückseligkeit oder [130] Unseligkeit) sondern innere Bestimmung. Sie haftet an dem einmaligen Charakter, er hat sie nicht nur, er west sie zugleich, und erst durch ihn kann sie offenbar und wirksam werden. Aber sie bleibt die Inkarnation des überpersönlichen Gesetzes, nicht der Ausfluß persönlicher Eigenschaften. Am nächsten kommt diesem »Schicksal« die Idee desDaimon wie Goethe sie gefaßt hat in dem orphischen Ur-wort: nur daß Goethes Daimon mehr das Werden der Entelechie regt und Georges Schicksal mehr ihr Sein und Tun beherrscht. Georges ganzer Daseinskreis ist von vornherein in sein Schicksal getaucht, wahrend Goethes Daimon von Natur und Seele unabhängig waltet und sie mehr als Spielraum und Kampfplatz behandelt denn als Gesetz und Sinn durchdringt. Wie Natur und Seele in sich bei George eines sind, so sind sie auch eines mit dem Schicksal: jede Stunde des Jahres erscheint im Jahr der Seele zugleich als Naturvorgang, als Seelenzustand und als Schicksalsblick oder Kairos. Landschaft, Mensch und Geschehen sind nur drei Dimensionen desselben Seins. Dies gab es vor George noch nicht.

Durch diese Dreigesichtigkeit ist das »Jahr der Seele« eines der geheimnisvollsten Bücher geworden, und der Reiz den es selbst auf Durchschnittsleser vor anderen Werken Georges ausübt kommt großenteils daher daß man hier statt der Gestalt und des Gesetzes, mit ihrem festen Anspruch und ihrer unnahbaren Gedrungenheit, ein unverbindliches Element, Stimmung und Musik zu finden glaubte, eine Rückkehr in die eigentliche »Lyrik«, den holden Gemütsdämmer wo sich der deutsche Leser am wohlsten fühlt. Während überall in Georges ersten Büchern sein Wille und seine Schau völlig in das Sprachgebild gebannt war, fremd, rund und ausschließend, während seine späteren sein Gesetz und seinen Gott offenbaren, zwar vieldeutig, doch eingestaltig, scheint im Jahr der Seele der eigentliche Gehalt nicht in den Aussagen und Bildern zu liegen, sondern dahinter oder dazwischen. Der beladene Ton, die mit allen Sinnenzaubern getränkte Sprache, die rätselhafte Schwere und undurchsichtige Tastbarkeit jedes Verses, die samtene Pracht und zugleich traumartige Schwebe, die weiten Hintergründe bei dichter Fülle, die Heimlichkeit und zugleich Ferne – all das verriet die Gegenwart eines Lebens hinter den faßbaren Worten, beunruhigte und lockte auch solche [131] hinter die Erscheinung zu greifen die sonst mit Georges Erscheinung nichts anzufangen wußten. Der Deutsche liebt ja in jedem Hier das ihn bindet noch das Dort das ihn schweifen läßt und den Spielraum für die Suche nach dem Andern. Wer hier nach alter Gewohnheit Bekenntnisse und Erlebnisse las, lugte durch die allzustillen Oberflächen in die Tiefe, ungewiß wo er den Grund zu suchen habe.

Der Grund dieses Werkes liegt nicht so sehr wie bei den anderen Dichtungen Georges in ihrer Erscheinung selbst, worin sein jeweiliger Gesamtgehalt Sprache wird, sondern in dem Schweigen wovon es umlagert ist und wovon die einzelnen Seelen-, Natur- und Schicksalsworte nur zeugen wie die Wellen von einem Meer. Denn jene Einheit von Natur Schicksal Seele war nicht als menschliche Gestalt unmittelbar zu geben, wie (in den andern Büchern) die Seelenspannung, der Geschichtsgehalt, das Gesetz oder die Gottheit des Dichters – weil mindestens eine Dimension das Menschentum überschreitet: die ursprüngliche Natur. Nur die Natur hat außermenschliche Inhalte. Die Geschichte womit George bisher zu tun hatte war von vornherein menschlich. Jetzt hatte George das erstemal vormenschliches Sein zu vermenschlichen. Zur Verleibung des Gottes gehört auch die Bindung der Urstoffe ins gestaltige Menschtum. War diese gelungen, war auch die Natur in das Menschgesetz und ins leibhaft gestaltigeWort gebannt, so gab es fortan für George keine Unwelt mehr, so konnte er Gott und Welt als Gestalt, als Kosmos fassen, so war die Wirklichkeit all seiner Bilder gesichert.

Die Vermenschlichung der Natur ist erreicht wo sie Schicksal und Seele wird. Aber das Gesetz dieser beiden Menschzustände Georges ist Wandel und Tun .. das Gesetz der Natur ist Werden. Um die Natur zu vermenschlichen mußte er ihr Werden in Wandel und Tun bannen. Drum ist seine Natur im Jahr der Seele nicht, wie seine andren Welten, Sinnbild und Ausdruck ihres eigenen Gesetzes, sondern eines ihr von vornherein fremden, nur-menschlichen, das sich ihrermagisch bedient, um sich zu bekunden, und durch das ihr eigenes vormenschliches Gesetz dunkel hindurchscheint. Unter Magie verstehen wir die Bannung außermenschlicher Kräfte (über- oder untermenschlicher) in menschliche Macht oder Form. Die Natur vermenschlichen heißt sich in sie einfühlen oder siemagisch bezwingen: [132] das erste ist Romantik und gibt der Natur nicht eine menschliche Form, sondern einen menschlichen Sinn – oder man unterstellt, wie Goethe, den Menschen dem allgemeinen Naturgesetz: dem Werden, das zwar auch-menschlich, aber nicht wie Georges Schicksals- und Seelengesetz nur-menschlich ist. Hier liegt jener Grundunterschied zwischen Goethes Natur und der Georges. Goethe sieht den Menschen als ein Werde-wesen wie die Pflanze .. George sieht sogar die Pflanze, das Wachstum und Welktum, als ein Wandel- und Tat-wesen, als ein Schicksals- und Seelentum. Die ganze Natura, die Werdende, in Schicksal- und Seelenbilder zu bannen, das ist Georges Sprach-magie. Das ist heidnisch katholisches Erbe: George tut durch die Sprachweihe mit der Natur was die Kirche durch die Sakramente, zumal durch die Messe, also durch rhythmische Riten und Akte, mit Gott tut. Er zieht kraft menschlichen Zaubers das Außermenschliche in seine Gewalt. Der magische Dichter weiht also das kosmische Werden, das Jahr der Natur, zu einem menschlichen Akt, zu einem heiligen Ritus, zu einem Jahr der Seele und des Schicksals. Die Wachstums- und Welktumszustände sind bei ihm verzaubert zu Schicksals- und Seelenerscheinung, und nur hier vergegenwärtigt er Menschtum mit außermenschlichem Stoff. George will den Menschen erneuern durch Zusammenrufung aller Lebenskräfte, der menschlichen, der geschichtlichen, der natürlichen, der göttlichen. Von diesen setzen alle außer der Natur den Menschen bereits voraus, auch Gott: denn »Gott ist ein Schemen wenn ihr selbst vermürbt«. Der Mensch ist zwar – als ein Werden – auch Natur, aber die Natur nicht Mensch. Durch den Kairos erst wird das Geschehen zum Sein, zum menschlichen Augen-Blick: er bannt auch das Werden der Natur in nur menschliche Seele und Schicksal.

Für George ist die Natur keine Um-setzung seelischer Erregungen: von der einfühlenden Sympathie die aus der Natur einen erweiterten Menschen macht oder aus dem Menschen eine erlebnisfähige Natur .. die wertherisch den Werde- und Sterbedrang jedes Lebewesens vom Gräslein und Käferchen bis zum Allgott hinauf im pochenden Herzen mitspürt oder die unsichtbaren Regungen eines All-Körpers, einer All-Seele als menschliche Regungen geberdet, nachschwingt, nachspielt, von dem Wechselspiel zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos,[133] das den Zauber aller Landschaftsdichtung seit Klopstock ausmacht, ist im Jahr der Seele nichts. Wie könnte auch da Wechselspiel sein wo Einheit ist! Dagegen hat kein Deutscher die erscheinende Natur, sei sie ruhendes Bild, als Landschaft, oder bewegter Vorgang, als Geschehen, so durchaus wahrgenommen und gekündet wie George. Sowohl ihre Umrisse, Farben und Formen, Geräusche und Stummheiten, ihr Flimmern, Zucken und Wehen .. ihre sämtlichen Sinnlichkeiten vom Fallen der Früchte und dem Knirschen des Kieses, dem Picken der Vögel und dem Nicken der Blumen bis zum Sausen der Stürme, von den Farben der Wespen bis zu den Beleuchtungsmassen des Spätherbstes und dem Sternenhimmel, als auch der sonst unmerkliche Gang der Atmosphäre durch das ganze Jahr, das Geheimgesicht (d.h. nicht: Hinter-sinn) und Zwischentreiben der Natur sind ihm offenbar und sagbar .. aber nicht als etwas Andres, sondern als sie selbst.

Er gibt nirgends Beschreibung von Einzelheiten, Stifterisch oder Jean Paulisch, nirgends Gemütsbeteiligung, die etwa das »Innere« im Äußeren fühlt, »durch die Oberfläche dringt«, sondern das einmalige Ganze, die Erscheinung des Kairos, die zugleich Gesicht, Geschick und Sinn enthält. Nirgends greift er mit der Seele hinter die Phänomene (wie die Romantiker) und Phänomen ist ihm das Sein und das Geschehen, nicht das Werden, nicht das »formumformende Weben«. Die Seele selbst, das Schicksal selbst ist ihm ganz Erscheinung, das heißt nicht »Schein«, Trug, Wahn, Maja, sondern Menschform des wirklichsten Seins, das »Wunderwerk der Endlichkeit«, mehr als alle noch so erhabenen Hintergedanken der Sinn- und Wertdeuter und der immer um-setzenden Tieflinge. Wie kein zweiter seit Shakespeare lebt er die ganze Kraft und Fülle seines Daseins ganz im jeweils wahrnehmbaren, erscheinenden, kündbaren Schicksalsaugenblick der Seele. Der Grund der Erscheinung erfüllt ihm die Erscheinung, die Dinge ihr eigenes Wesen, die Bilder ihre eigene Wirklichkeit, ohne eine fremde zu meinen oder zu versprechen. Die Schau ist für ihn der Sinn des Geschauten, die Idee selbst Erscheinung, die Gestalt selbst der Inhalt des Gestalteten wie des Gestaltenden. Die Hinterwelt ist für ihn eines mit der Vorderwelt, nämlich seelisch .. die Vorderwelt eines mit der Hinterwelt, nämlich sinnlich. Seine [134] ganze Geheimlehre lebt in seinem eingeweihten Leibe. Nur und gerade deshalb konnte er den Kosmos als solchen sehen, die Natur als ein Ganzes von Seelen- und Schicksals-Augen-Blicken eigener Fülle, statt eines (empirischen) Nebeneinanders von Sichtbarkeiten oder (intuitiven) Ineinanders von Fühlbarkeiten oder (metaphysischen) Hintereinanders von Bedeutungen oder (mystischen) Miteinanders von sichtbaren und fühlbaren Bedeutungen. Das einfachste und doch tiefste und schwerste Wissen hat dieser Dichter auch der Natur gegenüber: nämlich daß die wirklichen Dinge alle erscheinen, und daß Erscheinungen sie selbst sind, einerlei was sie bedeuten können. Seit den Griechen hat man es vergessen: der Leib ist Gott. Was Gott bedeutet ist eine Frage, aber keine Wirklichkeit.

George ist bis in alle Poren getränkt mit »Figur«. Von Kind auf tat er keinen Schritt ohne wahrzunehmen, und das Wahrgenommene ward ihm nicht bloß Eindruck oder Gegen-stand, sondern Leib und Seele. Nur einem solchen wird das sinnbildliche Schauen, das unreflektierte Ineinsschauen von Wesen, Art, Gewicht jeder Erscheinung und jedes Aussehens .. und nur wer solche sinnbildliche Schau magisch sagen, dem wesenhaftigen Urwort einbannen kann, so daß sie als Lautgeberde, als Lautbild unreflektiert wieder heraufzaubert was als Augen-Blick ihm erschienen, nur der konnte dies Jahr der Seele erfahren und ver-ewigen.

Schauen ist ja nicht bloß Bemerken, Beobachten, sondern, wie es das deutsche Wort tiefsinnig sagt,wahrnehmen, das heißt gerade: Sein in der Erscheinung fassen, Idee haben, Wirklichkeit mit dem Auge aufnehmen, Wahrheit empfangen als das Offenbare. Schauen ist aber auch nicht Hineingucken oder Herausgucken oder gar Dahintergucken. Es gibt kein Dahinter: Keiner schaut wirklich und Wirkliches der schon seine Reflexion »im Auge hat« – gleichviel ob empirische Reflexion oder meta-physische oder mystische. Wirklich schauen, wahrnehmen, heißt weder die Erscheinung leugnen wie der Hinter-weltler (Metaphysiker) noch die Idee leugnen wie der Vorderweltler (Empiriker) noch beide vertauschen oder mischen wie der Innenweltler (Mystiker), sondern die Erscheinung als Idee, als ewiges Urbild unmittelbar fassen, aber nicht Urbild eines andren, sondern ihrer selbst. Der gewöhnliche Beobachter sieht die Erscheinung entweder [135] getrübt durch seine Brillen, Reflexionen, oder bedingt durch ihr Vor und Nach, Um und Neben, durch ihre Relationen, nicht in ihrer Sinnenfülle, die Seinsfulle ist .. und der ungewöhnliche Denker will sie meist nicht sehen, sondern deuten, erkennen, d.h. nicht sie sehen, sondern etwas darin, dahinter oder darüber. Wir können uns kaum die Unmittelbarkeit des rundumfassenden Augen-Blicks vorstellen die nötig war, um gewisse Verse des Jahrs der Seele zu dichten, weil unser Denken (und damit unsre Rede) noch kaum reif ist für die Bezeichnung dieser Sinnenhaftigkeit: wir haben immer noch zuviel empirische und metaphysische Kategorien dafür in unserer Sprache und werden deshalb leicht nach einer der beiden Seiten mißverstanden, zumal Schicksal und Seele bei uns erlebte oder gedachte Mächte, d.h. Denkformen sind, bei George wahrgenommene Seinsart.

Nur wem wahrgenommenes Da-Sein wirklich ist, die Erscheinung volles Wesen, nicht Bedeutung oder Sinn, und sei es das Werden, der kann so vollkommen wahr-nehmen, so ganz im Bann, im Bilde sein. Wer Sinn sucht der blickt schon hinaus, der zerreißt schon den Bann, dessen Wort hat schon nicht den Zauber des Ganz-Hier oder des Ewigen Einmal, der deutet schon um .. er hat vielleicht ein Mehr oder Tiefer oder Höher als das Sein, aber das Sein hat er nicht ganz oder es hat ihn nicht ganz. Das Werden kann man nicht unmittelbar wahrnehmen als solches, nicht schauen (um die Zentralkraft des Wahrnehmens zu nennen), sondern man kann es aus Erscheinungen, aus Bildern, aus Seinsformen und -zuständen erschließen, erdeuten (wie Heraklit) oder man kann es unmittelbar erleben, innerlich mit-werden (wie Goethe und nach ihm Nietzsche oder Bergson). Doch dabei opfert man die unmittel-bare Schau, das Sein des Augen-Blicks. Nicht daß ein Werde-mensch von vornherein der eindringlichen Schau unfähig wäre: aber nie kann er von der Schau als solcher schon durchaus bis zum Rand erfüllt sein, nie den Augenblick so besitzen wie Faust es ersehnt, nie ganz im Zauber des Seins gebannt sein. Goethe hat diese faustische Not, das vergebliche »Verweile doch« tiefer gefühlt als je ein Mensch, gerade weil er der Schaufähigste und Schaubedürftigste unter allen Werdern war. Er hat aus dieser Not, einer urdeutschen Not, seine Tugend gemacht, und für das Werden, das er nicht wahrnahm, nur erlebte, die schönsten Gleichnisse [136] aus dem wahrnehmbaren Sein gefunden. Eine Not blieb es auch ihm, er hat nie als Dichter die Magie des in sich ewigen Augenblicks ganz in Sprache gebannt, sondern den vergänglichen zum Gleichnis der Ewigkeit, das Sein zum Träger des Werdens gemacht. In jedem seiner Augenblicke steckt das Werden, das ihn trägt, aber auch sprengt: keiner ist Ewigkeit, er bedeutet sie bloß.

George kennt die Not der Vergänglichkeit nicht, weil er keine Ewigkeit als endlose Dauer kennt. Er kennt Vergängnis: das ist ein Zustand, ein wahrnehmbarer Seelen- oder Schicksals-augenblick, nicht eine erlebbare Funktion oder Eigenschaft. Ihm ist das Sein wieder ganz wirklich, ganz erfüllt, ganz es selbst, ganz ewig, ganz Erscheinung, ganz magischer Augenblick, ganz Wahrnehmung, ganz Schau- Wesen und zaubervoll besessenes Wort. Auch die Natura, das Werden, hat er zurückgebannt ins ewige gegenwärtige, d.h. augenblickliche Sein, Da-Sein. Sein Kairos macht das Naturgeschehen, das wahrnehmbare (nicht wie das Natur-werden erlebbare) zum Sein, zur Erscheinung, zum menschlichen Augen-Blick, und das Jahr der Seele ist das Wort dieses Zaubers. Damit ist das unbedingte vollständige Da-Sein der deutschen Schau und Sprache zurückerobert worden. Alle großen Deutschen haben mindestens seit Luther das Sein entweder zerlöst in irgendeinen Sinn (Gott, Geist oder wie immer) oder umgesetzt in ein Werden. Dadurch wurde dieErscheinung und ihr Grund, der Leib, wenn nicht entwertet, so doch entwest, der Mensch ent-hoben und ent-bunden seiner Gegenwart, indem man ihm unter tausend Verkleidungen sein Hier entrückte .. die wahrnehmbare Welt wurde entleert und verdünnt zu einer Schein- oder Innen- oder Überwelt.

Ein Mißverständnis sei abgewehrt: wenn wir die Dichtung Georges gefüllter, gebannter nennen, weil er ein Sein wahrnehme, nicht ein Werden erlebe, so ist damit über die Wahrheit beider Weltanschauungen an sich, über ihren Glaubenswert gar nichts ausgesagt. Auch weiß ich daß »Sein« genau so sehr Abstraktion ist wie »Werden«. Unser Fachwort »Sein« enthält nicht mehr oder wahreres Leben als unser Fachwort »Werden«. Aber die seinsgläubige Lebensgesinnung, die uns jene Abstraktion »Sein« erst ermöglicht, ist wirklich und unterscheidbar von der werdegläubigen .. und für den Dichter [137] den Künstler, den Gestalter bedeutet – gleichviel was ihr Wahrheits-und Glaubensgehalt, ihr sittlicher Wert sein mag – die Seinsschau die gemäßere Form den wahrnehmbaren Augenblick ganz zu fassen und zu füllen. Sie ist für den Dichter gleichsam eine fruchtbarere »Arbeitshypothese« als die Werdeschau – gleichsam: denn sie ist ein Blutszwang, keine Arbeitshypothese. Aber wergestalten will bedarf der Gestalt und die ist unmittelbar nur als Sein wahr-zunehmen .. das Werden ist schon eine Umsetzung.

Wer also primär Werden erlebt, ist als Gestalter – nur als solcher – im Nachteil gegenüber dem der »Sein« wahrnimmt. Ein Maler kann mit der Werdeschau überhaupt nichts anfangen .. ein Dichter kann sie bei der Allbedeutungskraft der Sprache zwar gleichnishaft versinnbilden, aber nicht unmittelbar und nicht magisch: denn die Seins-Gleichnisse, welche Werden bedeuten, können nicht zaubern und bannen. Insofern hat allerdings die Sprache der Seinsdichter, die ganz in ihrem jeweils wahrgenommenen Seins-Augenblick leben, größere Lebensdichte, Gegenwart, Magie, als die der Werdensdichter, denen ihr noch so wirklich gesehenes Sein wegdeutet auf etwas darin oder dahinter. Nur der Kairos-mensch, der Seins-gewahrer ist völlig inne seinem Da-sein. Denn freilich nur der leibhaftige Augenblick der Menschen hat volles Da-sein. Wie das Werden ist auch die »Ewigkeit« schon eine Umdeutung, ein Draußen, ein Wo-anders, und wer sich nicht im Augenblick als Da-sein ewig darlebt der erfährt Ewigkeit nicht wirklich, der kann sie denken, glauben, hoffen, wissen, aber nicht wahrnehmen noch zaubern. »Was ihr heut nicht leben könnt wird nie« .. jedes Leben ist nur Gegenwart .. jede Zukunft ist nur ein Projektion dessen was schon Da-sein hat.

Daß jeder Augenblick und nur der Augenblick ewig ist hebt die Kontinuität und das Gesetz des Charakters nicht auf, das in Augenblicken ganz lebt. Denn eben dies Gesetz des Charakters befähigt ja erst einen Menschen im Augenblick zu leben, und jeder seiner Augenblicke ist die Vergegenwärtigung und damit zugleich Form seines Charakters. Dies Gesetz ist nur eines, wie jeder Mensch nur ein Leben hat, aber es hat vielerlei Anwendungen und Erscheinungen: vom dumpfsten tierischen Trieb bis zur hellsten Weisheit, von der Gangart und Handschrift, vom Geschmack in Kost und Tracht bis [138] zur Wahl der Freunde und Lieben hat es unzählige Äußerungen, auf jeder Altersstufe einen anderen Grad der Helle, einen anderen Wirkungsraum von Augenblicken, einen an deren Seelen- und Schickssalsstoff.

Die einzelnen Augenblicke des Jahrs der Seele sind schwerer auf eine menschliche Einheit zu bringen als andere Werke Georges, eben weil in ihnen eine Seinsart mitschwingt, die menschlich immer nur umschrieben, aber nicht ausgedrückt werden kann: die Natur. Naturstimmungen oder Naturschilderungen sind nicht die Natur die im Jahr der Seele Gedicht geworden ist. So wenig wir die Idee einer Herbstlandschaft fassen, wenn wir unsere Herbstzustände – Schwermut oder Sehnen – aussprechen, oder ihre Farben und Massen, die Herbstgegenstände ausmalen, so wenig faßt man die Idee des Jahrs der Seele, wenn man die einzelnen Gesichte auf Stimmungen, Landschaften oder Vorgänge zurückführt. Man kann eine Idee des Algabal nennen: eine menschliche Spannung in einer menschlichen Haltung – Herrschertum, Priestertum. Hirten-, Ritters- und Kalifen-schicksale sind Menschenschicksale und als solche benennbar, denkbar. Im Teppich des Lebens ist das Gesetz selbst schon als Geist, im Siebenten Ring als Heiland, im Stern des Bundes als Lehre und Reich offenbar – lauter ursprüngliche Menschenformen, und daher Menschenformeln zugänglich. Man kann sagen, dies und dies erscheint, geschient, wirkt oder gilt in diesem Werk, und wenn man damit es auch nicht erschöpft, so kann man es doch deuten, tiefer oder flacher, ohne es umzudeuten, d.h. zu fälschen .. man kann ihm Sinn geben. Man nehme aber im Jahr der Seele etwa folgendes Gedicht:


Wir schreiten auf und ab im reichen flitter
Des buchenganges beinah bis zum tore
Und sehen außen in dem feld vom gitter
Den mandelbaum zum zweitenmal im flore.
Wir suchen nach den schattenfreien bänken
Dort wo uns niemals fremde stimmen scheuchten.
In träumen unsre arme sich verschränken.
Wir laben uns am langen milden leuchten
Wir fühlen dankbar wie zu leisem brausen
Von wipfeln strahlenspuren auf uns tropfen
[139]
Und blicken nur und horchen wenn in pausen
Die reifen fruchte an den boden klopfen.

Sagt man hier: das ist eine Parklandschaft, so hat man nicht einmal den Begriff gefaßt, denn es ist zugleich das augenblickliche Leben zweier Seelen in dieser Stunde eben dieser unwiederbringlichen Parklandschaft. Sagt man, es ist der Gang eines Liebespaars im spätsommerlichen Park, so unterschlägt man die eigentliche Stunde, den besonderen Ort. Nennt man es die satte Herbststimmung eines Liebespaars, so vergißt man die volle runde Sichtbarkeit und Gegenwart des Natur-Schicksal- und Seelenraums. Es ist keine Stimmung: es ist Herbst so gut wie der Naturherbst selber. Stimmung ist etwa Goethes Herbstgefühl: »Fetter grüne, du Laub« – da ist das Gefühl das ein Herbst-anblick erregt wirklich das Motiv und das Herz des Gedichts. Wie bei Goethe das Herbstgefühl das völlig eigene und besondere dieser einmaligen Goethischen Stunde ist, so ist bei George nichtder Herbst, sondern seiner, eben dieser, einmal gesehen, unwiederholbar, dieser unersetzliche Herbst-augenblick, mit diesem einzigen Mandelbaum, diesen nie wieder fallenden Früchten, diesem Glanz auf den nur in dieser Minute schattenfreien Bänken – und all das nicht als Gefühl oder als Beobachtung, als Besonderes eines Allgemeinen, sondern als Einmaliges des Alls, als Nu der Ewigkeit, als Gesicht der Wirklichkeit, als Fülle des Da-Seins im Jetzt und Hier, innen und außen, Leben und Gesicht in einem.

Vor allem: es selbst, nichts anderes als eben das was es sagt und erscheint, ist es auch .. das magische Wort des magischen Augenblicks, das dessen Wirklichkeit west, nicht bloß bedeutet! Dieser Augenblick ist zwar durch einen Menschen gebannt und kann nicht ohne ihn erscheinen, nämlich nicht ohne die Sprache, aber er ist nicht menschlich – weder Menschenwerk wie die Paläste und Feste des Algabal noch Menschenleib wie der des Ringers oder des Saitenspielers, noch Menschensitte wie die Sporenwache, noch Menschengram wie im verlorenen Königtum, noch Menschenleben wie im Teppich, noch Menschengebet wie im Maximin, noch Menschenweisheit wie im Stern des Bundes. All solches schwingt mit in der magischen Sprache worin die Natur gebannt ist, aber das Gebannte selbst ist außermenschlich und entzieht sich jeder nur menschlichen [140] Deutung, hat keinen Menschen sinn. Drum wird das Jahr der Seele die Verzweiflung aller Ausleger bleiben und das immer lockende Wunder sprachlicher Magie. Dies macht es einzig in der Dichtkunst, vergleichbar nur mit den Zaubersprüchen der Naturvölker und vielleicht den Anfängen der Sprache, da der menschliche Laut, die leibliche Geberde, das Schauen der Natur und die Naturkräfte noch keimhaft zusammenlagen und das erste Benennen sie nicht nur anrief, sondern aufrief: da Wort, Schau und Wirklichkeit noch dumpf eins waren. Dasselbe aber ist George im Jahr der Seele auf dem Gipfel der gesamten Bildung, nach der Besonderung des Geistes, nach der Entwurzelung der Seele, in höchstgesteigerter Helle der Person gelungen mit der mannigfaltigsten, töne- und lichterreichsten, durch und durch geläuterten und entfalteten Sprache: die wirklich erfüllten Augen-Blicke des außermenschlichen All-lebens ins Wort zu zaubern.

Nochmals unterscheide ich diesen Zauber von allen anderen Arten der Naturschau. George versinnbildet nicht Natur in menschliche Göttergestalten wie der antike Mythus: dieser bindet nicht die einmaligen Naturaugenblicke, sondern die dauernden Naturkräfte, die zugleich Menschentriebe sind .. George be-seelt auch nicht das Außen mit seinem sympathetischen Innern, wie die neuere Naturlyrik. Er gibt Natur selbst und nicht sein Gefühl oder seine Deutung der Natur. Er gibt keinerlei Vermenschlichung »der« Natur, keinerlei sprachliche Umsetzung oder Umdeutung von Natur-erlebnissen in Bilder oder Stimmungen, sondern er gibt – nur er und nur im Jahr der Seele – einmalige Da-seins-augenblicke unmittelbarer Natur in menschlichen Zaubersprüchen. Will man die lyrische Gattung dieser Gedichte benennen (neben der Hymne, dem götterfeiernden Festgesang .. der Ode, der rhythmischen Ansprache an ein höheres Einzel- oder Gesamt-Du .. dem Lied, dem melodischen Gefühlsausdruck der Gegenwart, .. der Elegie, dem Gefühlsausdruck der Erinnerung), so wären sie Zauber-sprüche, d.h. rhythmischer oder melodischer Aufruf außermenschlichen Seins.

Eben darum ist es unmöglich den Inhalt des Jahrs der Seele zu fassen, Es ist leichter den Sinn desFaust anzugeben als den der Merseburger Sprüche .. denn der liegt nicht in einem Gedanken, nicht in einem Motiv, nicht einmal in der Form – all das sind Menschtümer, [141] nicht Naturtümer. Der »Zauber« ist weg, sobald er genannt wird: Zauber hat keinen Sinn .. nur der Mensch, nicht die Natur hat Sinn und den wir ihr geben ist unser Sinn, nicht ihrer. Sein bannt kein Sinn, nur der Zauber, und der läßt sich nur tun oder leiden, nicht verstehen oder deuten, kurz: er ist er selbst!

Die einzelnen Gedichte des Jahrs der Seele enthalten nun freilich menschliche Schwingungen genug in die man Sinn bringen kann, aber dieser läge nicht in dem Gedicht, sondern davor oder dahinter. Die schöpferische Schwermut worin das Werk empfangen, wovon es umwittert ist, die undurchbrechbare Einsamkeit des eigengesetzlichen Einzelwesens, die Vergängnis im Genuß wären etwa solche Elemente des rein-menschlichen Sinns, die man als »Leitmotive« mißdeuten könnte. Sie sind so wenig das eigentliche Wesen oder auch nur der Sinn des Werks wie das Wort »Sommer« oder »Herbst« der Sinn der einzelnen Sommer- und Herbst-augenblicke mit ihrem Wachstum, ihrem atmosphärischen Schauer, ihrem Licht, Raum und Geschehen und dem Zustand des gerade sie wahrnehmenden Menschen oder Paars ist. Denn genau so wirklich wie diese sinnlosen und zaubervollen Augenblicke, die nicht bloße Örter und Stunden, nicht bloße Vorgänge, nicht bloße Erlebnisse sind, sondern alles zusammen und durch dies Zusammen etwas anderes und mehres, genau so wirklich sind die Gedichte des Jahrs der Seele .. nicht Abbilder, nicht Sinnbilder, sondern sie selbst Das unterscheidet sie von dem sogenannten »magischen Idealismus« des Novalis: dieser ist willkürliche Geisterbeschwörung oder Traumkunst: er ruft ein Vorgestelltes auf, also ein Anderes .. er denkt etwas wirklich was nicht wirklich ist: er ist die Spiegelung der Fata Morgana durch Akt des Bewußtseins. Georges Zaubersprüche, die »nicht nach Willen« sind, sondern nur in der Schicksalsstunde ertönen können, enthalten die Welt die sie rufen, schaffen sie erst durch sich: der Ruf und das Gerufene sind eines .. Name und Genanntes ist dieselbe Wirklichkeit.

Dieser »Zauber« des Jahrs der Seele kann so wenig abgeleitet werden aus Gründen wie ein Sommermorgen oder ein Fluß oder ein Gebirg: er ist da und jeder der überhaupt Sinne und Sprachgefühl hat spürt ihn, auch wo er nicht versteht. Gerade das Jahr der Seele übt diese gefährliche und den gebildeten Menschen tief beunruhigende [142] Gewalt aus, noch ehe man ganz die Worte gefaßt hat. Sie ist nicht die Freude am Richtigen oder Erhabenen, nicht die Ausweitung des Gemüts durch große Gegenstände, nicht tragische Ergriffenheit oder holde Schwermut .. all solche Stimmungen mögen mitschwingen, doch sie erklären nicht den Schauer eines in jedem »Sinn« unverständlichen Gedichts wie dies:


Ihr tratet zu dem herde
Wo alle glut verstarb.
Licht war nur an der erde
Vom monde leichenfarb.
Ihr tauchtet in die aschen
Die bleichen finger ein
Mit suchen tasten haschen –
Wird es noch einmal schein!
Seht was mit trostgeberde
Der mond euch rät:
Tretet weg vom herde.
Es ist worden spät.

Weder was man hier sieht noch hört noch denken kann ist das Geheimnis und doch steckt es auch nicht dahinter. Es ist es selbst: die Gegenwart überseelischer Natur- und Schicksalsmächte in der Seelenwelt durch das augenblickliche Wort – nicht etwa der beredende Nachweis einer sogenannten vierten Dimension, die Reise von Jenseitsdingen in die dritte: das machen Occultisten, die nur umgekehrte Materialisten sind. Wenn man hier von einer vierten Dimension sprechen darf, so ist sie in einem solchen Spruch, er verkündet sie nicht. Die bloße Möglichkeit solcher Gedichte, hinter denen der Mystiker so wenig etwas finden wird wie der Vernünftler in ihnen und der Geschmäckler an ihnen, zeigt an daß die Sinnenwelt in eine neue Dimension tritt und eine neue Schicht des Lebens anhebt, welches seine dichterischen Zaubersprüche vorausruft, eh es ganz sichtbar wird. Zuerst ist immer das schöpferische Wort das Zeichen des neuen Leibes und des neuen Reiches: das Zeichen – nicht der Zeuger! denn wirklich sind sie schon, wenn das Wort möglich ist. Dies Reich ist durchaus von dieser Welt .. nicht eine neue Hinterwelt, sondern [143] die Fülle des Da-seins im all-bindenden, unentrinnbaren und unlösbaren Jetzt und Hier.

Erst vom Teppich des Lebens ab wird diese neue Menschwerdung der »Mächte« worin Natur Schicksal Seele ungeschieden liegen, deutlicher und verliert das rätselhafte Grauen, das besonders die »Traurigen Tänze« erfüllt. Denn hier ist der Dichter noch besessen von nicht-menschlichem Urleben. Diese Besessenheit ist der Grund alles echten Grauens, d.h. alles Seelenschauers. Das bloße Nervengruseln entsteht durch scheinbare oder wirkliche Aufhebung unserer Denk- und Erfahrungsgewohnheit, der Seelenschauer durch den unmittelbaren Anhauch der »Mächte«. Ich finde kein deutlicheres Gesamtwort für diese Stufe des umgestalten Urlebens, das nicht mehr Chaos und noch nicht Mensch, zugleich Natur und Schicksal und Seele als Kraft ist, aber nicht als Gestalt. Im Teppich ist der Zauber vollbracht der sich hier erst vollbringt: die Bannung der Mächte ins Menschtum.

Wenn wir das Jahr der Seele nicht in der Weise »erklären« d.h. aus einem menschlichen Sinn verstehen können wie Georges andere Werke, so gewahren wir doch so gut wie im wirklichen Jahr darin gewisse Witterungen und Beleuchtungen die wir deuten, indem wir sie benennen. Wie auch immer der »Zauber« sich Georges bemächtigt haben mag oder er sich des Zaubers (beides ist dasselbe, nur von der Welt oder vom Selbst aus gesehen) – er haftet doch immer an seiner Person und ihrem So-sein. Wenn er nicht aus ihr kommt, so empfängt er doch von ihr, indem er erscheint, als Dichtung seine Farbe. Durch das ganze Jahr der Seele waltet die Einheit von Natur Seele Schicksal, doch in jedem seiner Kreise schlägt eine andere Tönung dieser vielschillrigen Lebenstrias vor, wie in einem Menschen bald dieser bald jener Einschlag seiner Eltern und Ahnen vor-scheint.

Im ersten Kreis, der den Ablauf eines gelebten Jahres in Landschaftsaugenblicken vergegenwärtigt, schlägt die Farbe der Natur vor .. im zweiten, der Rückschau auf die Erfüllungen und Verzichte, Einsamkeiten und Gemeinschaften des geschlossenen Einzel-Daseins, die Farbe der Seele .. im dritten, der Feier der Geheimnisse und Gewalten unter denen jener Ablauf und dieses Da-Sein steht, die Farbe des Schicksals. Gemeinsam ist den drei Kreisen von dem Charakter des Dichters her die einheitliche Weihe der finstersten wie der strahlendsten [144] Augenblicke, die reife Festlichkeit des – von was auch besessenen – doch immer »sich selbst besitzenden Gemüts«, die stetige Glut und Spannung des bis zum Grunde leidenden und bis in den Grund bejahenden Herzens, das unabdingbare Maß des Ausdrucks an der äußersten Grenze wo ein Schritt in den Tod, ein Gedanke in den Wahnsinn, ein Wort in den Frevel führt. Den drei Kreisen gemeinsam von ihrer Empfängnis her ist die abgründige Trauer, der Schmerz der Welt die aus dem Schlaf heraufgeweckt ist, von Gottes ewiger Brust aus dem tiefsten Grunde losgewirkt, das »schmerzliche Ach« das in Goethes »Wiederfinden« den Schöpfungsakt begleitet, die sternlose Seinsnacht wie sie Michelangelos Geschöpfe umwittert. Und über dem ganzen Werk liegt noch der Flaum seiner besonderen Geburtsstunde – die düstre Innigkeit, Heimlichkeit und Zärtlichkeit der Sinne die zum erstenmal ganz gelöst vom Drängen und Ringen der eigentlichen Bildungskräfte sich einlassen in die heilige Stille der pflanzlichen und atmosphärischen Erde, in das erfüllte Schweigen des menschlosen Seins.

Diesem Grund des ganzen Werks entheben sich dann die Einzelmassen wie die Lokalfarben aus der Atmosphäre, von ihr mitbestimmt, sie mitbestimmend, und doch voll eigenen Glanzes: sie haben die besonderen Ereignisse dieser Lebensstufe in sich aufgenommen und kraft einer unerreichten Sprachverdichtung so restlos »verkocht« wie eine Blume die Säfte aus Boden und Witterung. Nicht anders dürfen wir Georges Tun und Leiden hier suchen, nicht als Bekenntnisse und Erlebnisse, d.h. als reflektiertes Leben – es führt sein un-mittelbares Eigenleben nur durch Farben und Formen der Mächte: Natur Seele Schicksal.

[Nicht oft genug kann der geläufige Irrtum abgewehrt werden, die Mitteilung von Gefühlen wie einem »der Schnabel gewachsen« sei etwas unmittelbares, weil sie das vorderste ist: es ist die Reflexion der nächsten Seelenschicht. Das Unmittelbare liegt in der Mitte, nicht auf der Fläche und nur von der Mitte her reden die innersten Kräfte, die zwar ganz mit persönlichem Leben durchdrungen, aber nie bloß persönliches Leben sind. Ohne Person würden sie nicht reden, aber nicht die Person will aus ihnen reden, sondern sie selbst: die »heilige Stimme«, Gott Natur Seele Schicksal.]

[145] Dies Seelenjahr beginnt mit der »Fülle des Herbsttags«, der seine letzten Blumen und seine reifsten Früchte, seine Farben und Garben geerntet hat, und nachmittaglich lauter und firn ausruht zwischen der Glut des Sommers und den drohenden Novemberstürmen, von der einen noch golden umspielt und durchwärmt, von den andern schon unruhig umwittert. Ein befriedeter Park, mit der Üppigkeit des Wachstums, der Einsamkeit der Weite und der Heimlichkeit des Geheges, worin die Elemente der Schöpfung frei wuchern und spielen dürfen, doch nur für den Menschen und um ihn, dem Pan seine Rechte verlieh: das ist die Mitte dieses Herbstes und seiner schwermutigen Feier, der wissenden Liebe. Der menschliche Träger dieses Herbstes kennt alle Aufschwünge und Fieber der schönen Leidenschaft, und nicht an ihm ist es auf sie zu verzichten, denn das Jahr durchwandelt uns, mit oder ohne unseren Willen. Wir weichen seinen Schickungen nicht aus, sie sind ja nicht unser Weg, sondern unser Gang. Auch das Wissen um die Vergängnis der schönen Leidenschaft (nicht um ihre Vergänglichkeit, d.h. um ihr baldiges Ende, sondern um den Tod in ihrem gegenwärtigen Herzen) das trauervolle Wissen um die Undurchdringlichkeit des bloß menschlichen Du – diese Herbst-Weisheit ist schon eingegangen in Seele, Natur und Schicksal dieser Leidenschaft. Der Herbst entsagt nicht, weil er um den Winter besser weiß als der Mai, und für den Kairos-frommen ist der Winter kein Einwand gegen den Mai und den Herbst. Doch das Vorgefühl des Winters gehört zum Herbst so gut wie seine eigene Süße, ja es ist deren Reiz und Steigerung. Das Gefühl der Grenze rundet erst unsern Raum – so lang wir noch grenzenlose Weite vor uns wähnen, freuen wir uns nicht so am Nächsten, und jedes Nein das uns traurig macht bereichert nur unser gewisses Ja.

Zum erstenmal hat George in den Gedichten »Nach der Lese« diese Schwermut des Wissens um Vergängnis der Leidenschaft geerntet. Nicht mehr die Spannung, nicht der Verlust, nicht die Enttäuschung schafft hier Trauer, sondern die Fülle selbst hegt die Trauer in sich, die Reife selbst kennt ihr tödliches Geheimnis, und der schöne Augenblick glänzt und dunkelt nicht nur vom Stand der Sonne, sondern auch von innen her mit den Farben des Unterganges. Das gilt von der Natur wie von der Seele und vom Schicksal, sie alle drei haben [146] ihren Herbst, d.h. das voll-kommene Dasein, mit dem Licht, dem Gefühl und dem Ereignis der Grenze. Eine neue Art des amor fati oder der Kairos-frommheit wird in solchen Herbstgesängen laut. Bisher war der Herbst entweder die Ernte, ein jubelndes Winzerfest, ein letzter schwellender dionysischer Taumel, oder er war das Welken, der Abschied, die Vergänglichkeit. Er war die Erfüllung des Sommers oder die Verkündung des Winters. In Goethes Herbstbuch, dem Westöstlichen Diwan, ist er eine Spätjugend, ein Aufglühen, ein Nach-Sommer, ja ein Nach-Frühling. Bei Hölderlin ist er dionysisches Vorgefühl des Untergangs, Sprengung der Schalen .. bei Nietzsche halkyonischer Vorgenuß des Todes, güldene Heiterkeit und zumal die Ruhe des Spätnachmittags, die Zeit der seltenen vom stürmischsten Geist am reinsten genossenen Windstille, abermals sein Nicht-Selbst, sein Andres, sein Wider-Spiel. Bei George ist auch der Herbst Gegenwart, die ihr Vorher und Nachher in sich selbst trägt, reiner und ausschließlicher als je früher: die Reife .. weder Welke noch Verzicht noch Genuß noch Sterben, sondern Er-füllung der nun erkannten Zeit- und Raumgrenze.

Grenze ist die Vergängnis, Grenze die Einsamkeit und Grenze das Wissen selbst. Wirksam waren diese Grenzen immer, bald als Seele von innen bindend und hemmend, bald als Schicksal von außen engend und pressend: jetzt erst werden sie gelebt als Natur, Reifezustand, gewachsenes Wissen, innen geläutert und außen umhegt – herbstlicher Tag und herbstlicher Park. Reife als Fülle die endet und als Grenze die erfüllt, vollendet: das ist Georges Herbst – und die Trauer die ihn beglänzt und verdunkelt ist die klaglose Einsamkeit der immer erfüllten und nie von sich selber erlösten, gotthaltigen, aber gottblinden Natur .. sie hat kein Du, auch der Dichter dieses Buchs hat noch nicht sein wahres Du: das worin er hier sich spiegelt nimmt ihn nicht auf, sondern wirft ihn nur wieder zurück auf sich selbst. Das ist der Sinn des Vorworts: »selten sind so sehr wie in diesem buch Ich und Du dieselbe seele«. Das ist die Natur solcher Verse wie die:

Ich zeige euch in der erfüllung das grausamste schicksal und der Schicksalsgrund dieses traurigsten Gedichts:


Dies leid und diese last: zu bannen
Was nah erst war und mein.
[147]
Vergebliches die arme spannen
Nach dem was nur mehr schein.
Dies heilungslose sich betäuben
Mit eitlem nein und kein.
Dies unbegründete sich sträuben.
Dies unabwendbar-sein.
Beklemmendes gefühl der schwere
Auf müdgewordner pein.
Dann dieses dumpfe weh der leere.
O dies mit mir allein!

Die Fülle die keine Füllung außer sich hat, die um sich, an der Grenze, die Leere hat .. deren Du »was nah erst war und mein« zuletzt doch nein und kein wird, diese unabwendbare Einsamkeit ist naturhaft, und wo die Natur Bewußtsein und Sprache, d.h. wo sie Person wird, muß sie so sprechen. George ist hier nur der persönliche Mund des dumpfen Natur-Schmerzes: immer wiederkehrende unvergängliche Vergängnis und unerlösbare Einsamkeit. Das ist seine damalige Stufe.

Was der Herbst als Wissen in sich hegt, das ist der Winter als gelebter Zustand: die Endschaft des ewigen Zirkels von Blühen, Reifen, Welken oder von Erschaffen, Besitzen, Verlieren! Auch hier amor fati: die Grenze selber redet hier, nicht der Begrenzte, und darum ist dieser Abschnitt »Waller im Schnee«, die Winternatur dieser Seele, fast heller ab ihr Herbst. Denn der Herbst fühlt die Grenze als das Andre, der Winter als sein Eigen, und was dort umhegt wird das hegt hier selbst. Der Winter ist die Hülle, nicht die Fülle, er ist Schoß, nicht Frucht, er ist ganz bedeckte und gefriedete Erde, die nichts mehr verlieren, alles wieder erwarten kann. Oder er ist der völlig geschlossene Raum, der keine Blüten und Früchte mehr treibt, doch der Seele erst ganz den Reichtum und die Armut ihrer blütenlosen Einsamkeit, die Erhabenheit des Begrenztseins, des Grenze-seins offenbart. Er ist »die tiefe kalte winterliche Stille«, die reinste Einkehr der Natur in sich selbst, die Rückkehr in den fruchtbaren Schlaf.

Die Haft des Ich im eignen Dasein, die Kluft zwischen Ich und Du wird hier hingenommen, jenseits der Leidenschaft, die in den [148] Herbstgedichten sie noch überglüht. Nicht mehr die Trennung, sondern das Getrenntsein, nicht mehr die Vollendung, sondern die Endschaft lebt hier, lebt mit gleicher Würde und Weihe wie im Herbst die Reife mit dem traurigen Wissen der Grenze. Auch hier kein Verzicht, sondern Erfüllung der Stunde als des jeweils ganzen Lebens, und sei es Winter, Endschaft, Öde. Auch dies wird nicht abgewehrt, nicht beklagt, sondern mit der gleichen Treue gut geheißen wie die Fülle ...


Noch zwingt mich treue über dir zu wachen
Und deines duldens schönheit daß ich weile.

Die Natur ist in diesem ganzen Buch das Gesicht der Mächte gegen die es keinen Einspruch gibt. Man mag der Moira trotzen und die Tyche zu binden oder zu belisten versuchen: niemand ändert den Jahreslauf oder umgeht Geburt und Grab. Die Naturgesetze als Schicksalsgesetze zu ehren hat Goethe schon gelehrt .. die Schicksalsgesetze als Natur und Seele zu leben, das ist die Frommheit des »Wallers im Schnee«.

Erst der Winter bringt diese Frommheit zu ihrer vollen Macht: denn erst der Zustand kann sie zeigen der keinen Taumel, keine Pracht, keinen Rausch mehr bringt, keine Blüte und keine Frucht. Der Winter ist sonst in der ganzen Dichtung der Tod, das weiße Grauen, die Verneinung, der Frost, oder der malerische Schauplatz geselliger Feste und Spiele, der prickelnde Natur-kontrast, die eisige Folie zu den warmen Freuden der Menschen. George ist der erste Dichter der den einsamen Winter, seine Heimlichkeit, das Herz der Kälte, das »Schicksal des winterlichen Fundes«, die Endschaft der Liebe, nicht als tragisches Ereignis, sondern als Bestimmung und Lage geheiligt hat. Der Winter ist ihm so volles Leben, so schwer von Gegenwart und Blut, so ganz bejaht wie gelitten, so ganz durchglüht wie durchstarrt, mit gleicher Inbrunst wahrgenommen und schöngenommen wie die Monate des Überschwangs. Er zuerst hat den Pan, ja den Dionysos auch im Winter gespürt, seine Psyche singt unter den Eisblumen so süß und wach, so geheimnisvoll und zauberisch wie unter Rosen und Flieder, unter Trauben und Äpfeln. Wo glänzt und ertönt so die »pracht der stillen erde«


In ihrem silberlaub und kühlen strahle


[149] Wo ist die winterliche Heimlichkeit, »der sanfte Reiz des Zimmers« »der trauten Winkel Raunen« so Gesicht und Gesang, wer offenbarte vor George das frohe Grauen eisiger Mondabende, den Märchenschauder »von nackter Helle und von blassen Düften«, die schweigsamen Gänge am


Eisigklaren tiefentschlafnen flusse ...


Wer konnte all solche Winteraugenblicke aus ihrer malerischen Starre oder Stimmung zum magischen Sprachleben erlösen, als wer sie gelebt hatte! Und welcher Dichter vor George war »einsam« genug, um nicht nur die Stimmung des Winters, sondern ihn selbst, seine Natur zu wissen, wer war vor ihm hinabgestiegen in die kosmischen Grüfte, wo


Die trübe liebe wächst im reif der qualen.


Die winterliche Landschaft war früher eine Gemütsstimmung oder ein Schicksal das man floh oder beklagte oder verneinte: bei George ist sie Natur die er bejaht und heiligt durch innersten Seelengesang. Der Abgrund den der Waller im Schnee durchmessen hat ist die tiefste winterliche Verlassenheit. Hier ist die Liebe selbst das Ende und soll es sein. Auf dieser Stufe kennt der Dichter keinen Frühling: die Vita Nuova, eben der Frühling ist Anfang, Zersprengung der Grenzen, Erwachen des unbekannten Gottes, der Weg ins Offene: das Jahr der Seele ist »Erfüllung« der Grenzen bis zum Ende und steht unter dem Bann der ungelösten Natureinsamkeit, sie mag hell oder düster oder fahl gefärbt sein. Es ist in einem herbstlichen Seelen- und Schicksalsstand empfangen, darum beginnt es mit dem Herbst und die Form unter der all seine Inhalte erscheinen kann nur die »Erfüllung« gegebener Grenzen sein. Die Naturbindung, die unerlöste Einsamkeit schließt nicht das Glück und die Freude aus, doch den Aufgang, das Beginnen, das zur Natur des Frühlings gehört. Noch wandelt George auf der geistlosen Mächtestufe: die Stunde ist noch nicht gekommen da er aus der Natur, die sein Jahr der Seele bindet, weil er mit ihr eins ist, ins Offene treten darf, da der Gott, der die Natur und die Seele aus ihrer Einsamkeit löst durch einen neuen Bund, ihm sich offenbart, um Sinne und Worte zu wecken für beginnliche Welt, für Auftrieb, Anfang, für Frühling. Der Frühling ist ein Gott der Frühe. Das Jahr der Seele ist ein Buch der Grenze, [150] der Erfüllung, die – man denke das Wort recht durch – immer Vollendung, d.h. ob Herbst ob Winter, ob Freude ob Trauer, Endschaft ist. Auch die glückliche Liebe, das Finden des Du, die Blüte des Lebens kann in diesem Bereich kein Beginn neuer Welt sein und muß eingetaucht bleiben in die Luft der Vollendung.

Sie erscheint, nach der Erfüllung der Herbstreife und der Erfüllung der Winter-Endschaft als Erfüllung des Blühens: »Sieg des Sommers«. Nicht als Ausbruch und Durchbruch ist die Blüte hier sichtbar, sondern als vollendeter Zustand. Das Jahr das mit der um Vergängnis wissenden Reife begann schließt mit der Reife des wahn- und fragelosen Blühens, mit dem Glanz des höchsten Sonnenstandes, mit der Vereinigung getrennter Lippen und der rückhaltlosen Freude des schönen Augenblicks. Die vollkommene Zeit ist da die nicht voraus- und zurückdenkt, die Aufgang und Untergang des Jahres in sich aufhebt – die Pan-Stunde des entschatteten Lichts, der wunschlosen Stille, da die Schöpfung sich selbst genießt und auf dem Gipfel ihrer Kräfte ohne die Spannung des Wachstums und die Schlaffung des Welktums sich dehnt im seligen Gleichgewicht ihrer Kräfte. Hier ist keine Sehnsucht – denn Sehnsucht ist Zuviel oder Zuwenig, ist Blüte die zur Frucht drängt, oder Knospe die springen will. Hier ist keine Schwermut – denn Schwermut ist Frucht die fallen will – und keine Vergängnis worin das Welken schon nagt. Diese vollkommene Zeit, die Erfüllung der Blüte selbst, feiert der Sieg des Sommers, und da hier Natur Schicksal Seele nur eines sind, so vergißt auch die Seele hier was trennt und ist solange ganz das was die Natur hier ist: Einheit mit ihren eigenen Grenzen. Die Grenzen selbst gehören hier zur Fülle, sie werden nicht als solche wahrgenommen, sondern genossen: die Einsamkeit als Friede, die Endlichkeit als Ründe. Darum gibt es hier keine Trennung zwischen dem Ich und Du, nicht weil sie eines wären, sondern weil im bräutlichen Nu hier nicht das Gefühl der Vergängnis, die Farbe des Endes liegt. Der Sommer ist nicht die mystische Einheit, nicht der Vernichter der Grenzen, nur ihr Verklärer und Verschönerer. Die Zweiheit selber ist hier nicht die unüberschreitbare Kluft zwischen Ich und Du, sondern das Beieinander, das Zusammen, die Paarung. So erscheint hier die Liebe als die hohe Zeit


[151]
die in ihrer lohe
Gestalten um uns tilgte und gewalten,
als die Versöhnung zwischen Wunschbild und Wahrheit:
Und törig nennt als übel zu befahren
Daß ihr in euch schon ferne bilder küßtet
Und daß ihr niemals zu versöhnen wüßtet
Den kuß im traum empfangen und den wahren.

Sie ist die Heilung der alten Risse, das Genügen an der gegenwärtigen Freude, sie schweigt alle Fragen, Sorgen und Zweifel mit dem brennenden Kuß.

Auch dieser Jahreszustand ist George ganz gewesen und ganz hat er ihn offenbart. Der Sieg des Sommers ist die tönereichste und farbevollste Feier der Blumenernte, des Glutwinds, der summenden Gemarken, der goldenen Lande und der tiefen Heimlichkeit sommerlicher Wälder, Gärten und Schluchten, der süßen und schwülen Dämmerungssterne. Kein Dichter hat jemals die Glut und Helle, den Glanz und die samtne Stille, das Summen und Tönen, das Schmiegen und Flimmern des Sommers, die Seelenmusik dieser geheimsten und offensten Stunde des Jahres so erklingen lassen, es sei denn Jean Paul. Doch nur George hat zugleich ihre Schicksalsfarbe, ihr Gesetz mitverlautet, es bleibt nicht bei einer orgiastischen Musik und einer unverbindlichen Zauberei wie bei dem Meister des Titan. Die Natur ist bei George kein Schauplatz für schöne Episoden, sondern eine Lage seines Gesamt-Daseins, ein Gesicht seines Lebens-Gesetzes: darum ist auch sein Sommer erfüllt mit der ganzen Weihe des schickalvollen Herzens, nicht bloß Musik und Traum.

Wie die Seele hier Naturschicksal ist und dadurch erst die Natur so innnig-offenbar macht, so entbindet auch die Natur kraft dieser Einheit erst das unmittelbare Seelenschicksal, das vom Algabal ab bis zu den Hängenden Gärten in Geschichts-Sinnbildern sprach. Vorher lag es noch dumpf in der einfachen Spannung des Herzens. Schicksal tritt erst heraus wo das Ich eine Welt findet. Die naturhafte Seele als Ausdruck oder Farbe ihres Schicksals, das ist der Gehalt der »Überschriften und Widmungen«, die das Mittelstück des Jahrs der Seele bilden. Ihre erste Gruppe umfaßt die Überschau des [152] Gesamtlebens dieser Stufe, ihre zweite die Rückschau auf die Naturschicksale des bewegten Herzens, die dritte die Umschau auf Schicksals-gemeinschaften, den Bildersaal der zugehörigen Menschen mit ihrem Mein und Dein. Diese Gedichte geben keinen Ablauf und keine Seelen-Augenblicke des Natur-Geschehens, sondern natürliche Reifezustände der Seele. Die Weihe, die Einsamkeit, die Leidenschaft, die Erhebungen und Ergebungen, deren Geschichtsformen wir schon kennen, wandeln sich hier zu Naturformen der Seele. Was im Algabal sich als Herrschertum oder Priestertum, in den Hirtengedichten als der Wundervogel der schönen Insel, in den Hängenden Gärten als morgenländische Mär inkarniert (inkarniert, nicht maskiert) der Wunsch des höheren Menschen nach seinem eigen-reinen Reich, das spricht sich hier als Natur-schicksal des Dichters aus. Hier zum erstenmal singt George, in den zwei mächtigsten und längsten Gesängen des Werks, sein Sehertum selbst, nicht mehr als Seelenzustand wie in den Hymnen (»Weihe«) und noch nicht als Gesetz wie im »Vorspiel« oder als Sendung wie in den »Zeitgedichten« oder als Amt wie im Stern des Bundes, sondern als Natur und Schicksal der so gearteten Seele: die schmerzliche und selige Fülle der Gesichte, das Verlangen nach dem geschwisterlich vernehmenden Ohr, den Drang nach der erhabenen Verkündung der heiligen Schau. (»Zu meinen träumen floh ich vor dem volke« und »Des Sehers wort ist wenigen gemeinsam«.) Das naturgegebene Schicksal des Vates hat hier seine feierlichste Weise gefunden seit Hölderlins letzten Hymnen. In dieselbe Reihe gehören die Schicksalslieder von der naturgegebenen Opferreinheit und Opferqual der Berufenen, von der Schwermut der Fülle, von dem unverlierbaren »Freudengraun« der lauteren Frühe, dem lebenslangen Zauber der Jugendweihe und dem Rätsel der vorbestimmten, mitwandelnden, verhängnisträchtigen Zukunft. Schicksalslieder sind es allesamt, wie später die Tag- und Nachtgesänge von Traum und Tod: das gesamte Dasein der Seele ertönt von immer anderen Gipfeln ihres vielgipfeligen Weges aus .. nicht einzelne Augenblicke, sondern die Überschau selbst schafft Schauer und Psalm. Die Lieder von Traum und Tod stimmt der Geist des Lebens an .. hier singt noch die naturgebundene Seele.

An diese Schicksalslieder schließen sich dann einzelne Augenblicke [153] der Freude und der Qual, schöne Tage der Liebe, ganz eins mit sinnlich zarter, schwebender, schwellender, wehender Landschaft, und Nächte voll finstern Horchens, Bebens und Verstummens, so durchaus naturhafte Nacht wie sie früher in Georges Dichtung nicht denkbar war, und wieder so ungreifbar bild- und sinnlos nackte Seele wie sie jetzt erst Sprache gefunden. Die dritte Gruppe der Widmungen endlich umfaßt die Naturformen der persönlichen Gesinnung: Teilnahme und Scheu, Ja und Nein, Selbstbewahrung, Auswahl, Nehmen und Geben, Dank und Wink des Dichters an seinesgleichen: die Schicksals-Grenzen zwischen seiner Seele und den Nächsten. Grenze als Berührung zugleich und als Trennung: Huldigung an die erfinderisch zarte Güte, den unwillkürlichen Adel, die Schmerzgemeinschaft, das festliche Leben, an die Genossen lauten Überschwangs und schöpferischer Begeisterung, Abwehr schon hier jeder Grenzverletzung durch Begier, Wahn oder Taumel, Zuspruch an das heilbare Leid, Ehrung der unüberbrückbaren Klüfte, Warnung vor Unmaß, Aufruf der verwandten Kräfte im Gegner und Anerkennung des fremden Gesetzes im Freunde. Was im ersten Teil des Werkes die Landschaften und Jahreszeiten sind das ist hier die Geselligkeit, der Menschenkreis der einsamen Seele: natur- und schicksalhaftes Maß, Raum und Grenze.

Die beiden ersten Teile lassen sich, wenn auch nicht erklären, so doch anschauen von zwei uns faßbaren Gesichtern der Mächtetrias aus die darin waltet: die Natur können wir sinnlich, die Seele geistig fassen. Die »Traurigen Tänze« tragen die Farbe des Schicksals und zwar eines Schicksals das so wenig geistig faßbar ist wie die Natur und so wenig sinnlich faßbar wie die Seele. Diese Gedichte entziehen sich daher am meisten der menschlichen Deutung und sind am reinsten »Zaubersprüche«. Die »Mächte« tönen hier, wenn auch getränkt mit der ganzen Fülle wahrgenommener Natur und gespannt von jedem Seelenschwingen, am unmittelbarsten als Schicksalsmächte, und wer wüßte über diese unmittelbar etwas auszusagen! Wie George die Natur nicht mythisch und nicht romantisch, sondern magisch bannt, so auch das mit seiner Natur und seiner Seele einsgewordene Schicksal. Nur soweit das Schicksal gefärbt ist von Natur und Seele, kann man es hier bezeichnen .. soweit Natur und Seele gefärbt sind vom[154] Schicksal bleiben sie unfaßlich. Darum sind die Traurigen Tänze das schlechthin »unverständliche« Buch Georges, wegen der Dunkelheit nicht ihres Ausdrucks, sondern ihres Ursprungs. Sie entstammen einem bisher noch nicht wahrgenommenen Lebensraum, wo das sichtbare Da-sein, das fühlbare So-sein und das transzendente Geschehen eines sind. Vielleicht erscheint dieser Raum einmal und dann wird man die Traurigen Tänze so verstehen können (d.h. freilich nicht auflösen und erschöpfen) wie heute ein Gedicht Goethes. Bis heute sind sie das einzige Zeugnis von und aus diesem Bereich, und nur er gibt von ihnen Kunde, wie sie von ihm. Gewiß sind auch hier Naturaugenblicke wie die Herbst- und Sommergedichte des ersten Teils, und Seelen-augenblicke wie in den Widmungen. Ein Gedicht wie dies:


Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten
Indeß der drüben noch im lichte webt
Der mond auf seinen zarten grünen matten
Nur erst als kleine weiße wolke schwebt.
Die straßen weithin deutend werden blasser
Den wandrern bietet ein gelispel halt –
Ist es vom berg ein unsichtbares wasser
Ist es ein vogel der sein schlaflied lallt?
Der dunkelfalter zwei die sich verfrühten
Verfolgen sich von halm zu halm im scherz ...
Der rain bereitet aus gesträuch und blüten
Den duft des abends für gedämpften schmerz

scheint nur Landschaft: es ist jedoch die Landschaft eines Schicksals, nicht wie etwa die Parkgedichte »Nach der Lese« ein Schicksal das als Herbstlandschaft sich vollzieht. Alles ist in diesem Mondgedicht gelöst aus seinem Naturtum, es ist nicht Herbst, nicht Park .. Hügel, Matten, Wasser, Falter sind schweigsam umweht von einem Wind der keiner Jahreszeit angehört, auch nicht dem »gedämpften Schmerz« sondern der »geschieht«. Alles ist noch da wie in der Natur, ist auch Zustand, aber nicht nur Grenze und Erfüllung, sondern zugleich Verhängnis. Und eben dies Verhängnis waltet überall in den Traurigen[155] Tänzen und erst in ihnen. Es waltet als Landschaft in dem eben angeführten, oder in den Spätjahr-strophen:


Wenn auch nicht mehr uns beschert ist
Als noch ein rundgang zu zwein.

Es dringt deutlicher aus den Liedern des Bettlers und den Weisen des blöden Knaben, aus den Andenken an rührende Schatten und Gestalten, und es durchbricht das Naturgeschehen und die Menschengeberde mit den beklemmend kurzen Traum- und Zaubertönen, die Raum Zeit Bewegung und Bild aufheben in dem Grauen eines Verhängnisses jenseits von Schauder und Gram, jenseits von Schrecknissen des Auges und des Geistes .. Verhängnis zugleich als Melodie, als Gesicht und als Wirbel. »Verhängnis«: das ist unser eigenes Blut und das unserer Ahnen, es ist die Luft die uns umgibt und Geschichte die wir hegen, Natur die uns nährt, Seele die uns treibt, Schicksalsaugenblick jedes Schrittes und Begegnisses, Gesetz unseres Daseins. Was wir sind, was wir erfahren, was wir tun, all das ist Verhängnis. Bald das eine, bald das andre der mehr oder minder sinnlichen Elemente kommt nach oben, wie Wellen eines Stroms, aber wo man sie zu fassen glaubt, versinken sie wieder oder treiben davon. Das ganze bisherige Leben des Dichters, seine Ursprünge, seine Natur, sind aufgelöst in die bildlose und sinntaube, aber bilder- und sinnträchtige Nacht seines Schicksals.

Das Schicksal ist auf der Mächtestufe: Verhängnis – noch nicht geistig, noch nicht gotthaft – nicht mehr bloß gelebte Leidenschaft, noch nicht offenbartes Gesetz. Das Schicksal selbst ist der letzte dunkle Himmel bis zu dem der Dichter hier schauen kann, der seine Seele wie seine Natur mit einwölbt. Die letzte Grenze die ihn umschließt, ihn auf sein Selbst zurückwirft, die er ausfüllen muß, heißt Verhängnis, und dies Verhängnis, wie voll und reich auch immer, erscheint menschlich, genau wie die Natur und die Seele der Mächtetrias, als abgründige Einsamkeit. Die Einsamkeit des »Ich bin ich selbst allein«, die erst durch Verleibung des Gottes, durch Menschwerdung der Mächte erlöst werden kann, diese Einsamkeit ist der Grund, die schöpferische Nacht woraus Natur Seele Schicksal kommen. Am unmittelbarsten künden ihn die Traurigen Tänze. Hier ging kein Weg weiter, keiner zurück. Auch das Jahr der Seele ist das Ende [156] einer Lebensstufe, d.h. für den Menschen des Hier und Jetzt, solang er auf ihr steht, des Lebens selbst, um so düsterer je größer die vollendete Fülle, um so trostloser je umfassender das »Einsame« war.

VIII. Das Vorspiel

Das Jahr der Seele ist die letzte große Dichtung des europäischen Weltschmerzes, der nicht Schmerz über die Welt ist, sondern Schmerz der Welt. Jeder höhere Mensch seit dem Verschwinden der Götter hat ihn gekannt, am meisten die Liebenden und die Gestalter: die Naturgläubigen und Lebensfrommen. »Einsamkeit« ist sein Zeichen, und je mächtiger eine solche sinnliche Natur sich mit den Erdkräften durchdrang, je wirklicher sie das Hier und Jetzt nahm und je weiter sie sich ausbreitete, je mehr Welt sie faßte, desto einsamer wurde sie. Michelangelo Shakespeare Goethe Napoleon sind umwittert von diesem Graun, gleichviel ob sie klagten oder nicht. [Die eigentlichen Herolde des Weltschmerzes waren meist bloße Zerrissene, Unzufriedene oder gar Unzulängliche, nicht durch ihre Fülle selbst Einsame.] Derselbe Trieb der die Person aus sich herausdrängt, um zu zeugen oder zu empfangen, heißt die Natur rufen nach dem Gott, und alle Zeiten die ein Gott besaß waren von der Natureinsamkeit erlöst, das klassische Altertum und das klassische Christentum .. die fruchtbaren Zeiten in denen Götter noch zeugten d.h. geglaubt und gelebt wurden, kennen den Schmerz der einsamen Welt nicht. Die ursprünglichen Menschen fühlen das Welken der Götter zuerst und am stärksten, sie sind der Mund des Weltschmerzes, der Ruf der Natur nach dem Gott und die einzigen worin die götterschaffende und -empfangende, die mythische Kraft sich in solchen Zeiten bewahrt. Ein solcher trägt »als der Eine aller Qual« – die Last des Volkes, die Einsamkeit der Natur. Die größten Schöpfungen seit dem Erlöschen des katholischen Himmels (den die heutigen Christentümer nur stumpf nachscheinen und abschatten) sind Rufe mythenträchtiger Einzelner nach dem neuen Gott, einerlei ob sie sich wie Michelangelos Titanen als Feier des alten Gottes gaben, wie Shakespeares Trauerspiele als Erdendienst, wie Goethes Prometheus und Faust als Verherrlichung des Menschen, oder wie Napoleons Taten als Kaiserkult.

Zur Helle gelangt dieser Drang im späten Hölderlin, zur bewußten [157] Aufgabe wird er mit seiner erdrückenden Last und erstickenden Einsamkeit in Nietzsche – stellvertretende Sühnopfer der entgotteten Gesellschaft. Hölderlin rief die verwandelten Götter, die heidnischen wie den christlichen, in den leeren Raum, um die einsame Natur zu vermählen und wieder ein Volk zu zeugen. Nietzsche, der Götter nicht sah, nur suchte und blind spürte, entnahm der eignen Besessenheit die wahnhafte Vision des neuen Himmels, dem eigenen heiligen Zwang das neue Gesetz, dem eigenen fordernden Ich das schenkende Du, und spaltete sein einsames Wesen in ein zweisames, in ein Opfer und einen Heiland: Zarathustra ist die Projektion seiner abgründigen Selbstnot in ein überselbstiges Heil .. sein erhabenes Dennoch, das seinen Kampf zum Gesetz erhob und ihn zuerst unter dies schwerste Gesetz stellte, um durch solch Opfer, Vorbild und Schicksal den neuen Gott für alle und keinen zu erzwingen – den Gott ohne Gestalt und Liebe, nur aus dem Willen und dem Geist des höchsten Ich.

Vor demselben Weltzustand fand sich George, als ihm das Jahr der Seele kam, von derselben Not beklommen und geschwellt vom gleichen Geheiß. Doch wo Nietzsche Willen und Geist hatte, war George damals noch Drang und Blut, und ganz gebannt inseine Stunde mit ihren Grenzen, die er füllen, nicht sprengen durfte. Erfüllung seines Gesetzes, das er noch nicht wußte, nur lebte, nicht Erlösung vom Ungesetz bestimmte ihn. Wo Nietzsche die göttliche Zukunft titanisch vorwegnehmen, erzwingen wollte, mußte George ausharren in seiner Gegenwart, sie ganz zu Ende leben, vol-enden, wie einsam und gebunden, wie naturhaft unerlöst, schicksalhaft beladen sie auch war, bis der Geist selbst in ihn kam oder der Gott ihm erschien. Er sagte »ja« zu seiner Einsamkeit, nicht »dennoch«, er sah sein Leid schön, nicht tragisch, seine Not als Sein, nicht als Soll. Nicht ihre ewige Wiederkehr gab seinen Augenblicken ihr Gewicht, sondern ihre einmalige Ewigkeit. Sein Gesetz war keine Pflicht die er sich auferlegte wo er anders wollte, sondern sein Geschehen das nicht anders konnte. Sein jeweiliges Hier und Jetzt war sein einziges Muß, von dem ihn keine Zukunft, kein Höher, kein Über entband, irdisches Jenseits von Gut und Böse so wenig wie himmlisches Jenseits von Hier und Jetzt. Die Zu-kunft war ihm das was zu ihm kam, nicht das zu dem er kam, und dies ist vielleicht der Hauptunterschied zwischen seiner [158] Prophetie und der Nietzsches: er nahm das Dereinst im Hier wahr wie der Same die Frucht oder wie Tiere nahendes Gewitter und Erdbeben spüren. Nietzsche heischte vom Hier das Einst wie der Pfeil das Ziel, der Adler die Beute. Niemals konnte George daher vom bloßen Willen die Befreiung aus seinen erfüllten Grenzen erwarten. Sein Wille konnte nicht Untergang oder Aufgang machen, sondern nur halten, bannen, gestalten was auf-und unterging. Das Wort war der Zauber der dies vollbrachte, das Werk die Verewigung des Zustandes im Bild, die Verwirklichung des Aufgangs oder Untergangs-Augenblicks, nicht der Befehl an das Leben »steig oder sinke«, nicht der Schrei des Ich »Weh oder Heil mir«! Freilich: nur durch dies Zauberwort des Gestalters steigen oder sinken die Menschen mit den steigenden oder sinkenden Mächten, und nur wer die Bilder bannt oder die Taten wirkt bindet die Götter. Wer sie bloß anruft »seid« oder »kommt« oder »werdet« dem folgen sie nicht, wem sie aber erscheinen und wer ihr Wort zu ihrer Stunde weiß und sagt, wer ihnen das rechte Opfer am rechten Ort bringt und die Weihe vollzieht in ihrer Gegenwart, der hält sie fest, der ver-ewigt sie, ja der verwandelt sie. Dies ist der prophetische Sinn der Dichter und der Helden. Nur das schau-geborene Wort macht auch die Propheten fruchtbar. Kein bloßer noch so hoher Wille – der macht nur Weltverbesserer – und kein noch so tief er Geist – der macht nur Welterklärer: beide bannen kein Leben und wandeln kein Leben.

George hat niemals Götter angerufen, bevor sie ihm erschienen sind. Er hat den dunklen Mächten geopfert, solange er nur dunkle Mächte sah .. solch ein Opfer ist das Jahr der Seele. Die Natur und das Verhängnis hatte er hier durchmessen, wie früher das Selbst und die Geschichte. Er mußte nun schweigen oder sterben, wenn kein neuer Kreis sich ihm auftat .. er mußte abwarten »den blitz der traf, den wink der lenkte, das ding das in ihn kam zu seiner stunde«. Er konnte »bleichen Eifers nach dem Horte forschen«, aber die Offenbarung nicht ertrotzen. Was war zu erwarten nach den Wundern der traurigen Trias, nach der zu Ende genossenen Fülle der unerlöst einsamen Natur? Jetzt erschien ihm der Geist des Lebens.

Das Leben ist die Mächte-trias des Jahres der Seele auf einer höheren Stufe, in ihrer Einheit: Natur Schicksal Seele haben jetzt [159] einen Namen und ein Gesicht. Wer sie nennen und erblicken kann der hat sie durchdrungen, der ist nimmer besessen, nimmer ihre Stimme, sondern ihr Gebieter .. der ist herausgetreten auf eine Ebene wo er sie umfaßt: da waltet der »Geist«. Der Leben durchdringende und umfassende oder (was beides zugleich ist) beherrschende Geist, der Sinn, das Gesetz, die Gestalt dieses seines Lebens, mit all seinen bisherigen Lagen – Trieb, Geschichte, Natur, Verhängnis – hat sich dem Dichter leibhaftig offenbart, als er nach den »Traurigen Tänzen« für die letzte Nacht oder den neuen Segen bereit war. Der Engel des Vorspiels ist das dichterische Gesicht dieser Lösung, Erleuchtung und Ladung, glühend vom jähen Morgen, bebend von der Gewalt des Durchbruchs, der eine unermeßliche Wölbe aufreißt, und flaumig zag vor der Verheißung:


Das Schöne Leben sendet mich an dich
Als boten.

Seit dem Eingang der Hymnen, der die »Weihe« brachte, hat George sein Schaffen nicht mehr unter der Form der heiligen Botschaft, der Offenbarung gezeigt. Schicht um Schicht hob er in Schau und Sprache und gewahrte sein Ganzes in den Augenblicken die ihn umdrangen: wenn er jetzt nach sieben Jahren zum erstenmal wieder sich ab den Empfänger einer Sendung, nicht nur als den Träger eines Schicksals sah, so war dies keine hohe Einzelstunde mehr, sondern der Anfang einer Vita Nuova. Sein Gesamtdasein hatte einen neuen Lenker, ja überhaupt jetzt erst einen Lenker, ein immer gegenwärtiges, sichtbares Geheiß. An stelle der einmaligen Erscheinung, die schenkte und verschwand, den Einsamen seinem dunklen Selbst und ihrer hellen Weihe überlassend, trat jetzt der ewige Begleiter, der sichtbare Daimon. Jetzt stand des Dichters Leben erst unter dem offenbarten Gesetz: er erfuhr seine Sende und was er bisher nur dumpf-sicher und einsam gelebt, weil er von Blutes und Schicksals wegen mußte, das ward nun das klare »Ich will, ihr sollt«, der Spruch des Ewigen, die erkannte Wahrheit, die gewollte Notwendigkeit, die gesollte Freiheit. Überwunden der Eigentrieb der Ich-Seele .. denn sie war vermählt mit dem wissenden Geist und vernahm von ihm den Sinn. Überwunden die Einsamkeit der Natur .. denn sie hatte das Du gefunden von dem sie empfangen durfte. Überwunden die Not des Schicksals .. denn [160] es war weises Gesetz geworden. Dieser Wandel hob die Gewalten nicht auf, er überwölbte sie mit einem höheren Himmel, durchschien sie mit dem reinen Licht. Die Schmerzen, Leiden und Lasten des Herzens, die Gefahren und Schickungen der Erde werden von dem Engel nicht beseitigt, nicht einmal die Versuchungen abgewehrt, doch er gibt ihnen den Sinn im Menschen, den Raum auf der Erde, den Wert im Reich das sein Kommen verheißt und sein Bleiben gründet. Das triebhafte Maß des wohlgeratenen Leibes macht er zur Pflicht des begeisteten Lebens, die ahnungsvoll erfüllten Grenzen des Natur-Schicksal-Seelen-Raumes zieht er in den Plan seiner ordnenden Vorsehung – und die schönen Augenblicke die bisher jeweils das Gewicht des ganzen Lebens trugen, die Sterne des Kairos, kreisen jetzt in Bahnen eines Sonnensystems das ein Logos regiert: der Geist des Lebens.

Dies unterscheidet den Engel Georges, den Boten des schönen Lebens, von dem christlichen Logos, dessen Züge er auf den ersten Blick, wie jeder Engel seiner mythischen Herkunft nach, zu tragen scheint: er ist kein Urwidersacher der sinnlichen Lebensmächte, des Ich, der Natur, des Schicksals – er kommt nicht aus einem uranfänglichen Himmel als Bote des Überwelt-gottes zur Züchtigung des Fleisches, zur Fesselung Satans, zur Ausgießung der Zornschalen: er ist die Geburt des schönen Lebens selber, ihm entwachsen, sein Genius, seine Idee, sein Sinn. Er trägt daher notwendig die Züge des Ich woran dies schöne Leben (es gibt ja kein Leben an sich) gebunden, worin es verkörpert ist: er ist die geistige Gestalt dieses Ich, das in den Hymnen durch Spannungen, im Algabal als Traum, dann unter geschichtlichen Sinnenbildern, im Jahr der Seele als Mächtewesen erschienen war. Er ist nackt, das heißt von Traum- Natur- und Geschichtshüllen, von Schein-leibern (nicht Wahn-leiber!) frei .. er ist das lautere Selbst, das unbedingte Du des bedingten Ich. Er ist unbekrönt, denn er ist Bote, Bruder, Führer, nicht Herr. Er ist Darstellung, »Gestalt des Gleichen«, nicht Erscheinung eines Anderen, »Höheren«, kein Befehl aus einem Jenseits, er ist das leibhaftige Gesetz des Jetzt und Hier und, eben weil leibhaftig, zugleich schöner als das unleibhaftig gelebte Ich. Schönheit kann nur etwas Erscheinendes sein. Er ist der sichtbare Reichtum des Innern, er spendet, weil [161] er zeigt .. er strahlt, weil er enthüllt, und er kniet mit dem Beter, weil er dessen eigener fleischgewordener Überschwang ist, der Träger aller lilienhaften Reinheit, aller mimosenhaften Scheu, aller Rosenfülle. Die Sinnen-Schönheit des Lebens als greifbarer, begreifbarer Geist: das ist der Engel, ein Logos so eins und so zwei mit dem Eros wie die entzückte Schau mit dem glühenden Sein, wie der göttliche Fug mit dem menschlichen Leib, wie die Wahrheit mit dem Wesen.

Er hat noch ein anderes Gesicht: er ist nicht nur die holde Kunde, sondern auch das strenge Gebot .. nicht nur Verheißung, auch Geheiß. Dasselbe Du das die Schätze des Ich erst erschließt, seine Gluten klärt und seine Liebe flügelt, verlangt dies Ich auch ganz: Wen es gesegnet hat den läßt es nicht: den Ruf des Ich erfüllt das Du als Beruf .. die Not des Ich wendet es als Notwendigkeit und der Heiland ist zugleich das Sühnopfer. Der Engel, der Du und Ich, Weihe und Leidenschaft, Sinn des Lebens und Trieb des Lebens, Logos und Eros vereint, die Gestalt der ewigen Spannung des Dichters nach durchdrungener Welt auf der Stufe des Geistes, hat ebensoviel von dem immer wieder drängenden und heischenden Ich wie dies Ich von dem ewig wissenden und lösenden Du hat: er ist eine Zwiegestalt, menschlich und göttlich zugleich, bedingt und bedingend. Die Polarität von Ich und Du wiederholt sich innerhalb der beiden Pole, die ja eine Einheit sind, abermals: das Du, der Engel, schenkt und fordert .. das Ich, der Mensch, opfert und fleht zugleich. Der Engel ist Fülle und Strenge .. Rosenbringer und Fahnenschwinger, und sein irdischer Gegenpol ist Erfüller und Streiter. Beide bindet der heilige Krieg und die heilige Hochzeit von denen im Stern des Bundes die Geheimlehre kündet:


Ich bin der Eine und bin Beide
Ich bin der zeuger bin der schoß
Ich bin der degen bin die scheide
Ich bin das opfer bin der stoß
Ich bin die sicht und bin der seher
Ich bin der bogen bin der bolz
Ich bin der altar und der fleher
Ich bin das feuer und das holz
Ich bin der reiche bin der bare
Ich bin das zeichen bin der sinn
[162]
Ich bin der schatten bin der wahre
Ich bin ein end und ein beginn.

Dies Geheimnis, die Zweieinigkeit des Menschen, ist in dem späteren Buch sagbar geworden, von der Götterstufe aus. Auf der Stufe des Geistes ist es zum erstenmal sichtbar im Vorspiel. Es ist keine Privatmystik, kein religiöses »Erlebnis«, sondern die heutige Urform des kosmischen Wissens dessen Chiffern den Griechen das Doppelschicksal des Dionysos, in den Evangelien die Zwienatur Christi, dem Dante der Doppelsinn Beatrices, und dem jüngsten Propheten die Erscheinung des mittaglichen Zarathustra war. Nur aus seiner eigenen Not und Fülle, vom dichterischen Zwang befehligt, hat George dies Mysterium angerührt: das Vorspiel ist dessen heutiges »Drama«, sein sichtbarer Vorgang.

Aus dem Widerstreit des Ich und des Du, die im tiefsten Eines sind und sich durch eben diesen Widerstreit verdeutlichen, auseinander die Not und die Wende, das Opfer und das Heil, die Frage und die Antwort entwirken, geschieht erst vor unseren Augen durch geberdetes Tun und Leiden das Gesetz dieses Lebens. Es wird nicht als eine fertige Lehre verkündet, sondern als eine geistige Zwiesprache gestaltet. Doch ringen nicht zwei Seelen einer Brust, kein Faust mit Mephisto: nicht die Spaltung des Ich, sondern die Doppelheit des Menschen, die ursprüngliche Polarität lebendigen Wesens, vollzieht sich hier. Daß im Raum jede Gestalt zugleich befreit und bindet, daß in der Zeit jedes »Werde« zugleich befiehlt »Stirb«, daß wir uns nur bewahren, indem wir uns hingeben und vom Du erst unser Ich empfangen, solche zugleich selige und harte Weisheit bewährt der Mensch des Vorspiels und sein Engel. Nicht das Ich und seine Grenze scheiden sich wie Faust und Mephisto, sondern das Selbst und sein Gesetz, wie Dante und Virgil, begegnen sich in diesem ewigen Paar.

Wie der Faust und die Divina Commedia zeigt das Vorspiel den Sinn und das Heil des Menschen an dem Ringen der bedingten Person mit dem unbedingten Gesetz das sie als All erfährt. Diese Werke umfassen das All des einmaligen Ich: den Makrokosmos geformt vom Mikrokosmos. Bei Dante ordnet und lenkt der offenbare Gott noch den Kosmos den der Mensch erwandern muß, um zum Heil zu gelangen.[163] Der Faust entwickelt die tragisch gehemmte Weltwerdung des bedingten Erdensohns als den Streit mit seinen eigenen Schranken. Im Vorspiel Georges sind das Sein des Ich und das Gesetz des Lebens die beiden Spieler des ewigen Dramas, d.h. die beiden Pole: All und Ich. Bei Dante heißt das All: Gott .. bei Goethe: Welt .. bei George: Leben. Immer näher ist der Gegenspieler des Ich an diesen herangerückt: bei George ist er ihm selbst eingeschlossen und ihre Spannung ist die straffste, ihr Ringen das engste. Dante kommt zu Gott, Faust wird Welt, George west Leben. Sein Sinn und Gesetz will leibhaft, wirklich, gültig sein .. nicht bloß Innen, Erlebnis, Gefühl, sondern Gestalt, Gott und Welt, so wahrhaftig und sichtbar wie für Dante Gott und für Goethe Welt von vornherein war. Denn der Gegenspieler des Ich, im tiefsten ihm ewig eins, gibt sein Gesetz, wird oder ist sein Gesetz. Sich mit dem Gegenspieler wissend einen oder eines wissen ist der Weg des Heils: der Erlösung oder der Erfüllung – je nachdem man ihn außer sich oder in sich sucht, ihm eingehn oder ihn auswirken will. Wie aber, wenn man ihn nicht als Gott über sich hat, in wie steiler Höhe auch immer, oder als Welt um sich, in wie verwirrender oder beklemmender Fülle auch immer, sondern als Leben in sich – das Vorbild bildlos, das Gesetz ungesetzt und die Stimme stumm? Dies ist die Lage des modernen Menschen, dem Gott zum Erlebnis, die Welt zu Beziehungen und das Leben zu Trieb und Reiz zerschlissen ist.

Begreift man die ungeheure Spannung und Bürde der Wenigen die sich nicht begnügen mit willkürlichem Gemütsschwall und hohlem Pflichtgeklapper, mit unwirklicher Autonomie und unwahrer Heteronomie, mit der Ohnmacht des Außen und dem Unrat des Innen die das Leben, das Einzige was uns bleibt, zu Gott und Welt, d.h. zu Gesetz, Bild, Werk, Tat, zu gültigem, offenbarem Dasein schaffen müssen? Nietzsche ist unter dieser Last zusammengebrochen, obwohl er nur die neuen Tafeln des Lebens aufstellen, nicht den neuen Gott des Lebens verleiben wollte! Oder vielleicht, weil er nur jenes konnte und dies nicht möglich war, ohne die weltschaffende Liebe und die gottschauende Dichtung? Weil das Leben, dieser letzte Gott-stoff, nur welthaft, gültig, bindend (»objektiv«) werden kann als Bild und Tat, nicht durch bloße Lehre und Forderung? »Sie [164] hätte singen, nicht reden sollen, diese neue Seele« .. hat seine Klage den Sinn daß er kein Gestalter, nur Sucher und Finder des Lebensgesetzes war, daß er es nicht bannen, nur rufen konnte? Sein Zarathustra ist der Versuch die Lehre zu bannen ins dichterische Bild, das neue Gesetz zu geberden, das Leben zu ent-ichen, zu verwelten, kurz zu gestalten. Aber er ist Stimme ohne Leib, Sturm ohne Raum, Licht ohne Form und Farbe geblieben – halb Dichtung, halb Botschaft. Er sollte ein Allgedicht des »Lebens« werden (wie die Commedia das Gottes, und Faust das der Welt) und zugleich die Bibel für alle und keinen. Es bleibt das barocke Denkmal des höchsten Doppelstrebens, der babylonische Turm zweier widersprechender Seelen. Ein Buch kann nur Einem Herrn dienen, nur Eine Form künden, nur Einen Geist verkörpern. Man kann durch Bilder lehren oder durch Lehre bilden, aber nicht Lehre und Bild mengen, ohne beide zu schwächen.

Georges Vorspiel ist nur Gedicht, gehorsam demselben strengsten Geheiß das den Zarathustra erzwang: dem Ich Gesetz und Heil des Lebens zu schaffen in gottblinder und weltwirrer Zeit, doch nicht für alle und keinen, sondern aus dem Einen. Ist ein Dichter mehr als bloß ein Ich, dann gilt es dadurch den anderen, und was ihn ruft weckt auch die Ohren die ihn vernehmen. Soll er den Kreis füllen, so muß er die Mitte und die Strahlen halten, nicht dem Umfang nachlaufen. Sich gestalten, sich erfüllen, sich vollenden war Georges erstes Gebot, und das empfing er nicht vom Fernen, sondern vom Nächsten, seinem eignen Herzen. Doch eben dies Gebot war die Antwort auf die Frage des Lebens .. und indem er sich erfüllte, als Dichter, indem er seine Form fand, seinen Streit ausfocht, sein Wort sagte, tat er was an der Zeit war. Dantes Gesetz hieß: schaue Gott .. Goethes: werde Welt .. Georges: gestalte Leben. Die Gefahren, Leiden, Wonnen und Pflichten dieses Gesetzes hat er im Vorspiel verkündet, von der Einweihung bis zur Vollendung. Zu diesem Gesetz selbst schon gehört daß es in dichterisch strenger Form, als Maß, Weihe und Zauber ertöne, daß es nicht nur geistig wahr sondern sinnlich schön, nicht nur als Wissen sondern als Schau, nicht nur als Forderung sondern als Geberde, nicht nur als Innen sondern als Leib erscheine .. daß es zugleich sei was es künde, daß seine Form und sein Gehalt, sein Wert und sein Wesen eines seien. Seineeigene Wirklichkeit [165] und Gegenwart muß es sein, nicht wie Sittengesetze der Weg zur Verwirklichung, oder wie Naturgesetze der Grund der Verwirklichung .. kein Vor oder Hinter der Gegenwart. Darum trägt der Engel die Züge des Menschen, als die Erscheinung seines Seins. Darum ist das Vorspiel straff in Zahl und Maß gebannt, weil Zahl und Maß selbst schon Atemzüge dieses Gesetzes sind, und der Dichter dem es kund ward atmen, singen, gehen muß, laut und kraft dieses Gesetzes. Darum ist dies Werk wie kein früheres von George farbig und durchscheinend zugleich, weil kein früheres zugleich das Leben mit seinem Wissen als Sinn offenbarte. Darum ist es Wachstum und Bau zugleich, weil hier die triebhafte und die gesetzmäßige Gliederung eines sind, weil hier Sänger und Seher, Künstler und Erkenner, Getriebener und Eingeweihter, Gott-Träger und Gott-Wirker, Mensch und Engel, Ich und Du, das Leben und sein Gesetz dieselbe Person sind.

Auch hier hat George die ganze Fülle seines schon durchwirkten Lebens (das niemals abgelaufenes, erledigtes Leben ist) in den neuen Umkreis eingegossen und am Geist vollbracht was er an den früheren Umfängen vollbracht hatte, an der Geschichte und an der Mächte-trias des Jahrs der Seele: negativ gesagt die Entromantisierung, positiv die Verzauberung. DerGeist als »Romantik« ist entweder Betrachtung oder Lehrspruch in dichterischer Form, Geist über die Dinge oder aus den Dingen heraus, nicht Geist der Dinge, nicht Geistform des Lebens, Leben als Geist. Schiller und Byron sind die beiden großen Romantiker dieser Art Geistdichtung, alle neuere »philosophische« Lyrik gehört dahin. Dichtung des durchgeisteten oder des geistgewordenen Lebens ist nur da wo sich der Geist noch nicht als Widerpart der Welt, als selbständige Bedeutung aufgetan hat, im Zeitalter der Psalmen und in dem Hellas vor Aristoteles. Romantik 1 des Geistes begann mit der Entstehung der Begriffe, der universalia in re oder post rem oder ante rem, mit dem Mißverständnis der Platonischen Ideen als eines besseren »Jenseits«. Die Rückkehr des entbundenen Geistes in das Leben, oder der Einbruch neuen Urlebens [166] in den hohlen Geisteshimmel hat wie der klassische Dichtungen des Lebensgeistes ermöglicht, in Dante, Shakespeare, Goethe, Holderlin. An diese Reihe schließt sich George seit dem Vorspiel.

Der Lebensgeist ist nichts abgeleitetes, auch er ist eine Urform des Lebens, eine Grundlage, eine ewige Stufe des Seins, und daher (anders als der bloße Denk-geist, die ratio, die verselbständigte Zwischenwelt der Mittel, der Ordnungen, der Kategorien) zauberischer Urtöne so fähig wie der Leib und die Seele! Wenn deren Urlaut, Naturlaut das sogenannte »Volkslied« ist, dann darf man die Terzinen Dantes, die Jamben Shakespeares, die Hymnen Goethes und Hölderlins und Georges Vorspiel-verse Naturlaute des Lebens-geistes nennen: sie alle offenbaren den Geist als eine unmittelbare Wirklichkeit, als leibhaft gelebte Gegenwart des Weltsinnes selbst. Solche Dichtungen sind sehr viel seltener als gute Volkslieder, weil sie die Durchdringung eines unendlich größeren Umfanges verlangen, die höchste Bildung der jeweiligen Zeit und dabei eine ungebrochene Natur – an sich schon schwer vereinbar. Das gute Volkslied braucht nur die glückhafte Seelenstunde und die gediegene Sinnlichkeit, einerlei welchen Umfangs. Ebenso häufig ist die Gefühls- oder Gedankenpoesie des gebildeten Gemüts, das an gehobenen Schätzen der Natur und der Geschichte mit fertiger Sprache weiterdichtet: sie ist eine Sache der Bildung, wie das Volkslied eine Sache der Natur oder der Gnade. Die Urlaute des Geistes sind nur den höchsten und tiefsten Menschen möglich, und wo sie erscheinen, von Jahrhundert zu Jahrhundert, da hat die Sprache selbst ihren vollsten Klang, ihre tiefste Bewegung, ihren lautersten Glanz, ihre weiteste Wölbung, da glüht sie vom innersten Feuer des ursprünglichen Herzens, genährt und gefärbt von den umgeschmolzenen Massen der gesamten Bildung und bestrahlt vom morgendlichen Himmel: da ist sie »ein Dröhnen nur der heiligen Stimme« und vereint die dunkle Fülle der nächtigen Erde mit der blauen Klarheit des ewigen Lichts, die Gnade der Empfängnis mit der Not der Bereitschaft, die Gotteskindschaft und den Schöpferrausch im gleichen Nu. Daneben wird alle »schöne Rede«, alle erhabenen Gefühle, alle Stilkünste des wählerischen Geschmacks zu bloßem Geschwätz. Wer Ohr und Herz hat der faßt in diesen seltenen Gesängen der seltensten Stimmen den Sinn des Lebens selbst [167] als offenbare Gegenwart. Nur hier ist das Wort Fleisch und das Fleisch Geist .. und nur hier begreift man den »Logos« – Geist Wort Sinn – als Schöpfer. Nirgends ist die Empfängnis des heiligen Worts, diese Geburt des Lebensgeistes gewaltiger und wahrer verkündet worden als in dem elften Gedicht des Vorspiels:


Ihr bangt der Obern pracht nie mehr zu nennen
Wenn nicht auf schwerer stirn ihr blitz euch zückt
Der sich nicht rufen läßt .. die kinder flennen
Um selige stunde die so kurz nur schmückt.
Dann fleckt auf jedem wort der menge stempel
Der toren mund macht süße laute schal
Ihr klagt: du ton der donner, ton der tempel
Ergreifst du uns allmächtig noch einmal?
Es sanken haupt und hand der müden werker
Der stoff ward ungefüge spröd und kalt ..
Da ohne wunsch und zeichen bricht im kerker
Ein streif wie schieres silber durch den spalt
Es hebt sich leicht was eben dumpf und bleiern
Es blinkt geläutert was dem staub gezollt,
Ein bräutliches beginnliches entschleiern
Nun spricht der Ewige: ich will! ihr sollt!

Da jede Sprache die Eigenschaft einer Schau ist, so erleuchtet die Sprache des Vorspiels sämtliche Elemente die sie seit den Hymnen in sich aufgenommen hatte, genau wie der Engel das Gesetz offenbart das George seit seiner Jugend wegessicher, ahnungsvoll getrieben, unwissend gelebt. Wie der Engel keine der bisherigen Lebenskräfte entthront oder verneint, vielmehr alle, auch die gefährlichen, weiht und lenkt, so bringt die Durchgeistung in jede Schicht oder Welle oder Maser der Sprache eine neue Helle. Jetzt erst, nachdem der ganze Lebensraum vom Geist erleuchtet ist, beginnen sie alle zusammen und in ihren eigentümlichen Tönen zu strahlen. Die Transparenz verwandelt die bisherigen Tönungen von Georges Werken: die brennende Dichte der Hymnen, der finster metallische Schimmer des Algabal, die Marmorklarheit der Hirtengedichte, die [168] farbige Dämmerung der Sagen und Sänge, die bunten Mittagsscheine der Hängenden Gärten und die atmosphärische Pracht des Jahrs der Seele erglänzen hier unter der weiten Bläue und zugleich von innen heraus. Die einzelnen Gegenstände und Landschaften selbst sind überwölbt von dem Himmel des Geistes, der ihnen Perspektive, Maß und Weite gibt. Die Stimme die ehedem aus Gemächern, Gärten, Hainen, Feldern erklang darf nun reden »wie herab vom Äther«. Sie füllt nicht nur die Nähe die sie ausdrückt, sondern das ganze Rund bis zum Horizont. Seele, Geschichte, Natur, Schicksal der Dinge sind an die Dinge gebunden, der Geist bindet sie selbst – er ist nicht mehr ihr tragendes Element, sondern ihr umfassender Raum .. er verhält sich zu ihnen wie der Raum zu den Körpern die ihn füllen.

Diese umfassende Wölbung, die überkörperliche, aber doch nicht unkörperliche Weite unterscheidet die Sprache des Teppichs von der aller früheren Werke Georges. Sie ist keineswegs gedanklicher, reflektierter, rednerischer, sondern noch genau so gedrungen, bildhaft und unmittelbar – aber sie ist geistiger, d.h. minder stofflich, minder tastbar, riechbar, schmeckbar, flaumig, handlich. [Der Gegensatz gedanklich-bildhaft bezieht sich auf Ausdrucks- und Darstellungsmittel .. der Gegensatz geistig-stofflich auf Wesenslage und Eigenschaft. Der Gedanke gibt die Schau durch logische Medien gebrochen oder gefiltert: das Bild hält eine Schau als solche fest. DerGeist ist eine Urform des Seins, das Attribut einer Substanz, der Stoff eine andre: aber beide sind, wie sie dem Menschen erscheinen, selbst Wesenheiten, nicht wie Denken oder Schauen nurMittel um diese Wesenheiten festzuhalten. Auf einer bestimmten Ebene des Seins nimmt man bestimmte Wesenheiten wahr die auf andren uns verborgen bleiben, und jede dieser Wesenheiten kann man mit den jeweiligen Mitteln so oder so darstellen: man kann Materie z.B. Landschaften gedanklich reflektieren, wie Byron, oder sinnlich darstellen, wie Jean Paul .. man kann den Geist gedanklich vermitteln, wie Schillers Lehrgedichte, oder ihn unmittelbar vergegenwärtigen als Raum, Gewicht, Spannung, wie der späte Hölderlin .. oder ihn sinnlich vermitteln in Formen, Schwingungen, Klängen, Farben, wie der junge Goethe. Raum, Bewegung, Gewicht, Licht sind geistig .. [169] Farbe, Schwingung, Umriß, Klang sind stofflich: jene sind schon Formen unseres Daseins, diese sind Wahrnehmungen innerhalb Raum und Zeit. Jene ruhen in der ursprünglichen Sinneneinheit, diese entstehen aus der Reizung der Einzelsinne. Geist und Stoff sind in jedem lebendigen Gedicht, aber nicht in jedem äußern sie sich. Jedem lebendigen Wesen wohnt Geist inne, aber nur wenige kennen und künden ihn selbst. Er kann sich durch Geberde, durch Stimme, durch Sprache oder durch Gedanke künden .. das sind verschiedene Grade der Erhellung, der Vergeistung des Wesens. Auch der Geist selbst kann sich bergen, verstummen in Stoffen].

Georges Geist wird erst im Vorspiel frei und kund, vorher war er gebunden in stoffhaft-sinnlichen Augenblicken seiner Seele, seiner Natur, seines Schicksals. Indem er frei wird und heraustritt aus den sinnlichen Augenblicken, nicht mehr von dem bedingten Platz der Erde aus spricht sondern vom Äther, aus dem Gesamtraum seiner Sinnenstätten, nicht mehr aus dem Einzelereignis sondern dem Gesetz dieses Ereignisses, gewinnt der welthaltige Nu für ihn einen anderen Inhalt als bisher. Was bedeutet der Kairos dem Geiste? Kairos ist jetzt der Augenblick da der Geist des Gesamtlebens aufglüht, bald von dem, bald von jenem seiner Gipfel, seiner Inhalte oder Werte: der panoramische Augenblick. Schon in den »Überschriften und Widmungen« des Jahrs der Seele waren panoramische Gedichte, die nicht bloß einen sinnlich schönen Nu in seiner Fülle aussangen, sondern von einem solchen Nu, einem Anfangs- oder End- oder Mittelpunkte rundum schauten – »bald zurück bald vor sich zum gewölke bangen fragens.« Doch der Augenblick selbst ist dort der Standpunkt, der sinnliche Träger des Gedichts und von diesem aus ertönen und erscheinen die Gesichte. Das Hier und Jetzt ist als solches im Panorama sinnlich gegenwärtig. Im Vorspiel sind die sinnlichen Augenblicke Vergangenheit und Zukunft einer geistigen Allgegenwart, und der Raum worin sie aufleuchten ist nicht der einmalige Boden, sondern der dauernde Himmel, sie werden verkörpert nicht mehr durch die geliebte Person die kommt oder geht, sondern bestimmt durch den Engel der bleibt. Man kann den früheren Augenblicken Georges zwar ein Motiv eindeuten, aber keine Idee: die Idee, nicht als Bewußtsein sondern als Eigenschaft, durchdrang die Gedichtkreise und [170] teilte sich jeder Monas mit, ohne in ihr gewollt zu sein. Wo der Lebensgeist regiert da sind die einzelnen Augenblicke selbst Ideen, und ihr Sinn erscheint, wenn nicht als ablösbare Lehre, so doch als kündbarer bejahter oder verneinter Wert, als Ideal.

Die vierundzwanzig Gedichte des Vorspiels stellen Georges Leben dar als Verwirklichung von Idea len. Man fasse dies Wort wieder in seinem Ursinn: Ideale sind nicht Begriffe die wir aus menschlichem Verhalten als Forderungen oder Ziele abziehen, etwa das Gute, Wahre, Schöne, Kunst, Staat, Religion, sondern sie sind die geistige Schau dieses Verhaltens selbst, die Erscheinung des sinnlichen Wesens auf der Geist-stufe. Es gibt so viele Ideale als es menschliche Wesensarten gibt, oder vielmehr als menschliche Wesensarten auf der Geiststufe noch wahrnehmbar sind und durch den Wahrnehmenden magisch vergegenwärtigt werden können. Der Philosoph gibt uns die Begriffe der Ideale, d.h. die Beziehungen der geistigen Wesenheiten zu den sinnlichen Stoffen und den gedanklichen Ordnungen. Der Weise gibt uns ihr Gewicht, ihren Rang und ihre Reihe im geistigen Gesamtraum. Der Dichter gibt ihr Erscheinen in seinem Leben, als Geschehen, als Tun und Leiden, als Haltung oder Artung .. doch nicht mehr als etwas das ihm widerfährt oder das er nun einmal hat oder ist – Natur Seele Schicksal –, sondern als die notwendige und richtige Form seines Daseins unter allen möglichen oder wirklichen. Auf Georges früheren Stufen sind die sinnlichen Augenblicke als solche ewig .. auf der Geist-stufe ist die Ewigkeit, das zeit- und raumlose Gesetz (keine gedankliche Abstraktion, sondern ein geistiges Sein) im sinnlichen Augenblick selbst wahrnehmbar, wie für Goethe die Urpflanze in dem Einzelgewächs, oder die Gesetze der Geometrie und der Mechanik in jedem Gebäude. Nur darf man dabei der unmittelbaren Wahrnehmung nicht einen abstrahierenden, umdeutenden Denk-akt unterschieben. Das Geistige läßt sich genau so wie das Sinnliche, wie alles Wahrnehmbare magisch bannen, das Gedankliche läßt sich nur sinnbildlich verkörpern oder allegorisch bezeichnen. [Magisch gebannt ist z.B. das Faustische Ideal, der titanische All-hunger, im ersten Faust-monolog, sinnbildlich dargestellt ist es im Höhlen-monolog, allegorisch bezeichnet im Faust II. Magisch gebannt ist das »Ideal« des dämonischen Ehrgeizes in Shakespeares [171] Macbeth, sinnbildlich dargestellt in Schillers Wallenstein, allegorisch bezeichnet in Hebbels Holofernes.]

Indem wir nun »Ideale« benennen, werden sie bei unsern Denkgewohnheiten, zumal seit Kant, sofort als »Begriffe« verstanden. Wenn man von der Idee einer Dichtung redet, so meint man damit meist eine vor oder in ihrer Erscheinung liegende Abstraktion, als habe etwa Shakespeare sich vorgesetzt die Idee der Liebe in einem Romeodrama zu verkörpern: nein, er gewahrte kraft seines eigenen Reifezustandes die ewige Idee Liebe als sinnlichen Vorgang, als Romeo und Julia, und was er gewahrte bannte er ins magische Wort. Wir gewahren die Idee eines bestimmten Herrschertums in Plutarchs Cäsar, aber wir können sie nicht magisch bannen, sondern nur sehend denken: doch indem wir Herrschertum sagen, haben wir schon gefälscht was wir gewahren, abstrahiert von dem sinnlichen Gesicht der geistigen Idee. So auch werden wir die Ideale die im Vorspiel erscheinen, die dort magisch gebannt sind, schon fälschen, indem wir sie begrifflich benennen: so durchaus sind sie eins mit der geistigen Schau und dem magischen Wort eben dieses Dichters. Es sind die gelebten Ideale eben dieses Menschen, nicht allgemein menschliche Ideale die George gesehen oder gar gedacht und dann dichterisch ausgesprochen hätte. Sie sind Gegenwart seines, eben seines Gesetzes, das er, eben er als ewig erfährt und kündet, nicht irdische Hinweise auf ein ewiges Gesetz über den Wolken das jeder andere erfahren und künden könnte, wenn er zufällig bessere Augen und gewandtere Zunge hätte. Ebensowenig sind diese »Ideale« subjektive Erfahrungen eines Herrn Stefan George. Daß sie ein sehendes Auge und einen kündenden Mund, einen sie lebenden Leib, ein magisches Wort gefunden – gerade das ist die Gewähr daß hier ewiges Menschengesetz, übersubjektives Wesen spricht. Subjektive Erfahrungen, Privatideale haben keine Magie, sie können gedacht, allenfalls erlebt, aber nicht gelebt werden. Wo Magie, Gestalt und Weihe ist, da ist von selbst Welt oder Gott gegenwärtig. Privatideale, religiöse Erlebnisse, Glaubeleien sind höchstens die Beziehungen hiesiger Monaden zu einem transzendentalen Ding an sich. Wie eine Blume, einerlei wer sie sieht, wirklich lebt, nicht bloß erlebt wird, wie sie durch ihr Dasein schon Gesetz und Wesen offenbart, so ist das magisch gebannte Ideal eine unmittelbare [172] Wirklichkeit und nicht eine Stimmung oder Deutung. Genau was Georges Landschaftsgedichte von den romantischen unterscheidet das unterscheidet seine Ideale im Vorspiel von bloß geistigen Erlebnissen und Erfahrungen: daß sie sind was er ist .. daß sie wesen was sie erscheinen, und daß Ich und Du auch hier dieselbe Seele sind, nicht durch mystisches Untertauchen des Ich im Du, oder durch gnostische Emanation des Du aus dem Ich, sondern durch magische Gegenwart der Sicht im Seher, des Gesetzes im Buchstaben, der Idee in der Erscheinung, des lebendigen Wortes im geistigen Sinn.

Wir wollen kurz die Ideale des Vorspiels betrachten, der Unzulänglichkeit jeder Inhaltsangabe uns bewußt, die nur die Blickrichtung des Lesers bestimmen, nicht des Dichters Gesichte selbst vergegenwärtigen kann. Wir geben nur Wegweiser, nicht Weg oder Gang. In demselben Sinn in dem der Engel das »Gesetz« Georges ist, der Geist seines Lebens, sind die Winke und Wege des Engels »Ideale« – die Formen unter denen die geistige Einheit sich menschlich auswirkt.

In viermal sechs Gedichten des Vorspiels wird das Leben im Geist, unter dem offenbarten Gesetz, dargestellt. Die ersten sechs zeigen das Ringen des Ich mit dem Engel um die Weihe: Ideale des Strebens .. die zweite Gruppe umfaßt das Leben mit und in dem Gesetz, den eigentlichen »Gottesdienst«: Ideale des Schaffens .. die dritte das Leben des Geweihten mit Mensch und Erde: Ideale des Wirkens .. die letzte sein Schicksal: Ideale des Leidens. Es ist immer dasselbe Sein, nur ein Leben, nur ein Engel – aber der Raum wandelt sich durch den das Du sein Ich führt. Der erste Akt spielt auf der Grenze zwischen dem alten und dem neuen Land, der zweite im heiligen Bezirk, der dritte im offenen Menschenreich, der vierte in der ewigen Stille. So wandert das Ich nach der Überschreitung der Schwelle und dem Dienst im Tempel, sich selber unverlierbar, in die mannigfaltige Weite, und kehrt zuletzt heim in die Zweieinsamkeit der Vollendung – ein Gang zum wahren Sein, wie Dantes oder Fausts Reise durch die drei Reiche. Nur muß der heutige Mensch seinen Führer aus dem eigenen Blute zeugen samt seinem Raum. Himmel und Hölle, Vergil, Beatrix, Gott und Teufel waren schon vor ihren Suchern da: im Vorspiel ist die Findung des Führers und die Erschaffung [173] des Raumes selbst zugleich die Handlung. Das Leben hat ja nicht mehr wie noch bis zum Goetheschen Zeitalter in der Erfüllung unbezweifelter Gebote und Pflichten, in »schwerer Dienste täglicher Bewahrung« seine Lust und Last, seinen Sinn und Wert: wir müssen seinen Sinn und Wert erst aus dem eigenen Herzen erschaffen und die Welt erst aufbauen und abbauen worin er sich verwirklicht. Kein Gott von außen, keine Welt ist uns fraglos gegeben.

Dies Pathos des Gott- und Weltschaffens (denn nicht um bloßes Suchen handelt es sich) bewegt Georges Vorspiel. Dem seligen Schauder der Erleuchtung, dem trunkenen Gewahrwerden der Erwählung, dem Aufglühen und -blühendes Schönen Lebens, der Erhörung des Gebets (I) folgt der erste Kampf um die Gnade. Den schöpferischen Zustand festzuhalten, zu verewigen, das Schöne Leben zu erzwingen ist der Erdensohn versucht der es geschaut: wie soll den dumpfen Tag ertragen wer in der Schöpferstunde die selige Schöne, den Urglanz erblickt hat! Des Engels gewärtig sein, nicht ihn mit Sinnen- und Herzenswünschen bestürmen, die fromme Geduld auch vor der Gnade ist das erste »Ideal« des Begnadeten, die Bändigung des heiligen Eifers durch sein eigenes Gesetz, die erste Lehre des Du, die nächste »Pflicht« des Ich. Die Weihe schließt das Titanentum aus .. der heroische und schöpferische Wille erkennt schmerzlich sein eignes Maß, die Grenze seiner Macht (II). Das Maß im eigenen Schöpferwillen heißt Gleichgewicht in den Stürmen der erschütterten und der bedrohten Seele. Nicht Leidenschaft und nicht Zufall mehr darf ihn lenken, kein Wahn mehr locken, kein Unheil mehr schrecken: der Engel, das Gesetz, der Geist, der Sinn des Lebens selber muß den Gefährdeten sichern .. die aequa mens dessen der sich in der Gnade weiß .. die Besonnenheit des erleuchteten Herzens das wohl alle wilden Kräfte hegen soll, aber keiner verfallen darf (III). Auch der süßesten nicht, der holdesten Lockung, auch der Liebe nicht, wenn sie den Ruf des Engels überklingt und das Gesetz lockert, wenn sie zum Ausruhen lädt und die heilige Bürde abzuwerfen rät. Niemals seit Beatrices Strafrede an Dante ist die Lust und die Qual der Versuchung, der Widerstreit zwischen dem süßen und dem hehren Drang, die Strenge des hehren Drangs, die Ergebung auch der Liebe in den Geist süßer und hehrer laut geworden als in dem IV. Gedicht. Der [174] Ausgeglichene verlernt das Schweifen und Wandern, die »lauten Fahrten«, die friedlose Suche nach buntem Draußen: an des Engels Seite erkennt er den Sinn des zugemessenen Raumes, den Zauber der Heimat: das Geheimnis seines Gesetzes in dem Lande dem er zugeboren ist (V). Wie seine Seele, sein Schicksal, so ist auch seine Natur jetzt dem Geist des Lebens gehorsam, nicht blind und unversucht, mit manch sehnsüchtigem Umblick und Rückblick, aber frei und fest. Nur noch ein Erinnern bleibt das letzte Aufflammen des wilden Lebensfeuers, des alten Titanentriebes der in jedem hohen Menschen sich bäumt und die Vorform jedes Lebensgesetzes ist, wie das Chaos die Grundlage jedes Kosmos. Die leidenschaftliche Selbstbehauptung des Blutes, die jugendliche Herrschsucht des Ich, der prometheische Trutz, der faustische Wahn, sie sind überwunden, eingegangen in das Gesetz mit ihrer glühenden Gewalt, doch ohne ihre lodernde Qual. Das Opfer ist vollbracht und angenommen (VI).

Im zweiten Sechst ist kein Ringen und Bäumen mehr: hier heißt es Schau und Schaffe. Es ist der Bereich der Religion und der Kunst: beide für den Gestalter, den Leibvergotter und Gottverleiber, nur eins. Von seinem eigenen Gesetz aus überblickt er die Gesetze und Gottheiten der Menschen – Nutzen, Wahrheit, Heiligkeit, Schönheit .. die freie Sicht vom Gipfel des Geistes über die Gebiete Mammons, Golgathas und Olymps (VII). Zur geistigen Freiheit gegenüber den Glaubensarten der Geschichte verleiht der Engel die sittliche Freiheit gegenüber geschriebenen und geübten Sittengesetzen, gegenüber allen »Heteronomien«. Zu streng und sicher ist sein eigenes Gesetz als daß er noch fragen ließe mit welchen fremden es übereinstimme. Wie er keine Willkür der eigenen Triebe duldet, so auch keinen äußern Zwang, keine den Andern noch so gültige, durch Alter, Macht und Gewohnheit noch so ehrwürdige Lehre von Gut und Böse. Er ist erhaben darüber, weil er sich ergeben hat in eine härtere Zucht .. er ist frei davon, weil er fester gebunden ist. Wer so muß der kennt keine Sünde als die wider seinen Geist, keine Sitte außer der des schönen Lebens das ihn treibt und lenkt .. und also nicht Scham, wie der Halbe oder Abhängige, nicht Reue wie der Unbesonnene, nicht Fluch wie das weihelos titanische Ich. Er tut wie er muß, kraft innern Rufs, nicht aus Furcht oder Hoffnung, nicht um [175] eines Zieles willen, nicht mit Absicht und Rücksicht sondern aus Einsicht. Seine Taten sind Atemzüge seines Wesens, und sein Wesen ist Gesetz: »frei in den bedingten Bahnen«. Dies ist Georges »Ideal« der Sittlichkeit (VIII).

So kennt er auch kein Wählen und Schmäckeln an den einzelnen Äußerungen des schönen Lebens selbst: seine sinnliche Freiheit ist das offene Auge für jede reine Form und jeden lautern Trieb des gefüllten Daseins, Empfänglichkeit für Art und Ursprung alles Holden, Echten und Tiefen, für Reife der Seele wie der Erde, für die Gewächse und Schichten, Vorgänge und Zustände mit all ihren Sinnenbildern und -scheinen (IX). Wer der Vielheit offen bleiben muß darf die Einheit nicht verlieren, nicht sich betäuben, verwirren, zerreißen lassen von der Tausendfalt des Alls: der Engel wahrt ihm die eine Form die sein Gesetz wie seine Gnade ist, der Sinn seines Ich wie der Zusammenhalt seiner Welt (X). So gesichert gegen das Wirrsal des Raums, weiß er sich gefeit gegen den Abgrund der leeren Zeit durch den Ruf der Schöpferstunde, gegen die Ohnmacht bleierner Nächte durch die Allmacht des Morgens da der tote Stoff unter dem Anhauch des Kairos sich bildet (XI). Doch nicht nur den toten Stoff und die öden Fristen muß der Engel überwinden mit seiner steten Gegenwart, mit seinem sinn- und maßgebenden Wort, wirkend, heischend, tröstend: das Bild selbst, das schon gebannte Ideal, die selige Sicht selbst blaßt und sinkt, die gehobene Stunde, so ewig sie ist, hat keine Dauer im Alltag und der göttergleiche Gestaltenballer und Geisterbanner bleibt nicht in der Traumschau. Auch diese tiefste Verzweiflung des Schöpfers löst nur ihr eigener Sinn: daß Sicht und Seher, Gebild und Bildner eines sind, nur zwei Eimer desselben Brunnens der sie wechselseitig füllt und leert. Sie können einander nicht verlieren, und wo der eine dürstet schöpft der andere. Damit schließt der zweite Akt des Mysteriums (XII).

Der dritte eröffnet die geistgewollte Landschaft, den gesetzlichen Erdenplan des schönen Lebens, voll lieblichen und gemessenen Reichtums – Klarheit, Anmut und Stille. Was in den Hirtengedichten als sinnliche Luft atmete das ruht und glänzt hier als die notwendige Gegend des Geistes, als der erwählte Boden worin er sät und erntet, als Klima worin seine Blumen und Früchte gedeihen (XIII). Dann [176] führt der Engel seinen Pflegling unter die Menschen: zu den Nächsten, die ihn, wenn nicht begreifen, so doch fühlen und die ihm, obwohl seinem Gesetz fremd, durch Art und Geschick vertraut sind, die Wahlverwandten edlen Bluts und die Brüderschaft echten Leides, den engsten Umkreis treuen und echten Menschentums (XIV). Von da geht der Weg zu den Stamm- und Gauverwandten, in die lang gemiedene Heimat. Was jeden, er sei wer er wolle, an seinen Boden bindet, was die mütterliche Scholle und ihre Bewohner traut und heimelig, heimatlich macht, dem Geruch, dem Licht, dem Raunen der vaterländischen Äcker und Triften, den alterinnerten und verjährten Bräuchen, Stimmen und Gesichtern aus der ersten Hege und Weite, all dem gibt die sommerliche Heimkehr des lang Entrückten mit seinem Engel Sinn und Wert. Der Geist des schönen Lebens erweckt wieder und verherrlicht die angestammte Erde,


Die wiesen mit geblümtem samt
Die schweren ähren auf den schwanken stengeln
Gesang der schnitter die die sensen dengeln (XV).

Nun tun sich erst die Stätten der wirkenden, spielenden und genießenden Menge auf, Städte und Ströme, die sinnliche Breite wo der Geist Anschauungen und Erkenntnisse, Reize und Regeln, Stoffe und Mittel findet, die fremde Flut des Geschehens, das Meer von Dingen und Kräften, das Gewoge und Getreibe der Vielen, der Jungen, der Schönen, der immer Regen und Mannigfaltigen .. aber auch die Geselligkeit der Rede und des Schweigens im nächtigen Gemach, das Geheimnis des belebten Gesprächs, der Zauber des abendlichen Beisammen, der Mitteilung, des Seelenaustauschs und -aufschlusses: kurz die ganze weiteste und engste Gemeinschaft der Menschen vom Volk bis zum Geheimzirkel, das Ideal des Mitandernseins kraft des eigenen Lebensgeistes wird magisch beschworen in jenem Hohelied der kosmischen Mitwelt (XVI).

Die beiden Schlußgedichte des dritten Sechsts rufen die geistige Macht und den geistigen Ruhm auf. Der Erneuerer des schönen Lebens durchwirkt mit seinem Geist und Hauch eine neue Jugend. Der Genius der ihn lenkt gibt dem Wort einen neuen Sinn, den Dingen ein neues Maß, den Menschen eine neue Würde: der überpersönlichen Gewalt seines Gesetzes erdröhnt hier des Dichters stolzestes [177] exegi monumentum (XVII). Da dies Leben nicht eingeschlossen ist zwischen Geburt und Grab, so darf sein Geist auch die Nachwelt zeigen mit ihrem Staunen und Scheuen, ihren Fragen und Kritteln, mit ihrer immergleichen Fremdheit vor den Meistern die wie er das Geheimnis des Lebens geschaut und in schönen Bildern offenbart und verborgen haben (XVIII).

Mit- und Nachwelt sind der Wirkungsraum des geistgelenkten Menschen. Im letzten Sechst des Vorspiels kehrt er ein in sein eigenstes Leben, allein mit seinem unveräußerlichen Wesen, in seine Ewigkeit, – in das was Divina Commedia und Faust den »Himmel« nennen. Hier aber ist kein Jenseits, sondern das erfüllte Leben selbst ist Himmel wie es Fegfeuer und Hölle ist. Wir selbst sind unsere Erlösung oder unsere Verdammnis. Unser Sein ist unser Leiden, unsere Seele ist unser »Schicksal« und der Geist vollzieht es. Das »Schicksal« freilich das sie hier zusammen erleiden und vollziehen ist nicht mehr das naturgebundene »Verhängnis« der Traurigen Tänze, sondern der geistgewollte Heilszustand. [Dieselbe Wahrheit ist griechisch gefaßt in dem Heraklitischen ἠϑος ἀνϑρωπῳ δαιμων. Ebenso hat ja auch die Seele hier alle früheren Mächte in sich und ist nicht bloß mehr Natur- und Schicksals-Seele, sondern Geist-Seele und mit ihm zweieinig auf einer höheren Stufe. Zweieinig – aber auch, nach Durchwirkung der Erde, zwei-einsam, und diese Zweieinsamkeit ist ihr letzter und oberster Lebenskreis im Vorspiel: hier ist das Ich Seele, das »Ewig-Weibliche«, nicht mehr Trieb und Wille – nicht mehr das Manntum des Ich, das der Geist, der übergeschlechtige Engel, durch die Bezirke des Strebens Schaffens und Wirkens gelenkt. Die Seele schafft und wirkt nicht mehr, sie west: und wesend erleidet und erfüllt sie die Befehle des Geistes mit dem sie zweieinsam ist.

Die Seele ist wehrlos und jede Erfüllung wie jede Armut ist für sie Zustand, nicht Tat, Werk oder Bild. So war schon im Jahr der Seele alles Geschehen Reifezustand des ewig-weiblichen Ich-Seins. Im Vorspiel wird die vollendete Weihe durch den Engel, der das Mann-Ich »zum Wirken ruft« und ihm die Welt als Schöpfungsraum öffnet und preisgibt, für die Seele zur überschwenglichen Trunkenheit. Dieselbe Erleuchtung die das Mann-Ich zum Gestalter, zum Wirker, zum Bildner macht gibt der Seele den Rausch, den traumschweren [178] Schlaf, die Ekstase, macht sie »mystisch«. Beides ist im schöpferischen Menschen: Bildnerwille der sein inneres Gesicht im äußeren Weltstoff verwirklicht, und Seelensein das im inneren Gesicht aufgeht, actio und contemplatio. Beides hat George gekannt: im XI. Gedicht des Vorspiels, das die Ideale des Schaffens beschwört, spricht der Geist zum zeugenden Ich, im XIX., das die Leidensideale einleitet, zum empfangenden: der Geist des Lebens, Logoss-Eros, waltet hier wie dort, und die beiden Geschlechter des Menschen sind in ihm vereinigt, um zu zeugen oder zu empfangen nach der Stunde die er bestimmt. Den Rausch der Empfängnis, die sternenvolle blaue Nacht des allumfangenden glühenden Untergangs, die unio mystica der Seele mit Schöpfergeist und Schöpfungsall, den uranischen Einklang der Menschenstimme mit der Sphärenmusik kennt nur derselbe Dichter der auch den erdhaften Bildnerdrang, die Lust des Fassens und Knetens, die süß-herbe Gewalt über den nächsten spröden Ton, erfahren hat. Nur dem Plastiker des Inferno konnte die Himmelsrose leuchten und klingen, nur dem Meister des Prometheus waren die Schlußchöre des Faust vernehmbar.

Die Seele, die wehrlos dem Rausch der Erleuchtung erliegt, wenn der Geist sie nicht »mit schweren Traumesflügeln« hüllt, versinkt auch in der abgründigen Trauer der Verfinsterung und ist nur stumme blinde Nacht, wenn die heilige Stimme schweigt. Wir wissen von diesem Zustand in dem das Jahr der Seele empfangen ist:


Ihr ist als ob bei jeder zeitenkehr
Sie mehr nur hungre nach der heiligen zehr ..

Aber während einst dieser Zustand jeweils das ganze Leben der Seele war, der vor- und rückschaulose Augenblick, hat der Geist jetzt ihr Raum geschaffen und umgibt auch die düsterste Stunde mit dem bleibenden Licht: Hoffnung und Erinnerung. Wo sie früher nur gelebt hat, da weiß sie jetzt kraft des Geistes:


Noch niemals blieb der morgen aus der lichtend
Das tal ihr wieder wies das duftig bläut
Wo heimlich singen und ein tief geläut
Und ein gesicht aus maienbüschen lugend
Ihr riefen: sieh dich noch mit deiner jugend (XX).

[179] Erst durch den Geist wird das ganze zurückgelegte Leben, das ehemals in den jeweiligen Nu eingeschlossen war, gewisse Gegenwart und Wirklichkeit .. erst jetzt wird die Dauer des schönen Augenblicks, die früher ein dumpfes Tun und Geschehen war, ein Wissen, ein geistiger Wert, ein Ideal. Und nicht nur die Dauer des schönen Augenblicks, sondern – höherer Trost und sicheres Heil selbst in tieferem Gram und hoffnungsloserer Brache – das Wissen um die Ewigkeit des Geistes, um seinen unverlierbaren Sinn. Nie wieder kann die geisterleuchtete Seele in die unerlöste, die sinnlose Natureinsamkeit zurücksinken. Zwar menschlich bleibt sie einsam: die dunklen Abende, die verlassenen Nächte, die Endschaften des Tages und des Jahres kann der Geist nicht ändern, keine geselligen Brüder erschaffen für den Alleingeborenen, die Brachzeiten der Seele und des Blutes kann er so wenig aufheben wie die der Erde. Er kann die Natur, und das was am Menschen Natur ist und bleibt, nicht entlasten, nur erleuchten, indem er seinen Sinn ihrem dumpfen Sein eingibt. Keine Qual verschwindet durch das Wissen um ihren Sinn, wohl aber wird der Wissende sich in keiner verlieren .. und wer den Tod als Gesetz ehrt, wird ihm freier entgegengehen als der Natur- und Schicksalsbefangene. Die Qualen des Seelenjahres wiederholen sich im Geist-Raum, aber die Seele ist nicht mehr allein mit ihnen, sondern mit dem Engel, dem ewigen Du, das mit-leidet und über-lebt. Seine Liebe wacht: denn was dem zeitlichen Ich Glut ist das ist im ewigen Du Helle, was hier Begier ist das ist dort Liebe, und was hier Sein ist dort Sinn: die Zweieinsamkeit des Menschen rettet die Seele im Geist und gibt ihr bis ans Grab »die Glut die verjünge« (XXI). Freilich, keine andren Gefährten hat das vollendete Ich mehr zu erwarten als seinen Engel selbst: je höher es steigt, je mehr es sich erfüllt, je ausschließlicher es seinem Gesetz dient, desto mehr entfernt und entfremdet es sich den leichten, freundlichen, geselligen, läßlichen Menschentümern, der bequemen Menge wie den willigen doch schwachen Jüngern. Der Engel selbst, der diese Einsamkeit fordert, kann allein sie tragen helfen. Er ist der Bräutigam der Seele die ihresgleichen hier nicht hat, der Bruder eines Lebens ohne Gefährten, die Stimme der stillsten Gipfel (XXII).

Die beiden letzten Gedichte nehmen die Einzelseele auf in die [180] Gesamtseele des Menschentums das unter dem Geist steht: hier redet ein »Wir«, kein geselliges oder volkliches, sondern ein kosmisches, eine Welt-Seele. Die Ideale des Leidens sind hier persönliche Erfüllungen eines Schicksals das nicht einer einzigen Person, sondern dem höheren Menschtum als solchem zugeteilt ist: die Gleichheit vor dem Lebensgesetz und vor dem Tod. Der Geist des Lebens selbst ist der unbedingte Herr über Leiber und Seelen – freudig folgen die welche ihn erkannt haben, die Eingeweihten, seinem Ruf in Nacht und Tod, er gebiete was er will. In den früheren Gedichten sind seine Befehle selbst an ein besonderes Ich gerichtet, die einzelnen Winke des Engels von seinem besonderen Schützling befolgt. Hier (XXIII) wird seine Allgewalt als solche gefeiert, der fraglose Gehorsam den der Geist des schönen Lebens fordert und findet, soweit überhaupt sein Reich sich erstreckt, einerlei was und wem er befiehlt .. die Lebensmacht des Geistes, nicht dieses und jenes persönlichen Ideals, sondern der Idee wie Plato, des ewigen Strebens wie Goethe, des kategorischen Imperativs wie Kant, des heiligen Feuers wie Napoleon, des primo amore wie Dante, des eroico furore wie Bruno es nennt – der göttliche Odem wodurch der Mensch erst Mensch ist. Sein Geheiß ist so unbedingt und so allgültig, so »wir« haft unausweichlich wie der Tod. Diesem gilt der Schluß-gesang des Vorspiels (XXIV). Auch der Tod, die Vollendung, ist Geist des schönen Lebens: der letzte Blick – mild beschattet vom Erinnern, umblüht und umweht vom schicksallosen Wachstum in feierlicher Stille – ruht auf dem Engel und erlischt in seinem Anschaun. Wie Dante erstummt vor Gottes Antlitz und Faust stirbt im Vorblick auf seine bezwungene Welt, so endet das Schöne Leben im frommen Anschaun des Todes der es erfüllt, am Busen des ewigen Geistes der mit ihm uranfänglich eines ist. Das Ich kehrt, beladen mit der Erdenfülle, wieder heim in sein Du, die Zeit geht ein in ihre eigene Ewigkeit. Noch einmal glüht die Pracht, Süße und Gewalt dieser Sänge empor und dunkelt dann im hehren Schweigen. Nicht die Verklärung des Todes, sondern seine Verzauberung ist vollbracht: er atmet in »Worten des ewigen Lebens«. Nicht heilige Ferne ist er mehr, nicht aufgehoben in die »Unsterblichkeit« oder entwest in Gott, sondern schöne Gegenwart, leibhaftiges Da-sein, eines mit dem Trieb des[181] Lebens und dem Sinn des Lebens, mit Eros und Logo. Die Feier des Schönen Lebens hat auch den Tod, den Ich-vernichtenden Kairos, durch Zauberspruch gebannt in dies Leben selbst.

Fußnoten

1 Wir behalten den Namen bei, weil die deutsche »Romantik« die höchste Steigerung und der deutlichste Ausdruck aller dahin gehörigen Eigenschaften dieses Risses ist, ihr faßlichstes geschichtliches Sinnbild.

IX. Der Teppich des Lebens

Dem Dichter der sein eigenes Leben vom Geist aus schaut erschließt auch die übrige Welt erst ihrenSinn: Geschichte und Natur, die in sinnlichen Augenblicken und Schicksalen bisher bildhaft oder magisch ihm erschienen waren, durchdringt er jetzt geistig und die Wesen, Landschaften, Vorgänge von »Mensch und Tier und Erde« sind auf dieser Stufe »Ideen«, d.h. Gestalten .. Geistbilder, wie man in den Hirtengedichten von Sinnenbildern, im Jahr der Seele von Seelen- oder Mächtebildern sprechen mochte. Wir erinnern dabei nochmals daß Geist eine Urform des Lebens, eine Seins-Ebene ist, nicht ein Zwischenreich von Denkmitteln, daß es eine Geist-sicht so gut gibt wie eine Sinnen-sicht. Der Teppich des Lebens ist ein geistiges Erdbild, wie das Vorspiel ein geistiges Lebensbild, nur spricht sich hier das einheitliche Gesetz der Einzel-Gestalten nicht aus: ihr Sinn ist die Auswahl und Ordnung, der Fug und Zusammenhang. Zum Vorspiel verhält sich der Teppich wie zu einem Gemälde das einen bestimmten Vorgang darstellt ein figurenreiches Gewirk: auch dies wird nicht durch Spruchbänder erklärt, sondern trägt seinen Sinn selbst in sich als Einklang von Farben und Formen, der im Geist des Wirkers eine gewußte Einheit ist. Beim Gemälde ist Bild-raum, -vorgang und -sinn dasselbe, beim Teppich gibt das In- und Nebeneinander eigengewichtiger Einzelfiguren die Bildwirkung welche der Sinn ist, gleichviel ob dieser sich begrifflich fassen läßt oder nicht. Der Teppich des Lebens ist keine Allegorie deren Deutung hinter den Zeichen läge, aber auch kein Symbol das seine Einheit als Einheit darstellte: er ist ein Symbolgefüge, eine Gestaltenordnung, nicht Reihe, nicht Drama, nicht Bau – sondern allerdings am verwandtesten derjenigen Bilderverknüpfung nach der er benannt ist. Nur darf man dabei nicht an Zierkunst denken: der Titel »Teppich« meint nicht den Zweck, sondern die Art des Zusammenhangs. Es ist ein Teppich »des Lebens«, nicht für das Leben oder nach dem Leben: vielmehr die ursprünglichen Gestalten des Lebens [182] selber – und zwar des menschheitlichen Erd-lebens, nicht des besonderen Menschenlebens – ordnen sich im Geist des Dichters zum lebendigen Einklang, ein Teppich sinnschwerer Figuren. Das Einleitungsgedicht sagt wie dieser Einklang wahrgenommen werden soll:


Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren
Sich fremd zum bund, umrahmt von seidner franze
Und blaue sicheln, weiße sterne zieren
Und queren sie in dem erstarrten tanze.
Und kahle linien ziehn in reichgestickten
Und teil um teil ist wirr und gegenwendig
Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten
Da eines abends wird das werk lebendig.
Da regen schauernd sich die toten äste
Die wesen eng von strich und kreis umspannet
Und treten klar vor die geknüpften quäste
Die lösung bringend über die ihr sännet!
Sie ist nach willen nicht: ist nicht für jede
Gewohne stunde, ist kein schatz der gilde.
Sie wird den vielen nie – und nie durch rede ..
Sie wird den seltnen selten im gebilde.

Die Geistwerdung der vorher nur gelebten oder geschauten Mächte und Wesen, das Erwachen des dumpfen Seelentums zum Sinn der Erde, zur Lösung und Deutung der stummen und wirren Lebenszeichen, kurz, die Erleuchtung, das Erscheinen des Engels, ist ausgesprochen in dem Vers »Da eines abends wird das werk lebendig«. In einer Stunde dunkler Einkehr offenbart sich der Sinn der Schöpfung wie das Gesetz des Ich. Der Wink des Engels »meine ehrengift wird nicht durch zwang errungen« hat denselben Sinn wie die Warnung »sie ist nach willen nicht«. Der Sinn der kosmischen Zeichensprache erschließt sich weder der guten Absicht noch dem Fleiß noch dem Verstand, er ist so wenig lernbare Wissenschaft oder »Geheimlehre« wie Werktagsgut: er ist die hohe Schau hohen Menschentums .. kein »Wissen gleich für alle«, sondern die dritte Stufe des Wissens, die (nach dem Stern des Bundes) nur durch das Tor der Weihe führt: [183] die unmittelbare, überbegriffliche Ideenschau. Am Dichter ist es sie magisch zu rufen.

Will man das Symbolgefüge des Teppichs einheitlich benennen (mit einem notwendig unzulänglichen Näherungsbegriff, der die Gestaltenvielheit nur andeuten, nicht umfassen kann) so wäre es das Kräftereich europäisch-deutscher Menschenbildung. Es wird dargestellt in einzelnen Schöpfungsformen, von den erdgebundenen Anfängen bis zum geistigen Tun und Wirken der Genien. Überall atmet und bindet, wirkt und ründet der Geist des Lebens, nicht mehr des Ich-Lebens, wie im Vorspiel, sondern des Erdenlebens, welches Natur und Geschichte, Wachstum und Bildnertum, Blut und Seele, Wesen und Geschehen so vereinigt wie der Geist des Ich-Lebens Natur Seele Schicksal. Die Elemente von Georges bisherigem Schaffen sind hier verschmolzen wie im Vorspiel, erweitert zugleich und verwandelt durch den Geist. Der Teppich ist (wenn man die alten Namen gleichnishaft auf die neue Art anwenden darf) ein Epos des Erdgeistes, wie das Vorspiel ein Drama des Lebensgeistes. Hier wie überall ruft George urbildliches Sein – doch nicht nur, wie in den drei Bildungsbüchern und im Jahr der Seele, von ihm durchlebte Zustände der Geschichte oder der Natur, sondern die geistdurchleuchteten Kräfte mit ihrem überpersönlichen Raum. Jetzt überblickt der Geist das ganze Rund, von dem früher einzelne Orte und Stunden Blut und Seele wurden. Was von der Farbe und Sprache des Vorspiels gesagt ist gilt daher auch für den Teppich: nur erscheint hier epischerweise kein »Ich«, und die Glut und Wucht des Wortes scheint mehr Eigenschaft der Dinge als Erregung des Dichters. Zwar ist George nie bloßer Erguß-lyriker und auch wo sein Ich am unmittelbarsten ertönt, ist es die Stimme überpersönlichen Geschehens. Im Teppich aber ist er, ohne je Schilderer und Erzähler zu werden, ganz Dingezeiger, Wesenbildner, Epiker, ja (wäre das Wort nicht für beliebige Phantasie-Arabesken heute mißbraucht) Mythiker: Künder des Erdgeschehens. [Epos ist eine Darstellungsart, Geist eine Seinsstufe – beide schließen sich nicht aus. Der Geist ist objektiver Epik so fähig wie die Sinnenwelt: das zeigt Dante, auch er kein erzählender Bekenner von subjektiven Seelenerlebnissen (wie man ihn meist romantisch nimmt) sondern epischer Künder einer sichtbaren Geistwelt. [184] Nur wo eine ganze kosmische Seinsebene sichtbar und sagbar wird, da ist ursprüngliches Epos möglich, sei dies Mächte-stufe wie bei der Edda oder dem Mahabarata, sei es Götter-stufe wie in der Ilias, sei es Geist-stufe wie bei Dante. Jedes ursprüngliche Epos kann, sobald es Geschichte geworden, dann willkürlich verwendbares Nachahmungsgut werden für bloße Literatur und Bildung. In der höfischen Epik des Mittelalters und der Renaissance, den Vorformen des Romans, erzählt sich nicht das Weltgeschehen, sondern schildert sich eine Gesellschaft mit ihren Sitten oder mit ihren Problemen: sie sind völlig unmythisch. Der mythische Hauch, das Kennzeichen kosmischen Ursprungs, ist nur dort wo jenseits des subjektiven Gefühls und jenseits gesellschaftlicher Bildung die Erdkräfte als Menschengeschehen im magischen Wort erscheinen. Das echte Epos erfordert freilich, so gut wie das echte Drama, Gesellschaft und Weltkräfte (Götter) zusammen, durchgottete Gesellschaft: d.h. Volk. Die götterlose Gesellschaft bringt es nur bis zum Roman, die gesellschaftslosen Weltkräfte nur zu persönlichen Mythen, um die sich eine Gesellschaft ansetzen kann, aber nicht muß. Im vollkommenen Epos singt sich ein Volk aus .. die persönlichen Mythen sind ein Anzeichen daß neues Volk werden will.]

Der Teppich des Lebens ist das erste Werk Georges worin das Volk mitspricht als Geist und Sinn. Bis zum Jahr der Seele ist George nicht mit Bewußtsein Deutscher und seinem Volk nicht verbunden durch Willen und Denkart, sondern nur durch Blut und Sprache. Seine früheren Dichtungen enthalten nur so viel Volkliches als die Sprache und Geschichte die in ihm dichtet mitbrachte, und so persönlich deutsch sein Griechentum, sein Rittertum, sein Morgenland ist, und erst recht sein Seelen-jahr, so wenig beschwören sie deutschen Volksgeist und deutsches Volksschicksal, so wenig weiß sich ihr Dichter als Träger einer deutschen Sendung. Erst die Offenbarung seines Gesetzes hat ihm den Raum erhellt aus dem er sich nährt, und seit dem »Teppich« gehört sein Volk, der Inbegriff aller unmittelbar in ihm regen Geschichtskräfte, zu seinen immer dringlicher und immer klarer erfaßten Nöten und Heiltümern. Immer deutlicher wird ihm daß die Verleibung des Gottes auch Vergottung des Volkes fordert. Wie er von der triebhaften Läuterung der Bluts- und [185] Seelenkeime im Wort sich immer weiteren Umfängen des Lebens einwirkt, wird ervolkhaltiger und –wie sich selbst – auch seinem Volk verantwortlicher .. freilich einem werdenden, ja erst zu schaffenden Volk, nicht einer zufälligen Masse mit nationalen Zwecken, Begierden und Wähnen. Der Mythus den der Teppich anhebt enthält nicht die Abbilder eines gegenwärtigen Volkes, sondern die Urbilder eines kraft seiner Natur und Geschichte möglichen. Der Geist dem sie erscheinen (denn es ist keine Sache der Phantasie, des guten Willens, des glücklichen Einfalls sie zu erfinden, wie unsere bequemen Lokal- oder Wolkenkuckucksheim-Mythiker meinen) das Wort das sie bannt, sind wenn irgendetwas die Bürgschaft ihrer Möglichkeit. Nichts wird echtes Bild und echtes Wort was nicht schon da ist, einerlei ob einem oder allen sichtbar. Mag der Dichter von Geistbildern Voraus-seher oder Herbei-rufer sein: in ihm mindestens ist schon Gegenwart, Auge und Stimme was er sieht und ruft. So verwirklicht der Teppich Volkskräfte, wie die Hirtengedichte Bildungskräfte und das Jahr der Seele Naturkräfte nicht betrachtend oder einfühlend, sondern von ihnen besessen.

Wir wenden uns zu den einzelnen Geistbildern des Teppichs. Sie beginnen mit dem nährend breiten und mütterlichen Grunde alles Volk- und Menschtums: der Urlandschaft – der noch geschichtslosen Gemeinschaft zwischen Erde, Tier und Mensch aus welcher erstes Wesen, Tun und Leiden sich sondert, trächtig mit Zukunft.


Erzvater grub, erzmutter molk
Das schicksal nährend für ein ganzes volk.

Hier sind Erde und Mensch, aus deren Krieg und Ehe sich die menschlichen Lebensformen ergeben – Staat Religion Kultur – noch ungeschiedene Einheit. Dies Gedicht hat kein Gegenüber wie die folgenden, die paarweise die Zweieinigkeit der Schöpfung bis in die hellste Besonderung hinein darstellen – unter immer anderen Formen und ohne kulturphilosophische Absicht, doch mit dem George angeborenen Sinn für Polarität und mit der Bildner-freude am sinnlichen Widerspiel der hellen und der dunklen Massen. So hebt sich »Der Freund der Fluren«, der Heger und Herr, der Grenzer und Hüter der menschlich bedingten Erde, der Pflanzer und Ernter des durch ihn gebändigten Wachstums, umso klarer, bestimmter, runder ab von dem elementarischen [186] Sausen und Schütteln der Sturm- und Nachtgeister die im »Gewitter« sich tummeln: der Windsbraut und ihrem finsteren Jäger, odinhafte Gesichte germanischen Erdgrauns und Schweifens.

Das nächste Paar wandelt zwischen Element und Geist in ungewissem Halblicht. »Die Fremde« verkörpert das Locken und Graun, den süßen und herben Reiz jedes Dunkels das in die Gesittung eindringt, den Märchenschauder, die Wollust des Geheimen und Andren, die Hexerei des Dickichts, des Sumpfs, der Mondnacht und alles lichtscheuen Tuns und Sagens, ja auch den Zauber der Urpoesie. Sie ist die leibhaftige Magie der Phantasiekräfte die sich nähren aus Ferne, Rätsel und Wunder: ihre Geburten sind das Märchen, das Volkslied, Kinder des trauten Alltags und des holden Geheimnisses von überall und nirgends. »Lämmer«, eines der rätselhaftesten Gedichte, gibt die Luft der völlig ungeregten, geheimnislos gutartigen Ahnen und Erben, die fern von den Ursprüngen, Tiefen, Verhängnissen im fertigen Geheg hindämmern und sich behagen. Aus der Bildungsgeschichte kennen wir diese Volkslage als Epigonentum und Biedermeierei. Sie ist hier mythisiert (nicht allegorisiert) als eine Volksstufe, und hat im Teppich, der nicht nach Zeitaltern, sondern nach Kräfteschichten ordnet, ihren Platz gegenüber dem Bild der echten Natur- und Volkspoesie. Beides sind ja nicht nur geistesgeschichtliche Tatsachen, sondern Volkskräfte. Es war ein großes Wagnis, unser nahes nüchternes Großvätertum ins mythische Licht zu tauchen, den ewigen Sinn seiner behäbigen Vergängnis zu zeigen. Durch den Gegensatz gegen »Die Fremde« werden sie gehoben, und empfangen etwas von dem spukhaften Glanz der dieses Gedicht umschimmert. Ein Meisterstück dichterischer Traumschau werden immer solche Verse bleiben die eine ganze »unpoetische« Menschenart zugleich bis ins Herz charakterisieren und zur Sage machen:


Lämmer ein wenig leer und eitle herzen
Stolz auf die güldnen glocken eurer führer ....
Alternde uns! in eurem geiste junge!
Lämmer von freuden die für uns erkühlen
Lämmer mit schwerem tritt, mit leichtem sprunge
Mit einem heut kaum mehr begriffnen fühlen!
[187]
Vorsichtige! vor keinen hängen scheue!
Lämmer der wolumfriedigten zisternen
Lämmer zu alter doch bewährter treue
Lämmer der schreckenlosen fernen!

Das nächste Paar zeigt Grundkräfte von denen zwei europäische Kulturfristen, Mittelalter und Rokoko, getrieben waren: die mystische Glaubenskraft die Wunder schafft und schaut, und die selbst den Tod und das Grauen übertanzende Spielkraft. Was die Innenräume der gotischen Kirchen und ihre Gnadenbilder geformt und gefüllt, weihrauchschwangre Andacht der Gemeinde und schlanke Verzückung der Erwählten, das lebt wieder auf in der »Herzensdame«. Der anmutige Fasching der bewußt vergänglichen, betäubungsbedürftigen und -lüsternen Gesellschaft, der noch um die Gärten und Schlößchen des 18. Jahrhunderts geistert, das leidenschaftliche Überblümen und Umkräuseln des Abgrundes, das Lächeln mit dem Tod im Herzen – all das flimmert und spukt in der »Maske«: der Tanz über dem Tod und in den Tod. Die »Herzensdame« und »Die Maske« sind zwei Gestalten der Gesellschaft, wie »Die Fremde« und »Lämmer« zwei Schichten des Volksgeistes verkörpern.

Die »Verrufung« und »Der Täter« beschwören die furchtbaren Besessenheiten die jeder Schöpfung und jedem Untergang zugrunde liegen: den tod- und lebenzwingenden Haß und die tod- und lebenverachtende Qual. Beide gehören zu den in jedem Sinn »ungeheuersten« Gedichten des Weltschrifttums durch ihren Blick und Griff in die finstersten Klüfte der Gäa und des Herzens. Das Herz ist hier nur das Gefäß worin die Urmutter ihre Säfte und Stoffe mit verderblichem und schöpferischem Feuer zu menschlichen Leidenschaften braut, gleicher Art, gleich wild und böse, rein und groß wie ihre Raubtiere, ihre Springfluten und ihre Erdbeben. Die ganze Spannung die der Einbruch solcher Urgewalten im vernunftbegabten, gesetzlichen, gebundenen Menschen bewirkt, die Sammlung der Erdkräfte zum bösen Willen, das Ringen der Seele gegen sie und das tragisch schicksalhafte Erliegen unter ihrem Zwang, das Ineinander und Gegeneinander von Menschtum und Erdtum zugleich in Geberde, Geschehen und Landschaft, das hat seinesgleichen nur noch einmal: im Macbeth. Das läßt sich nicht ersinnen, nur sein. »Die Verrufung« [188] und »Der Täter« sind keine phantastischen Balladen einer fruchtbaren Privateinbildung, sondern mythische Gegenwart geistig gelebter Erde.

»Schmerzbrüder« und »Der Jünger« führen aus dem Bann der erdbesessenen Leidenschaft in den rein menschlichen Bezirk der rückhaltlosen Hingebung, der schmerzlichen an das unerreichbar entgleitende Andre und der freudigen an den Träger des Wertes und des Heils. Diese wie andere Inhalte des Teppichs kennen wir schon aus früheren Büchern Georges – sind sie doch Lagen seines eignen Wesens. Sie erscheinen hier nicht als Sinn- oder Seelenbilder seines inneren Geschehens, sondern als Geistbilder der Elemente woraus »Europa« entstanden ist und entsteht. Nichts ist hier bloße Lyrik oder Ballade, diese Gedichte tragen die Idee in sich deren Leiber und Vorgänge sie sind: den volkschaffenden »Kampf von Mensch mit Mensch und Tier und Erde«. Wie erst die Geschichte von der Seele entstofflicht, entromantisiert, enthistorisiert wurde zum Bereich des urbildlichen Menschenlebens, so macht sie hier der Geist zum Bereich urbildlichen Erd- und Volkslebens: Erde und Volk sind auch Menschtümer und jedes Menschtum gehört so gut der Person wie der Gesamtheit an, ist zugleich Sonderwesen und Erd- und Volkswesen. So umwölbt und trägt die menschlichen Eigenschaften und Leidenschaften hier der Gesamtraum des Erdgeistes.

»Schmerzbrüder« und »Der Jünger« sind mythische Gesinnungsbilder, »Der Erkorene« und »Der Verworfene« mythische Haltungsbilder. Die fromme Scheu und die kluge Gier, das lautere Wartenkönnen und das hastige Haben-wollen, die ehrfürchtige Beschauung und die ehrsüchtige Schauspielerei, die Anbetung und die Umbuhlung des Lebens, die Selbstheiligung und die Weitläufigkeit: diese beiden Beweger der Kultur in unzähligen Personen sind hier zu Ideen gedrängt. Dasselbe geschieht in »Romfahrer« und »Das Kloster« mit geschichtlichen Tendenzen: dem Südsehnen und der Weltflucht. Der Zauber Italiens, des schönen Sonnen- und Kaiserlandes, das Salier und Staufer hinunterlockte in Huld und Herrschaft und Verderb, dessen sinnlich heiliger Ruf jeden Bildungssucher noch heut berückt und erhebt, hier glänzt er mit mythischer Macht, nicht stimmungshaft oder kulturphilosophisch, sondern als ewig-deutsches Erdgesicht. So faßt [189] »Das Kloster« die Gemeinschaft des frommen Sinnens, Tuns und Duldens in lauterer Stille des Verzichts, die brüderliche Heiligung des Erdentags in Gott, die Christlichkeit die in Mönchsorden und ihren Bildungswerken sich niederschlug.

Gleicher Feier werden die geschichtlichen Personen teilhaftig welche zwei Urgaben des deutschen Volksgeistes am reinsten verkörpern: die sachlich innig-klare Formenschau der rheinischen Maler bis zu Holbein hinauf und die überschwengliche Traum- und Rauschglut Jean Pauls: sie sind hier die mythischen Geistbilder für das apollinische und das dionysische Deutschtum – Holbein, nicht Goethe, weil Goethe noch mehr und andres ist als Formenschau .. Jean Paul, nicht die Musiker, weil er nicht nur Rausch- und Traumklang, sondern auch Rausch-und Traumwort, nicht nur trunkene Zauberseele, sondern auch trunkener Zaubergeist unseres Volkes ist. Soweit reichen die Natur- und Geschichtsgestalten des deutschen Erdgeistes die George mythisch sieht.

Die »Standbilder« rufen metaphysische und metahistorische Wesen die noch keinen faßbaren Träger oder Namen haben. Man darf sie nicht allegorisch nehmen: es sind die Ideen, nicht die Begriffe übergeschichtlicher Mächte durch die der Erdgeist, in den Einzelnen wirkend, Geschichte schafft. Das erste, ein Doppel-Standbild, wird der ewigen Polarität errichtet die in der Geschichte als Gegensatz der griechischen Leib-erde und des christlichen Seelen-himmels sich ausfaltet und ihren sinnfälligsten Ausdruck in den hellenischen und gotischen Bauten findet. Hellas und Christentum sind geschichtliche Zeitalter, aber auch zeitlose Weltkräfte und menschliche Ursprünge. Dieselben Lagen die sich zu Hirtengedichten und Sagen und Sängen gesondert, die im siebten Gedicht des Vorspiels vom Berge des Engels aus als Lebensräume überblickt werden, sind hier mythische Ideen. Das dritte Standbild gilt der wunsch- und wahnschaffenden Geheimgöttin die durch immer neuen Bildertrug das Leben weiterdrängt und -lockt. Sie ist der »Wille« der die »Vorstellungen« emportreibt, die Gewalt vermöge welcher wir die Dinge schönsehen und begehren, und doch selbst nicht Schönheit, sondern »Not und Schauer«, das dunkle Sein der hellen Gesichte. Dem Geistgelenkten frommt die Hülle nicht mehr, er darf den Schleier heben und den finstern Grund [190] kennen: er geht seinen Weg ohne Lockung, weil er muß und obwohl er weiß, dem Gesetz dienstbar ohne Schein.

Auf dieser Höhe erst gilt auch das Gesetz selbst, das Soll, die Pflicht als Gottheit, als eine anbetungswürdige Weltkraft und bekommt ihr Standbild. Die edle Jugend tut das Edle »unbemüht« aus Glaube, aus Kraft des Bluts, aber sie flieht den offenbaren Befehl noch so edlen Zwanges. Wie sie des schönen Wahns bedarf, so scheut sie die enthüllende und die fordernde Weisheit .. und das vierte Standbild huldigt ihr doppelt durch die Erinnerung an die Zeit da sie noch ein Schrecknis war. Das fünfte feiert die allbezwingende Leidenschaft, die Wünsche und Rechte, Erinnern und Hoffen schweigt, alles tragen, alles vergessen läßt, die gewohnte Welt zersprengt und den Besessenen willig zum Abgrund führt. Das sechste wird der Kunst er richtet, der Zauberin die in Bilder das Leben der vergangenen Zeiten bannt, daß es berückt und schreckt wie gegenwärtiges Fleisch und Blut: die »Wirklichkeit der Bilder« ist hier ein leibhaftiges Wesen. Wer begreifen will was es heißt den Geist lebendigwahrzunehmen, wie der gewöhnliche Mensch sinnliche Dinge und Vorgänge wahrnimmt, der lese dies Gedicht, diese sinnlichste Bannung geistigen Geschehens.

Das Schlußgedicht »Der Schleier« beschwört die Traumschau des Dichters selbst, die Magie welche Länder und Zeiten vergegenwärtigt, Wesen und Scheine verwirklicht, die Welt füllt mit seinen Gesichten, die Geister zwingt oder lockt zu seinem eigenen Leben.


So wie mein schleier spielt wird euer sehnen.


Georges Werk selbst ist hier mythisches Bild, wie von weiter Ferne aus erblickt. Was sich durch Jahre erstreckt faßt ein zauberischer Vorgang zusammen, der Traum-nu des Geistes dem Äonen sind wie ein Tag. Die Einheit des schöpferischen Augenblicks mit dem Ganzen der Welt, die Gegenwart des Seins im Schaun, die Ewigkeit des Jetzt und Hier im ideensichtigen Geist liegt diesem Gedicht zugrunde, wie den Versen Dantes von der »Mitte


Vor der als heutig alle Zeiten stehen«

oder denen Goethes:
Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis
oder Shakespeares:

[191]

Wir sind nur solcher Stoff wie der zu Träumen.


Es ist, von verschiedenen Allgefühlen her ausgedrückt, die Ureinsicht jedes Sehers: daß Raum und Zeit mit sämtlichen Inhalten nur Scheine des ewigen oder gegenwärtigen oder zeitlosen Wesens sind das als Gott oder Welt oder Leben vom begnadeten Ich wahrgenommen, d.h. dargelebt wird .. Scheine, nicht Lügen .. Wirklichkeit, aber nicht »Wahrheit«, kein Davor oder Dahinter des Da-seins, sondern eben seine unmittelbare Wahrnehmung, wahrnehmend als Ich, wahrgenommen als All.

X. Die Lieder von Traum und Tod

Der Dichter ist ein Ich, wenn er im All darstellt sein Menschentum, sein Gesetz, seinen Raum. Wir erhalten und erfüllen uns, indem wir den dunklen Urgrund gestalten durch Trieb, Wille, Geist, der uns Eignes und Fremdes, Höhen und Tiefen, Maße und Grenzen, Räume und Körper, Gesetze und Bilder schafft, durch uns oder in uns – in sehr verschiedenen Lagen und Kräften. Vom Tier bis zum Seher hinauf wirkt dies Hellerwerden, Heraufheben, Besondern – mächtig in der Futtersuche wie in der Gottsuche. Denn auch wer zum All werden will der will sein All werden .. nicht Chaos, sondern ein Kosmos der seines Blutes oder seines Geistes Züge trägt, ob er das weiß oder nicht. Wer in Gott eingehen will der will in seinen Gott eingehn, in das Licht das ihm auf-gegangen ist: noch die Entstaltung der Mystiker, die Flucht ins Nirvana, die Abkehr vom Sein wird ja damit begründet daß man sich über den Sinn des Seins klarer geworden, also jenen Menschenweg bis ans Ende gegangen sei. Die Mystik ist nicht ein Urtrieb des Lebens, sondern dessen Umkehr. Niemand wird als Mystiker geboren, wohl aber jeder als Gestalt .. und ob man dies Gestalthafte, das schon dem Mensch-tier mitgegeben wird, aus-bilden will zum Mensch-gott oder es abtun will und vernichtigen, ob man sich erfüllen oder erlösen will, das bestimmt des Einzelnen Religion. Doch auch der Erfüller wird immer wieder, je energischer er dem dunklen Urgrund sich enthebt, daran erinnert wie sehr er ihm entstammt. Alle Grenzen umwogt die grenzenlose Flut und jede schöne Gestalt ist eine Anadyomene. [192] Es heißt nicht zurücktauchen ins Gestaltlose, wenn man es anerkennt und dem Meer opfert dem die Götter-Bilder entsteigen.

Jedes Werk Georges enthält ein solches Opfer an das Dunkel, neben der Feier des gestaltigen Daseins .. und immer wird dies Opfer gebracht, wenn ein neuerschlossener Gestaltenkreis durchmessen ist: so taucht der Herr der Hängenden Gärten in den Strom, so nachtet das Jahr der Seele in den »Traurigen Tänzen«. Diese Werke waren dem dunkeln Urgrund ohnehin noch näher: der Geist des Lebens war dem Dichter noch nicht erschienen, das Gesetz noch nicht offenbart und die »Ideen« noch nicht sichtbar. Führt von der Geist-Ebene aus noch ein Rückweg in die Nacht? Ja, auch sie hat ihre Nacht so gut wie ihren Morgen und Mittag, wie denn alle Dinge und Vorgänge in jedem Seinsbereich sind, nur nicht in jedem erscheinen .. doch bewahrt jeder weitere Umfang die früheren Erscheinungen. Was für die Bildung die leiblosen Elemente sind (»Stimmen im Strom«), was für die Seele das gesetzlose »Verhängnis« ist (»Traurige Tänze«) das ist für den erleuchteten Geist die kosmische Nacht. Jede Stufe ist die Überwindung, die »Aufhebung« ihres jeweiligen Widerspiels und wo sie überschritten ist da stößt der Überwinder auf eine höhere und umfänglichere Gegenmacht, die er nun bezwingen muß: der Bildner die Natur, der Zauberer das Schicksal, der Erleuchtete das Chaos. Dies Herauftauchen der neuen Gegenmacht gibt jedem Werk den dunklen Untergrund von dem sich das Erreichte umso runder abhebt, und zugleich den Ausblick in unerforschte Himmel. Jedes dieser Werke ist »ein End und ein Beginn« – Abschluß der einen Seins-zone und Anbruch der neuen.

Wenn das Schlußgedicht des Teppichs, »Der Schleier«, das ganze gestaltige »Leben« des Dichters als einen Traum-nu des Geistes zeigt, so ist damit der Geistestag vollbracht und der Geist selbst der dies vermag ist am Ende seiner Herrschaft: er steht vor dem Urgrund der ihn bewegt: er erkennt sich selbst, wenn nicht als Stoff, so doch als Kraft zu träumen. Die kosmische Nacht in die er blickt ist zugleich Widerspiel des Gestaltenreiches das er als Geist der Erde verwirklicht, und Widerspiel des Gesetzes das er als Geist des Lebens verewigt, kurz: sie ist Traum und Tod. »Traum«, nicht als die Fülle der Gesichte, sondern als »Maja« – die Scheinung des Wesens, vermöge [193] deren der Urgrund sich der Bindung im Raum immer wieder entzieht, wie er im Tod der Bindung durch die Zeit entgeht. Traum ist die Aufhebung des Raum-Ichs, Tod die Aufhebung des Zeit-Ichs – beides sind Nachtformen des Urgrundes, die raumschaffende und -vernichtende Bewegung, und das zeitschaffende und -vernichtende Sein.

Beide kann der Geist wahrnehmen und darstellen durch das Wort, das nicht nur Gesicht und Gesetz, sondern auch Klang und Schwingung ist. Bannt der Geist Bewegung und Sein des Urgrundes in Raum und Zeit, so wird das Wort Fleisch und Sinn des Ich, wie im Vorspiel und im Teppich. Löst er Raum und Zeit des Ich zurück in Bewegung und Sein, so wird es Klang und Schwingung des Urgrundes, wie in den Liedern von Traum und Tod. Dies geschieht nicht nach Willkür, so wenig wie das Gefrieren oder Tauen des Wassers.

Die Lieder von Traum und Tod enthalten das durchgeistete Leben, das im Vorspiel und im Teppich raumzeitliche Schau ist, als Musik des dunkeln Grundes. Der Geist gibt hier nicht Gesetz oder Mythus, sondern Klangfarbe und Tonfülle. Der Sinn dieser einzelnen Gedichte ist daher, obwohl sie geistig sind, so wenig mit Begriffen zu fassen wie die Zaubersprüche aus dem Jahr der Seele – sie sind keine »Ideen« keine Geist-bilder, sondern Geist-schwingungen. Wir vermögen wohl noch zu erkennen wodurch der Geist in Schwingung geraten ist, doch Schicksal, Gestalt oder Landschaft wird hier nicht als Schau vergegenwärtigt, sondern ist von vornherein schon empfangen als Schwingung des geisthaltigen Wortes. »Julischwermut« ist nicht eine geistige Sommerschau wie etwa der »Sieg des Sommers«, oder wie das XV. Gedicht des Vorspiels den sommerlichen Raum des Lebensgeistes zeigt und der »Freund der Fluren« den des Erdgeistes, sondern es ist der Sommer als schwermütige Schwingung des Lebensgeistes selbst, dargestellt in Worten die sommerliche Anschauungen bezeichnen. Während im Vorspiel und im Teppich Wortklang und Tonfall nur die Schau emporheben, sind hier die Bildinhalte nur Träger der Schwingung: dort ist Schau, aus der Schwingung geboren, hier Schwingung, in Anschauungen ausgewirkt .. dort der Strom, hier das Strömen. Der Strom ist die Gestalt des Bewegten, das Strömen die Bewegung der Substanz.

[194] Schon in der Sprache selbst liegt dieser Gegensatz. Das Wort ist zugleich Schau und Klang. Schau ist es durch die actio des Geistes die ein Ding nennt, vor-stellt, heraus-hebt, sondert, begreift. Klang ist es durch die passio die ihn, einerlei wodurch, schwingen macht. Die Bezeichnung der Dinge durch bestimmte Laute ist ein Akt, einerlei ob willkürlich oder unwillkürlich, einerlei ob aus optischem oder aus akustischem Antrieb. Die Entstehung von Lauten beim Anblick bestimmter Dinge ist ein Erleiden des menschlichen Geistes, jenseits aller Willkür. Sprache als Klang ist Schwingen durch Schau. Sprache als Bild ist Bannen der Schwingung. Werde ich durch Räumliches oder Zeitliches bewegt, so erklinge ich .. nenne ich was mich bewegt, so schaffe ich durch Laute Raum- und Zeit-Worte. Durch Erleiden von Raum und Zeit kommen mir Wort-laute .. durch Wort-bilder banne, ja schaffe ich Raum und Zeit. Beide Vorgänge sind gleich ursprünglich, wie Auge und Stimme des Menschen mit seinem Leibe gleichzeitig gegeben sind. Ich sehe schon Dinge, ehe ich sie nennen kann, und ich habe schon Laute, ehe ich sie an Gesehenes fixieren kann. Bis in die höchste Dichtung hinauf reichen diese Ursprünge: wo die raum-zeitlichen Anstöße des Alls als passio des Ich Sprachklänge werden, da entsteht die musikalische Dichtung. Wo ein Ich seine Bewegungen durch Sprache in Schau bannt, das heißt in raumzeitliche Grenzen, da entsteht die Gestaltendichtung. Die eine ist Ichklang der Welt, die andre ist Weltbild des Ich .. in der einen erleidet das Ich erschaffene Dinge, in der andern schafft es erlittene Dinge.

Auf dem Gipfel deutscher Lyrik geben die Lieder von Traum und Tod die Schwingung desselben Gehalts von dem das Vorspiel und der Teppich die Schau geben. Diesen Gehalt selbst müssen wir daher nicht nochmals erörtern, und Schwingung läßt sich nicht so beschreiben, geschweige begrifflich fassen, wie Schau. Auch sind die Lieder von Traum und Tod nicht wie das Vorspiel und der Teppich zusammengehalten durch eine aktive Idee – sondern ihrem Ursprung gemäß nur durch das gemeinsame Pathos, ein Auf- und Abschwellen des Lebens das im »Vorspiel« dramatisch gelenkt, im Teppich episch geordnet war. Doch darf man sich, wenn wir diese Lieder musikalisch nennen, dabei nichts dumpf-Befangenes, stofflich Schwelgendes vorstellen. Die Musik bietet uns nur das geläufigste Gleichnis für den [195] Zustand worin das Ich Schwingung des Alls ist. In der Dichtung müssen wir diese Dinge erst noch zeigen .. die Musik ist dazu der beste Grenzbegriff. Keineswegs aber soll mit diesem Hilfsgleichnis gemeint sein daß George etwa gewisse Wirkungen der Musik, ein Lullen oder Wiegen, mit Sprachmitteln nachmachen oder erreichen wolle. Die Sprache ist hier geistig (d.h. durchleuchtet vom Lebens-Sinn, nicht nur Leben hegend, fühlend, ausdrückend) in demjenigen Zustand der die Musik in der Geschichte des Menschen ermöglicht hat: tönende Schwingung des Alls im Ich. Musik selbst ist Allschwingung des Leibes, der Seele, aber nicht des Geistes. Geistig kann erst die Sprache sein: erst sie gibt den Dingen Sinn. Die Musik ist Sinn und hat Sinn, aber die Töne können ihn nicht nennen .. und die Programm-Musik die dies möchte muß entweder beim Wort Hilfe suchen oder sich selbst aufheben. Auch hier ist die Sprache allen andren Ausdrucksstoffen überlegen, dadurch daß nur sie unmittelbar dem Menschen allein angehört, von dem die Dinge erst Sinn empfangen. Farbe, Ton, Stein sind auch vor- und außermenschlich, also sinn-los, ehe der Mensch ihnen den Sinn gibt, indem er sich ihrer bedient, sich darin ausdrückt. Die Sprache ist unmittelbar sinnhaltig, eben weil sie an sich unmittelbar menschlicher Ausdruck ist.

Nennen wir die Lieder von Traum und Tod Musik des Geistes, so vernehmen wir darin nicht nur die Schwingungen eines Seins, sondern auch unmittelbar deren Sinn. Und dies ist etwas das die Musik überhaupt nicht vermag. Die Musik kann mit Tönen dahin gelangen wohin die Traurigen Tänze mit Worten gelangt sind: Seele schwingend vergegenwärtigen, aber sie kann nicht Geist schwingend aussprechen, wie die Lieder von Traum und Tod. Diese Gedichte sind deshalb nicht dumpf, sondern leuchtend wie der Äther und klar wie die Sternennacht, aber freilich ebensowenig wie diese faßbar und lösbar. Eben weil der Geist eine Urform des Lebens ist, nicht ein Ausdrucksmittel, kann man seine Schwingungen so wenig geistig erläutern wie das Licht beleuchten: sie sind irrationell und man kann nicht dahintergreifen, ihre Motive und ihre Motio sind dasselbe. Die Traurigen Tänze sind undurchdringlich, aber faßbar wie Leib und Seele. Die Lieder von Traum und Tod sind durchdringlich, aber unfaßbar wie Licht und Geist, die ja eben das Durchdringende selbst sind.

[196] Wie nun das Licht alle Grade der Helligkeit bis zur Finsternis umfaßt, und ein Zimmer so gut wie das Himmelsgewölbe durchdringen kann, wie es kein Raum und kein Körper ist, sondern eine Bewegung, aber durch Körper und Räume erscheint, indem es sie zugleich erscheinen läßt, so auch der Geist. Die Lieder des Geistes, des raum- und zeitlosen Raum- und Zeitgrundes, enthalten Augenblicke und Ewigkeiten des Raum- und Zeitlebens, doch eben wie geträumt, nicht wie gelebt. Das Leben des Ich wird darin vom All geträumt und der Tod, der »ewige Schlaf«, ist der ruhevolle Urgrund aus dem das ruhlose Träumen des Ich, sein Leben, sich scheinhaft regt. Er ist nicht Verneinung des Lebens, sondern »Aufhebung« des Ich .. kein Un-sein, sondern das Ur-sein. Diese Traum-augenblicke des ich-scheinenden Urgrundes Tod sind die Motive der Lieder, die Anstöße der Schwingungen. Wie im Traum selbst fließen die Bilder, die im Leben greifbar haften, vorbei. Sie sind selbst ein Schweben, unser Schweben. Schmerzen und Wonnen, so heftig und so tief wie im Wachen, sind im Traume nicht was wir tun und leiden, sondern was mit uns geschieht, also nicht actio des Ich in der Welt, sondern passio der Welt im Ich.

Dies Geschehen ist Sprache in Georges Liedern von Traum und Tod. Die Träume sind so mannigfaltig wie der Gehalt seines Geistes: landschaftliche Stunden, menschliche Schicksale, ja selbst den Sinn dieser Schicksale träumt er. Der Traum schließt die Weisheit nicht aus, sowenig er die Dinge undeutlicher, die Vorgänge verschwommener macht. Vom Wach-sehen unterscheidet ihn der Ursprung und der Zustand der Gesichte, nicht ihr Inhalt. Die Wirklichkeit in den Liedern ist das Träumen selbst, nicht das Geträumte. Die Weisheit solcher Verse wie die an den toten Freund in »Fahrt-Ende« ist nicht vom Lebensraum aus verkündet (obwohl sie inhaltlich verwandt mit der Weisheit des Engels ist, der zum Tun und Wirken ruft) sondern von der Ruh her, aus dem ewigen Schlaf:


Ich haßte die vergeblich dunklen bahnen.
Nun deine trauerboten mich erschüttern
Wall ich verträumt wohin du gern entflohest:
Zu grüner nacht der schaurigen Pagode
[197]
Des nicht-mehr-suchens, nicht-mehr-tuns: so drohest
Als überwinder du bei deinem tode.

Auch die Lieder die in Ton und Farbe am meisten an die Geistbilder des Teppichs und des Vorspiels erinnern, wie »Feld vor Rom« oder »Südliche Bucht«, geben, wie geisterfüllt auch immer, nur die fliegenden Scheine, die saugende Musik, das unverbindlich schwebende Erlebnis jenes südlichen Schauders oder Zaubers der (im V. Vorspielgedicht) als festes Gesetz vom Geist des Lebens befohlen, in den »Romfahrern« als mythische Grundkraft deutschen Wesens gezeigt wird.

Vollends aber ertönen in den Liedern des Geistes alle die Augenblicke die kein Gesetz bannen, keine Idee vergegenwärtigen kann, die unwägbaren Flimmer und Winde, Zuckungen und Pulse des bewegten Herzens die sich nicht in Taten entladen, kaum in Geberden .. nicht an Dingen haftend, kaum Geschick zu nennen, und die doch jedes Ding umwittern, in jedem Geschick schwingen, zwischen Scheinen und Geschehen wesenlos weben und doch so sinnlich dicht, so seelisch mächtig sind wie Natur und Verhängnis – der Flaum jedes Außen, das Klopfen jedes Innen, die Nerven jeder Erschütterung, die länger und inniger dulden als das erschütterte Gemüt selbst. Kein Dichter hat diese Zwischenlagen und Übergänge, die unwägbaren Gewalten der schwingenden Welt inniger, ergreifender gesungen als George .. das süße Summen und Schimmern worin neue Liebe heranblüht, das zärtliche Schwellen und Schweben der Maienfrühe ..


Ein weißes festtag-glimmen
Der kirschenzweig der überhängt,
Ein rauschendes geflitter
Entzückt und quält – macht schwer und frei ..
Ein schwanken süß und bitter
Ein singen sonder melodei.

Oder das schmerzliche Beben, die fiebrige Leere, das »grenzenlose Sehnen«, das saugende und reißende Weh nach jedem Liebesabschied, millionenmal empfunden, tausendmal besungen – welche Worte bannen seine heimlichste Musik wie »Das Pochen«! Freilich nur wer so in alle Dinge und Zustände augenmäßig eingelassen war, wer so vollgesogen war mit Saft der Wahrnehmung konnte so schwingen.

[198] Nur eine Sprache, trunken und geschwellt von Schau, von Wesen und Gegenwart, beladen mit welthaltigen Augenblicken, konnte so süß und gewaltig dröhnen wie die letzten Lieder von Traum und Tod. Nicht mehr Einzelstunden, sondern der ganze Lebensflug und und -zug, Aufgang und Niedergang der Geistesflut, Steigen und Sinken des Weltlichts tönt im Tag-gesang .. das fertige Sein, die runde Masse seiner Inhalte im Nacht-gesang dreisätzig noch einmal auf: im Tag-gesang der zeitlose Ablauf, das Nacheinander, der Rhythmus dieses Lebens, im Nacht-gesang sein raumloses Wesen, sein Ineinander, seine Tonfülle. »Traum und Tod« endlich ist sein Viel- und Einhall: sämtliche Sphären die im Vorspiel panoramisch sich wölben, vom Engel erschlossen und durchmessen, erschallen hier harmonisch mit einander, und der Tod, der blinde Urgrund, durchdringt das stumme Sein mit sternschaffendem Menschengesang:


All dies stürmt reißt und schlägt blitzt und brennt
Eh für uns spät am nach-firmament
Sich vereint schimmernd still licht-kleinod
Glanz und ruhm rausch und qual traum und tod.
XI. Der siebente Ring

Wenn es Georges Drang und Gesetz war den Leib zu vergotten und den Gott zu verleiben, so sind seine bisher betrachteten Dichtungen nur Taten und Leiden im Dienste des geheimen Gottes oder Zeichen und Werke seines Daseins: leibhaftig erschienen war er noch nicht, wie gerade dieser Seher ihn ruft. Zwar sind Ruf und Seher die Gewähr daß der Gott west .. Maß und Klang des Rufs, das dichterische Wort, die Zauber der Erde und die geistige Schau selbst sind ja Gegenwart und nicht bloß Wünsche oder Hoffnungen, und wie das echte Gebet schon Zeichen der Gnade ist, so ist auch schöne und hohe Sicht der Dinge, das »mächtige Wort« nur in begotteter Welt möglich: »Beweis des Geistes und der Kraft«. Wer sich als Seher weiß der weiß auch seinen Gott und jeder Fromme weiß durch Frommsein schon daß sein Erlöser lebt. Nur darf man nicht das Denken aller möglichen Gott-Begriffe mit Sehertum, das unklare Verlangen nach Gläubigkeit, das Glaubeln, mit Frommheit, das bequeme religiöse Empfindeln und Vernünfteln unserer Romantiker [199] Mystiker, Theologen oder Anthroposophen mit Gebet verwechseln: überall ist nur die Bewährung durch Werk, Tat, Sein, nicht das bloße Meinen und Mögen die Gewähr der Weihe.

Gerade Georges Gott verlangte Leib, nicht nur Dasein .. dieser Seher verlangte Schau seiner Gestalt, nicht nur Wissen seines Wesens. Die andern, die nicht so bis in die feinste Faser hinein Bewirkung, buchstäbliche Erfüllung ihres Gesetzes, Darstellung ihres Glaubens bis zum unausweichlichen Hier und Jetzt heischten, die minder unbedingten Gottsucher konnten sich begnügen mit der Gewißheit daß wieder ein Göttliches im Werden sei, vorlieb nehmen mit dem farbigen Abglanz, mit den neuen »Wundern der Morgenerde« und dem frischen Zauber der alten Tale: George selbst mußte, als Seher eines leibhaftigen Gottes, ihn wirken und all sein Leben ist nur ein einzig Mühn um diese Erfüllung. Ob er sich reinigte und stärkte, um den Gott zu empfangen, ob er die Sprache läuterte die ihn herbeirufen mußte, ob er immer sprödere Stoffe, immer weitere Räume ihm urbar machte, in immer helleren Bereichen sein Walten gewahrte und bewährte – er durfte von sich sagen:


Tag und nacht hab ich nur dies getan
Seit ich eignen lebens mich entsinne:
Dich gesucht auf weg und steg.

Die Erscheinung des Engels, die Durchgeistung des Lebens, die Schau der Ideen, wie sie im Teppich des Lebens ihm gegönnt war, ist die Verkündigung, noch nicht die Epiphanie – und immer noch muß er selbst, der Mensch, seinen Himmel mit furchtbarer Spannung um sich her wölben, worin noch unsichtbar, ringsum strahlend, vernehmlich fordernd der erflehte Gott waltet. Der Engel ist nicht Gott, nicht Schöpfer des schönen Lebens .. er ist sein Bote, zugleich sein Forderer: er ist das offenbarte Gesetz des Ich, den Gott zu suchen, er sagt ihm wo und wie, und bereitet dem Beter den Weg zum Gott, das heißt zugleich dem Gott den Weg zum Beter. Aber noch ist der Gott nicht die Sonne seiner Welt, sondern ihr Licht. George umschreitet nicht die sichtbare Flamme, sondern ihr Glanz und ihr Dunkel umhüllt ihn. Mitte ist nicht der leibhafte Gott der ruft, sondern das geisthafte Ich das ihn sucht. Noch hat er nicht ihn geschaut, nur sein Wirken im eigenen Leben, seinen farbigen Abglanz auf der Erde. [200] Wer ist sein Gott? Der Dichter hat später nach der Epiphanie sein Wesen, nicht nur seine Wirkung gesagt:


All meines traums begehr.
Der nächste meinem urbild, schön und hehr.
Was die gewalt gab unsrer dunklen schöße
Was uns von jeher wert erwarb und größe –
Geheimste quelle innerlichster brand:
Dort ist Er wo mein blick zu reinst es fand.
Der erst dem einen Löser war und Lader
Dann neue wallung gießt durch jede ader
Mit frischem saft die früheren götter schwellt
Und alles abgestorbne wort der welt.
Der gott ist das geheimnis höchster weihe
Mit strahlen rings erweist er seine reihe:
Der sohn aus sternenzeugung stellt ihn dar
Den neue mitte aus dem geist gebar.

Dies Gedicht wirft sein Licht vor- und rückwärts auf Georges ganzes Schaffen, wie auf die neue Welt die er bringt. Es enthält den Geheimsinn seines lebenlangen Suchens und Wirkens zum Gott hin, seiner einmaligen Weihe und Schöpfung vom Gott her, seines Erdenwallens und seiner Ewigkeit. Es lehrt uns erst begreifen wie in der Mitte dieses unerschöpflich tiefen und hohen Werks, das die ganze Tonleiter der Seele vom zartesten Hauch bis zum weltsprengenden Fluch umfaßt, die Bildungskräfte der Geschichte, die Schöpfungsmächte der Natur, die Ideen des Lebens .. wie im Werk des strengsten Dichters die geliebte Gestalt eines schönen Jünglings stehen kann. Gerade darum ist er ein End und ein Beginn, gerade weil ihm ein schöner Mensch Gott werden, weil sein alldurchdringender Weltgott ihm als schöner Mensch erscheinen konnte, hebt mit ihm neues Schauen und Glauben an. Wie dies geschieht das beantworte wer Leben aus dem Keim, Schöpfung aus dem Atom zu »erklären« meint, wer hinter die Dinge greift, um die Lehre zu finden. Wohl aber soll auch hier die weltschaffende Liebe von der »Knabenliebe«, die Vergottung des Leibes von der Vergötterung des Körpers, der Gott Georges von den verschiedenen mystischen Allegorien menschlicher Triebe und Wünsche unterschieden werden.

[201] Daß ein Mann sich in Knaben verliebt statt in Mädchen gehört in den Bereich der natürlichen Blutreize, nicht der geistigen Lebenskräfte. Ob man es als naturwidrig verabscheut, als Natur-umweg entschuldigt oder als Naturverfeinerung billigt: an sich hat diese Verliebtheit mit Liebe so wenig zu tun wie der Geschlechtsakt. Die Phantasiespiele und -schimmer womit ein Verliebter sein Begehr schmückt haften nicht an der Gestalt, bannen keine Gestalt, sondern sind Wallungen des bewegten Ichs, bestenfalls Lyrik. Die griechische Liebe ist ihrem Ursprung wie ihren Wirkungen nach (zu denen die dorische Gesetzgebung, die attische Plastik, die platonische Philosophie gehören) nicht ein blind zielender und spielender Naturtrieb, sondern die geistige Zeugung im Sinnenstoff selbst, die Schau, ja die Erschaffung des schönen Leibes und die Verleibung des Gottes. Dieselbe Weltkraft die sich bekundet in schönen Leibern, Eros, drängte die Männer dies wahrgenommene Schöne zu besitzen, zu verewigen und zu verherrlichen: der schöne Männerleib regte den geistigen Zeugungstrieb, den plastischen Formtrieb, den heroischen Tatentrieb in derselben Weise an wie der schöne Frauenleib dennatürlichen Zeugungstrieb. Auch dieser ist eine Weltkraft, Aphrodite, aber sie will nicht die Gestalt fassen sondern die Fülle entladen, nicht den Leib verewigen sondern das Leben fortpflanzen, nicht das Offenbare festhalten sondern im Geheimnis untertauchen. Dieser natürliche Zeugungstrieb, dessen wahres Heiligtum das Weib ist, kann irregehen, denn er ist blind, wie die ganze geistlose Natur. Wer Männer, Tiere, Dinge, Vorstellungen so wie Frauen liebt der zeugt nicht, weder im Geist noch in der Natur, weder den Menschgott noch das Menschtier. Diese verliebten Opfer des Naturtriebs können ihre unfruchtbaren Täuschungen zwar vergöttern (idealisieren), aber nicht eine Weltkraft vergotten. Vergöttern ist vorstellen, vergotten ist darstellen. Nur wo gestaltige Schönheit entsteht aus der Anbetung männlichen Leibes da waltet Eros, der geistig zeugende, der weltschaffende Dämon, wie nur da wo ein Kind entsteht die natürliche Gottheit waltet, Aphrodite.

Nur eine Weltkraft, und nicht romantische Sonderneigung, subjektiver Trieb, kann die »sternenflüchtigen Gedanken«, die Ideen von Seele, Geschichte, Natur, Geist bannen in schöne Gestalt, und nur [202] wer in Ideen, in Gestalten denkt dem muß auch die Schön heit des Alls als Gestalt, in Einem Leib sich offenbaren. Solch eine Offenbarung ist so sehr die letzte Gewähr des Erfüller-glaubens wie die Menschwerdung des Logos die letzte Gewähr des Erlöser-glaubens. Nur wem Ein schöner Mensch Gott werden kann hat Augen für die Göttlichkeit des schönen Alls. Nur wem Gott wirklich Mensch werden kann für den ist das Himmelreich, die Liebe Gottes zum Menschen keine Phrase.

Dem Menschen ist Gott nur menschhaft zu fassen, und alle Attribute womit wir ihn verherrlichen sind entweder die Aufhebungen menschlicher Grenzen: »unendlich, unsterblich, unbegreiflich«, oder Vergottungen, Verallungen menschlicher Kräfte: »allgütig, allweise, allmächtig«. Wer nicht beim leeren Denken Gottes stehen bleibt, sondern mit seinem ganzen Wesen ihn erfährt, dem erscheint er im Mittler: freilich darf er kein Phantasiebild, kein willkürlich erwähltes und geschmücktes Idol sein, keine Erdichtung: er muß die Züge tragen der ganzen Wirklichkeit die dem jeweiligen Menschen gottartig erscheint. Er muß verwirklichen im Erdentag, gegenwärtig das sein was als Erinnerung, Wissen, Verheißung den Glauben des Menschen an das Göttliche genährt hat: die »Fülle der Zeit«. Für den Christen ist er das Eintreffen aller biblischen Hoffnungen und Weissagungen .. für George mußte er schön und hehr sein wie die Alten deren Worte, Werke und Bilder ihm noch heute Schönheit und Hoheit künden .. stark und jung wie die morgendliche Natur, lauter und glühend .. in ihm mußte befaßt sein »was die gewalt gab unserer dunklen schöße«, und von ihm ausstrahlen »was uns von jeher wert erwarb und größe«. Das ließ sich nicht erfinden, es mußte da sein oder nicht. Kein Selbstbetrug kann auch nur einem Menschen neue Wallung gießen durch jede Ader, mit frischem Saft die früheren Götter schwellen und alles abgestorbene Wort der Welt erneuern.

Immer lebt der neue Gott wo der neue Glaube lebt, doch nur dem Seher zeigt er sich in greifbarer Mittler-gestalt, und der zeigt ihn anderen. Nur der Geist dem durch die Weihe bereits die Augen geöffnet sind merkt rings am neuen Strahlen daß der Gott da ist, aber auch nur er kann ihn finden in seiner gegenwärtigen Verkörperung, kann ihn »taufen«. Machen läßt er sich nicht: er ist die Fleischwerdung [203] einer Weltkraft, nicht der »Mythus« einer fruchtbaren Phantasie und nicht der Ersatz für irgendeine Unendlichkeit. Auch diese Sicht ist nur der andere Pol des Sehers, auch dieser Eine ist die Frucht der geheimnisvollen Zweiheit die Ich und All zusammen bilden: die geburtenträchtige Mitte und der zeugende Geist.

Wer also nicht im Fernen sondern im Nächsten, nicht im unendlich Leeren sondern im vollendeten Da-sein, nicht in der Raum-masse sondern in der Wesens-dichte, nicht in aller Ewigkeit sondern in jedem Augenblick Gottheit gewahr wird, für den ist die Vergottung des Leibes an sich faßlich und wer Georges Gedichte aus ihrem eigentlichen Ursprung empfindet der erstaunt nicht, in der Mitte seiner hellenisch-katholischen Welt eine Gottmenschen-gestalt zu finden. Wohlaberdurften auch Kenner und gerad Kenner Georges erschrecken daß er eine solche Gestalt in unserer Zeit sah. Gerad wer weiß wie wenig Phantast und Mythen-macher, wie heilig nüchtern, wie grausam sachlich auch seinen eigenen Wünschen gegenüber dieser Mann ist, wie wenig er vorlieb und vorwegnehmend romantisch sich Mittler erdenken oder ersatzweise aufschönen kann, wer ihn jedes idealistischen Selbstbetrugs unfähig weiß, der erstaunt nicht über die Vergottung, sondern über die Verleibung.

Über die Vergottung des schönen Leibes hat Platon im Gastmahl und im Phaidros schon alles gesagt was der Mensch davon fassen kann: man muß ihn nur wirklich nehmen, nicht allegorisch. Der Heldenkult des Altertums von Herakles bis Cäsar ist nur eine dumpfere Form des Glaubensgesetzes das Platon deutet und begründet. Die Gottheit Christi nimmt man heute hin als eine geschichtliche Tatsache, als den Dank der Menschheit an ihren Wohltäter oder als einen Mythus. Die Gebildeten sind abgestumpft durch Gewohnheit und Überlieferung für das Wunder dieser Geschehnisse und verdünnen gern historisch oder psychologisch was sie nicht sehen, sondern nur lesen. Man versteht bei uns den fanatischsten Fetischglauben an Begriffe, ja an Schlagworte, man meint etwas getan mit allgemeinen Gefühlen und Vorstellungen, man kennt Religion fast nur noch als »Weltanschauung«, und doch ist die ganze griechische Welt, die ganze christkatholische Welt, alle Substanzen von denen unsere Gespenster »Weltanschauungen« heute noch vampirisch zehren, nicht einmal [204] historisch und psychologisch, geschweige unmittelbar zu fassen, wenn man nicht der Vergottung eines wirklichen Menschen fähig ist wie George: er allein inmitten eines Zeitalters von Entgötterungen und Vergötterungen. Nochmals, er hat nur den antiken Glauben verwirklicht – nicht nachgeahmt etwa aus historischer Einsicht in seine Wahrheit oder aus ästhetischem Gefallen an seiner Schönheit, nicht wiederholt als Spätling einer versunkenen Art, sondern erneuert aus deutschen Kräften, aus dem »Geist der heiligen Jugend unseres Volks«.

War jedem echten Glauben bisher die Vergottung des Menschen selbstverständlich, nur einem blut- und seelenlosen Geschlecht die leibhafte Erscheinung eines Mittlers widersinnig und widerwärtig (wie jedem blut- und seelenvollen die Vergötterung von Wünschen und Zwecken) so liegt das eigentliche Geheimnis von Georges Glauben in der Vergottung eines deutschen Jünglings dieser Zeit. Sie ist der Ursprung seines Dichtens, der Grund seines Wesens, die Kraft seiner Welt. Deutsche Jugend, im »Deutschen Jüngling« von Siegfried bis Parsival, von Simplex bis Walt immer wieder verkörpert, ist eine Weltkraft, von der Jugend aller anderen Völker unterschieden, eine geistig sinnliche Urform des Menschtums derengleichen seit dem griechischen Jüngling, seit dem Tod Alexanders auf Erden nimmer erschienen ist. Nur der Grieche und der Deutsche haben das Menschtum als Jünglinge erfüllt, auf der Stufe des vollendeten Blühens, des erwachenden Geistes und des schönen Leibes. Nur bei diesen beiden Völkern ist Jugend nicht bloß Naturzustand, sondern Geist-lage. Es gibt keinen romanischen oder slavischen »Jüngling« in diesem prägnanten Sinn, sondern junge Männer, und es gibt den englischen »boy«: aber überall dort ist der junge Mensch die Vorstufe des Mannes, wenn nicht gar des Greisen .. nur bei dem Volke des Blühens und bei dem Volke des Werdens, bei den Griechen und den Deutschen war Jugend selbst geistig voll-kommen. Nur die Griechen kennen göttliche Jünglingsgestalten wie Achill, Alkibiades, Alexander, nur die Deutschen ewige Jünglingsschicksale wie Siegfried, Konradin, Hölderlin. Und nur diese beiden Völker kennen auch die Gewalt die aus dem schönen Leib die Heldentaten und die Götterbilder zeugt: die weltschaffende Liebe, die Vermählung der einmaligen Jugend mit dem ewigen Geist: den Eros. Frauenminne, [205] Männerfreundschaft, Knabenbuhlschaft hat es überall gegeben, doch nur bei den Völkern der Jugend sind Süße und Hehre, »Idee und Liebe« so tiefstens eines gewesen, daß daraus die Wahrheit Platons und das Gebet Hölderlins entstehen konnten .. denn nur in der Jugend sind Geist und Leib in ungeschiedener Fülle. Das rechte Kind ist Leib, der rechte Greis ist Geist, der rechte Mann ist die Zweieinigkeit, nicht die Einheit beider. Griechische Jugend hat den Geist des schönen Leibes offenbart, der seit Platon dann gelöst und weltweit verflüchtigt ist. Deutsche Jugend hat den heiligen Geist des Christentums immer wieder in schönen Leib zurückrufen wollen, schweifend und träumend getrieben vom Heimweh nach der Erde. Nur die Griechen und die Deutschen kennen drum auch den eigentlichen »Idealismus«, den platonischen, die Schau des Geistes in der Gestalt, und den hölderlinischen, die Suche der Gestalt für den Geist. Griechische Jugend hat den Leib vergottet. Deutsche Jugend kann den Gott verleiben: denn nur ihr Geist kennt noch dies kosmische Heimweh, das sich in Zwecken und in Stoffen nicht beruhigt. Doch weder dem ewig Werdenden noch dem genügsam Seienden kann der Geist dieser neuen Jugend leibhaftig erscheinen – nur einem der griechische Fülle des Seins und deutsche Notdurft des Werdens so erfahren hat wie Stefan George:


Die einen lehren: irdisch da – dort ewig ..
Und der: ich bin die notdurft du die fülle.
Hier künde sich: wie ist ein irdisches ewig
Und eines notdurft bei dem andren fülle.
Sich selbst nicht wissend blüht und welkt das Schöne.
Der geist der bleibt reißt an sich was vergänglich
Er denkt er mehrt und er erhält das Schöne
Mit allgewalt macht er es unvergänglich.
Ein leib der schön ist wirkt in meinem blut
Geist der ich bin umfängt ihn mit entzücken:
So wird er neu im werk von geist und blut
So wird er mein und dauernd ein entzücken.

Dies ist die deutsche Wiedergeburt der griechischen Liebe: Verewigung des schönen Leibes durch den Geist .. bei Platon war die [206] Erscheinung des ewigen Geistes durch den Leib. Beidemal ist der Geist der Jugend am Werk.

Um die Mitte des Lebens hat George den Menschen gefunden dessen Schönheit, Kraft, Glut, Reinheit, Fülle, Einfachheit, Adel, Anmut und Hoheit alles vergegenwärtigte was ihm je Geschichte bot, Zukunft verhieß. Sein eigenes Gebet, das göttliche Urbild und die menschliche Erscheinung waren eins geworden in Maximin. Unter diesem Namen hat George ihn verewigt, als er starb, den geheimen Gott all seines Suchens und Singens der in finstrer Zeit ihn erhielt, den schon verzweifelnden Glauben ihm erneut, den heiligen Beruf ihm verbürgt. Aus der Gemeinschaft mit ihm, zugleich Geschöpf und Schöpfer, aus dem abgründigen Schmerz um seinen Hingang, aus der Erhebung zu dem Entrückten ist das Buch Maximin entstanden, das die Mitte des Siebenten Ringes und den Kern von Georges weiterem Schaffen bildet: die Feier des offenbarten Gottes durch Lied und Lehre. Zu dieser Gestalt hin, von ihr her deuten fortan alle Wege Georges und auch wo er ihn nicht nennt ist er das Maß, das Licht und der Sinn: »geheimste quelle, innerlichster brand«.

Vom Augenblick an da ihm dies leibhaftig erschienen war in der eigenen Zeit, da er außer sich möglich und wirklich fand was ihm und dem gefährdeten Volk not tat, das einfach schöne und echte Menschtum, rief er nicht mehr in die fragwürdige Weite, der Antwort ungewiß. Die Antwort war da, die neue Ordnung der Werte sichtbar von dieser Mitte aus. Denn man darf die Menschen nicht reihen und richten nach einer unwirklichen Forderung, nach einem Begriff von Wahrem Gutem Schönem – sondern nur von einer Erfüllung her. Die Erlöser sind immer zugleich Erfüller und Bringer des Gesetzes. Jedes Gesetz eines großen Menschen greift über, es reiht und richtet von selbst durch jede seiner Äußerungen, ob er will oder nicht. Aber erst seit dem Erscheinen Maximins wird für George sein Lebensgesetz, sein Schön und Häßlich, Gut und Schlecht, Hoch und Niedrig über sein eigenes Leben hinaus mehr und mehr zum Weltgesetz, d.h. zum Gottes-Reich. Der Engel des Vorspiels erleuchtet ihm Pfade und Räume die er ging und gehen soll. Maximin schafft ihm den Raum worin er beten und wirken muß: er ist nicht mehr das ich-entstrahlte Du wie der Engel, sondern der »Sohn aus Sternenzeugung«[207] und die Offenbarung der neuen Welt die der Engel forderte. Wie jeder Gott oder Mittler, so bringt auch dieser sein »Reich« mit: er zeigt nicht nur den Weg, die Wahrheit und das Leben, wie der Engel es tut, sondern er ist es. Kein Gott ist denkbar ohne die Welt die er wirkt, keine Welt ohne den Gott der sie wirkt. Jedes Leben hat seinen Geist, und der Geist kündet sein Gesetz, wie der Engel. Jede Welt hat ihren Gott und wo ein Gott erscheint, offenbart er seine Welt, die im Gegensatz zum All, dem Inbegriff des Seienden, eine Ordnung der sichtbaren Werte, d.h. eben ein »Reich« ist. Der Beginn dieser neuen Lage Georges ist die Vergottung des Maximin.

Auch das ist keine Sache des Vorsatzes und der Absicht: was die Atemzüge und Gangart Georges be stimmt das ruft noch seinen Gott und dessen Reich, und nicht bei ihm steht es zu reden oder zu schweigen. Viele hat George verloren, viele gewonnen, seitdem es deutlicher wird daß seine Dichtung nicht nur neue Genüsse, sondern eine neue Ordnung bringt, und mancher der mit ihm leiden oder schauen wollte mag nicht mit ihm beten und dienen. Der Siebente Ring und der Stern des Bundes (die sich zu einander verhalten wie die »Geschichte« zur »Lehre« des neuen Glaubens und zu denen sich das Vorspiel und der Teppich verhält wie die Weissagung zur Offenbarung) haben Geschmäckler und Kenner, Reizlinge und Klüglinge die bis zum Teppich »mitgingen« abgeschreckt. Es ist schon so: diese beiden Bücher sind »heilige Schriften«. Man mag den Glauben, d.h. die »Kraft des Bluts, Kraft des schönen Lebens« woraus sie stammen, teilen oder nicht (und freilich ist Glauben kein Meinen oder Richtig-Finden, sondern ein verpflichtendes und verbindendes Innesein) man mag im schönen Menschtum den Gott schauen oder nicht: sie sind kein läßliches Sinnen- und Seelenspiel und enthalten eine Botschaft von gleicher Strenge und Wucht wie nur je einer Wendezeit geworden. Aus fast untragbaren Qualen ist sie geboren, aus kaum noch menschlichem Grauen, von dem die lärmenden Ausdrücker des europäischen Zeit- und Weltleids in und nach dem Krieg nicht einmal etwas ahnen. All ihr Schrei ist neben den leisesten Klängen dieser schönen Gedichte harmloses Privatgeschwätz. Denn es sind Gedichte und sie sind schön. Unfaßlich für heutige Menschheit daß Schönheit fordert und daß ungeheures Geschehen, Wandel der Welt und erschütternde[208] Wende enthalten ist im Gedicht .. »daß in der Dichtung eines Volkes sich seine letzten Schicksale enthüllen«! Die wildesten Getöse und Stürze der berstenden Erde sind nur späte Zeichen des Verderbens von dem ein großes Herz lange vorher bebt und schwingt, und die wogende Ernte ganzer Länder ist eingeschlossen im ungreifbaren Keim. Geheimnis ist hierin freilich, aber nicht Geheimtuerei, nicht heimliche Absicht.

Nur weil man verlernt hat in den Dingen sie selbst zu sehen, und den einfach starken Glauben, das nackte Sein, die hüllenlose Schau bezweifelt und verneint, hat man im »Maximin« eine chiffrierte Theosophie oder dergleichen gesucht und in Georges Wort mystische Ekstasen und künstliche Steigerungen. Er ist nackt, grade, klar – und nur wir blinzen durch hundert Denk-, Fühl- und Wissensschleier. Er ist einfach, aber schwer und tief .. wir sind tausendfältig, aber leicht und flach. »Wir hatten allzuviel gehört von der weisheit die das letzte rätsel zu lösen wähnte, allzuviel gekostet von der buntheit der sich überstürzenden erscheinungen, die unermeßliche fracht äußerer möglichkeiten hatte dem gehalt nichts zugefügt, das zu schillernde spiel aber die sinne abgestumpft und die spannungen gelähmt: was uns not tat war Einer der von den einfachen geschehnissen ergriffen wurde und uns die dinge zeigte wie die augen der götter sie sehen.« So ist George und so war Maximin. Die Einfachheit und das Geheimnis Beider und aller Worte die aus ihrem Bereich kommen liegt in dem Satz: »wie die augen der götter sie sehen.« Die »Götter« sind die oberste dem Menschen noch zugängliche Seinsart, ihr Wirkungsraum der äußerste menschliche Umfang: unter ihnen versteht George, was das Altertum in ihnen wahrnahm, die geisterfüllten gestaltigen Weltkräfte, überthronend und umschließend (wir können das Raum- und Zeitlose nur räumlich begreifen) die geistlosen Mächte und den stofflosen Geist .. auf den unteren Stufen waltet der stoffliche Trieb. Die Mächte-stufe hat George im Jahr der Seele vergegenwärtigt, die Geist-stufe im Teppich des Lebens, die Götter-stufe erreicht er durch das Erscheinen Maximins. Auf ihr sind die Dinge wieder einfach, wie im bloßen noch ungeschiedenen Chaos, aber nicht mehr vor der Sonderung in Trieb, Seele, Natur, Schicksal, Leben und Geist, sondern nach ihrer Wieder-vereinung. Die Götter selbst umfassen in einer höheren Einheit alle bisherigen Spannungen [209] und Spaltungen: sie sind kein Jenseits der menschlichen Spannungen, sondern ihre Umschließung, ihre »Vollkommenheit«: der siebente Ring um die sechs engeren Umfange des Menschtums, Trieb, Seele, Natur, Schicksal, Leben, Geist, deren jeder nach innen spannt, von außen umspannt wird. Unsre Namen für diese Siebenheit sind nur Näherungen und jeder mag eine andre Reihe aufstellen. Daß seit Urbeginn der Geschichte Sieben die Zahl der Vollkommenheit ist, geht aber nicht auf bloße Klügelei oder überlieferte Konvention zurück, sondern auf das »kosmische« Maßgefühl beginnlicher Menschheit, das allen ursprünglichen Menschen ohne jede Zahlenmystik oder Kabbala gemein ist und von dem auch George, überall ein Erneurer der Ursprünge, unwillkürlich durchdrungen ist.

Entkleiden wir den Gott-gedanken aller mystischen Gefühlsschwelgerei wie aller hirnlichen Deutelei, nehmen wir ihn so »heilig nüchtern« (d.h. freilich nicht trocken-verständig!) wie die Griechen und Römer die Lebensdinge und also auch die Weltkräfte genommen haben, so begreifen wir vielleicht eher die Feier Maximins, oder wenigstens warum diese einfachen und herzlichen Gesänge, diese nacktesten und lautersten Sätze vielen soviel fremder sind als die dunklen Zaubersprüche des Jahrs der Seele. Sie sind von keinem Reiz, von keiner Spannung aus mehr zu fassen .. man hat die Augen für diese Stufe oder man hat sie nicht. Bis zu Trieb, Seele und Geist sind nun viele gelangt und damit haben sie ein Aufnahmeorgan für die Sinnenbilder und die Geistbilder. Wer jedoch das Gottbild als Sinnenbild oder Geistbild betrachtet und »Worte des ewigen Lebens« auslegt als Erlebnisbeichte, Tiefsinn oder Geheimlehre, der nimmt ihnen die Einfalt ihrer Vollkommenheit und sucht sie auf einer Ebene der sie schon entrückt sind. George hat nichts versteckt, er hat nichts zu verbergen: er hat nie etwas anderes gesagt als er jeweils gesehen hat und er hat alles gesagt was er gesehen hat, freilich nichts »erklärt«. Nur wollen die meisten Leser nicht sehen und hören, sondern hinter etwas kommen was vor ihnen steht. Käme Gott selbst in all seiner Herrlichkeit, sie würden ihn nicht erkennen und an seiner Identität zweifeln, bis er den Identitätsausweis irgendeiner Behörde vorgezeigt hätte: denn sie zweifeln zwar an der Identität der Wesen, aber nie an der Identität der Ausweise. Ich verweile dabei, weil diese irrige [210] Grundeinstellung, dieser Mangel an Sinn für die Selbheit der Georgischen Worte auch Bessere irre führt und fernhält, und so wenig man je niedrig Gesinnte zu seinem Werk wird führen können, mancher edel Suchende wird es finden, wenn er es wörtlich und wirklich lesen lernt und vor ihm abtut seine allzuklugen Hintergedanken wie seine allzufeinen Vordergefühle.

»Einfach wie die Augen der Götter sehen« ist fort an die Schau und die Sprache Georges. Noch im Teppich des Lebens waltet die Spannung zwischen Geist und Leben, oder sinnlich gesprochen, zwischen den Geist-bildern und dem Geist-raum – und ein eigentümlicher Zauber dieser Gesichte kam von dem Wechselspiel farbiger Dichte und durchscheinender Helle. Der helle Geist durchdrang mit seinem Licht die bisher dunklen Lebensdinge, schuf Raum, indem er Gestalten zeigte. Noch war das Licht vor den Gestalten da, außer den Gestalten, transparent, aber auch transcendent: woher es kam das blieb im Dunkel – genug es war da. Im Maximin geht das Licht aus der Gestalt selbst hervor. Es haftet an ihr, es trägt ihre Farbe und der Raum selbst ist nur ihre Strahlung. Der Gott, die raum- und lichtschaffende Weltkraft, ist jetzt selbst gestaltige Gegenwart und auch nachdem er entrückt ist, bleibt sein Licht ergossen, sein Himmel gewölbt und alle Dinge tauchen darin ein und auf. Der Teppich ist noch Geist-raum ohne sichtbare Lichtmitte, der Siebente Ring ist Gott-raum mit einer solchen. Hier ist alles faßbar und durchdringbar zugleich, leibhaft und räumlich zugleich, aber eben durch seine voll-kommene Selbheit und Gegenwart ist Licht und Raum nur wahrnehmbar dem der das Gottbild sieht. Auf der Geist-ebene ist im alldurchscheinenden Licht das Auge für die eine Erscheinung mehr, für die andre weniger empfänglich, und nur der völlig Geistblinde sieht nichts. Im Maximin entsteht erst alles Licht und alles Auge von der Sicht des Gott-bildes her.

Man kann nicht sagen daß George es hat verbergen wollen (obwohl jede Verewigung von den blinzelnden Zeit- und Zimmerguckern die nur spähen, aber nicht sehen für Versteckspiel gehalten wird). In der Vorrede zum Maximin-gedenkbuch 1 hat er von seiner Erscheinung, [211] seinem Wesen und seinem Erdengang so deutlich gesprochen wie Platon von Sokrates, minder hintersinnig wie Dante von Beatrice, ebensowenig »mystisch« oder raunend wie Cäsar in seinen Commentarien .. freilich von göttlichem Geschehen, unmittelbar wie es ihm wider-fahren ist, von Dingen der Götterebene, von Vorgängen des Siebenten Ringes, so wie Dante etwa von den Vorgängen des Empyreums berichtet, nachdem er vom Merkur und vom Jupiter berichtet als bewohnbaren, bereisbaren, beschreibbaren Räumen. Nur bedeuten bei George die verschiedenen Räume immer sich selbst: ihre Gegenwart ist ihre Ewigkeit und ihre Erscheinung ist ihr Sinn – eben darum sind sie auch ganz erfüllt von sich und erfüllt nur von sich, bedürfen keiner Sinngebung von oben oder unten oder außen.

Maximin ist nicht mehr und nicht weniger als der göttlich einfach schöne Mensch, bis zum Wunder vollkommen, geboren in dieser bestimmten Stunde, an diesem bestimmten Ort, nach dem unter diesen einmaligen Erden-umständen – Familie, Haus, Stadt, Stamm – erfüllten Leben verewigt als das was er war, von dem der ihn sah und liebte: kein Übermensch und kein Wunderkind, das heißt Durchbrechung menschlicher Ränge, sondern eben ein »Gott«, Erscheinung menschlichen Rangs .. heimisch in dem Bereich der ungeschiedenen geisterfüllten, gestaltigen Weltkräfte. Das Wunder liegt nicht im Dasein, kaum im Erscheinen der Götter. Götter sind an sich nicht wunderbarer als Pflanzen und Tiere, und es gab ganze Zeiten in denen sie lebten und webten als eine selbstverständliche Gattung wahrnehmbarer Wesen: wir hätten ohne dies keinen Homer und keine griechische Plastik. Man sieht nur was man lebt.

Das Wunder beginnt wo Wesen dieser Stufe einbrechen in eine andre Ebene die ihnen bereits entfremdet ist. So wie dem Tier der Mensch, erscheinen Götter einer gespannten und gespaltenen Menschheit, die aus Erinnerung und Überlieferung mythisch von ihnen weiß, aber nimmer mit ihnen lebt. Sie bringen ihr Licht, ihre Luft oder auch ihr Reich mit und werden dämonisch gescheut oder göttlich verehrt, im ganzen mehr ihrem Wirken nach gefühlt als ihrem Wesen nach begriffen. Solche Einbrüche waren Alexander, Christus, Hölderlin .. minder rein und deutlich die zwischen Geist- und Gott-stufe heimischen Gestalten, dämonische oder geniale Menschen, wie Napoleon[212] und Michelangelo. Mit der Begabung oder dem Charakter hat die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Stufen nichts zu tun. Auch sind die menschgewordenen Götter etwas anderes als die vergörtlichten Menschen: jene brechen mit beginnlicher Einfalt der Götterstufe in unsere zerspaltene Welt ein .. diese bringen die Spaltungen durch ihre Menschen-kraft und -füllewieder rund bis zur vollkommenen Einheit der Götterstufe: dahin gehören der göttliche Platon, der Divus Julius, der göttliche William. Jene sind göttliche Wunder, diese sind göttliche Norm. Die alten Griechen kannten beide Gottarten in Dionysos und Herakles, den herabgestiegenen und den emporsteigenden Göttersohn .. die frühchristliche Dogmatik kennt die, adoptianische und die pneumatistische Gotteskindschaft: Christus als der um seiner Vollkommenheit willen eingegottete Mensch, oder als die in Menschenleib eingehauchte Gottesliebe. Beide Gottheiten sind vollkommen Menschen, an Ort und Stunde gebunden, und »für Zeiten die das Göttliche im Menschen nicht erleben ist Gott eine bloße Denkform«.

In einer solchen Zeit, gottfremder, gottdenkender und gottrediger als je eine frühere, hat George seinen Maximin als ein Wesen aus jener Ebene erkannt: hierin liegt das Wunder dieser Erscheinung und das Unerhörte seines Glaubens gegenüber allen früheren Anbetungen. Der antike Mensch fühlte sich umgeben von Göttern, der christliche umschlossen von Gottes Himmel und bewacht von seinen Engeln und Heiligen. In bürgerlicher Zeit hatte niemand mehr an die Gegenwart eines Gottes zu glauben gewagt. Die »Allgegenwart Gottes« war längst zu einer Redensart der Ammen und Pfaffen geworden, die keinen mehr band und hob. Immer wieder betont George daß kein von früheren Schöpfern gebrachter Gott für immer wirksam sei: von Jahrhundert zu Jahrhundert müsse das alldurchwaltend Göttliche, das nur durch gottmenschliche Mittler den Völkern zukommt, neu verkündet,vergegenwärtigt werden.


Gott wird ein schemen wenn ihr selbst vermürbt ...
Was sind die götter die euch nicht mehr helfen?

Dieser transcendente (nicht transcendentale) Allgott, der alle Menschenreihen, auch die Götterreihe umfaßt und durchdringt, läßt sich als solcher von Menschen weder schauen noch sagen .. jedes Evangelium [213] wirkt und welkt, »bis neuer wecker kommt der neu es spendet«. Das Höchste was die Menschen davon fassen ist nicht sein Begriff, der immer nur in Negationen besteht .. auch nicht sein Gefühl – dies kann ehrlicherweise nur völlige Selbstaufhebung, also nicht mehr ein »Fassen« sein – sondern seine Erscheinung, also eine seiner Menschwerdungen im jeweiligen Hier und Heut. Eine solche Erscheinung war Maximin, und zwar als die Not am höchsten war und »eine seuche zu wüten schien die mit der entseelung des ganzen geschlechts endige«. Der Zeitpunkt seiner Erscheinung gehört durchaus zu ihm und macht sie erst für George nicht nur zur Frohbotschaft, sondern zur Erlösungstatsache. Nur in dieser Zeit, an der Nietzsche zugrunde ging und George fast erstickte, konnte dies gotthaft einfache Wesen durch sein bloßes Dasein ihm das Vertrauen in den Menschen erneuern und die Verheißung des ewigen Lebens bringen. Nur von dem Grunde der Gott-öde, der fürchterlichsten die es gab, hob sich diese Gestalt so wunderhaft ab. Heute klingt die Einleitung zu der Maximin-rede verständlicher als vor dem Krieg, ja vielleicht zu selbstverständlich: »Wir gingen einer entstellten und erkalteten menschheit entgegen die sich mit ihren vielspältigen errungenschaften und verästelten empfindungen brüstete, indessen die große tat und die große liebe am entschwinden war. Massen schufen gebot und regel und erstickten mit dem lug flacher auslegung die zungen der rufer, die ehmals der mord gelinder beseitigte: unreine hände wühlten in einem häufen von flitterstücken worein die wahren edelsteine wahllos geworfen wurden. Zerlegender dunkel verdeckte ratlose ohnmacht und dreistes lachen verkündete den untergang des heiligtums«. Dies Bild des Zeitalters ist nur der »Grund«, der Untergrund des Maximin – wie die neuen Heiltümer immer nur erscheinen, wenn sie not-wendig sind: in der Wende der äußersten Not. Es ist dabei gleichgültig für wie viele das neue Licht sichtbar ist und in welchen Brechungen es vermittelt wird. Für solche welche die Not nicht sehen ist auch die Wende nicht da. Die großen Ereignisse des Menschentums beginnen nicht mit der Masse, wenn sie auch damit enden. Jedes Heil ist zuerst immer dem Einen widerfahren dem es am notwendigsten war. Nur wer so die Öde der Menschheit sah wie George konnte so ihre Fülle verherrlichen.

[214] Nichts liegt George ferner als Religion zu stiften, Mythus zu machen oder etwa gar einen Maximm-kult einzusetzen .. so wenig er sich vorgenommen hat die deutsche Sprache zu erneuern und der deutschen Dichtung einen neuen Sinn zu geben. Vielmehr war er ein solcher, daß das Aussprechen seiner Qualen und Gesichte neue Sprache und neuer Sinn wurde, daß er Verderben sah wo man den Fortschritt pries, und einen Heiland in glaubensloser Zeit. Er hat dies Verderben und diesen Heiland verkündet mit der ihm gegebenen Stimme und kraft ihm innewohnenden Zwanges, ohne Rücksicht auf das Bedürfnis der Menge oder das Urteil der Gebildeten oder die Beispiele der Geschichte, besessen ganz von seiner Not undseiner Fülle. Was daraus wird ist nicht Sache des Vor-satzes. [Philologengehirne die nichts anderes kennen als das Hecken von Buch zu Buch suchen im Maximin Kult-»gattungen« oder religions-stifterische Analogien, als habe George etwa in solche Vorgänge bewußt hinein- oder aus ihnen herausgedichtet und gestiftet. Was wäre damit gesagt, selbst wenn es stimmte! Aber es ist nicht so! So wenig ein Liebender nach der Gattung Romeo oder Werther liebt, so wenig ein Zeugender nach der Gattung Herkules zeugt, so wenig schaut und kündet ein Seher sein Heil nach der Gattung früherer Mittler. Ganz von selbst entstehen die Urformen leiblicher wie geistiger Zeugung, d.h. die Gattungen, immer wieder neu wo ursprüngliches Leben sich regt. Wenn im Maximin Anklänge an die Formen früherer Gotteskunde und Gottesfeier sind, so ist das nicht, weil George sie blasphemisch-philologisch oder romantisch-ästhetisch nachgeahmt hätte, sondern weil das tiefste Leben immer neu die immer gleichen Wege geht: Geburt und Grab, Liebe und Haß, Fluch und Gebet. »Nichts wiederholt sich, aber alles ist ewig«. Wenn das Maximin-buch eine heilige Schrift ist, so ist es das, weil ein heiliges Herz hier einfach ausspricht was ihm widerfahren, und der wird es am besten lesen der seine Belesenheit über das Wesen und die Formen der Religion oder der Hymnik schweigt vor dem Schlag dieses Herzens. Das Kluggeschwätz und das Besserwissen kommt wahrlich heute nicht mehr den Dümmlingen, den blinden Jüngern, den berauschten Mitläufern ärmlich und töricht vor, sondern schon dem graden Verstand und der sicheren Bildung rückständig und ein bißchen muffig. Der Nüchterne, nicht [215] der Berauschte, enträt der »Kritik« wo er Wesen sieht, und hat wichtigere Fragen an den Dichter als die welche Schachteln er füllt oder sprengt, was er etwa genommen oder gegeben hat, was er hätte tun und lassen sollen. Wer nichtmehr weiß weiß nichts, und wer mehr weiß weiß auch dies. Tiefer und gescheiter als die Graswachstumshorcher sind immer noch die Nichtversteher die aus einem andern Glauben diese Botschaft verdammen und die das Schöne meiden, weil es ihnen das Gute zu tilgen oder das Wahre zu trüben scheint. Jeder Glaube hat seinen Widerglauben, und das ist gut so. Unnütz sind nur die Blinzler, Schnüffler und Taster.]


Die starre erde pocht
Neu durch ein heilig herz ...

Das ist der Sinn des Maximin, seiner Gestalt wie seiner Feier. Das Starren der Erde, ihr Pochen in Qual und Freude, ihre Erneuerung in einem heiligen Herzen und durch ein heilig Herz die zusammenschlagen: das ist der Inhalt dieser Gebete und Gesänge. Sie sind die schlichten Aussagen des gotterfüllten Zustandes und seiner Vorgänge, und die bloße Feststellung ist auf dieser Stufe schon hohe Feier. Wir kennen das in der deutschen Dichtung nur noch einmal: beim späten Hölderlin. Er redet mit Göttern als ihresgleichen: nicht der Aufschwung zu den Göttern, nicht ihre Bannung durch das gedrungene Zauberwort, sondern das Wandeln auf ihrem eigenen Boden gibt hier den Ton, den Gesprächston solcher Wesen denen das Göttliche nicht das Ziel gesteigerter Stunden, gespannter Kraft und inbrünstiger Sammlung, sondern das natürliche Atmen und Schreiten ist. Sie reden von den Geheimnissen der ewigen Lage wie wir von den Sachen des Alltags. Die Ewigkeit ist ihr Alltag, nur ertönt uns ihr Gespräch hienieden als Gesang, ihre Gewohnheit werden wir als Weihe gewahr, ihre Einfalt als Wunder oder erhabenes Geheimnis. Sie bewegen sich immer auf der Ebene die den meisten Menschen nie, den besten in begnadeten Augenblicken sich von ferne zeigt, reich genug, ein ganzes Leben zu segnen. Gewisse Verse Hölderlins sind die nachlässigen Selbstgespräche eines göttlichen Menschen: wir ahnen daß sie einen Sinn haben der den unseren übersteigt, und mögen ihn Wahnsinn nennen, denn er ist nicht mehr für Menschenohren – ein Irrereden, das Reden eines unter den Menschen Verirrten, aber freilich [216] in seiner Dunkelheit einfach und schön, selig und hoch wie keine Menschenrede.

Verwandt mit dieser ungezwungenen Schlichtheit ist der Ton der Maximin-gedichte. Aber hier ist keine Einsamkeit mehr: während Hölderlin dem leeren Raum seine verfrühten oder verspäteten Olympierlaute anvertraut, spricht George mit dem Geliebten den er gefunden, ja erschaffen, mit dem Gott den er durch die Stärke seiner Liebe in sein Erdenleben hereingezogen. Die Stimme bleibt im umgrenzten Raum den der Gott füllt und der Mensch teilt .. sie raunt nicht mehr göttliche Zukunft vor tauben Ohren, sie ruft nicht mehr himmelan dem Gotte entgegen aus dunkler Kluft, sondern kündet ihr Menschentum, Not, Heil, Trauer und Wissen in der göttlichen Gegenwart, von Angesicht zu Angesicht .. nicht mehr göttliche Dinge auf der Menschen-ebne, wo sie dunkel verhallen müssen, sondern Mensch-dinge auf der göttlichen Ebene, wo sie einfach, hell, heilig nüchtern werden, geschwellt zwar mit aller Süße und Schwere des Herzens, aber nicht mehr belastet vom Geheimnis und nicht mehr gespannt von der Ferne.


Zerspaltne feuer all verschmolzen
Im streben nach vergöttlichung.

Zwiespalt und Vielfalt menschlichen Wesens trägt die Farbe und das Licht der heiligen Einfalt, gelöst und beginnlich, wie Kinder und Götter sind vor der menschlichen Vielfalt.

Maximin und der Dichter begegnen und vereinigen sich in der Mitte des Wegs der aus der einfachen Höhe der Götter zu der mannigfachen Breite der Menschen führt, und in ihrer Kommunion verschmelzen die irdische Fülle und die himmlische Helle. Die drei ersten Gedichte feiern die Ankunft des Beseligers, der die Saat erblühen läßt, den Gequälten aufrichtet, Weg, Luft und Mitmenschen weiht. Sie sind nur fast kindlich stammelnder Dank, bebender Willkomm, doch aus einer Brust von der mit diesem kargen Gruß die Bürde einer finsteren Welt abfällt. Die drei nächsten, »Erwiderungen«, enthalten den Austausch zwischen menschlichem Wissen und göttlichem Wesen: denn die göttliche Einfalt kennt sich selbst nicht, sieht sich nicht so wie der dem sie erscheint und muß von ihm erst das erstaunende und beklemmende Geheimnis der ihr fremden Erde und [217] die eigenen Wunder erfahren. Die letzte Drei des ersten Neunts ist die Trauer um den Heimgang des menschlich Geliebten: die verzweifelte Umarmung des Entschwindenden, das vergebliche Blühen und trostlose Sehnen der verlassenen Erde, die Verödung der Tage. Damit endet die Erdenbahn Maximins.

Die folgenden Gesänge preisen ihn in seiner eigenen Glorie, welche die Nacht der Qual durchdringt, dem Dichter die Kraft der Verewigung einflößt und jedes gottberührte Ding beglänzt, seinen Lebensraum durchstrahlt, seine Zeit verherrlicht und als unverrückbares Gestirn den Himmel schmückt. Alle Psalmen und Hymnen früherer Zeit überschwingt die schlichte Glut, die innige Gewalt, der ungeheure Feueratem dieser Gebete. Die Glaubensmacht die sonst über ganze Geschlechter verteilt war, die Gebetskraft frommer Zeitalter, die einst als Volks- oder Kirchen-und Gemeinde-andacht hundert Auswege und Ausdrucksformen hatte, ist hier in die Stimme eines einzigen Menschen gedrängt und entlädt inmitten millionenfältigen Schwatzes und einsamen Schweigens ihre tausendjährige Wucht.


Das wilde herz
Worin ein brand sich wälzt von tausendjahren –

hier betet es, sein Heil lobpreisend in kindlicher Demut, in zärtlicher Frommheit weihend die Stätten seines Erdenwandels, in sehnender Inbrunst nachzitternd der geliebten Gestalt, schmerzlich ergeben vor ihrem notwendigen Hingang und heilig sich erhebend über dem Grab.


Du rufst uns an, uns weinende im finstern
Auf! Tore allesamt!
Verlöschen muß der kerzen bleiches glinstern.
Nun schließt das totenamt!
Was du zu deines erdentags begehung
Gespendet licht und stark
Das biete jeder dar zur auferstehung
Bis du aus unserm mark
Aus aller schöne der wir uns entsonnen
Die ständig in uns blizt
Und aus des sehnens zuruf leib gewonnen
Und lächelnd vor uns trittst.
[218]
Du warst für uns in frostiger lichter glosen
Der brand im dornenstrauch,
Du warst der spender unverwelkter rosen
Du gingst vorm lenzeshauch.
Mit deiner neuen form uns zu versöhnen
Sie singend benedein,
Vom zug der schatten die nichts tun als stöhnen
Dich und uns selbst befrein
Die schmerzen bändigen die uns zerrütten
Gebeut dein feurig wehn
Und soviel blumen hinzuschütten
Daß wir dein grab nicht sehn.

So lebt und webt der Beter mit seinem Verewigten, daß er aus ihm heraus nun singt und sinnt: nach dem Erdenwandel und dem Aufstieg die Einverleibung, die Kommunion mit ihm:


Ich geschöpf nun eignen sohnes ...

Nimmst nun in geheimster ehe
Teil mit mir am gleichen tische ...
All mein sinn hat dir entnommen
Seine farbe glanz und maser
Und ich bin mit jeder faser
Ferner brand von dir entglommen ...
Ich empfange von dem keime
Von dem hauch der mich umdauert.

Dieser Einheit zwischen dem Einen und den Beiden entstammen die drei Gebete des Maximin, zugleich an seine Gottheit und aus seiner Menschheit: der Drang ins ungeschiedene Licht, der Schauer vor dem verhüllten Himmel, die Freude an der offenbaren Erde: die drei Ursprünge der Andacht, die drei Grundformen des Glaubens, der ja nur die menschliche Wirkung des göttlichen Daseins ist. »An das Göttliche glauben die allein die es selber sind.« Maximin erscheint in diesen Gebeten göttlich glaubend, wie in den andren Gedichten menschlich wandelnd oder göttlich wirkend. Die Kommunion zwischen dem Dichter und Maximin zeigt sich ebenso darin daß der [219] Verewigte des Gebets, wie daß der Beter der Verewigung fähig ist. Gebet und Erhörung, Glaube und Gnade, Mensch und Gott sind auch hier ein zweieiniges Geschehn auf der Götter-stufe, wie Engel und Ich auf der Geist-stufe, aber nicht mehr als Spannung, sondern als Kommunion .. ineinander, nicht miteinander.

Die beiden letzten Gedichte zeigen den nun durchgetreten Raum. Die Kommunion ist vollzogen, Mensch und Gott vereinigt. Beiden zweieinigen Naturen gemeinsam ist Erde und Himmel, die Stätten der Vielfalt wie der Einfalt. Das menschliche Heim ist gerüstet für die göttliche Wiederkunft, für des Heilands »Besuch«, der nun nicht einmaliges Wunder ist, sondern ewige Reihe des irdischen Wandels, heiliges Geschehen, wie Morgen und Abend, Blüte und Frucht natürliches sind, und all diese wieder heiligend. »Entrückung« hebt den Beter in den gotterfüllten Himmel – dem göttlichen Herab begegnet das menschliche Empor, und die gottestrunkene Seele dringt ein in den ungeschiedenen Gottesglanz, »ein Funke nur vom heiligen Feuer, ein Dröhnen nur der heiligen Stimme.«

»Maximin« ist die Mitte des Siebenten Ringes. Zu ihm hin, von ihm her runden sich die andren Gedichtskreise des Werks, und das Licht das ihm entstrahlt füllt auch sie in größerer oder geringerer Nähe. Die »Zeitgedichte« sind entstanden auf dem Weg von der Geist-ebene zur Gott-ebene, auf dem Übergang von der Schau des eignen Lebensgesetzes und der ewigen Erden-geistbilder zu der Schau des neuen Menschtums, das sein Gesetz vom obersten Wert, von der göttlichen Mitte empfängt. Wir wissen daß jeder neue Gott neuen Raum schafft, theologisch ausgedrückt: das Himmelreich bringt, philosophisch ausgedrückt: neue Werte setzt oder zeigt, neues Maß gibt, neue Tafeln aufstellt, oder wie man den Wandel des Sinns bezeichnet der jeder neuen Gottes-sicht Grund, Zeichen und Wirkung zugleich ist. Erst von dem Gott aus, das heißt von der leibhaften Ewigkeit aus, sieht der Dichter – bisher ohne Vor- und Rücksichten der Erfüllung seines Gesetzes und der Gestaltenschau, der Weihe, dem Zauber, der ewigen Gegenwart hingegeben – die Zeit, den Stoff, den Widerstand, die Umgebung des ewigen Lichts. Alles was nicht geistsichtig und gottdurchwirkt ist das istbloße Zeit: Vergangenheit, was sich nicht vergegenwärtigen läßt .. Vergängnis, was sich nicht [220] verewigen läßt. Was vor dem neuen Gott, dessen Bote und Diener der neue Geist ist, Gegenwart und Ewigkeit sein kann, was bloße Vergangenheit und Vergängnis bleibt, das zeigen die »Zeitgedichte«.

Man mißversteht sie ebenso wie die Gerichte Hölderlins und Nietzsches, wenn man sie als die Anklagen eines Mißvergnügten nimmt. Erst von dem unbedingten Ja aus, von dem Erscheinen eines neuen Gottes, der fordert, haben alle Flüche und Verneinungen der Propheten ihren Sinn. Ganz unwillkürlich setzt jedes neue Ja sein Nein, ganz unausweichlich schafft jede Ewigkeit eine bloße Zeit, jeder Beginn ein Ende, jeder Raum Grenzen und jede Höhe eine Tiefe. Aber es sind die Propheten, die Künder neuer Götter, also Menschen der Wende, deren Ja zugleich Rüge und Gericht wird, und die einem ganzen selbstgefälligen Zeitalter als pure Verneiner vorkommen, solange man ihren neuen Gott, ihr neues Ja noch nicht wahrnimmt. Die Gesellschaft verträgt jede Kritik von einem ihr bereits geläufigen Wert und Gesetz aus: jedes Parteigezänk, jede Nörgelei und jedes Gezeter wird als positiv geduldet, wenn es auf gleichem Boden bleibt wie das Angegriffene, wenn man das Maß schon kennt das der Krittler anlegt. »Negativ« nennt man zuerst jedesmal die Bringer eines höheren Maßes das die Fassungskraft auch der vorgeschrittenen Zeitgenossen übersteigt und einen Standpunkt außerhalb der ganzen bisherigen Welt voraussetzt der sie aufhebt, aus den Angeln hebt. Solch ein Verneiner war Christus dem Heidentum und Nietzsche (ohne beide als Größen vergleichen zu wollen) dem »Fortschritt« (Fortschritt und »Rückschritt« wollen blut- und geistmäßig genau das Gleiche, ihr Streit geht nur um Mittel, nicht um Götter). Diejenigen Geister freilich die einem noch fruchtbaren, thronenden und allsichtbaren Gott dienen, die glücklichen Erben und Vollender der Zeiten, die Herren und Verherrlicher des gegründeten Reichs, die Vollstrecker gültigen Gesetzes, die Wonnen und Spiegel des Menschengeschlechts, die Schmücker und Sänger des Seienden, können sich aussprechen und ihre Gottesschau zeigen, ohne dadurch schon die der Zeit zu verneinen. Sie künden nicht den Gott der das Schwert bringt, oder wie der Schöpfer am ersten Tag das Licht von der Finsternis scheidet, sondern den Gott am siebenten Tag, der sieht daß es gut war.

[221] Es steht nicht bei den Dichtern welchem Gott sie dienen wollen. Auch George nannte nicht das Licht Tag und die Finsternis Nacht, solang sein Gott es ihn nicht offenbar hieß. Er rügte nicht, solang er nur sein eignes Leben dem Gott entgegenzureifen, seine eigenen Grenzen auszufüllen hatte, unwissend und unbekümmert wie weit sein inneres Gesetz gelte und wie weit sein Licht reiche. Nun aber konnte er nicht mehr seiner Sendung genügen, ohne auf Schritt und Tritt an die Widerwelt der Zeit zu stoßen: er war zum Träger eines Weltfeuers geworden das Licht und Schatten warf wohin er ging, Gewissen und Stimme eines Raums der von ihm ausging, nicht nur eine Gestalt die durch den Raum schritt. Indem er Raum sah, sah er auch Zeit .. und wie das neue Licht, ausgebreitet als Geist, ausstrahlend vom Gott, erst die Gestalten des Raumes wieder zeigt, die ewigen Träger des Seins, so auch die der Zeit, die einmaligen Träger des Geschehens. Schon im Teppich des Lebens waren geschichtliche Zeitbilder wie Jean Paul und Holbein beschworen .. dort waren sie Mythen der Erdkräfte, dem Ablauf entrückt, eingewoben dem Teppich des Lebens für den Blick »vor dem als heutig alle Zeiten stehen.« Die Zeitgedichte durchdringen gerade den Ablauf selbst mit dem »fließenden Licht der Gottheit«, um Vergangenheit von Gegenwart, Vergängnis von Ewigkeit zu scheiden. Im Teppich wird die Zeit zum Raum, in den Zeitgedichten der Raum zur Zeit. Dort erscheint auch das Gewesene oder Wiederkehrende in der Form durch die es immer ist .. hier in der Form durch die es heute gilt. Der Teppich enthält die Urbilder des Geistes .. die Zeitgedichte Wirkungen des Gottes (Vor-wirkungen des kommenden, wie der Stern des Bundes Nach-wirkungen des entrückten). Der Teppich zeigt Gestalten des Seins nach dem Gott hin, die Zeitgedichte Gestalten des Ablaufs vom Gott her. Dort ist die Erscheinung selbst Idee, hier ist die Erscheinung sub specie aeterni wahrgenommen, gemessen an einer höheren Idee, die noch nicht selbst erscheint, sondern nur durch Licht und Schatten ihr Gericht übt. Nicht eine Schau von Kräften, sondern ein Gericht von Werten vollzieht sich in diesem Zyklus. Zeit ist die Gerichtsstätte wo die Wesen ihr Urteil, ihren Wert empfangen .. »Ewigkeit« oder »Ideenwelt« oder »Himmelreich« die Versammlungsstätte der bewerteten Wesen. Auch für George ist die Weltgeschichte in dem Sinn das [222] Weltgericht daß sie die Werte schafft, freilich nicht durch Zensur, sondern durch die Auswahl und Ordnung der ewigen Bilder, nicht durch Glück und Unglück, sondern Sinn und Unsinn, Gestalt und Ungestalt.

Die Zeitgedichte sind ihrer Gattung nach mehr Rede und Lehre als die bisherigen Werke Georges .. sie wenden sich zum erstenmal an eine Geistergemeinschaft nach außen: Hin-wendungen, Anwendungen, eben weil entstanden zwischen selbstgenugsamer Geistschau wie im Teppich und selbstgenugsamer Gottschau wie im »Maximin«. Der Gott ist schon dringlich nah, mächtig fordernd, aber noch nicht selbst sichtbar, und er füllt die Geschichte noch nicht so wie der Geist den Teppich. Diese Verwandlung der ausgegossenen Gotteskraft in selbstgenugsame Schau ist erst in den »Gestalten«, dem zweiten Zyklus des Siebenten Rings, erreicht. Die Zeitgedichte sind weniger Sicht als Sichtung, weniger das Ergebnis des Gerichts als die »Richtung«. Fast überall sonst gibt uns George sein Schauen in der Schau selbst, seine Wirkung als Werk: hier sehen wir ihn »am Werk«, scheidend zwischen Licht und Finster und den Weg bahnend auf dem das Heil nahen soll. Sein Auge, dies eindringliche, nüchternscharfe und tiefe Bildnerauge trägt hier weniger die Bilder als es sie den spröden Massen entreißt, Formen umreißt, quer durchschneidend den dämmernden und wogenden Raum. Es ist hier mehr Sonde als Spiegel. Der mächtige Wille, sonst gebändigt in der runden Gestalt, strafft sich hier im ballenden Griff und Hub, bricht aus und hält sich kaum in den Grenzen die das selig ruhende kräfte-trächtige Gebild von der übergreifenden kraft-entladenden Tat trennen. Niemals zwar sprengt auch die heftigste Ausladung die Weihe und niemals zerlöst sie die Fülle: niemals wird sie bloßer Gefühls-ausbruch des tobenden Ich, niemals bauschige Rhetorik und Theater-geste, weil George immer nur spricht wo er besessen ist und getragen von der zwingenden Stunde, dem Befehl »ich will, ihr sollt« und weil er immer bis in den feinsten Nerv gespeist ist mit Schau. Wer so muß der tobt nicht und auch sein Schrei wird »durch güldne Harfe sausen«. Wer sieht der redet nicht ins Leere. Wohl aber sind Zorn, Ekel und Verachtung hier die notwendigen Begleiter der Andacht, Ehrfurcht und Liebe und bleiben – auf die Ebene der »Zeit« heraustretend, von der [223] George bisher sich ferne hielt – nicht mehr im stummen Unsein, die Fluchkräfte heischen ihr Wort und ihre Weihe so gut wie die Beterkräfte. Jedes Licht-Bild entreißt sich hier der Nacht, enthebt sich dumpfem oder gemeinem Grund, und die »Ungeheure Wage«, sonst bald Spannung, bald Zweiheit, bald Zweieinigkeit, ist hier Gegensatz: Sonderung zwischen gottgewolltem Ewigem und gottverlassenem Zeitlichen.

Georges Ja und Nein ist einfach genug, schon angestrahlt von der göttlichen Einfalt: die Kraft des ursprünglichen Blutes, die gedrungene Schlichtheit der Ganzen und Runden, die lautere Hoheit der Gefüllten und Ächten steht entgegen dem gehäuften, verzerrten, übersteigerten, abgefeimten, geschwächten, verdünnten Massen- und Sonderwirrsal, den tausendfältigen Fasern und Rissen, Schwülsten und Schwären, Wucherungen und Zehrungen der zertriebenen Zeit. Die Nur-Zeit selbst hat keine Gestalt, doch Wirkung: sie hegt, zeigt, schändet, mißbraucht, vergötzt oder bedroht das ursprüngliche Leben das – aus Geschichte oder durch Gegenwart – sich verleibt in immer neuen Trägern. Ihrer einige, die Kairos oder Eros dem Dichter begegnen ließ zur schöpferischen Stunde, am geweihten Ort oder im Traum des Rückblicks, hat er gebannt. Auch hier setzt er sich nicht vor zu richten, sondern der Gang seines Lebens selbst bringt ihm die Lagen und Anlässe worin seine langgehegte Gesinnung zum sinnlichen Augenblick des Gerichts zusammenschießt. Auch die Zeitgedichte sind keine Lehr-oden aus einem Vor-urteil und freischwebenden Gedankenplan, sondern Geburten der steten Leidenschaft, empfangen vom einmaligen Nu. Wohl schweben dem Dichter immer Urformen des höheren Menschtums vor: Held und Herrscher, Priester und Seher, Edle und Fromme, Tapfere und Treue .. wohl glüht er lebenlang in Glaube, Liebe und Eifer, doch nur die begnadete Stunde gibt ihm Seine einmalige Form das Allgültige zu fassen und zu sagen auf seiner jeweiligen Stufe, selbst sein Wissen, sein Erinnern und Wollen wacht erst in diese Stunde hinein, in die sinnliche Lage woraus es Licht, Luft und Blut trinkt – mag sie im Gedicht selbst als unmittelbare Nähe mitatmen oder in erinnerte und geträumte Ferne entrückt sein.

Das Widerspiel von Dichter und Zeit gibt den Einklang und den [224] Ausklang. Wie die wechselnde Zeit den immer gleichen Hüter der ewigen Werte wechselnd sieht, das ist der Inhalt des Einleitungsgedichts .. wie Er den Zeit-süchtigen, Zeit-kranken, Zeit-flüchtigen mitten in ihr selbst die ewigen Werte zeigt – Schönheit, Kraft und Größe am ersten wie am jüngsten Tag, wandellose Gesetze des Wan-dels und unsterbliches Leben durch alle Vergängnis hindurch – das beschließt den Zyklus. Der Seher der ewigen Sicht ist selbst der nächste und der letzte Wert der Zeit, ihr helfend, indem er sich wahrt .. sich wahrend, indem er ihr trotzt, der feste Widerpart ihrer Launen, der lautre Spiegel den sie verändert wähnt, weil sie sich ändert. Schon hier schützt George seinen ewigen Sinn vor seinem zeitlichen Schein, damit nicht des Rügers Nein des Lobers Ja übertöne. Mit noch stärkerem Nachdruck zeigt er den Dichter als den ewigen Bejaher in Dante (»Dante und das Zeitgedicht«): er ruft das erhabenste Vorbild aller Zeit-opfer und -kämpfer, aller Zürner und Flucher die Segner und Beter sind, bestrahlt von der ewigen Liebe und Verkündiger von Sonne und Stern. Wie die Zeit nur ein Zustand des ewigen Lichts, so ist auch das Gericht über die Zeit nur das geringste Amt des Dichters dem die Verherrlichung Gottes obliegt. Immer neu spannt George den Regenbogen durch die Gewitter und über dem Absturz der Wasser. Immer wieder schützt er sein nötiges Nein vor dem Mißverstand der Zeitlinge, indem er seinen Grund offenbart, sein heiliges Ja.

Doch ebenso nötig ist es sie wegzuscheuchen von den Heiltümern, die Händler, die Betaster, die Trampler, die Lärmer. Es genügt die ächten Bilder aufzustellen oder heraufzuheben, um sie zu entgötzen und neu zu weihen .. das wahre Gesicht ihres Wesens und Schicksals ist das strengste Gericht ihrer Schänder und Fälscher. Der geheime Goethe der erhabenen Schmerzen und Freuden vernichtigt den mißbrauchten Götzen der seichten Genießer und bequemen Versteher. Den unseligen Träger und Löser des Zeit-fluchs, das titanische Opfer der erdverpestenden Stickluft, den Gipfelsucher von Sils Maria entrückt der Schein der neuen menschenbindenden Liebe zugleich der Masse die ihn dumpf beglotzt und den Einsamen die er irreführt. Böcklin, der hellaugige Schönheitswart voll Feuer und Feier, der letzte heidnisch-freie Lynkeus wirft durch sein Werk und sein Los [225] in die graue Knechtswelt der Popanze und der Krämer sein Licht und Dunkel.

Den Huldigungen an drei Meister und Ahnen, an Opfer und Sühner der Zeit, folgen die Lobgesänge der Bluts- und Seelenkräfte die durch Einst und Heut hindurch noch immer locken und zaubern, Urkunden des unvergänglichen Ja, fortwirkende Gewalten der Geschichte, zeugende und erhaltende Tugenden des urbildlichen Menschtums, eherne Anklagen der entstellten und erkalteten Menschheit.

Das riesigste dieser Gedichte ist »Porta Nigra«: die Substanz selbst, der Lebenssaft, das »Blut«, woraus jede Kraft und Tucht erst stammt, spricht hier ein Urteil über die blutleeren Schlamm-und Schleimgeschlechter. Daß dieser furchtbare Hohn nicht aus der Höhe sondern aus der Hefe kommt, daß George ein unterstes, mißachtetstes Geschöpf der Römer, des Porta-Nigra-fähigen Volkes, befugt so zu verwerfen


Die fürsten priester knechte gleicher art:
Gedunsne larven mit erloschnen blicken –

daß nicht ein Weiser oder Heiliger sondern ein antiker Buhlknabe sich erheben darf über eine ganze Schattenwelt, das spannt die Kluft zwischen Georges Werten und denen der Zeit ins Ungeheure. Nicht die romantische Verherrlichung etwa der Cäsarenpracht ist der Sinn dieses Gedichts: das Imperium Romanum als solches wird nicht gefeiert oder zurückersehnt .. es steht nur als Zeichen einer Menschheit die das Edelste, Blut, noch unverschlämmt, noch keimkräftig hegt .. sein niedrigstes Kind gilt dem Rufer der Ursprünge, dem Erneuerer der Lebensgründe mehr als die Höchsten unter den Schemen. Nicht Trümmerwehmut umwittert das Römertor .. es ist nur das greifbare Gefäß der antiken Säfte, der dringliche Halt ihres Blut-zaubers, die vernehmliche Sprache des schwellenden Willens: auch auf das unterste gerichtet gilt der noch edler, ächter als jedes Gestrebe, Geziele, Getu und Getreib der Wesenlosen. Porta Nigra, Knabe Manlius, Imperium Romanum sind also nur Träger des »Bluts« und nur als solche, nicht als Symbole irgendwelcher Seelenhöhen, hier gemeint. DenGrundstoff des Lebens selbst bedroht die »Jetztzeit«, nicht nur die Werte des Lebens, und deshalb hat gerade das Gedicht das aus dieser Gefahr und Weltangst kommt das steilste Pathos, die [226] mächtigste Spannung. Hier gilt es den Boden selbst, nicht nur die Blüten zu sichern .. den Keim, nicht nur die Früchte. Kein Spruch kann stark genug sein diesen Fluch zu bannen, kein Zeichen eindringlich genug um zu warnen vor dem »Mord am Leben selbst«. Der Lustknabe der blutvollen Welt als Richter über Fürsten, Priester, Frauen der blutleeren: das ist im Bild die Lehre aus dem Stern des Bundes:


Ihr frevler als die ersten tilgt den Gott.
.... und wollt nicht ruhn,
In trocknem taumel rennend, bis euch allen
Gleich feig und feil statt Gottes rotem blut
Des götzen eiter in den adern rinnt.

Alle andern Zeitgedichte verherrlichen die Wirkungen und Äußerungen des echten Blutes, Urbilder des runden und lautren Wesens die dem Dichter begegnet sind, samt ihrem Seelen- und Schicksalsraum, abgehoben von dem Grau und Flau der Zeit: Rittertum, Anmut, Geistesadel der französischen Dichter bei denen der Heimatfremde erste reine Luft im schmeichelnden Lande atmen mochte (Franken) .. erhabnes Greisentum, priesterliche Weihe, geistliche Segnung (Leo XIII.) .. kaiserlicher Traum- und Schicksalsschwung, kühne Herrlichkeit des Tuns, Planens und Duldens (Die Gräber in Speyer) .. jugendlicher Heldensinn, opferfroh, fahrfreudig, tatgedrängt und todestrunken (Pente-Pigadia) .. fürstlicher Frauenadel im Reiz und Schauer des Verhängnisses (Die Schwestern). »Von unsrem Stamm die unverbrochne Treue« feiert der Sang an den Jugendfreund, ein Brudertum aus unbändiger, unseliger, nie unlautrer Überfülle dunkler Kräfte, maßlose Hingabe und finster-schlichte Mannheit


Mit dem verschollenen blinden folgermut
Der dient nach ziel und eignem heil nicht fragend,
Der schlicht von dannen geht sobald er fürchtet
Er tauge minder, dank und sold verschmäht
Und ohne ruhm ins dunkel untertaucht.

Überall sichtet Georges Auge im Gewoge vergangener und vergehender Zeit die Gluten und Leuchten der Lebenselemente aus denen der Gott, immer gleichen Wesens und immer neuer Gestalt, steigen oder zeugen muß. Nur dies ist auch der Sinn der Vision »Die Tote Stadt« [227] die Sicherung der keimkräftigen Gründe und der unumstößlichen Lebensgesetze. Der rechte Fug, das Gleichgewicht, die Gesundheit, die gründige Einfalt, das erdgemäße Tun und Lassen wird hier entgegengeschaut als Gemeinwesen, als Stadt, als »moralischer Raum« dem übersteigerten, zertriebenen Wuchern der losgelassenen Sondersüchte und Mittel, dem Wahn des Fortschritts ins Ungemessene .. der »rechte Mit- und Auf- und Unterstieg« dem Turmbau von Babel. Auch hiervon enthält der Stern des Bundes die ausdrückliche Lehre:


Ihr baut verbrechende an maß und grenze:
»Was hoch ist kann auch höher!« doch kein fund
Kein stütz und flick mehr dient .. es wankt der bau
Und an der weisheit end ruft ihr zum himmel:
»Was tun eh wir im eignen schutt ersticken
Eh eignes spukgebild das hirn uns zehrt?«
Der lacht: zu spät für stillstand und arznei!
Zehntausend muß der heilige wahnsinn schlagen
Zehntausend muß die heilige seuche raffen
Zehntausende der heilige krieg.

Die »Gestalten« zeigen die lebenschaffenden und lebenverderbenden Wesenheiten (die »Substanzen«) von der Ebene des Gottes aus: sie entsprechen den Geistbildern des Teppichs nach dem Erscheinen des höchsten Werts. Die Zeit ist kein Widerstand mehr, sondern schon durchdrungener Stoff .. auch die widergöttlichen Elemente des Ablaufs sind hier »Gestalten«: verewigte Substanzen, Lagen und Stoffe, Triebe und Kräfte des Menschtums aus denen der Kosmos sich aufbaut, die »Götter« sich erneuern, das Leben sich nährt und erhält. Von den Mythen des Teppichs unterscheidet sie der Wille zur Erneuerung der darin waltet. Der Teppich verewigt die Vergangenheit, die Zeitgedichte richten die Gegenwart, die »Gestalten« fordern die Zukunft, nicht ausdrücklich, sondern kraft des Willens der sie füllt .. die Zeitformen sind in allen dreien nur Blickrichtungen des Menschen. Dieser enthält die ganze Natur und Geschichte und ob man in ihnen den Menschen findet oder im Menschen sie, das ist eine Denkform verschiedener Stufen. Im Teppich erscheint der Kosmos als Träger menschlicher Seinsarten .. in den »Gestalten« erscheinen [228] menschliche Seinsarten als Träger des Kosmos. Dort galt es Welt zu schauen vom Menschen aus, jetzt galt es Welt zu schaffen vom Gott aus: Mensch und Kosmos sind in beiden Fällen Wechselwirkungen.

»Der Kampf« stellt eine Grundform aller Weltschöpfung dar die schon im Titanensturz, im Zwiespalt zwischen Ahriman und Ormuzd Mythen gefunden hatte, die nächtige Urkraft, die maßlose Gewalt, »die wut die sich aus tiefen gebiert« im sieglosen Ringen gegen die göttlichen Zauber: Schönheit, Licht, Lied .. die Bändigung des ewigen Riesen durch das ewige Kind. Dieser Kampf selbst liegt jeder kosmischen Wende zugrunde .. er ist der Beginn jeder Menschwerdung der Erde.

Die nächsten zwei, »Die Führer«, sind unwillkürliche Traumgesichte und fallen aus der Gestaltenreihe, die ihren Sinn von der Gottschau empfängt, heraus: sie sind wohl hier eingefügt um der verwandten Form-und Farbgebung willen, und weil sie aus demselben Schauer von Jugend, Nacktheit und Helle stammen dem dieser ganze Zyklus sein Entstehen dankt. Die schöne Schnellkraft und die heilige Gebetskraft hohen Jünglingstums in festlich gelockerter oder betriebsam befangener Menge – die Jugend als Erregung und Geheimnis, als weckender Anstoß und dumpfer Keim des Volkslebens, das mag der unterbewußte Sinn und Drang dieser Visionen gewesen sein .. Bilder die nur diesem Dichter aus seinem damaligen Gesamtklima heraus im Traume einfallen konnten.

»Der Fürst« verdichtet die kosmischen Weihen der durch lange Geschlechter dem Niedrigen und Stumpfen entrückten Zucht königlichen Wesens, die Segnungskraft des gehegten und bewahrten Blutsadels deren geschichtliches Ideal das gesalbte Gottesgnadentum war. Shakespeare hat im Macbeth an Eduard dem Bekenner dieselbe Magie und ihre Wirkung beschrieben. Der Glaube daran ist eine durch Jahrhunderte wirksame Geschichtskraft gewesen und wie alle Geschichtskräfte, auch die Wähne, begründet in der Natur. Am Dichter ist es sie im Bild zu beschwören vor dem Erlöschen der letzten Zauber. Neben der selbstgenugsamen Blutsweihe hat der Blutsdrang, die Sehnsucht unter den Urformen einen Platz: »Der Minner«, das Herz hinaussendend an die Geliebten, die Weite schwängernd [229] mit den Keimen der Liebe die sich nicht entladen, sondern Luft und Glut schaffen für neues Leben.

»Manuel und Menes« bannt im kurzen Zwiegespräch (der geistigen Essenz aus einem Jugendwerk des Dichters) die Wechselkraft von Herrschaft und Dienst: auch diesen beiden Gesellschaftsformen liegen kosmische Bluts- und Seelenmächte zugrunde, und die verkörpert das Gestaltenpaar: der freiwillig sich beugende Helfer und der geborene Herr, sein notwendiger Partner .. der Berufene und der Erwählte. »Algabal und der Lyder«, gleichfalls die erhöhte Wiederkehr von Figuren aus Georges frühen Spannungsjahren, stellt die Armut des Weltgebieters dar die im Besitz der Erde sich zersehnt, und den Drang des Sklaven nach dem einen unerreichlichen Idol, »das Gleichgewicht der ungeheuren Wage« zwischen dem leeren Überfluß und dem überfließenden Mangel – zwischen πορος und πενια. »König und Harfner« vergegenwärtigt den unsterblichen Zwiespalt zwischen dem Spiel und dem Ernst, dem bunten Schein und dem dunklen Wesen, zwischen dem Vorsteller und dem Erfüller des hohen Lebens – auch sie zwei Eimer die abwechselnd aus dem kosmischen Brunnen schöpfen.

Die nächsten »Gestalten« fassen Gemeinschafts-kräfte des Auf- oder Untergangs: das Zusammen von Mensch mit Mensch und Tier und Erde, die Gewalten der Mischung, der Wirrnis, der Brüderschaft, des Taumels, der Bändigung, des Bundes und der Ballung .. nach den mikrokosmischen Seelentümern die makrokosmischen Volks- und Erdtümer. Hier wird der Sinn des ganzen Gestalten-zyklus deutlicher, ja an einigen Stellen geradezu ausgesprochen: der Aufruf der letzten gotteshaltigen oder gottesmörderischen Urwesen zur Wende der Gesamtmenschheit. Im »Sonnwendzug« glüht und schwillt, jagt und wirbelt noch einmal der erd-trunkene Orgiasmus, die allvermengende alldurchbrechende Wollust der Naturfeier, die uralte Wildheit aufschießender Säfte und Flammen. Der »Hexenreihen« verlautet den halbtönig finsteren, widrig-lockenden und betäubenden Gesang der kosmischen Kot- und Spukwesen, den brauenden und quirlenden, hinkenden und klappernden Untag, das Wuseln und Gruseln der vorgeburtlichen oder verwesenden Mittelschichten zwischen Element und Mensch, zwischen Mensch und Gespenst. Vor [230] George haben nur Shakespeares »Macbeth« und Goethes »Faust« diesen Bereich dichterisch bewältigt, ohne im Fiebertraum und Schattenspiel stecken zu bleiben. Es sind stoffliche Lebsel und Wirksel welche Ursprünge und Untergänge umschnuppern und umkriechen, die Taster der Vergängnis. Sie durften nicht fehlen in einem Werk von End und Beginn.

Die »Templer« sind die Ritter und Retter des heiligen Feuers. Was immer Menschen heldisch, erhaben und streng zusammenschließt gegen das Feige, Blinde und Träge: die Kräfte der Liebe, des Eifers, der Tat und des Leids, die durch Verzicht auf Spiel und Genuß, durch Sammlung und Bindung gestauten und gesteigerten Dränge hegen und verkörpern sie im Kampf gegen den rohen Trieb und den blinden Stoff, gegen das Ich und die Natur. Tempelritter, Rosenkreuzer, Jesuiten sind nur trübe geschichtliche Strahlen der bewahrenden und verwandelnden Ur-glut die George hier verherrlicht. Ledig der zeitlichen Zwecke und Gründe, Ziele und Mittel kündet er hier »Rose« und »Kreuz«, jugendliche Inbrunst und stolze Dulderstärke, strenge Zucht im geweihten Bund, angespannte Erhebung über den gemeinen Tageslauf, geistige Durchdringung und Überwindung der Erde, als überzeitliche Schöpfungskräfte woraus alle Geschichte erst steigt und die in jeder Wende neuer Erweckung und Gestaltung harren. Gerade die Kräfte des Bindens und Sammelns sind am nötigsten in Zeiten des Lösens und Lockerns, der strengste Zwang muß helfen wo die Willkür sich matt und schlaff rast .. nur Überwinder von Geblüt und Zucht – Selbst- und Weltüberwinder – führen durch die furchtbare Tat die entartete Natur wieder zurück zum heiligen Fug.

»Die Hüter des Vorhofs« sind die Bewahrer der reinen Schau und des schönen Sinns. Das Hehre ist nur in großen Stürzen und Nöten möglich: die Süße und beginnliche Lauterkeit gotthaften Lebens ist der immer nötige Grund jeder Jugend und Blüte .. nicht ein einmaliges Wunder, durch ungeheures Tun und Leiden zu erzwingen von der überwältigten Natur, sondern ein steter Zustand, durch Erziehung und Brauch von ihr immer zu fordern und mit ihr zu leisten. Die Weisen aller Zeiten haben der Pflege dieses natürlich menschlichen Ackers ihre reifste Sorge gewidmet: Platon stellt in seiner Politeia, Goethe in seiner Pädagogischen Provinz die Bedingungen dar unter [231] denen der Mensch richtig und edel, gut und schön wird und bleibt: George hat in den »Hütern des Vorhofs« vereinigt was er als Ursprung und Dauer, als die Grund-Lagen der Kalokagathia kennt – in sieben Strophen allen Reichtum eingeweihter Weisheit und irdischer Schöne: die Sehnsucht bewegter und erschütterter Herzen, die Freude empfänglicher und erleuchteter Sinne, die Würde gesammelten und ehrfürchtigen Geistes .. Helle, Zauber, Glut und Schwung der frei-blühenden Seele, gehegt und bestrahlt von der mit-schwellenden und -reifenden Erde.

»Der Widerchrist« ist die gigantische Endgestalt des entgotteten Völkerlebens, die jede Wahrheit umkehrt, jedes Gesetz umgeht, jeden Quell trübt und jeden Grund aussaugt .. der Fälscher, der Blender, der Umgarner, der Mißbraucher, der Wirrer, »der Fürst des Geziefers«, der das Schwere bequem und billig-massenhaft macht, das Wesen nach-scheint, die Künste vor-täuscht, das Grade biegt, das Ächte ersetzt – der Dämon des Schwindels, der Vorbote des Untergangs, geheckt zwischen der schlaffen Natur und dem geilen Geist. Die Endschaft der Christenheit, die entartete Geist- und Seelenwelt hat hier eine gleich gewaltige Apokalypse gefunden wie im Gesicht von Patmos der Verfall der heidnischen Blut- und Sinnenwelt. Dies Gedicht allein würde George schon in die Reihe der großen Propheten stellen: es hat kaum seinesgleichen an visionärem Flug, düsterer Großheit, plastischer Wucht und donnernder Ferne.

»Die Kindheit des Helden« ballt Urkräfte zu einer Siegfriedgestalt, die in erdnaher und himmelheller Einfalt, in Jagd und Strauß und Sang von den Elementen umwittert, menschenfern heranreift zum Länderbezwinger.

»Der Eid« reiht die Blutsbrüderschaft, die rückhaltlose Hingabe der Verschwörung, die Tatgemeinschaft zwischen Führern und Folgern unter die weltbindenden und -stürzenden Kräfte ein. Das Schlußgedicht »Einzug« ist die chorartige Beschwörung aller unterirdischen Kräfte der Qual, der Not, des Fluchs und der Schuld, mit denen eine satte sittige Nutz- und Bildungsherde nichts mehr zu beginnen wußte. Auch sie gehören zum unverlierbaren kosmischen Schatz dessen die neue Welt nicht entraten kann. Schon Nietzsche hat das Finstre Wilde Böse wieder in den Haushalt der höheren Art eingestellt .. bei jeder [232] Wende wird der Stein des Anstoßes zum Grundstein, und George selbst hat die Verbrecher der bürgerlichen Gesellschaft als die möglichen Retter geweissagt:


Der mann! die tat! so lechzen volk und hoher rat.
Hofft nicht auf einen der an euren tischen aß!
Vielleicht wer jahrlang unter euren mördern saß
In euren zellen schlief steht auf und tut die tat.

Freilich, nicht um eine sittliche Umwertung der Werte handelt es sich dabei, die das bisherige Böse gut heißen will, sondern um die umstürzende, verwandelnde, erneuernde Gewalt jeder Bluts- und Seelenstärke, welcher sittlichen Farbe auch immer. George ist kein Umwerter, sondern ein Verwerter aller Ursprünge, der hellen wie der finstern, der tierischen wie der seelischen. Eine ganze Menschheit hat sich mit Ersatz und Ableitung begnügt und ist bis zu den Grundlagen gar nicht mehr hinabgelangt .. was davon in sie heraufdrang hat sie entmannt oder erstickt, zu »Idealen« verdünstet oder zu Verbrechen erniedert. (Freilich nicht alle Verbrechen dieser Gesellschaft kommen aus den Kräften oder gar Ursprüngen.) Nicht das Böse, sondern das Ursprüngliche ruft der Dichter zur Vernichtung der überalterten Halbheiten und Mäßigkeiten empor. Und ihm eigen ist die Zusammenschau von Mensch und Erde wie sie im Schlußgesang der »Gestalten« sich offenbart. Die Erde ist der Grund der Kräfteströme, die Menschtümer sind Ausflüsse und Einflüsse des Erdentums. Die Erde ist weder bloßer Stoff noch bloßer Raum, sie ist Schöpfung, geschaffen schaffend, eines mit den Schicksalen ihrer Menschen. In jeder Fülle der Zeit entläßt sie gebundenes und versunkenes Leben wieder nach oben,


weckt was gefeit
Schlief mit dumpfem gegrolle.

Dann beginnt das Reich der dunkeln Geburten, der Umsturz der bloßen Zwischenlagen, die Erneuerung des Geistes aus dem Blut der Erde, die Offenbarung der Ursprünge, die Einkehr der Mächte. Dieser prophetische Chor nimmt sieben Jahre vor dem Zusammenbruch der europäischen Sicherheit als Gesicht, von der Götterebene aus, die Wende vorweg die unseren Augen dann als politisches und [233] gesellschaftliches Verhängnis, als eine Reihe von Ursachen und Wirkungen sich darstellt. Er ist ebenfalls nur aus Georges Gesamtsinn zu verstehen – dem Sinn den er hat und dem Sinn den er bringt, von Werk zu Werk deutbarer und deutlicher: den gefährdeten Mikrokosmos aus dem verschollenen Makrokosmos zu verjüngen. Beide sind ihm einer Art, nicht als Begriff, sondern als Lebenskraft: die Ursprünge sind beiden gemeinsam und die »Gestalten« sind die Menschenformen der Ursprünge, die sichtbar werden wo ein neuer Gott sich offenbart.

Dieselben Kräfte woraus die Welt sich verjüngen soll sind zugleich raum- und zeitloses Chaos das sie umlagert: nicht alle Fülle wird verbraucht zur Formung des Kosmos, und der Grund dem die Gestalten entsteigen ist zugleich Zuflucht der traurigen Seele, Tanzplatz der trunkenen, Dickicht der schweifenden: »Traumdunkel«. Wie alle Werke Georges, außer dem Stern des Bundes (der die Lehre und das Gesetz des neuen Reiches ausspricht) enthält auch der Siebente Ring neben dem Gestaltenraum seine Nacht voll wogender Gesichte und Töne. Was im Jahr der Seele die »Traurigen Tänze«, im nächsten Werk die »Lieder von Traum und Tod«, das ist im Siebenten Ring das »Traumdunkel«: das musikalische Widerspiel des plastischen Tags, die verwunschene Landschaft der abenteuernden Mächte, die gott-trunkene, aber nicht gott-wirkende, gesetzlose Zauberei. Auch das »Traumdunkel« setzt bereits die Erscheinung Maximins voraus, die Verwandlung aller Räume durch sein Licht. Es ist nur ein Umfang des Kosmos in dessen Mitte er steht .. auf der Mächte- und der Geist-stufe war Musik und Traum die andre Form, die Bewegungsform des ganzen Lebens: hier ist es die Entspannung von Kräften die nach der unverlierbaren Mitte gerichtet bleiben und aus jeder Ferne immer zu ihr zurückfinden. Es ist nicht mehr die Welt als Traum, sondern Traum in der Welt und mit dem Bewußtsein des Traums, mit dem Bewußtsein daß es Lockerung, Zuflucht, Spiel ist und daß vor den Toren des Märchengartens die Welt der Gestalten wartet und fordert.


»Welt der gestalten lang lebewohl«


dieser Vers aus dem »Eingang« grenzt das Traumdunkel selber ab, wie es früher nicht möglich gewesen wäre, und der Schlußgesang, [234] »Hehre Harfe«, führt durch die holde Verzückung und Entrücktheit selbst wieder den Dichter zurück in die strenge Weisheit und Wirklichkeit der Gotteserde.

Aber zwischen diesem Eingang, dem bewußten Urlaub aus der Gestaltenwelt, und der frommen Heimkehr durchwandert er ein Labyrinth von Erinnerungen und Lockungen, blumige Gehege, mittagliches und nächtiges Graun der Phantasie und der Leidenschaft, den Farbenprunk visionärer Gegenden, die Abgründe der Qual und des Verzichts, verwunschene Gärten und versunkene Tempel, wolkige Höhen und Opferhaine, wilden Taumel und matten Schauder. Jedes süße und böse Unmaß, jedes Wuchern und Schwelen, jedes Zuviel der Natur bis zu Irrsal und Frevel, jeder Schönheit und Fülle übersteigerter Reiz hat im Traumdunkel seine Stätte als Spiel, als Gefahr, als Wahn. Hier schweigt hinter dem bunten Schleier der Maja traumzeitenlang der gestaltige Gott. Farbe und Klang sind hier die unmittelbaren Träger des Lebens, nicht mehr Eigenschaften der Dinge und Wirkungen der Kräfte .. Dinge und Kräfte entstehen gleichsam erst aus dem Gewoge der Scheine und Laute.

Es sind Georges farbigste Gedichte, von einem wiegenden und kosenden Wohllaut, schwellender Üppigkeit oder lauschiger Pracht, saugender Schwermut und samtnem Gram wie nirgends sonst: alles gedämpft und gehüllt in eine Nacht der Vergängnis. Nicht zufällig hat hier George das einzige Mal sich indischen Vorstellungen hingegeben (»Ellora«). Jetzt kann er es wagen: je sicherer er die göttliche Gestalt schaut desto freier und ferner kann er spielen.


Wie er auch wandert und kreist
Wo noch ihr schein ihn erreicht
Irrt er zu weit nie vom ziel.

Und je dichter die Anspannung war desto lockrer darf die Entspannung sein. Das »Traumdunkel« ist die Diastole der Systole die in den »Gestalten« sich vollzieht.

Durch eine ähnliche Polarität sind die »Gezeiten« und die »Lieder« miteinander verbunden. Die »Gezeiten« sind Hymnen der Liebe, wie die »Gestalten« in der Luft des neuen Gottes entstanden, aber noch vor seiner Epiphanie. Hier singt sich die Leidenschaft aus die den Gott auf allen Wegen sucht, in der und jener Schöne ihn ahnt oder [235] wähnt, das immer geschwellte und doch noch nicht erfüllte Sehnen nach dem Einen, das von jedem Wunschbild die Antwort empfängt »wir sind es nicht«, die Ebbe und Flut von schönem Augenblick und erkanntem Wahn, von seligem »Endlich« und verzweifeltem »Noch nicht« oder »Nicht mehr«, der ganze Gang des erschütterten Herzens von unbestimmtem Verlangen zu seliger Hingabe .. kurz, die menschliche Liebe zum göttlichen Urbild, nah genug um es durch Menschen zu fühlen, zu fern um es zu ergreifen.

Dem gottnahen, aber noch nicht gotterfüllten Eros, dem Sohn aus Poros und Penia, dem Dämon der den Gott zeigt im Vorglanz und Abglanz der sichtbaren Gestalten, dem Führer der den Weg weist aber nicht das Ziel, dem Prüfer der jede Kraft aufruft und keine stillt, dem Gebieter der befiehlt aber nicht herrscht, verheißt aber nicht gewährt, ist dies ganze Buch geweiht wie der abschließende Lobgesang:


Du bist mein herr! wenn du auf meinem weg,
Vielwechselnder gestalt doch gleich erkennbar
Und schön, erscheinst beug ich vor dir den nacken.
Du trägst nicht waffe mehr noch kleid noch fittich,
Nur Einen schmuck: ums haar den dichten kranz.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Kein ding das webt in deinem kreis ist schnöd.
Du reinigst die befleckung, heilst die risse
Und wischst die tränen durch dein süßes wehn.
In fahr und frohn wenn wir nur überdauern
Hat jeder tag mit einem sieg sein ende –
So auch dein dienst: erneute huldigung
Vergessnes lächeln ins gestirnte blau.

Er trägt schon ferne Züge des Maximin, aber er ist kein Mensch und kein Gott sondern ein Dämon – keine Gestalt sondern eine Erscheinung. Seine Feier ist nicht die Andacht sondern die Sehnsucht, erschafft nicht Licht und Raum sondern »Flammen« die sich leuchtend verzehren, und »Wellen« die sich flutend verlieren


als uferlose ströme durch die see.


Die »Gezeiten« sind Georges Buch der Liebe: er, dessen ganze [236] Dichtung glüht von steter Liebe, hat ihr doch nur hier ihre eigenste Stimme verliehen. Sie spricht sonst durch den Mund der Mächte, des Geistes oder des Gottes, als Natur- oder Schicksalsgesang, Schau oder Gebet: nur hier trägt sie alle die andern Inhalte von denen sie sonst getragen wurde. Hier spricht der Liebe innerstes Wesen, die nackte Leidenschaft des Sehnens, Erringens, Besitzens und Verlierens – nicht mehr in Sinnbildern oder Geistbildern, sondern als freie Regung des Herzens. Sie ist keine Spannung, kein Zustand einer Gesamtreife mehr, kein Gegenstand einer Geist- oder Gottesschau, sondern allausfüllende, alles mithereinreißende Erschütterung, eines Menschen freilich der bereits die andern Umfänge durchdrungen hat. Die Liebe, noch nicht eingegangen in den Gott dem sie entgegendrängt, überwallt und durchbricht hier die bisherigen Bindungen der Mächte und des Geistes, oder vielmehr diese sind aufgesogen von der einen Leidenschaft die dem Verwandler, Erlöser oder Vernichter zuflutet.

Im größeren Umfang wiederholt sich hier das vergebliche Zwiegespräch zwischen Ich und Du das wir aus dem Jahr der Seele kennen. Nur war damals die naturhafte Einsamkeit des Ich noch als notwendiges Gesetz willig bejaht, und die Liebe trug die Züge der Natur oder des Verhängnisses. Die Liebe der »Gezeiten« kennt keine Naturgebundenheit mehr, sie wittert ganz nah, ganz dicht den Erlöser .. und ihn dennoch nicht zu fassen, durch seine schon gefühlten Strahlen hindurch, das steigert die Spannung über allen Verzicht hinaus zum zerreißenden Schmerz. Hier ist die Zwiesprache nicht mehr die schwermütige Anerkennung der naturgegebenen Grenze sondern der wilde Kampf um Überschreitung der überschreitbaren – nicht die Abkehr vom unerreichbaren Heil sondern das Weh um ein verlorenes oder entflüchtendes. Der Liebende im Jahr der Seele glaubt gleichsam an kein Heil, der Liebende der »Gezeiten« glaubt daran, aber gelangt nicht dazu. Im Jahr der Seele spricht die Leidenschaft als gesetzliches Leid, hier als ringende Verzweiflung .. und nirgends hat die verzweifelnde Liebe, die Vorform der Verzweiflung am Heil, solche einfach vollen Töne gefunden wie in diesen Versen:


Schon schwindet mir die kraft im schweigen zu verbluten
Daß du zum heil dir, mir zum tod dich trogst ..
[237]
Ich will noch länger dankbar sein für die minuten
Wo du mir schön erschienst und mich bewogst.
Leb wohl! du wirst nicht sehen wenn in schmerz und schwäche
Mein blick sich feucht geblendet senkt und schließt
Und wenn die sonne hinter der entseelten fläche
Im stumpfen blau ihr tiefes gold vergießt.

Eines dieser Gedichte ist die Totenfeier der Liebe selbst, gesungen von den zwei unvereinbaren Seelen die umsonst ineinander den Erlöser suchten.


Trübe seele – so fragtest du – was trägst du trauer?
Ist dies für unser großes glück dein dank?
Schwache seele – so sagt ich dir – schon ist in trauer
Dies glück verkehrt und macht mich sterbenskrank.
Bleiche seele – so fragtest du – dann losch die flamme
Auf ewig dir die göttlich in uns brennt?
Blinde seele – so sagt ich dir – ich bin voll flamme:
Mein ganzer schmerz ist sehnsucht nur die brennt.
Harte seele – so fragtest du – ist mehr zu geben
Als jugend gibt? ich gab mein ganzes gut ..
Und kann von höherem wunsch ein busen beben
Als diesem: nimm zu deinem heil mein blut!
Leichte seele – so sagt ich dir – was ist dir lieben!
Ein schatten kaum von dem was ich dir bot.
Dunkle seele – so sagtest du – ich muß dich lieben
Ist auch durch dich mein schöner traum nun tot.

Auch hier waltet schon die hohe Einfalt des »Maximin«: die Liebe ist zusammengefaßt in das gottsüchtige Herz, nicht mehr ausgebreitet und verfangen in die Elemente von denen sie Farbe empfängt, wie im Jahr der Seele oder im Teppich. Wie der Gott nur eine Gestalt ist, nicht ein viel- oder allartiges Wesen und Dasein, so ist auch seine Suche umso dringlicher und einfacher je näher er selbst ist. Das Licht das er verbreitet wird durch immer weniger Mittel gebrochen – nur noch das geliebte Du stellt sich zwischen ihn und das Herz. Die Liebe ist die hellste und heißeste die von der Erfüllung [238] nur um Armeslänge getrennt ist und nicht an der Natur und dem Verhängnis scheitert, sondern am Kairos. Die »Gezeiten« sind die nächste Vorform des »Maximin«, die letzte Leidenschaft vor der Erfüllung, die stärkste Verdichtung aller Liebeskräfte um die Mitte her, wie die »Gestalten« die stärkste Verdichtung aller Schaukräfte: Maximin selbst ist die Mitte sowohl der Suche als der Schau, der »ersten Liebe und der höchsten Helle«.

Wie der äußersten Anspannung der Schau in den »Gestalten« vor dem Erscheinen der Mitte die äußerste Lockerung im »Traumdunkel« entspricht, so der äußersten Anspannung der Suche, in den »Gezeiten«, ihre Lockerung in den »Liedern«: sie sind das musikalische Ausschwingen und Hinausklingen des Gelösten von dem unverlierbar Einen zurück in das All. Sie sind vom Gott aus was vom Geist aus die »Lieder von Traum und Tod« sind: der Urlaub des Mitte-Gebundenen in die tausendfältige Weite, sei sie Sternenhimmel oder heimatlicher Winkel .. des Gestaltigen in die Bewegung, des Leibs in die Musik. Diese ewige Polarität des Menschen zwischen dem Einatmen in die göttliche Einheit und dem Ausatmen in die kosmische Allheit, die Zwiesprache zugleich zwischen dem bindenden oder lösenden Du und dem gebundenen oder gelösten Ich gibt den Vorklang der Lieder, der Wechselgesang der welt-bewegenden Schönheit und der welt-bannenden Liebe. Es ist in der georgischen Form die ewige Polarität zwischen Ich und All die Goethe im »Wiederfinden« verherrlicht: bei Goethe wird menschliche Sehnsucht zum kosmischen Vorgang, bei George ist das kosmische Geschehen menschliche Spannung:


Sterne steigen dort,
Stimmen an den sang.
Sterne sinken dort
Mit dem wechselsang:
Daß du schön bist
Bannt mich bis zum tod.
Daß du herr bist
Führt in not und tod.
Daß du schön bist
Regt den weltenlauf.
Wenn du mein bist
Zwing ich ihren lauf.
»Daß ich schön bin
Also deucht es mir.
Daß ich dein bin
Also schwör ich dir.«

Der Ausklang der »Lieder« ist die Einkehr des Ich aus den Allschwingungen [239] in das Du: dies ist hier nicht mehr Ein-gestalt sondern All-wesen. Auf Georgische Weise singt hier abermals ein Urwissen das Goethe schon formuliert hat:


Alles Drängen, alles Ringen
Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.

Georges Gott ist nicht die Natur sondern der Mensch, und noch sein All bleibt menschliches Du, noch seine Befriedung die alldurchwachende Liebe. In den Liedern ist dies aber nicht als Schau gegeben sondern als Schwingung, wie die »Lieder von Traum und Tod« das ganze Leben des »Vorspiels« noch einmal als Schwingung raum- und zeitlos austönen. Zwischen dem kosmischen Vorklang und dem göttlichen Ausklang der »Lieder« liegen dann mannigfache Schwingungen einzelner Augenblicke in gott-durchklungener Welt, von zartester Liebeseligkeit zu brünstig wildem Taumel, von kindlich stammelndem Morgengruß zu hallenden Nachtgesängen. Es gehört zum Wesen dieses Zyklus daß er locker und weiträumig Blumen- wie Sternentöne vernehmen läßt: er ist ja eben ein Ausschwingen, nicht ein Zusammenschauen – ein Schweifen und Wehen, Sausen und Summen, nicht ein Ründen und Gründen, Ballen und Greifen. Doch auch hier ist bei der größten Vielfalt der Weisen die Einfalt des Tones, die hehre oder traute Herzlichkeit die seit dem Erscheinen Maximins das Kennzeichen aller Georgischen Dichtung bleibt: Wort und Blick aus der einfachen Mitte.

Die Mannigfaltigkeit der Weisen und die Einfalt des Tones im Siebenten Ring sind beides Zeichen der errungenen Gewißheit: erst wer seine Mitte kennt und unverlierbar besitzt, kann ja muß von ihr aus nach allen Seiten blicken und schwingen. Erst von der einen Mitte aus wird die Welt mannigfach und einfach zugleich: vorher ist sie das Wirrwarr vieler Wege oder die strenge Straße zum Ziel, die eine Form der Kunde oder die abertausend Formen der Dinge. Sobald der Mensch seinen Gott gefunden, scheidet er nicht mehr Formen der Verkündung und der Dinge, sondern der Gott füllt die tausend Dinge mit seinem einen Licht und die Dinge färben das eine Licht durch ihre abertausend Formen.

Jetzt erst konnte George auch die Einzelheiten eines ausgebreiteten Daseins unmittelbar als solche verewigen, wie es im Schluß-zyklus [240] des Siebenten Ringes geschehen ist: in den »Tafeln«. Früher war jedes Einzelne nur Zeichen oder Gebärde seines Gesamtzustandes, seiner Natur, seines Schicksals oder Lebens: jetzt ist es sichtbar im Raum den der Gott durchwaltet, im Reich der Werte. Die »Tafeln« sind Zeitgedichte nach dem Erscheinen des Gottes, Richtersprüche über die ganze Erfahrungsbreite des Sehers, über den Umkreis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Personen, Landschaften, Geschehnissen den er übersieht oder durchmißt, voraus und rückwärts. Die »Zeitgedichte« suchen erst Weg und Zeit für den Gott .. hier ist sein Raum geschaffen und die Einzeldinge erscheinen schon im »Kosmos«, in der geordneten Welt. Sie schaffen nicht diese Welt, wie die »Gestalten«, sie umlagern sie nicht wie das »Traumdunkel«, sie rufen sie nicht wie die »Zeitgedichte«, sie sind in ihr, schmücken oder entstellen sie, und der Dichter ehrt oder rügt sie darnach. Es sind Winke, Ausblicke, Rückblicke, feste Aufschriften auf ewige Gestalten und Stätten, bald Gebärden des Grußes, des Dankes, der Warnung an Freunde und Begegner, bald Sibyllensprüche für Volk und Erde, rasche und energische Abdrücke eines Menschentums in den regen Stoff der Zeit. Den Heimaten und Zufluchten des eignen Wesens im Vaterland huldigt George, die Erinnerungen und Erwartungen seines Volkes sichtet er vom Urbild aus: Augenblicke, Denkmale, Personen hebt er ab von diesem Grund und zeigt dadurch die Fratze und die Glorie.

Die »Tafeln« sind der Gegenkreis der »Zeitgedichte«. Diese rufen das Urbild in die Zeit herein, die Tafeln die Inhalte der Zeit, ihre Augenblicke aus dem Urbild. Beide Gedichtkreise fordern und richten für die Gesamtheit: doch sind in den Zeitgedichten noch keine einzelnen Elemente der Gemeinschaft sichtbar .. die Tafeln zeigen bereits Genossen und Jünger. Und zum erstenmal enthalten sie auch Prophetie im engeren Sinn: seherische Vorwegnahme der Zukunft in der Zeit. Insofern George ewige Kräfte vergegenwärtigte, war er immer ein Seher, doch erst jetzt lebt und sagt er das kommende Schicksal einer Gesamtheit bewußt voraus. Solange ein Mensch seinen Gott erharrt oder heranruft, werden seine Rufe Botschaften oder Gebete, nicht Weissagung sein: er ist besessen von dem Einen was ihm not tut, und erst wenn er dies gefunden, kann er aus der einfachen Ewigkeit [241] in die vielfache, das ist wandelvolle Zeit schauen. Erst wer einen Gott kennt kennt auch Gemeinschaft und Volk. Erst durch Götter werden Völker geschaffen .. das hat von den biblischen Zeiten bis zu Hölderlin jeder Seher gewußt, und den Gott mit dem Volk zusammen aufgerufen. Ein solcher fühlt auch am eignen Leib, als das gott-nächste von der zeitschaffenden Mitte gefüllteste Herz, am unmittelbarsten die kommenden Geschicke des Volkes .. denn im neuen Gott ist alles schon da was er bringt und fordert. Sehertum ist nur der gegenwärtige Empfang seiner Strahlung, welche die Dumpferen Ferneren erst später erreicht .. weniger ein Vorhersehen dessen was eintreffen wird als ein Zuerst-spüren dessen was da oder unterwegs ist – wie Tiere atmosphärische Ereignisse nicht vorauswissen, sondern davon durchwittert sind.

Für sich selbst ist eine Art Prophet jeder der sein Lebensgesetz kennt oder ahnt .. er spürt, wenn nicht die Einzelereignisse die ihm zustoßen werden, doch die Ereignisarten und Zustände die er durchlaufen wird. Wer in einem Gott und damit in einer Gemeinschaft atmet der ist deren mitfühlender Sinn, Seher eines Volks. Prophetie ist nicht eine besondere Begabung – Somnambulismus und Kartenschlägerei – sondern das Innewerden der zeitschaffenden Kräfte, der Götter. Darum wendet sich George zur Prophetie mit den »Jahrhundertsprüchen« der Tafeln erst im Siebenten Ring seines Lebens, nach der Erscheinung seiner Gottheit, zugleich mit den ersten Ansätzen einer heutigen Gemeinschaft und dem Blick in die Mannigfalt seiner Tage: das »Saeculum« d.h. Gemeinschaft, Zeit und Vielheit tritt in den Kreis des Beters erst von der ewigen Mitte aus. Zu ihr hin führt Georges bisheriger Weg, von ihr aus sein weiterer. Im »Maximin« treffen sich alle Bahnen Georges, und der Siebente Ring umfaßt all diese Bahnen – die zu ihm hinführen und die von ihm ausgehen: in den »Zeitgedichten«, den »Gestalten«, den »Gezeiten« die letzten Hübe, Ballungen, Spannungen zum nah verhüllten Urbild hin, im »Traumdunkel«, in den »Liedern«, den »Tafeln« die ersten Lockerungen, Schwingungen, Ausbreitungen vom offenbaren Urbild her. Hier kreisen rings um die leibhaftige Gestalt noch einmal all seine Lebenskräfte, die bindenden und die gelösten, die einenden und die schweifenden, die fordernden und die verschwenderischen, eh er [242] ihren vielfältigen Kosmos zusammenschließt zum Reich: zum irdischen Bund um die göttliche Mitte.

Fußnoten

1 Abgedruckt in der dritten Auslese aus den Blättern für die Kunst. Berlin 1909 bei Georg Bondi.

XII. Der Stern des Bundes

Um jeden Gott entsteht neuer Kosmos, neues Weltbild, einerlei wie viele es sehen. Jede sogenannte »Weltanschauung« ist nur der Nachglanz eines verblaßten oder vergessenen Gottgesichtes. Kommt das Gottgesicht einem Willensmenschen, so verdichtet er sein Weltbild zur Menschenordnung, d.h. zum Reich. Jedes wahre Sein der Welt enthält unmittelbar ein Sollen des Menschen. Die Geburt der Sittlichkeit aus der Weltschau und der Gottesschau wird uns am deutlichsten bei Platon: »Tugend ist Wissen« heißt nicht daß man sich erst vergewissern solle was das Rechte sei und dann es tun, sondern daß das rechte Sein und Tun unmittelbar mit der wahren Schau der Weltordnung, des Kosmos gegeben sei. Das rechte Sein und die wahre Schau sind miteinander nicht kausal verknüpft – wie Intellektualisten oder Voluntaristen meinen in ihrem Streit ob Einsicht oder Trieb zuerst sei – sondern sie sind eines: man schaut nur was und soweit man ist. Die Trennung der Ethik vom Gesamtweltbild, das Sollen an sich, das abgesonderte und abgezogene Sittengesetz, das quer durch die wie immer beschaffene Welt schneidet, kennt Platon noch so wenig wie er eine gesonderte Wissenschaft vom Wahren, Guten und Schönen kennt, nach der man dann hinterher den Willen reguliert Er kennt eine wahre Ordnung der Welt kraft erleuchteter Schau, die mit einem Wesen gegeben ist, und er sieht deren Mißwendung in seiner Zeit – denn das jeweils Vorhandene ist nicht immer das ewig Wirkliche. Sein sogenannter »ethischer Wille« ist die Leidenschaft die wahre Ordnung an seinen Mitbürgern zu verwirklichen, seine sogenannte »wissenschaftliche Methode« ist sein Mittel sie ihnen zu zeigen, damit sie das Wahre schauend unmittelbar richtig seien. Man hat ihn dann durch die Jahrhunderte hin mißdeutet als einen Mann der nebeneinander bestimmte durch begriffliches Nachdenken erworbene Wesenslehren, durch sittliches Nachdenken erworbene Wertlehren auf verschiedenen Gebieten durch mehr oder minder wissenschaftliches Verfahren und in möglichst gefälliger, daher oft poetischer Form vermitteln wollte. Aus solchen Mißverständnissen [243] kamen die bildlose Ethik, die willenlose Ästhetik, die leibfreie Metaphysik und die seelenfreie Physik der späteren Zeiten, die Zerreißungen des einen gottdurchwirkten vermöge des Eros, der welthaltigen Liebeskraft, dem hohen Menschen offenbarten Kosmos, dessen Ordnung unser Wissen, dessen Wirkung unser Sollen enthält. Seine Wirkung ist mit seiner Ordnung gegeben: seine Ordnung ist ordo in ihm und ordinatio durch uns: wir wirken ihn aus und er durchwirkt uns, und mit tiefer Ahnung (wenn auch vielleicht flacherer Deutung) hat Spinoza sein geschlossenes Weltbild Ethik genannt, er, dem die Ordnung der Wirklichkeit und die Ordnung des Denkens identisch waren.

Wo immer einem ursprünglich gottsuchenden Menschen ein Gottgesicht und Weltbild wird, da wiederholt sich der platonische Kreislauf von Glaube – das ist


Kraft von Blut, Kraft des schönen Lebens –


zu Liebe, von Liebe zu Schau und von Schau zu Wille, der nur auf gegenwärtige und künftige Menschen dieselbe »Kraft des Blutes« wieder ausstrahlt, die frühere und gegenwärtige ihm eingewirkt und zugestrahlt haben. Von Platons ewigem Vorgang aus ist George leichter zu fassen als aus allen zeitlichen Voraussetzungen neuerer Literatur.

Der Stern des Bundes enthält das Sollen des Seins das sich in seinen früheren Büchern als Lebens-gesicht, im Siebenten Ring als Weltgesicht darstellt. Dies Sollen ist bei ihm platonischerweise Wirkung des Seins, nicht modernerweise Teil oder Gegensatz oder Ursache oder Folge des Seins. Es ist nicht abgelöste Forderung des Verstandes und des Willens, sondern – als Wirkung – so gut Schau wie die Ordnung und wie diese ihm erglühend aus dem gottsuchenden Eros und offenbart durch die göttliche Mitte. Es ist ihm, eben als Wirkung eines Wesens, niemals freischwebende Lehre. Wie die Mussgesetze der Natur nur erscheinen an wirklichen Naturdingen und Vorgängen, so auch die Sollgesetze des Menschen nur an menschlichem Tun und Gebaren. Beide werden nur durch Schau wahrgenommen – Copernicus, Kepler, Newton, Gauß waren Anschauer gemusster Welt .. Augustin, Luther, Kant gesollter Welt (jene nur gemusster, diese nur gesollter, im Gegensatz zu Platon oder Dante oder Goethe, für die Seinswelt, Musswelt und Sollwelt eines waren).

[244] Aussprechen läßt sich die Schau freilich in verschiedenen Graden, entweder unmittelbar oder durch Zeichen oder durch Formeln und Sätze. Dem Dichter ist unmittelbare Darstellung gemäß, und George ist auch da wo er Sollen verkündet Dichter. Der Stern des Bundes gibt keine Verhaltungsmaßregeln mit Beispielen, abgezogen aus Tun und Gebaren, sondern magische Wunsch- und Wahlsprüche seines Willens oder Gesichte des Auf- und Untergangs welche die Ordnung wirkend darstellen. »Magisch«: die Ordnung ist hier so im Worte wirksam gegenwärtig, als Zustand (nicht nur als Gegenstand) wie im Jahr der Seele die Natur! (vgl. Seite 140) Das unterscheidet die Sätze Georges von den Aussagen der Philosophen, etwa eines Ordnungssehers wie Hegel oder Spinoza. Auch diese sehen ihre Ordnungen unmittelbar – aber sie sagen sie mittelbar, durch Begriffe die vorgeprägt sind, ohne den Kairos in dem ihre Schau ihnen aufgegangen ist, ohne den Zustand kraft dessen sie sehen: sie geben nicht Sicht und Seher im Wort als eines, sondern nur das Ergebnis ihrer Sicht als anwendbare Methode oder als selbständiges System. Ebensowenig ist Georges Stern des Bundes »philosophische Lyrik« oder Spruchweisheit: Gefühlserhebung über eine Sicht oder Gedanken über Erlebnisse. In all diesen Fällen ist zwischen dem Sehen und der Sicht ein Medium das den Seher ausscheidet oder vordrängt, die Reflexion, das »Nach-denken«. Am verwandtesten mit diesen Sprüchen sind die Urgesetze und Urweisheiten aller Völker bis zu den frühgriechischen Denkern – die rhythmisch waren nicht um des Gedächtnisses willen, sondern als unmittelbarer Ausdruck des gehobenen Zustandes der Weihe und der Erleuchtung: nur in einem solchen Zustand erfuhr und bannte man das Rechte das Dauer verlangte. Es gibt Zaubersprüche der hellen Götter, wie es Zaubersprüche der dumpfen Mächte gibt: jene bannen die Ordnung, wie diese die Erscheinung. Auf einer höheren Stufe wiederholt der Stern des Bundes die Magie des Jahres der Seele.

Die Ordnungen sind so gut der Urschau auf einer gewissen Stufe zugänglich wie die Erscheinungen. Sie werden meist erschlossen oder errechnet: das ist die Arbeit der Wissenschaften. Klarer oder trüber gegenwärtig sind sie jedem Sinnbegabten, mit den Erscheinungen selbst gegeben: wo wir ein Wesen verkrüppelt nennen oder [245] einen Bau schief oder wo immer uns eine Verzerrung oder ein Mißklang stört, da werden wir mit der Erscheinung auch ihr Gesetz gewahr und die Ordnung der sie angehört: und zwar wirkend .. denn eben daß wir Verzerrung gewahren und benennen ist ein Wirksal dieser Ordnung. Dem Weisen ist nun diese Ordnung von seinem jeweiligen Geschichts-augenblick aus völlig offenbar und gewärtig: er ist das Organ das sie von ihrer jeweiligen Strahlungsmitte, dem neuen Mittler, rundum und durchaus gewahr wird, nicht nur wie der gewöhnliche, gottfernere Mensch teilhaft und flächlich. Der Dichter bannt diese Schau der wirkenden Ordnung in sein eigenstes Wort, das von ihr zugleich erschaffen und erfüllt ist. Die wirkende Ordnung, die zwar ewig ist, aber in jeder Wende mit dem neuen Gott ein neues Gesicht und einen neuen Künder findet, ist der Buntheit der Erscheinungen entkleidet: sie durchdringt als einfaches Prinzipium, als Bauwille, Stil, Wachstum, Tendenz, oder wie man es nachher abziehen mag, die mannigfaltigen Gebäude oder Gewächse. Sie treibt und trägt die Farben, Formen, Bewegungen, ist aber dennoch kein Begriff der vor- oder nachher zugrundliegt, sondern die Gesamtidee der Erscheinungen, ihr Zueinander und Miteinander, wahrnehmbar auf der Götterstufe, wie die Einzelideen, ihr Raum, auf der Geiststufe. Diese Ordnung ist nicht mehr Raum, erfüllt vom göttlichen. Licht, wie im Siebenten Ring, sondern sie ist das Raumschaffende und Lichtspendende selbst, die Ausdehnung, das Leuchten .. nicht das Gefüge, sondern der Fug.

Im Siebenten Ring wird die Erscheinung des Mittlers selbst gefeiert, der Glanz den er ergießt, der Raum den er schafft, die Gestalten die darin wandeln, die Erschütterungen und Bewegungen seines Umkreises: die Durchdringung der Welt mit dem neuen Licht. Dies Werk ist daher mannigfaltig und vielfarbig, wie kein früheres von George. Im Stern des Bundes ist die Durchdringung vollbracht, und nicht mehr das Wirkende und Gewirkte, sondern das Wirken erscheint: die Dreieinheit von Mittler, Künder, Gesetz .. der Mittler aber nicht mehr als menschliche Gestalt sondern als göttliche Kraft, der Künder nicht mehr als Empfänger der Gesichte sondern als Träger der Sendung, und das Gesetz nicht mehr als der Raum der Erscheinungen sondern als ihr Sinn. Der Stern des Bundes ist daher [246] farbenlos und reizelos und behält von der ganzen Erscheinungsfülle nur die Wucht, das Maß und den Bau. Die Erscheinungsbreite ist jetzt eingegangen in die unbedingte (dinglose) Einheit ihres Prinzipiums, welches freilich nicht ein formloser Urgrund noch ein lebloser Begriff ist, sondern das Menschtum, zugleich Mittler, Künder und Reich. Jetzt sind alle Dinge erst ganz aufgehoben in dem kristallisch reinen und durchsichtigen Sinn der sich bisher ihnen mitgeteilt sie er-schienen, gebildet, gestaltet, bewegt hatte: sie sind Wissen ihrer selbst, vernehmbar sich selbst geworden. Ihre Fülle kann als Vernunft unmittelbar dargestellt werden – und so ist hier der welthaltige Mensch, ohne seinen Inhalt zu ver-äußern, und die menschgewordene Welt, ohne ihre Gestalt zu ver-innern, zum erstenmal helle Lehre durch Darstellung ihrer selbst, ihrer eigenen Größe, ihres eigenen Gewichts, ihrer eignen Glut. Hier ist nichts mehr als dieser Mensch, »das Wunderwerk der Endlichkeit« – kein Gestaltenraum und kein Traumdunkel mehr umstrahlt oder umfärbt ihn: aber er selbst ist die leibhaftige Vernunft der Höhen und Tiefen, nicht mehr sie durchschreitend, sondern von ihnen durchdrungen, bis sie hell geworden sind wie sein weißes Licht. Und abermals darf man einem großen Ahnen Georges die Formel entnehmen für die menschlichen Eigenschaften und göttlichen Antriebe die diese Dichtung bewirken wie jeden Hölle und Himmel umfassenden Mensch-Kosmos: Gerechtigkeit, Weisheit, Liebe (Giustizia, sapienza, amore).

Wie im Jahr der Seele eine Mächte-Trias, so waltet im Stern des Bundes die göttliche Trias, Mittler Künder Reich, durch die Zwienatur des Menschen der Einung und Spaltung fähig. Georges vielformige Polarität, die schon in den Legenden der Fibel den Kampf zwischen Weihe und Leidenschaft entzündet, entfaltet sich hier nochmals in der Zweieinigkeit des Menschen mit seinem Gott, in der Zweieinigkeit des Menschen mit seiner Welt und in der Zweieinigkeit des Gottes mit seiner Welt – alle zusammen offenbaren abermals nur das Grundgeheimnis Georges: die unentrinnbare Selbheit jedes Wesens mit seiner Gestalt: die Vergottung des Leibes und die Verleibung des Gottes, die Wiederbringung jedes Wesens in seinen eigenen Sinn, der nicht ein andres sondern es selbst ist. Wenn jedes Wesen mit seiner Welt und seinem Gott unentrinnbar eines ist, so [247] gibt es keine Flucht in ein Jenseits, in eine Ewigkeit mehr .. sein eigenes Da-Sein darstellen, auswirken, erfüllen im eigenen Hier und Jetzt, in seiner mitgeborenen Ordnung, ist der Sinn, d.h. der Grund und das Ziel, die Ursache und der Endzweck jedes Wesens. Diese Ordnung verkündet aus seinem Gott, seinem Ich und seiner Welt, aus seinem Hier und Jetzt George im Stern des Bundes, seit Dante der erste der aus seiner Selbheit heraus zugleich seinen Gott, seine Welt, sein Ich vollkommen in einer unlösbaren Einheit von Leben, Wissen und Wort verwirklicht. Kein Werk zwischen der Divina Commedia und dem Stern des Bundes hat zugleich diese ursprüngliche Einheit, Allheit und Selbheit .. keines die göttliche Gegenwart in jedem einzelnen Wort wie im Gesamtplan, die konzentrische Dreifaltigkeit in Ton, Lehre, Gestalt des einfach da-seienden Dichters.

Wir können nur sondern und ausbreiten was bei ihm keimhaft rund, gestaltig eins ist, nur als Same oder Frucht zeigen was bei ihm Same und Frucht zugleich ist, nur als Zweiheit oder Einheit was bei ihm Zweieinigkeit .. nur als Mitte, Radius oder Umfang was bei ihm Kugel ist. Eben weil der Sinn hier unmittelbar dasteht als Sinn, nicht mehr ab Geistbild oder Sinnenbild, läßt er sich nicht weiter ausdeuten, ohne daß man sein Wesen verfälscht, welches zugleich auch Gestalt ist. Man kann ihn »an-wenden«, »auslegen« wie Bibelsprüche, aber dann hat man schon nicht mehr ihn, sondern etwas anderes. Die Bibelsprüche wollten etwas »anderes«, das Jenseits zeigen, wollten ihren Inhalt herausgelegt haben. George aber bringt ja gerade die Botschaft von der Selbheit jedes wahren Wortes, wie von der Wirklichkeit der Bilder. Hier ist nichts auszulegen: nur dies läßt sich nochmals dartun wie Georges Wille auch als Vernunft sich selbst aus-wirkt, wie sein Wesen sich als Sollen ausspricht, wie seine Mitte sich als Gesetz für Gemeinde oder Reich, als Stern des Bundes vollendet.

Die göttliche Gestalt welche ihm den Grund seines Daseins erschloß, der Inbegriff aller Werte die zu suchen, zu finden, zu künden er in diese Zeit berufen war, ist Anfang End und Mitte auch dieses Werks, nicht mehr als geliebter Mensch, sondern als entrückter Herr der Wende. Im »Eingang« ist Wissen und Zustand was im »Maximin« Leiden und Geschehen: erst nach der Entrückung, dem [248] einmaligen Akt des erschütterten Herzens, das alle Kräfte zusammendrängte, um sein Heil zu verewigen, erst nach der Vergottung kann der Mittler seinen Sinn offenbaren. Erst jetzt ist er eingegangen in den erleuchteten Menschen, ausgegangen in die verwandelte Welt. Nun wirkt er seine Allkraft wieder zurück in das Leben das er, das ihn erzeugt, und »mit Strahlen rings erweist er seine Reihe«: sein Heilandstum in dieser Zeit: Erleuchtung der Finster-schweifenden, Leer-suchenden, Fiebrig-zerfahrenen durch den Anblick der ursprünglich heiligen Schöne .. Erlösung von der Qual der Zweiheit durch die Einheit menschlicher Fülle und göttlicher Helle, sinnlicher Süße und geistiger Hehre, dunkler Gewalt und klarer Gestalt .. Bindung der überströmenden Lebensfluten und der sternenflüchtigen Gedanken in das Hier und Jetzt .. Bannung der bluthaften Schauer und Räusche in die lautre Flamme .. Sammlung der spukenden Mächte um den lebendigen Kern .. Erschaffung und Errettung des Künders durch das sühnende Opfer .. Erweckung der schlafenden Götter .. Erneuung der Geschichts- und Naturkräfte .. Wiedergeburt des Volks aus dem Geist der heiligen Jugend.

Nur schlichte Aussagen über Sein und Geschehen sind diese neun Gedichte des Eingangs, keine ekstatische Steigerung, kein Hymnenschwung, kein mystisches Geraun .. »heilignüchterne« Worte des ewigen Lebens aus dem Mund Eines der es erfahren hat und der es führt.

Nach dem Sinn des Gottes der Sinn des Künders: das erste Buch sagt in drei Zehnten das Wesen der Sendung, die Dreifalt von ewigern Segen, zeitlichem Fluch und gegenwärtigem Rat .. die Zwiesprache zwischen dem Gott und seinem Träger, das Gericht des Sehers über die Verblendung, die Winke des Wissenden für die Frager. Der Dichter ist auch in der Zeit vor allem die heilige Stimme, das Maß der wandellosen Ordnung und mitten im Stürzen und Steigen der Reiche der Hüter des bleibenden Sinns kraft dessen sie stürzen und steigen. Und eben durch dies sein Wort aus dem Gottesodem, der seine Harfen und Flöten regt, schafft er selber Geschichte: nur in der Luft der großen Gedanken, nur in der Über-zeit die den Dichter umweht gedeihen die Führer der Zeiten und Massen. Sie mögen nähren und nutzen den Tag der sie gebiert – genährt und getrieben [249] werden auch sie von den Dauergewalten deren Mund der Dichter ist .. nicht von der wechselnden Fläche sondern von der währenden Mitte. Wer das Ewige künden soll der muß es suchen, durch alle Bilder und Scheine hindurch es gewahren und jedes Opfer bringen, um es zu finden. Er darf nicht vorlieb nehmen, bis er im Seltensten das Einzige faßt. Er muß den Segen wahren, das Geheimnis hüten, bis es reif ist zur Offenbarung an die reinen Empfänglichen in fruchtbarer Stunde. Nicht Flehen noch Drohen, nicht Mitleid noch Ungeduld darf ihm das gefährliche, das unersetzliche Wort entreißen .. und wenn er, der vielgeprüfte, schwergerettete Überwinder mancher Gefahr nicht der Vollender, nur der Vorläufer sein, das gelobte Land nicht selbst bebauen darf, so muß er auch dies strengste Los des Stolz-Berufenen tragen und fromm dienen wo er nicht thronen soll. Beruf, Weihe, Geheimnis, Opfer – diesen vier Ur-trieben und Urnöten des Dichters gibt George hier wieder ihren ewigen Sinn aus seinem einmaligen Leben.

Die nächsten Gedichte sprechen sein eigenstes Geheimnis aus, die besondre Form gerade seines Sinnes. Die Rettung des Gottes, die jedem ächten Dichter obliegt, ist gerade ihm auferlegt als Rettung der Gestalt, des Bildes, des Klangs, als Umkehr und Einkehr aus der hohlsten Gottesöde, der weitesten Gottesferne die jemals war. Wir kennen die Weltstunde und Weltnot in die George traf, als sein Beruf ihm aufging: hier ist das Logion seiner Gestalterschaft. Ihm war von Kindheit an diese Sende eingeboren und von der Knabendumpfheit bis zur Seherhelle begleitete ihn der »früheste Traum«. Das »Kindliche Königtum« ist nur das Vorscheinen des späten Wissens um seine eine Notwendigkeit: aus einem »Staubkorn den Staat zu stellen«, aus dem dichtesten Kraftkeim Leben zu erneuern, den Kosmos um die Gestalt zu runden. Ihm unter allen Dichtern obliegt, kraft der Wende in die er gerade gekommen, die Ergreifung des Gottes im Hier und Jetzt, der Ganzheit im zugemessenen Raum der Gegenwart, des Urlichts im bedingten Tag, die geduldige Bindung des Alls im heutigen Kairos.


Will ich mein ganzes teil von dir erobern
So muß ich sehn wie ich ein Eines fasse
Wie ich im raum den du mir maßest hafte
[250]
Bedingte arbeit meines tags vollbringe
Und mit dem traum von morgen mich vermähle.

Woher sein Wissen auch stamme, aus Eingebung oder Schickung, aus Urgrund oder Erinnerung: auszuwirken hat er es nicht als ablösbare anwendbare Lehre sondern als gestaltig strahlende Kraft und Glut, nicht als einmal zu erstrebendes Ziel sondern als ein immer wieder zu füllendes Sein:


Aus einer ewe pfeilgeradem willen
Führ ich zum Reigen reiß ich in den Ring.

Er hat den Traum in Fleisch zu verwandeln, und seine Tat in der Zeit ist die Verleibung des Urbildes, die Erweckung von Helden durch das glühende Gesicht, die Erziehung von Helden durch den hohen Gesang. Der Schluß dieses Zehnts spricht die Zweieinheit von Gott und Künder, Georges alldurchdringendes Principium, den Ursprung seines gesamten Schaffens unmittelbar aus: »Ich bin der Eine und bin Beide.«

Dann folgt die Zeit-schau vom Gott-wissen aus, die in den Zeitgedienten vom Gott-Ahnen aus geschah. Was der Krieg seitdem in greifbaren Erdverhängnissen vor alle Augen legte das lebt hier schon mit lautrer Gewalt und einfacher Klarheit im ungeheuren Wort des einzigen Mannes welcher sehend inne war dem ewigen Grund den die Millionen als zeitliche Ursachen und Folgen blind von außen her taten und litten. Hier ist eigentliche Prophetie von einer Wucht und Sicherheit die ihresgleichen nicht in der neuern Menschheit hat. Die Völkerwende, die bisher nur als Umsturz der Stoffe, Mächte und Güter, als wirrer Bruch und Krach von Stunde zu Stunde stumm ertragen oder dumm beschwatzt wird, hat bisher hier allein ihr gleichgewichtiges Wort gefunden, von einem archimedischen Punkt jenseits ihres Chaos .. den Sinn der vor ihr war und nach ihr Sinn bleibt, wenn all ihre Ursachen, Gründe, Zwecke, Folgen, Ziele, Mittel zu Unsinn und Unsein abgelaufen sind. Hier ist gefaßt im menschlichen Zustand was der Krieg als sachliches Ereignis brachte, hier ist die weltsprengende Zukunft herzbeklemmende Gegenwart, hier ist der unerschrockne Blick in den Abgrund. Alles ist hier geschaut und mit erschütternder Nacktheit einsam gesagt was seitdem auf den [251] Gassen geschrien und geschwatzt, vorgejammert und nachempfunden, gehandelt und gespielt wird: die entgeistete Hatz, das marklose Getreibe, der trockene Taumel, der unersättliche Hunger der Alleshaber und Alleswisser, der lebenmordende Fortschrittswahn der die letzten Substanzen zersetzt und vermanscht zugunsten feiler Nutz- und Glücksgötzen .. der dummdreiste Turmbau von Babel ohne Boden, ohne Plan und ohne Maße .. das dumpfe Grollen und eiserne Klirren der Mächte durch all den blechernen Lärm hindurch, vernehmbar nur dem Einen dem »die Gewalten nicht Fabel« waren .. der Lug vom »Ideal«, vom »Weib«, vom »Volk« ohne Kenntnis ihrer Lebensgesetze, der hegenden, zeugenden, verderbenden Kräfte .. das ahnungs- und gewissenlose Schalten und Spielen, Basteln und Bosseln, Flicken und Stückeln in Staat, Kirche und Schule .. die träge Taubheit und die leichtfertige Stumpfheit für jeden Warner und Mahner .. das betriebige Sammeln, staubige Stapeln und freche Bekrabbeln ehrwürdigen Erbes, schlimmer als schicksalhaftes Verderben –


Die art wie ihr bewahrt ist ganz verfall –


die geschäftige, genüßliche, schwatzhafte Blindheit vor dem Untergang den Einer nur sieht und Keiner ahnt. Diese Vorzeichen des Welt-abends, der Notwende sind hier bereits gezeigt, wie heut jeder sie weiß und dennoch keiner glaubt, jeder begafft und dennoch keiner wahr-nimmt. Aber auch der unbekannte Gott wird gerufen, der künftig-ewige Heiler und Wandler, den kein Zeit-Auge erblicken, keine tages-redige Zunge nennen kann:


Bangt nicht vor rissen brüchen wunden schrammen:
Der zauber der zerstückt stellt neu zusammen,
Jed ding wie vordem heil und schön genest
Nur daß unmerkbar neuer hauch drin west.
Was schon genannt ist liegt gefällt umher
Der leer gehäus – ein stumpfes waffen Der:
Die eingereihten und die rückgewandten ...
Bringt kranz und krone für den Ungenannten.

Das dritte Zehnt wendet sich von dem Gesamtgeist des Zeitalters zu den Zeitgenossen, den einzelnen Menschenarten und Mustern die zwischen der versinkenden und der steigenden Welt leben, noch gebunden [252] oder betäubt oder verwirrt von der einen, angeglüht, bewegt, umwittert schon von der andern, zwiespältige Opfer der Wende. Da sind die »Helfer von Damals«, die wohlmeinenden Freunde und Gönner der Jahre vor dem Richt-tag der die Lager scheidet, die Ältern, die redlich Blinden oder Gebildet-Müden, die Eingereihten und die Rückgewandten, die keinen Abgrund sehen oder ihre bunt bequemen Meinungen und Gewohnheiten pflegen wollen wo nur Eins not ist .. mit allem guten Willen auch sie Knechte des Untergangs, sobald sie tun, wirken oder erziehen .. dann die Schwärmer, Mystiker, Chaotiker, die in einem Über oder Innen, in einem Jenseits, Dämmer, Wirbel, Urgrund untertauchen oder den strengen Tag wegtäuschen mit pflicht- und gestaltloser Wallung, die selbstbesessenen und selbstflüchtigen Sehner, die glieder- und augenlosen Seelenquallen, die mittefernen Abkömmlinge der äußersten Himmelsstriche, Allzublonde und Allzuschwarze, Überseelte und Übergeistete, gleich entfernt vom wahren Maße des runden und vollen Lebens, vom wilden Jäger Odin umhergejagt, vom Wüstengott-Gespenst Javeh versengt, sie beide »immer schweifend und drum nie erfüllt«. Zwischen die Schwärmer die nach dem Unendlichen im hohlen Innen wühlen und die Schweifer die ihm von Ziel zu Ziel nachjagen stellt der Dichter die augenhaft Gestaltigen, die erdenfesten Greifer, Schreiter, Bildner, die sachlich sichern Täter, den Stamm


der fest im griff hält was ihm lang geschwant.


Immer wieder richtet er den Blick aus der zerfahrenden und verschütteten, verschwebenden und zerkrümelten Wirrnis auf »das größere Wunderwerk der Endlichkeit«: den gotthaltigen Leib, die welthaltige Gestalt, wahreres All als die abgründig sinnende und singende Seele und als das überschwenglich gewölbte Firmament. Nicht im unendlichen Drinnen und Draußen, sondern im endlichen Hier und Jetzt ist des Menschen Gott: ihn verwirklichen, ihn darstellen, das ist Adel .. sich vollenden, als Gestalt sich erfüllen.

Von dieser festen Mitte aus sichtet George die Typen seiner Zeit, in wenigen Versen jedesmal eine ganze Menschenart als Geblüt und Charakter, als Natur und Geschichte, in ihrem Ursprung und Verhängnis fassend. Die Kräfte der Völker sieht er mit einem richterlichen Rund- und Durchblick zugleich als ewige Wesenheiten, als geschichtliche [253] Formen, als gegenwärtige Werte. So ist ein germanischer Erbfluch seit den alten Gotenzeiten bis in den Weltkrieg hinein, mythische Schau, geschichtliches Wissen, Deutung, Bild und Mahnung zugleich, in acht Zeilen geprägt:


Ihr habt, fürs recken-alter nur bestimmte
Und nacht der urwelt, später nicht bestand.
Dann müßt ihr euch in fremde gaue wälzen
Eur kostbar tierhaft kindhaft blut verdirbt
Wenn ihrs nicht mischt im reich von korn und wein.
Ihr wirkt im andren fort, nicht mehr durch euch,
Hellhaarige schar! wißt daß eur eigner gott
Meist kurz vorm siege meuchlings euch durchbohrt.

Die geschichtlichen Kräfte und Verhängnisse sind dem Dichter noch drohend wach, die Ursprünge sind ihm Gegenwart die immer wieder gebannt und gedeutet werden muß aus der eigenen Not-Wende. Darum finden sich in dieser Sinngebung der Zeit neben den Typen die der heutige Tag erst sichtbar, ruchbar macht, die Träger der frühesten Nöte und Flüche. Georges Auge haftet nicht an den Vordergründen der ablaufenden Stunde, sondern umspannt das Rund der geschichtlichen Menschheit, d.h. des gestaltigen Weltgeschehens: wohin er blickt da erscheinen Ursprünge. Was er jetzt nennt das hat seit alters der Beschwörung geharrt, der Wandlungs-stunde und -stimme.

Wie er die Geschichte festhält als gegenwärtiges Schicksal, so bewahrt er auch die Naturen auf denen die Zeit nicht mehr gestattet Geschichte zu werden, die


Unholdenhaft nicht ganz gestalten kräfte ..


die verkrochenen Spätlinge antiker Säfte und Triebe ohne Licht und Form, die ohnmächtigen Besessenen ächter Schauer und Gluten, wovon die altkluge Zeit, »allweis und unkund des was wirklich war« nichts ahnte und nutzte, sodaß sie keinen Raum mehr fanden für Werk und Tat. Georges Wiedergeburt heidnischen und katholischen Wesens umschwelen unschöpferische, aber noch bluthafte Nachzügler und Sonderlinge, abseitige Empörer und Verschwörer ohne Wort oder Schwert, Römer ohne Reich und Priester ohne Kirche. [254] Er hat solche unerlösten Mahre und Kobolde der Geschichte um seinen Herd gebannt. Die Stoffe und Kräfte des Zeitalters bleiben unfruchtbar wo die bindende, ordnende, ringsumstrahlende, alldurchglühende Mitte fehlt: ein Gott. Geist, Seele, Blut, Klugheit, Begabung, Eifer, Sehnsüchte und Ahnungen versagen wo das Herz nicht glüht von der ursprünglichen Flamme die Gestalt schafft, Tat aus den Trieben, Bild aus den Dingen und aus dem schwimmenden Wirrsal wieder runde Welt:


Fragbar ward Alles da das Eine floh
Der geist entwand sich blindlings aus der siele
Entlaufne seele ward zum törigen spiele
Sagbar ward Alles: drusch auf leeres stroh.
Nun löst das herz von wut und wahn verschlackt
Von gärung dunkelheit gespinst und trubel:
Die Tat ist aufgerauscht in irdischem jubel
Das Bild erhebt im licht sich frei und nackt.

Dieser welterneuernden Flamme die, vom Gott ausgehend und zu ihm zurückführend, dem menschlichen Tun und Leiden wieder Sinn und Licht gibt, das Gesonderte verschmilzt und bindet, das Starre löst und schmeidigt, den Trieb zur Tat läutert, die Stoffe zum Werk umglüht, diesem heiligen Lenker gilt das zweite Buch. Er hat bei George keinen Namen, wir mögen ihn aber Eros nennen, wie sein erster mythischer Seher und Deuter Platon. Wie bei Platon ist er im Stern des Bundes der Mittler zwischen den Menschen und dem Gott, die Kraft wodurch die Zweieinigkeit von Mensch und Gott wirkt und erscheint. Was im Siebenten Ring die »Gezeiten« sind das ist im Stern des Bundes, nach der Offenbarung des göttlichenSinns das zweite Buch: die Feier der Liebe, woraus Gottesschau und Weltgesetz zugleich kommt und die aus beiden kommt, wie das Auge zugleich Geschöpf und Schöpfer des Lichtes ist, der Leib zugleich Empfänger und Bildner der Natur, der Same zugleich Ursprung und Folge des Wachstums. In der Liebe schließt sich der Kreis von Gott zu Mensch zu Welt – sie ist die Mitte des Werkes worin sich diese Dreifalt dartut. Das erste Zehnt zeigt den Eros als Ringen und Suchen, das zweite als Gewährung und Forderung, das dritte als Sinn und Wesen.

[255] Alle Grade und Lagen des gottsuchenden Eifers vom einsamen Trotz bis zur zweieinsamen Fülle werden in dreißig Gedichten durchlaufen: die Stufenfolge der Läuterung im heiligen Feuer. Sie zeigen Eros unmittelbar am Werk der Menschenbildung das Platon ihm zuschreibt. Auch hier ist George der Dichter des platonischen Wissens und der Erneuerer seines Amts: Vergöttlichung des Menschen durch die Liebe. Die Liebesgedichte des Weltschrifttums singen entweder die Leidenschaft selber, sei es das dumpfe Begehren von Leib zu Leib, sei es der »glühende Verewigungsdrang« .. oder sie geben Lehren über die Wirkungen dieser Leidenschaft, die läuternde oder verderbliche. Zum erstenmal hat George im Stern des Bundes den Zustand des Liebenden mit dem Sinn der Liebe, die menschlichen Freuden und Leiden, Fragen und Antworten, Zwiste und Bünde der Liebenden mit ihrer Vernunft, ihrer Pflicht, ihrem Gesetz wirkend dargestellt. Dargestellt: denn es ist weder Gefühlslyrik noch Lehrspruch noch die Verknüpfung beider, sondern die Leidenschaft selbst erscheint zugleich als Erschütterung, als Geberde und als Wissen. In diesem Werk ist jeder Vers fühlbare Glut, sichtbare Flamme und wirkender Strahl. Auch Goethes Spätlyrik, zumal »Selige Sehnsucht« und »Wiederfinden« vereint Liebes-leidenschaft und Gott-wissen, doch dort spricht mehr der ungeschiedene Urgrund beider. George aber durchschreitet mit dieser Einheit die mannigfachsten menschlichen Lagen im bedingten Tag und auf der gegenwärtigen Erde.

Wer einen Begriff bekommen will von der erzieherischen Gewalt dieses Mannes, von dem Führen und Lehren, dem unaufdringlichen und unausweichlichen Fordern und Spenden, Spüren und Winken, Halten und Lösen, von der sachlichen Glut und sichern Zartheit seines leidenschaftlichen Willens, der selbstverständlichen Gentilezza eines sich besitzenden und sich verschenkenden Herzens, wer die Anmut und Würde von Georges persönlichem Umgang ahnen will und nicht aus seinen Gestalten und Gesichten ihn selbst sieht, der mag im zweiten Buch ihn leibhaft wandeln sehen unter den Seinen, liebend und leidend mit fehlbaren Menschen, klar, schlicht und frei, jeder Art und jeder Stunde verantwortlich und antwortend nach ihrem Rang und Gewicht, mit mildem oder hartem Ernst, ruhiger Helle, lächelnder [256] oder schmerzlicher Weisheit, umwittert von mehr als persönlichem Schicksal und voll verschwiegenen Tiefsinns. Daß Liebe eine menschenbildende Kraft ist wissen viele .. warum das haben manche Weise verkündet, und mancher Dichter, vor allem Dante, Michelangelo, Hölderlin, George selbst im »Maximin« und in den Gezeiten, hat sie gesungen als das leidenschaftliche Ringen um Vergöttlichung: aber nur hier wohnen wir der Erziehung der Geliebten durch den Liebenden selbst bei. Nur hier sehen wir Liebe, die überall sonst in der Weltliteratur ein Ausnahmezustand, eine Schickung, ein Glück oder Unglück ist, als geberdetes Wissen aus Gott und Wirken am Menschen.

Geberdetes Wissen und Wirken. Grade deshalb lassen sich keine Motive, keine Stimmungen und Lehren davon gesondert ablösen. Opfer, Hingabe, Erfüllung, Weigerung sind hier nicht ein für allemal erschlossene oder verborgene Mysterien des vagen Alls, sondern bestimmte Lebensaugenblicke wirklicher Menschen woran und wodurch das kosmische Geheimnis erst kund wird. Keines Erziehers Ausstrahlung läßt sich in System und Anweisung fassen, er selbst ist der Weg, die Wahrheit und das Leben – nicht seine Lehren, nicht einmal sein Beispiel, sondern sein So- und Mitsein, seine kleinste Geberde und sein unnachahmlicher Tonfall so gut wie seine Kunde .. oder vielmehr erst aus diesem Munde, von dieser Stimme, zu dieser Stunde wird seine Lehre wirklich Lehre. Daß nun ein solches Liebe-Lenken im Stern des Bundes dichterisch gebannt, ein wirkliches Menschenbildnertum in magischen Augenblicken ἐν ἐνεργεια verewigt ist, darin liegt die weiterstrahlende, aber nicht ablösbare Kraft dieses Buchs, wie die Gegenwart und das Gespräch jedes hohen Menschen. Sowenig die Gedichte des Jahrs der Seele mit Landschaften oder Stimmungen zu bezeichnen sind, so wenig lassen sich die Liebesgedichte aus dem Stern des Bundes, so gleichnislos schlicht, einmalig bestimmt und allgültig sie sind, auch nur annähernd beschreiben mit Gefühlsinhalten oder Regeln: es sind magisch gesagte Akte bildender Liebe, deren Tonfall ihre Inhalte, deren Grund ihre Äußerung, deren Geberde ihre Weisheit ist.

Jedes dieser Gedichte enthält das Zusammen zweier Menschen, mit dem ganzen besonderen Flaum, Schauer und Hauch jeder Liebe, und zugleich das überpersönliche Gesetz eben dieses Zusammens .. das [257] Gestirn eben dieses Bundes: nur dieser zwei Menschen heute gültige Constellation und doch zugleich allsichtbares Himmelslicht. So erscheinen hier Frommheit, Würde, Ehre, Heldentum, Güte, Ernst, Freude, Opfer, Zucht, Schöne, Größe als die Sternbilder unter denen die Liebenden wandeln, bestimmt vom heutigen Stand und Strahl der ewigen Werte, oder auch der ewigen Nöte, Begier und Rausch, Trotz und Gram, Sorge und Armut, Zweifel und Grauen. Auch das Ewige der Liebe ist nur wirkend, geberdet, sichtbar, nur hier und jetzt, irdisch, nur leibhaft und gestaltig-vollendet wahr .. nur als menschliches Tun und Sein zeigt sich der Gott: auch hier Georges eine Lehre: »alles seid ihr selbst«. Wie die besondere Art und Bestimmung einer Liebe zugleich empfunden, gezeigt und aus dem ewigen Gesetz gedeutet, nach dem ewigen Gestirn eben dieses Bundes gerichtet wird, wie zart, einfach und tief das Wissen ist das aus diesem Herzen kommt, das mag ein Beispiel sagen:


Du kamst zu mir aus einem vollen leben
Nach willkür spendend wie du schon gespendet ..
Ich kann für einen teil mich nicht verschenken
Ich bin beginn, will alles für allzeit.
»Du bist für mich solang das los es fodert
Mein leben mehr als glück und rausch und lohe
Bist mir das ganze bist mein innres herz –
Und solch ein umlauf ist die ewigkeit.«

Ein andres zeige wie völlig eines hier Wirken, Wissen und Wort ist, wie sehr hier die Stimme schon den vollen Sinn der Aussage bewährt, und der Aussage das volle Leben innewohnt woraus sie stammt:


Du nennst es viel daß du zu eigen nimmst
Mein gut wie deins .. noch hast du nichts genannt!
Du wurdest mitbesitzer meiner stunden
Dein bitten ist bedenklich wie befehl.
Ich muß dein schirm sein wo du dich gefährdest
Den streich entgegennehmen der dir galt.
Ich bin für jeden deiner mängel bürge
Mir fallen alle deine lasten zu
Die als zu schwer du abwarfst – alle tränen
Die du sollst weinen und die du nicht weinst.

[258] So wenig aus diesem Gedichtkreis einzelne Liebesziele und Liebesgründe abziehbar und als außerdichterische Weisheit verwendbar sind, so waltet doch hier, wo George vielleicht am unmittelbarsten als Erzieher sich vergegenwärtigt, wo sein Sehen, sein Gericht und sein Gesetz ganz in liebende Menschenbindung und -bildung eingegangen ist, ein Sinn, eine Gesinnung des Liebens durch alle Gedichte hindurch. Sie läßt sich mit drei Worten bezeichnen: Selbstbewahrung, Selbsthingabe, Selbsterfüllung. Die Selbstbewahrung will Adel, Zucht, Freiheit und Scheu, die Selbsthingabe: Treue, Mut, Opfer .. die Selbsterfüllung: Glut, Stärke, Wissen und Weihe .. notwendige Eigenschaften der Liebes-Dreieinigkeit von Ich, Du und Gott als deren Symbolum die Verse gelten können:


Was gelitten ist beschwichte!
Widergeist ist nun bezwungen
Und der gott nur gibt die richte
Wilder traum hinabgerungen
Wo ich mich in dir vernichte ..
Nun bestimmt die höhere sende
Wie ich mich in dir vollende.

Wenn wir den Stern des Bundes, wie alle Werke Georges, unter dem Bilde einer Kugel begreifen (und jedem Schaffen liegt eine Raumanschauung zugrunde) so ist der Eingang ihre Mitte, das erste Buch ihr Umfang, der zugleich sie nach innen wie nach außen schließt, das zweite Buch ihre Strahlung von der Mitte nach dem Umfang, das dritte Buch ihr Gesamtinhalt, der Mitte, Strahlung und Umfang faßt. Der Gott, der Künder mit seiner Zeit, und das heilige Feuer sind hier drei-eines: Gestalt, Fug und Wirkung als gelebter und geforderter Bund. Das erste Zehnt gibt dessen Sinn aus dem Gott, das zweite sein Gesetz in der Welt, das dritte das Leben seiner Menschen miteinander. Alle Inhalte des ganzen Werkes kehren hier wieder, zugleich in ihrer Einheit, ihrer Ausfaltung und ihrer Fülle. Was der Eingang als wirkenden Kern enthielt das ist hier ausgewirktes Gewächs .. die innerste Glut ist ergossenes Licht .. der heilige Geist ist Gottesreich, Kirche.

Die Erde regt sich wieder mit einem neuen Morgenglanz: »Die schöpfung schauert wie im stand der gnade« .. und wer des gelobten [259] Anhauchs und Anblicks teilhaft geworden der fühlt sein Heil in den sichtbaren Wesen mit:


Ein breites licht ist übers land ergossen
Heil allen die in seinen strahlen gehn!

Diese Erneuerung der Sinnenwelt, die vorher ungeahnte Frische, Frühe und Nacktheit hat jeder erfahren dem Georges Wort in Fleisch und Blut gegangen ist: sie gerade läßt sich mit keinem noch so erschütternden oder erregenden Eindruck früherer Meister vergleichen. Denn diese Luft kann nur der Zauber der gegenwärtigen Weltstunde schaffen, und keiner unter den Zeitgenossen hat Ursprünge gesehen und Anfang gezeigt wie George. Die sinnliche Erneuerung ist eines mit der geistigen Wandlung, die alle Krusten wegschmilzt, die überkommenen Verhaftungen und Verpflichtungen löst, Familie, Volk, Beruf aufhebt in dem unwiderstehlichen Glauben und Müssen der erweckenden Botschaft Auch dies Zeichen jedes religiösen End- und -Beginns hat George einfach und mächtig gesagt:


Neugestaltet umgeboren
Wird hier jeder: ort der wiege
Heimat bleibt ein märchenklang.
Durch die sendung durch den segen
Tauscht ihr sippe stand und namen.

Die Wiedergeburt durch den Mittler, die Taufe, wird hier wieder aus ursprünglichem Herzen laut, ohne Mystiker-geraune, ohne Pfaffensalbung und ohne Religions-philosophie. Die Wiedergeburt der Stoffe und des Geistes ist zugleich eine strengere und innigere Bindung: die bisherigen Bindungen lösen sich, weil ihre Mitte abgestorben ist, weil die Glut von innen her nicht mehr alle Gefäße füllt. Jede neue Mitte wirkt neue Notwendigkeit und neue Freiheit. Der Gegensatz von Fremdherrschaft und Eigenwille besteht nur da wo das erstarrte Gebot dem Einzelnen nicht mehr innewohnt als wesensgleich, sondern entgegentritt als andres .. wo die Mitte aus der es kommt verjährt oder ent-äußert ist .. wo Staat, Kirche, Gesellschaft nicht mehr eines Blutes und Geistes sind mit den gegenwärtigen Menschen, sondern dürre Niederschläge versiegter Adern die kein lebendiger Kern mehr nährt. In jedem »neuen Bund« ist Erlösung und Erfüllung, Wollen und Sollen, Müssen und Können eines .. was die [260] Einzelnen treibt und was sie treiben ist derselbe Puls. Die verjährten Bindungen und Freiheiten gelten nicht mehr im neuen Bund, nicht mehr die Ränge einer feudalen Gesellschaft, deren Gott schon längst gestorben ist: Adel aus Rittertat und Königsrecht hat keinen Sinn mehr wo es keine Ritter und Könige mehr gibt. In der Gleichheit aller Stände kann allein die Natur und der Geist wieder ursprüngliche, übergesellschaftliche Ränge schaffen, erkennbar den Verwandten am gleichen heiligen Feuer. Diese Ränge allerdings sind außer Willkür und nicht überschreitbar: der neue Adel bewahrt und vermehrt sich kraft der ihm innewohnenden Zucht. Diese ist keine Sitte einer Gesellschaftskaste, sondern ein Urgebot des Geistes, der nur im Gleichen, nicht im Niedrigeren zeugen kann. Wie der Geist nur begreift was ihm gleicht, so erkennt er auch nur was von ihm empfangen kann, ohne ihn zu beflecken.

Die Erneuerten lockt kein Spätlicht, kein Betäubungsgift, kein Welkzauber des absterbenden Zeitalters mehr. Wer im neuen Bund umgeboren ist, die feste Einheit und die runde Allheit morgendlich faßt, in ein jungfräuliches Tagwerk gestellt, für den haben die Flitter und Splitter, die farbenvollen Untergänge, das Auch-noch der spukhaften Poikilia, das Neben, das Draußen, Dahinter und Vielleicht keinen Wert mehr: er hat frischen Boden und offene Bahn und muß nicht mehr schweifen und lauern, nachhorchen und umspähen. Solche brauchen keine vielfachen Reize, um sich zu betäuben über die alte Not und Leere: der neue Sinn des wachen Herzens gibt Freuden und Pflichten:


Ein herz voll liebe dringt in alle wesen
Ein herz voll eifer strebt in jede höhe
Und heilig nüchtern hebt der taglauf an.

Hier ist die Freiheit der sehend Gläubigen, das Aufgehen im umfänglicheren und helleren Leben, die Steigerung jeder Stärke und Gabe durch den sinn-vollen Dienst im Einen und Ganzen. Hier ist die Sicherheit des Blicks im gegebenen Tagewerk, das klare Maß des notwendigen Tuns das sich nicht verwirren läßt durch Grübeleien über die Jahrtausende und die Milchstraßen. Der Raum den die gegenwärtige Flamme durchstrahlt, das heute drängende Amt, die nächste Weisheit geben den festen Punkt von dem aus jeder Horizont [261] und jede Überwelt erreichbar sein mag: aber müßig ist alles Schwelgen in Räumen und Zeiten die unsere Wirksamkeit nicht füllen kann .. die hohle Phantasie ohne Gestalt, das lose Sinnen ohne Tat, das dürre Kennen ohne Werk. Aufgang und Niedergang der Völker, Sternenbahnen und Hinterwelten sind nicht das Maß für uns, sondern wir sind ihr Maß, ja ihre Schöpfer, und nur soweit gehen sie uns an als sie uns tätiger, liebender, wesenhafter machen .. nicht als Spiel, sondern als Sprache und Bild. Schon ist im engsten Kreis Gott wieder sichtbar, die Welt wieder rund, der Mensch wieder sinnvoll:


Auf höhen ward ein quell entspündet
Und frische inseln blühn versteckt:
Das neue wort von dir verkündet
Das neue volk von dir erweckt.

Nicht die Zahl der Gläubigen, sondern ihr Dasein berechtigt diese Verkündung: hier ist ein Gott Gestalt, nicht Lehre .. Erinnerung oder Zweck .. hier ist eine Ordnung Lebens-Kreis, nicht Programm, System oder Organisation .. hier ist eine Wirkung Bund, nicht Verband, Gruppe oder Verein. Hier ist in nuce alles verwirklicht wonach die heutige Menschheit vergebens schreit, woran sie endgültig verzweifelt oder voreilig herumfälscht und -wähnt. Die Mitte und ihr innerster Umkreis ist unausrottbar da, alles andre ist nur noch eine Frage der Zeit, der Mittel und Zahlen, nicht mehr des Wesens.

Erweitern und mitteilen läßt sich das Heil nicht durch Entgegenkommen und Werben, sondern durch Selbstdarstellung und Ausstrahlung seines eigenen Sinns, durch Erfüllung seines Gesetzes, nicht durch Anpassung an das Gesetz oder Ungesetz der Andern. Nicht das Bedürfnis der Meisten sondern die Fülle der Besten .. nicht das Mitleid mit dem Fremden sondern die Strenge gegen sich selbst und das Eigne .. nicht die tausend noch möglichen Fragen sondern die eine schon gewisse Antwort kann das Gut und Böse, das Ja und Nein, das Mein und Dein auch der Massen bestimmen. Die Sonne leuchtet nicht, weil Menschen sie bedürfen, sondern Menschen sehen und bedürfen sie, weil sie leuchtet, und nur durch ihr Licht scheidet sie Sehende von Blinden.

Die neuen Tafeln die im Stern des Bundes aufgestellt sind drücken nicht Wünsche und Bedürfnisse aus, sondern den erfüllten, also auch [262] erfüllbaren Willen einer Geistergemeinschaft für welche Gottheit Schönheit Würde wieder gegenwärtiges Gesicht und Gericht geworden sind .. Tafeln hart und hoh wie die Zarathustras, aber nicht aus dem Ideal eines künftigen Übermenschen mit vorwegnehmender Ungeduld des entrückten Einsiedlers herausgehauen, sondern mit der weisen und gerechten Liebe des geborenen Erziehers aus gegenwärtigem Menschentum gemeißelt. Nicht gegen die Masse, nicht für die Einzelnen sind diese Tafeln geschaffen, sondern aus dem Bund selbst: er ist zugleich der sinnliche Stoff, die feurige Schrift und der göttliche Sinn. Das Sollen ist nur die plastische Darstellung, Aufstellung, Herausstellung eines in sich ruhenden Seins. Freilich erscheint dies Soll durch seine Darstellung von selbst gegen die Zeit gerichtet: gegen das Glück der Meisten, gegen das Geltenlassen eines Jeden, gegen das Wissen für alle, gegen die Gleichheit der Personen und Geschlechter, gegen die Einerleiheit und Eitelkeit sämtlicher Wesen vor Gott, gegen die Feilheit aller Werte und die Öffentlichkeit aller Gründe und Geheimnisse. Doch nicht der Widerspruch gegen die Gewöhnung der zerfahrenden und zerfallenden Menschheit hat Georges Norm gezeitigt: sie ist das einfach-uralte Wissen des menschlichen Leibes, der den Geist des Lebens enthält .. sie ist die Summe der ewigen Lebensgesetze selbst, einstmals mit pflanzenhafter Sicherheit waltend und trotz allen Mißbildungen, Krankheiten, Entartungen Jahrtausende lang von den wurzelkräftigen Völkern triebhaft bewahrt, von volkhaften Gesetzgebern mit gesundem Verstand festgehalten oder von Propheten mit sorglichem Tiefsinn erneuert. Erst der Fortschritt hat sie ganz vergessen und heute ist George der einzige der sie von Grund aus weiß, weil er sie von Grund aus lebt.

Seine Tafeln für den neuen Stand enthalten nicht mehr und nicht weniger als die verlorene Richtigkeit des ursprünglichen Lebens: das was Napoleon das »Wesen der Dinge« nannte .. den strengsten aller Herren, den unbestechlichen, unüberlistbaren, schmeicheltauben. Das Ursprüngliche ist weder das Tierisch-primitive noch das Allgemeinverbreitete .. das Richtige ist nicht das gerade Häufige, und das Einfache nicht das Nächste und Leichteste. Wo Ursprung, Recht und Einfalt heute hüllenlos sprechen, da klingen sie verstiegen, ungeheuerlich und grausam, wie das Wesen der Dinge selbst wo es als Natur [263] und Schicksal durch die Gewohnheiten bricht. Zu seinen Eigenschaften gehören der Untergang wie der Aufgang, der Haß wie die Liebe, der Krieg wie die Hochzeit, die Höhen wie die Tiefen, das Geheimnis wie die Erkenntnis, der Mann wie das Weib. Denen die das Gesetz einebnen, halbieren und entmannen möchten, um »fortschreiten« zu können auf bequemer milder freier Fläche, zeigt George wieder das Ganze: ein stolzes Sein für die Seinen, ein hartes Soll für die Andern, ein heiliges Muß für die Welt. Er zeigt die unvermeidlich nahe Schlacht, welche Krieger und nicht Tändler und Spieler heischt .. er verpönt die läßliche Nachsicht mit sich und andren die jeden Wahn und jede Schuld erträgt, vergißt, verzeiht, mit Pack sich schlagend und vertragend. Wo der Mensch wieder dem Gott geweiht, ihm eingewirkt ist, da steht Tod auf der Selbstschändung, und Schande auf der Schändung jeder Menschenwürde, da kann kein Verzeihen sühnen, kein guter Wille und bequemes Meinen, nur die schaffende Tat oder das vernichtende Opfer. Wo das Leben sich selbst in jedem Nu verwirklicht, da gibt es kein feindliches Außen mehr: denen die ihr Gott erfüllt, und die ihn erfüllen, müssen alle Dinge zum Heil dienen, auch die Widersacher. Wie keine Schlaffheit, so gilt keine Feigheit mehr für solche die in der Natur der Dinge leben: sie sind ewig, weil sie sind: »untilgbar ist das wort das blüht«.

Mit dem unabdingbaren Sein, dem untilgbaren Sinn sind die unüberschreitbaren Stufen gegeben, die jedem nur soviel Wissen gestatten wie Wesen und Würde: Wissen ist kein Haben sondern ein Sein, nicht übertragbar auf wesensfremde Seinsart. Jeder begreift nur den Geist dem er gleicht. Es gibt ein Wissen aus dem Blut: Instinkt .. ein Wissen aus dem Geist: Erkenntnis .. ein Wissen aus dem Gott: Erleuchtung. Erzwingen läßt sich keines und nur dem Angehörigen der jeweiligen Stufe wächst zu wozu er gewachsen ist. Wie die Wissensgrade Natur der Dinge sind, so auch der Unterschied der Geschlechter: das Weib ist heiliger Stoff, empfangend und nicht zeugend .. der Mann ist heilige Kraft, zeugend und nicht empfangend .. er allein prägt als Lebensgestalt des Geistes die Form, den Wert, die Ordnung in die Lebensmasse des Blutes.

Das weib gebiert das tier, der mann schafft

mann und weib.

Die Umkehr dieser Ursprünge ist Ungesetz und Frevel am Blut wie [264] am Geist .. am Menschtier wie am Menschgott. Naturgegeben ist auch die Heiligkeit des Leibes selbst: sie braucht keine Überwelt oder Unwelt durch Erlösung oder Erlöschung, sondern nur Selbstbewahrung der eingeborenen Stufe. Es gibt für den Leib nur eine Entweihung: den Abfall vom eignen Rang zu einem geringeren.

Zum Wesen der Dinge gehört das Geheimnis jeder Stufe für die niedrigeren, jedes Kairos für die Fehl-zeit, jeder Sicht für die Augenlosen, jeder Lehre für die Unbereiten. Immer wieder, von immer anderen Seiten zeigt George wie sehr Tun, Haben, Wissen, Sehen, Eigenschaft und Eigentum nur das Wesen des ganz bestimmten Menschen dieser Stunde und Stufe sein kann, unübertragbar, unersetzlich, unveräußerbar .. daß nichts Göttliches feil, teilbar, mitteilbar ist, daß alles Leben nur einmal, nur es »selbst und drinne« ist .. und eben diese unveräußerliche Selbheit alles Wesens heißt Geheimnis. Daheim-sein, Bei-sich-sein, Drinne-sein, Geborgenheit, Verborgenheit, vom Grund-aus- erfüllt sein: alles sagt dasselbe. Man denke diese Worte nur bis zu ihrer Wurzel durch! Heut sind alle Werte Tausch- und Handelswerte, Marktwerte, Ware, Arbeit, Leistung, Umsatz, Besitz, Ziel (»Hochziel«) – kurz, lauter Dinge die man haben, kaufen, machen, erreichen, erstreben kann. Einer solchen Zeit muß ihr Seher gerade das Geheimnis, das Unmachbare, Unerreichbare, Unerstrebbare, Unvertretbare, das Selbst und Drinne mit immer neuer Strenge wahren und wehren – nicht, wie die Schnüffler meinen, aus Versteckspiel oder Eigenbrötelei und Vornehmtun .. nein, er allein hat das Sein zu zeigen, durch es selbst, in ihm selbst und aus ihm selbst, wenn Geld wie Gott der gesamten heutigen Menschheit immer nur bedeutet, gilt, scheint oder kauft, aber niemals ist.

Geheimnis, das ist Offenbarung, klares Wort, helles Wissen, gestaltiges Sein, aber gerade darum unfaßbar und unnahbar denen die nicht im Sein, sondern vom Haben oder vom Gelten leben: den Krämern und den Schwärmern. George sagt nicht zu seinen Jüngern »verschweigt was ihr wißt« sondern »seid verschwiegen« d.h. nicht Verschweigende sondern Verschwiegene, seid so, daß niemand euch kaufen, lernen, haben kann, seid unveräußerlich, seid geheim, seid selbst und drinne, seid Wesen! Er sagt nicht zu den Andern »das geht euch nichts an, das ist euch zu hoch oder zu tief« sondern nur [265] »das ist« .. und alle Händler und Wechsler, die wissen wollen was es gilt, kostet oder bedeutet, verlassen kopfschüttelnd oder entrüstet den Tempel.

Das Geheimnis ist keine Mache, sondern ein Gesetz. Wie Geheimnis die Mitte alles erfüllten, ungeteilten, unteilbaren Wesens, so ist Kreis seine Wirkung. Was nicht einzelnes Atom ist das um sich selber dreht, sondern lebendige Kraft die in sich gebunden und geschlossen nach außen strahlt, das bildet und schließt das durchdringbare nähere oder fernere Wesen sich ein, verselbt es und verinnert es, und da diese Kraft überall einfach und ganz ist, so wird, wie weit sie auch reicht, einfach und ganz was ihr sich eint: nur der Umfang kann wachsen, nicht die Rundheit und die Bindung. Auch der Kreis ist keine Mache, sondern das natürliche Wachstum geschlossenen Wesens. Kreis entsteht überall wo eine Mitte ausstrahlt und Raum schafft oder findet. Wer kein wesenhaftes Selbst und Drinne ist hat keine Mitte, und wer keine Mitte hat kann keinen Kreis machen. Wer sie aber ist kann den Kreis nicht einmal verhindern, selbst wenn er möchte – denn es ist sein Gesetz. Mitte, Kreis, Strahlung sind nur die Dreieinigkeit des neuen Wesens von dem geschrieben steht daß es


vorbricht durch die runde
Und steigert jeden einzelgliedes wucht:
Aus diesem liebesring dem nichts entfalle
Holt kraft sich jeder neue tempeleis
Und seine eigne – größre – schießt in alle
Und flutet wieder rückwärts in den kreis.

Da der Kreis keine Mache ist sondern eine Wirkung, kein Ziel in Raum und Zeit sondern das Raum und Zeit in sich befassende Selbst- und inne-sein eines bestimmten Menschtums, so ist er im Gegensatz zu allen Fortschrittsidealen und Entwicklungsreihen immer am Ziel, voll-endet am ersten Tag der Gott, Künder und Jünger im heiligen Feuer einte. Da er keine Organisation zur Verwirklichung eines neuen Einmal ist, sondern Organismus eines ewigen Kräfte-reigens, so enthält jeder Einzelne das Ganze gegenwärtig, wie jedem Samen das ganze Gewächs eingebildet ist und damit die ewige Wiederkehr derselben Art. Überall sind die Naturgesetze nur das Sinnenzeichen der Geistes- und Gottesgesetze, der Lebensgesetze. Während die [266] Staats- und Wirtschaftsverbände immer außerhalb ihrer selbst ihren Sinn haben, in einer stets wegrückenden Zukunft, vollzieht sich im Kreis zum erstenmal wieder als Geist die natürliche Allgegenwart des Ganzen im runden Einzelgewächs. Sowenig wie die Natur die armselige Ungeduld des Fortschritts kennt, so wenig kennt ein geistiger Organismus, ein Gottesreich, eine Kirche, ein Kreis die Zielsuche .. denn sie tragen als Mitte in sich die zeugende und wachsende Kraft und sind an jedem Punkt ihres Wachstums geschlossen, in sich vollendet.

Aller »Fortschritt« ist ganz gemeiner Glückshunger – einerlei ob nach höheren Löhnen oder nach himmlischer Seligkeit – und mit Recht nie erfüllbar. Wo das »Glück« der Einzelnen oder der Massen als Götze winkt da führt kein Weg ins ewige Leben. Wo ewiges Leben in der Mitte west da wächst Glück, das ist Erfüllung und Vollendung, in jeder Stunde, auf jeder Stufe – freilich kein Haben, sondern ein Sein – und hier werden sich immer die Edlen die sein wollen scheiden von den Gemeinen die haben wollen, die Wirker und Weser von den Händlern und Machern. Nur den ersteren gilt Georges Wort:


Ihr seid die gründung wie ich jetzt euch preise
Wie jeder ist mit mir mit sich mit jedem:
Betrieb der pflicht und drang an frommes herz
Ihr seid die Widmenden ihr tragt das reich
So ganz wie ungewußt auf andrem stern
Bald vor- bald nachher irdischer auftritt spielt.
Fleht nicht um schnellern zuwachs größrer macht:
Die krönungszahl birgt jede möglichkeit ..
Das in ihr Tuende tut die allheit bald
Und was ihr heut nicht leben könnt wird nie.

»Wie jeder ist mit mir mit sich mit jedem«: die Darlegung des Ganzen in jedem Einzelnen ist der Inhalt des Schluß-zehnts. Der Kreis ist ja kein Geheimbund mit abseitigen Bräuchen und Regeln, kein Orden mit einem geistlichen oder weltlichen Zweck wie Jesuiten oder Templer: er ist die einfache Wiedergeburt des lauteren und richtigen Lebens, der alltägliche Wandel in Würde, Ehrfurcht, Glaube und Liebe. Drum kehrt der Erneuerer des Seins immer wieder zu dem [267] Ursprung zurück, zum Träger des Gottes wie des Reichs, zum Samen und zur Frucht des neuen Volks: zum einzelnen Menschen seines Hier und Jetzt. Der Wandel und die Sicht jedes Einzelnen sind nun, nach vollendeter Gründung, urbildlich für das neue Volk, und das heutige Leben im Kreis ist ewiges Leben wiedergeborener Menschheit.

Aus dem Sandkorn hat George den Staat gestellt, da er noch nichts vor sich sah als seinen Fußbreit festen Grundes: nun findet er das Reich in seinen Einzelnen wieder. Was er diesen wirkt das wirkt er dem Ganzen .. was ihm diese schenken gilt der Allheit – »musterhaft in Freud und Qual.« Geheimnis, Wandlung, Erleuchtung, Segnung, Opfer, Schauder und Einung sind jetzt nicht mehr neues Einmal eigener Personen, sondern die im Kreis bewahrten Weihen eines Volkes, das – heut in wenigen verwirklicht – seines Weltgangs, seiner »Zeit« harren kann. Das gewisse Zeichen dieser Erfüllung ist »das heilige Loblied« das dem Künder aus dem Herzen dringt, der Schluß-chor des gotterfüllten Bundes. Hier ertönt zum erstenmal wieder seit dem Altertum chorische Hymnik, der Gottesgesang des Volkes aus dem Munde seines Sehers.

Erst wo Volk und Gott wieder leben kann sie wieder entstehen, ebenso wie das echte Drama, ihre spätere Entfaltung. Der Schlußchor des »Sterns« öffnet schon den Ausblick auf Georges weiteres Schaffen, die große Volk-Hymnik und die Anfänge neuer Dramatik. »Goethes lezte Nacht in Italien« »Der Mensch und der Drud« »Der Herr und der Hauptmann« »Der Krieg« »An die Toten« »Der Brand des Tempels« sind die ersten Dichtungen die von diesem neuen Umfang Georges bisher Kunde geben: ihr bloßes Dasein ist Gewähr daß mitten in den Nationen, Massen, Staaten, Gesellschaften, Verbänden neues »Volk« wieder geboren ist. Denn chorische Hymnen und echtes Drama kann kein volkloser Einzelner hervorbringen. Zumal George hat nie etwas erzwungen oder vorweggenommen, weil er es ersehnt hätte: er war immer nur die Stimme ganz von ihm erfüllter und ihn ganz besitzender Gegenwart. Erst da Volk und Gott – keine »Erlebnisse« sondern Wesenheiten – ihn zwingen und füllen, erhebt er die Stimme zu der ihnen gebührenden Feier, und sein Ruf zeigt nicht nur ein Ich, sondern verheißt einen neuen Umfang des Menschtums. Er ist kein Einzelner mehr.

[268] Der Mann der begonnen als der Finder des heimlichen Urworts worein er ganz und nur er sich fülle, ist im Stern des Bundes die Gottes-Stimme eines Volkes. Stets hat er das gleiche getan: das ursprüngliche Sein, das er war, bis zum Grunde gelebt, bis zum Grunde gesagt, bis zum Grunde verleibt. So ist er gewachsen, ohne je zu tun, zu sagen, zu denken was er nicht ganz war, von dumpfer Not des einsamen Jünglings bis zum Gottesreich. Durch ihn haben die seit langem hohlen Zauber- und Schöpfungsworte endlich wieder Gewalt, Gehalt und Gestalt bekommen: Schönheit, Größe, Mensch, Volk und Gott. Durch ihn lebt wieder was Lug oder Traum oder Erinnerung war. Die Heimkunft der Wesen aus dem Werden, der Entwicklung, dem Jenseits, dem Andern in ihr Sein, in ihr Wort, in ihre Gestalt ist sein Werk .. die Wiederbringung des Gottes aus dem Himmel und den Schatten des Himmels in den wirklichen Menschen, die Einkehr der leeren Dauer und der vergänglichen Zeit in den vollendeten Augenblick. Der Mensch hat seit Jahrhunderten sich entäußert, sich erlöst, sich fortgeschritten, bis er sein Selbst verlor und seinen Weg. George gründet ihn wieder ganz in ihn selbst und in seinen einfachen Ursprung: das gotthaft gestaltige SEIN.

XIII. Das neue Reich

Jedes neue Werk Georges enthält das Ganze seines Daseins und Erkennens ohne Zuwachs von Stoffmotiven, in einem neuen Licht, auf einer andern Ebene, in verwandeltem Zustand .. wie ja auch jedes einzelne seiner Gedichte, oft jahrelang vor der Rundung eines Bandes veröffentlicht, nachher wirkt als sei es nur aus diesem Gefüge möglich und faßbar, geschlossen in sich wie eine Frucht und doch nur Frucht eben dieses Baumes. Auch das bezeugt den mythischen Sinn, der in jeder Einzelerfahrung einer Lebensstufe den gesamten Reifezustand mitergreift kraft deren er sie macht. Die Motive Georges sind im frühesten wie im jüngsten Werk in engerem oder weiterem Umfang, dumpferen oder deutlicheren Zeichen, kargerer oder üppigerer Fassung die selben: das Ringen der gegenwärtigen Seele um die Weihe des ewigen, allhaltigen und allgültigen Gottbildes im Hier und Jetzt, im schönen Augenblick .. der Kampf des lauteren Stolzes und der ergriffenen Andacht [269] gegen Störungen durch den lärmenden Taumel, die schmutzige Gier und den verworrenen Wahn einer Mit- und Gegenwelt die nichts will als entseelte Dinge oder leiblose Ideale, Ziele, Prozesse .. die großen Gestalten aus der Vorwelt, die noch mitschaffen am heutigen Tag, oder die schönen, worin er heute die Zukunft schaut, glaubt, zeugt .. die Feier der freudigen Mächte, die in heimischer Landschaft ihn sichern, in fremde ihn locken .. die Beschwörung der finsteren Mächte, die heimlich, unterirdisch, verfemt oder drohend das erschlaffte Treiben der jeweils herrschenden auflösen und erschüttern .. die Winke an die Seinen zur Lenkung ihres liebenden Tun und Leidens aus dem Grunde seines mit Entsagung wissenden Herzens und aus der Fülle seines gebieterischen Geistes .. die Winke an die Fremden zum Schutz seines ihm ganz eigenen Raumes .. die Lieder der trunkenen Einkehr in den holden oder schaurigen Nu mit Mensch und Erde oder des Ausschwingens in das verzauberte All.

»Das Neue Reich« heißt Georges jüngstes Buch. Es gehört (wie »Der Teppich des Lebens« und der »Siebente Ring«) weniger zu den Werken des Durchbruchs und der Eroberung (wie die »Hymnen« »Das Jahr der Seele« »Der Stern des Bundes«) worin jedesmal der Übergang in einen neuen Wahrnehmungsumfang selbst Sprache wird, als zu den Zeichen der Herrschaft über diesen Wahrnehmungsumfang. »Das Neue Reich« hat einen dreifachen Sinn: es bezeichnet zunächst den Lebenszustand des Dichters selbst. Die Gesichte und Gesetze, um die er von kindauf, erst dumpf ahnend, dann klar wissend, gerungen – von ihnen selbst bald bestimmt. bald gehemmt, bald belastet, bald erhoben – erscheinen ihm jetzt unverbrüchlich gesichert als eine Ordnung seines Willens, durchwaltet von dem Gott der ihn zum Wort berufen oder von den Lebenskräften die in ihm einmalig kund geworden. »Das Neue Reich« heißt daß George für seine Person wohl noch zu sehen und zu sagen, doch nicht mehr zu forschen und zu rufen hat. Schon der Name des Buches ist ledig der raunenden Zeichensprache seiner früheren, heilig-nüchtern als Ausdruck seiner inneren Befriedung, nicht nur Warnung oder Verheißung. Auch die Kampfgedichte sind jetzt unter die gelassene Gewißheit gestellt, gleichsam überfangen von einem Frieden, der Kämpfe und Waffen braucht, aber nicht mehr scheut. –

[270] Nächst dem persönlichen Herrschaftsgefühl weist der Titel auf ein neues Raumgesicht. Wenn »Der Stern des Bundes« den Sinn der von George gewollten Gemeinschaft erhellte, so sammelt »Das Neue Reich« ihre Inhalte .. und was früher im Wirken gezeigt wurde das erscheint hier als gewirkt aus der Seele des Sehers, umgesetzt in Gemeinschaftsgesichte. Die Vorschau – im »Stern des Bundes« noch der entscheidende Wille – ist hier Überschau geworden, auch sie nicht willenlos, doch nicht mehr genötigt die Ordnung zu schaffen, sondern geneigt sie zu zeigen. Der dritte Sinn des neuen Buchtitels gilt den sinnlich-sittlichen Gewalten selber, die hier zu Worte kommen und durch ihren Dichter, ihren heutigen Mund, sich verwirklichen. »Reich« heißt also einmal Gebietertum, dann Gebiet, dann Gebot. Wie weit George dem was, in seinem Geiste jetzt vollendet, in diesem Werk zutage tritt nach der Überwindung seiner inneren Gefahren, nach der Eroberung neuer Werkmittel und Wirkebenen, nach der Scharung von Jüngern, Folgern und abhängigen Gegnern – also seinem »Neuen Reich« politische oder wirtschaftliche Folgen in Zukunft zumutet oder zutraut, ist gleichgültig. Er selbst sagte einmal, daß jeder wirkliche Urgedanke eines Menschen fruchte, bis er all seine Kräfte erschöpft habe. Und was in dem »Neuen Reich« als Georges Ton, Gebärde, Gestalt, Strahlungsraum und Strahlungsstärke heute schon Wenigen faßbar, Mehreren unausweichlich, Vielen unheimlich da ist, als Zeugnis eines Willens und eines Wissens, das trägt die Male eines solchen Urgedankens – nicht einer Formel oder eines Programmes oder eines Systems, sondern eines menschgewordenen Sinnes.

Wir wenden uns nach diesem Vorblick über den geschichtlichen Raum und den persönlichen Grund von Georges neuem Buch mit notwendiger Bescheidung vor der Aufgabe einen unerschöpflichen Gehalt aus Bildern in Begriffsformeln zu fassen, zu den Gedichten des Werkes selbst.

Es ist abermals eine Feier der unsterblichen Kräfte von ihren Elementen in der Natur über ihre Verkörperung in der Geschichte bis zu ihrer Erscheinung in des Dichters eigenem Gemeinschafts- und Einzeltag, überall zugleich mit der Abwehr des Widergeistes oder Fremdstoffes, woran ihre Gewalt und Gestalt – beides ist für George dasselbe – sich trübt oder bricht. Von aller romantischen Gedächtnispoesie [271] auf antike, mittelalterliche oder exotische Wunschbilder, von der historischen oder artistischen Trümmerwehmut unterscheidet sich Georges Hymnik, Spruchweisheit oder Lied durch die stete Inbrunst des eigenen Willens, der sich den Ferngesichten einverleibt und noch die Sehnsucht nicht als den Verzicht auf drohende Verwirklichung genießt, wie die echten Romantiker, sondern als die beschwingte Vorwegnahme einer Zukunft die er selbst schon verbürgt und befiehlt.

In vier Gruppen gliedert sich die Dichtung des »Neuen Reiches«. Die erste feiert in hymnischen Oden deutsche Heroen in deren Geist der deutsche Segen offenbar geworden durch ihr Werk oder ihr Wesen, oder das deutsche Verhängnis durch ihre Not oder ihren Verderb: Goethe und Hölderlin. In denselben Bereich gehört der Gesang auf Die Kinder des Meeres: Verkörperungen der elementarischen Helle, Weite und Rege womit der Dichter die Trübe, Schwere und Bürde seines Volkes lösen möchte. Zu den großen Menschen und der schönen Natur, menschlicher und irdischer, kommen die ungeheuren Ereignisse Weltkrieg und Umsturz. Auch sie nicht als aktuelle Zeitgeschichte ergriffen, sondern als Zeugnis des ewigen Wandels .. nicht von den Parteien und Völkern aus, sondern eben den Lebenskräften, deren Sinnenbilder oder Werkstoffe die Zeit bietet. Doch sind die Gedichte dieser ersten Gruppe von denen der nächsten unterschieden durch den Bezug auf Geschichte oder Gegenwart, wie sehr auch darin die überzeitliche Götterfeier wirkt: es ist ein Blick von gestern und heute auf das Ewige.

Die nächste Gruppe: »Winke« »Gebete« »Burg Falkenstein« »Geheimes Deutschland« »Der Gehenkte« »Der Mensch und der Drud« »Der Brand des Tempels« »Gespräch des Herrn mit dem Römischen Hauptmann« sind hymnische oder dramatische Beschwörungen der ewigen Gewalten mit näherem oder fernerem Blick auf das dringliche Heute. Sie sind nicht gerichtet an noch wandelbare Helfer und Opfer, sondern winken den steten Lenkern, Heilanden, Dämonen, Mächten oder Gesetzen der Georgeschen Welt, heidnischen, christlichen, geheimen und offenbaren, bald deutlich verkörperten, bald unterirdisch regen.

Die dritte Gruppe: »Sprüche an die Lebenden« und »Sprüche an die Toten« erweitert die persönlichen Winke Georges an die näheren [272] oder ferneren Seinen aus den »Tafeln« des »Siebenten Rings«. Ihre einmaligen Arten und Lagen, Gefahren, Nöte, Gaben, wie sie ihm der persönliche Umgang vor Augen brachte, oder furchtbare Geschicke, womit der Krieg eingriff in seinen nächsten Kreis, faßt George hier in gedrungene Sätze, abermals die schmerzliche Stunde heilend oder sühnend aus einem Wissen um ihr Gesetz oder aus dem amor fati, der aus jeder neuen Drohung der Liebe oder des Todes den ihm notwendigen Sinn ruft, das heißt schafft – wie die Orakel der Alten weniger weissagten was kommen sollte als durch Aussage beschworen was da war.

Das Werk schwingt aus im Lied. Die letzte Gruppe, die man mythische Volkslieder oder Balladen nennen könnte, kehrt aus dem eifervollen Drang und Griff von Ruf, Bann und Lehre, aus der Sammlung des Gottesdienstes an Volk und Gemeinde wieder heim und hinaus in das schwebende Element des Sehens und Sagens, in die gnädige Musik des rein tönenden Wortes, das zugleich die Regung seiner naturischen Seele trägt und den Sinn seines gesichtigen Geistes. Alle großen Werke Georges huldigen mit ganz gelöstem, leichtem, freiem Sang am Ende aller Kämpfe der unbeschwerten Gnade, kraft deren er siegt über jeden Zwang der schweren Welt. Im leichten Lied, der Stimmwerdung der vormenschlichen Schöpfung, der Sinn-werdung des reinen Da-seins im durchgedrungenen Menschen, feiert George jedesmal den Abschied und den Urlaub aus dem Druck seiner Gerichte. So schließt »Der Teppich des Lebens«, das Ringen mit dem Engel und der Gang durch das Schicksal seines Volkes, mit den »Liedern von Traum und Tod«.


In goldnem getön dein leben verrauscht


So warnt er im »Zeitgedicht« des »Siebenten Rings« die allzu ernsten Greise davor in seinen Flüchen sein ganzes Wesen zu sehen:


Und der heut eifernde posaune bläst
Und flüssig feuer schleudert weiß daß morgen
Leicht alle schönheit kraft und große steigt
Aus eines knaben stillem flötenlied.
So schließt sogar das strengste und härteste seiner Werke »Der Stern des Bundes« mit dem Loblied:
[273]
Von aller farbe sang und tanz umschlungen
Von aller frucht und blüte duft umdrungen

und der Anruf an Gott am Ausgang der Fehden und Fahrten ist bei diesem wuchtigen Richter seiner Zeit niemals das schwere Wort, sondern der selige Ton. Aus ähnlichem Grund endet der steilste Dichtungsdom, die »Divina Commedia« mit einem holden Verklingen in Gottes Liebe, die Sonne und Sterne regt .. und so nimmt Shakespeare von seiner gigantischen Schöpfung Abschied mit einem Seufzer an den Luftgeist Ariel: »Dann in die Elemente«. Nur wer ganz bis zum Grund beladen war, findet die innige Freiheit und ihre Musik. Auch Georges grausamer Ernst reift ihn nur zur lieblichen Freude.


Nach diesem Vorblick betrachten wir einige Gipfel des Werkes. Die hymnischen Oden der ersten Gruppe, weit ausladend ungesicherten Raum, ähneln, ohne jede Nachahmung, durch ihren seelischen Ursprung, das heißt ihre Gattung, auch im Gang den Pindarischen. Sie stellen einen gegenwärtigen Inhalt der Freude oder Sorge in die mythische, von der eigenen Leidenschaft durchschwungenen Weite. Sie verherrlichen Götter und Helden im Preis der selbstersehnten oder selbsterzogenen Nächsten, worin sich die Kräfte verheutigen, wie sie in jenen urbildlich verewigt sind. Goethe und Hölderlin sind für George, was für Pindar die olympischen Ahnen der jungen Sieger: mythische Schicksalsträger, Schicksalskünder ihres Volkes, doch darüber hinaus, vermöge der anderen Zeit, auch Schicksals-opfer. »Goethes letzte Nacht in Italien« zeigt den Genius, worin wie in keinem zweiten Deutschen die dunkle Schweife-lust, das Unendlichkeits- verlangen, der faustische Überschwang des gestaltfürchtigen Nordens sich heilt durch das plastische Licht der Sonnenländer, heimgesucht in der schmerzlichen Abschiedsstunde vom zauberischen Zukunftsgesicht einer deutschen Menschheit, worin Rausch und Helle, Fülle und Strenge, Marmor und Rosen sich einen. Immer wieder Georges eignes Wunsch- und Wirkbild – herausgehoben, ja gerissen mit seinem wilden Gefühl der Elemente, mit zärtlicher Gewalt aus der mißbrauchten Goethebildung des wissenschaftlichen Allsammlers, des bequemen Sturm- und Drangmusters und des »Olympiers«. Hier, wie immer schaut George, vielleicht nicht immer Goethegerecht, seine eigene Spannung zwischen erdhafter [274] Wildheit und herrischer Zucht, nach außen strahlend als Kampf zwischen Titanenwut und Götterhuld, in Goethe hinein. Er läßt ihn beklagen daß den Deutschen nicht


Ein seher erstand am beginn ihrer zeiten
Der noch ein sohn war, und nicht ein enkel der Gäa

läßt ihn erinnern rheinische Winzerfeste voll bacchischer Freude, beschwören den römisch imperialen, herb-gewaltigen Schauder, läßt ihn abwehren die deutschen Spitzen und Schnörkel deutscher Gemütswirrnis. Es sind deutsche, nicht goethesche Nöte, die hier in ein trunkenes Nachtgesicht sich mit Inbrunst entladen, georgesche, nicht goethesche Winke an deutsches Dasein. Mag man Goethes Bild, des allhegenden und allgetragenen Seelenbildners einer ihm noch gültigen Gesellschaft, schützen vor dem Urteil des herrischen, gesellschaftsfremden Mächtezwängers – im mythischen Blick auf ihn beleuchtet George die eigene Sehnsucht und ihre in Notzucht zeugende Kraft.

In dem dreiteiligen Hyperion-gedicht legte George dasselbe Leid an deutscher Trübe, Schlaffheit und Entstaltung, denselben Glauben an griechisch-leibhaftige Schöpfungsfülle, dasselbe Heimweh um deren Schwund, denselben Willkomm an deutsche Wiedergeburt aus griechischem Geistessamen dem mythisch gesehenen Hölderlin, Hyperion, in den Mund. Auch hier verdichtet, verhärtet sich die noch im Zorn holdschwingende Stimme Hölderlins, womit die Allnatur christlich-deutsche Herzlichkeit austönt, zu römischer Wucht und katholischem Eifer. Noch bis in die Liebe hinein dringt bei George ein unerbittlicher Wille, bei Hölderlin ein unablöslicher Glaube .. weil George das Zerspellte wieder fassen muß, Hölderlin das Entgleitende füllen. In allen Rufen Hölderlins klingt, lieblich traurig, freudig, das Noch der versunkenen Götter .. aus George der heilige Zorn, der ungeduldige Gram, der frohlockende Zuruf des Wieder, und noch seine Grüße an das Gewog von Blüten in Fluß und Berg und Gau, noch seine Flöten und Harfen, noch sein panisches Raunen entringt sich der grausenvollen Fremdheit oder durchzwingt sie, während Hölderlins Flüche noch zittern aus heimatlicher Hege.

Zwischen die Heroenhymnen und die Zeitgedichte aus dem Krieg hat George den rätselhaften Sang »An die Kinder des Meeres« eingereiht. [275] Die Wunschbilder von ursprünglicher Jugend nimmt et wahr an Gästen seines eigenes Daseins, an Wirten seines eigenen Wanderns .. die Lockung und die Gefahr des Mannes der immer wieder das schweifende, wandelbare, stürmische Element bannen muß in traute Nahgestalt, immer wieder das zärtliche Hie und Jetzt der leibhaftigen Schöne lösen, entlassen, opfern muß an das Fernste, woraus Erneuerung wie Zerstörung kommt. Darum mischen sich in diesen drei Widmungen und ihrem Nachklang genaue Personenbilder, vertrauliche Winke, scharf, fein, fest, mit der berauschenden Sprachwerdung grenzenlosen Sturmes und unfaßbarer Wogen. Darum schließt die Feier mit dem Gleichnis von der Muschel, worin das menschliche Ohr eng und nah das Brausen des Meeres vernimmt.

Nach den Heroen, den menschgewordenen Elementen, das ewige Verhängnis als zeitliches Ereignis. In den großen Gedichten »Der Krieg« und »Der Dichter in Zeiten der Wirren« hat George sich näher als sonst dem Tag zugewandt, der alle erschüttert. Doch auch hier hat er durch die Schlachten und Umstürze hindurch, unter Ergreifung freilich der sinnenharten Einzelgreuel und Schreckgesichte, den aktuellen Weltzustand von dem ihm anvertrauten Menschtum aus überblickt. Was die Mitgetriebenen oder -treibenden aufdröseln in Ursachen und Folgen, Gründe und Zwecke, Taten und Leiden, Wege und Ziele, greift er zusammen in Wesen oder Larventum, Schauder und Wahn, Schuld und Not eines geschehenden Alls. Umschlossen ist das Gedicht »Der Krieg« von zwei visionären Bejahungen. Die eine feiert den Augenblick, den »Schauer« welcher der Krieg beim Ausbruch war .. die andere kündet die Wiederkunft der unsterblichen Kräfte, woraus Menschheit sich verjüngt. Dazwischen liegt das Gericht der Zeit, all dessen was an dem Krieg nicht Augenblick und nicht Ewigkeit war .. die Abrechnung mit den Wähnen und Gierden des verworrenen Kriegstages .. nicht mit Taten, sondern mit Seinsarten der Kriegsmenschheit. Die Taten sind nur Atemzüge ihres fiebernden Leibes. Über den Mord der Lebendigen vergießt keine Träne wer den Mord des Lebens selbst beweint .. den Abfall vom menschlichen Sinn, das Gemein werden der Herzen. Was über die Länder hinweg gespenstisch leer das Ringen der stummen Gewalten begleitete, die Vorwände von Recht und Schuld, von Kriegszielen und Verfassungen, die Reden [276] und Bilder die des grauenvollen Tuns und Leidens spotteten, der flinke Vorwitz und der Treppenwitz der Umlerner, die Geschichtsklitterungen der Kenner, die Wunsch- und Wahnworte der Völker und Parteien: sie alle richtet der Blick auf die steinerne Not, die Pflicht und Opfer heißt, auf die zerfetzten Leichenberge, die man mit »Heidentum« beschönt, auf die Besessenheit der Massen, die Dürre der Treiber, Dem Mißbrauch, den die Zeit und ihre Träger mit »Stoff und Stamm«, mit »Kern und Keim« getrieben, gilt seine Rüge, schwellend von Liebe zu diesem Stoff.

Was in dem »Krieg« vom Ereignis aus betrachtet wird, das sichtet »Der Dichter in Zeiten der Wirren« als seine Aufgabe, als der mit dem ganzen Elend und der ganzen Schmach im Taumel der Parteien von innen her Beladene. Er wehrt den Ratschlag im Wirrwarr ab, den Spruch des Geistes »wo kein allgemeiner trieb ist als der des trogs«


Wo jede zunft die andre
Beschimpfend stets ihr leckes boot empfiehlt
Das kläglich scheiterte, heil sucht in mehrung
Ihr lieben tandes? wo die klügsten fabeln
Vom frischen aufbau mit den alten sünden
Und raten: macht euch klein wie würmer daß euch
Der donner schont der blitz euch nicht gewahrt ...

Gegen die Verantwortungs- und Verhängnismemmen stellt er des Dichters Amt und seine darin verbürgte Verheißung:


Er schürt die heilige glut die über-springt
Und sich die leiber formt ...
Ihm wuchs schon heran
Unangetastet von dem geilen markt
Von dünnem hirngeweb und giftigem flitter
Gestählt im banne der verruchten jahre
Ein jung geschlecht das wieder mensch und ding
Mit echten maaßen mißt, das schön und ernst
Froh seiner einzigkeit, vor Fremdem stolz,
Sich gleich entfernt von klippen dreisten dünkels
Wie seichtem sumpf erlogener brüderei
Das von sich spie was mürb und feig und lau
[277]
Das aus geweihtem träumen tun und dulden
Den einzigen der hilft den Mann gebiert

Mit dem Selbstbewußtsein des dichterischen Berufs wirkt in Georges Geist die Abwehr seiner Widerwelt und die Verkörperung seiner Kindschaft. Als sein persönlicher Trost erscheinen dieselben Bejahungen und Verneinungen die in den beiden großen Gedichten dem Volk zugewandt sind: in der Ode an »einen jungen Führer im ersten Weltkrieg«. Dem Gram über das sieglose Ringen des gläubigen Kämpfers, den Tränen um den vergeudeten Schatz wichtigster Jahre, spricht er, wie dem Kampf selbst, einen unmittelbaren Bildsinn aus dem Schicksal solcher Jugend zu:


Jähe erhebung und zug bis an die pforte des siegs
Sturz unter drückendes joch bergen in sich einen sinn
Sinn in dir selber.

Wider die Gründe und Zwecke des bloßen Grübelns und Begehrens, einzelne oder kollektive, stellt George, bis in seine Mahnungen und Willensrufe hinein, die Wirklichkeit der beseelten Gesichte, deren Wert nicht abhängt von Erfolgen des Besitzers und Verlierers, sondern von der Daseinskraft der Sehenden und Gesehenen.

Zwischen den Kriegsgedichten und den Gesängen von den deutschen Lebenskräften kehrt George in sein eigenes Geheimnis zurück mit den Gedichten »Die Winke« und »Gebete«, dem Anruf der Zeichen unter denen die Gesichte seiner Sendung ihm aufgingen und seines eignen Heilbringers selbst, den er aus zauberhaften Raumaugenblicken sich bewahrt im Sturz der taumelnden Schicksale und der im Schweifen und Kreisen des Unermeßlichen als fester Stern ihn lenkt und bestrahlt.

Dann folgen die großen Oden vom Deutschtum. »Burg Falkenstein« wendet den Blick von der rheinischen Burg- und Hügellandschaft – einem gegenwärtigen Zauber, dem der Dichter mit dem Vertrauen einer lebenslangen Gemeinschaft, mit der Andacht und Einsicht des Mitgewachsenen sich widmet – zurück in den Gefühls- und Wehmutsspuk dieses Geisterraumes, in den Reiz des traurigen Sinnens und Singens, in alles was als Romantik, als Geschichtsschatten und als Stimmungshusch solcher Stätten die deutsche Seele lockt und lähmt. Er wendet den Blick voraus und umher aus derselben Heimat und [278] Heimelichkeit in die Zukunft, aus erneuertem Herzen in den verwunschenen Schicksalsbezirk, damit er statt der Gespenster wieder Geburten zeitigt. Immer wieder aus dem Hier und Jetzt, aus dem Nu der bestimmten Gestalt sammelt er und entsendet er was sich verloren hatte zu herbstlichen Schemen. In »Burg Falkenstein« wird die Stätte der Herkunft zum Halt des verwunschnen Wanderns .. die nächste Ode »Geheimes Deutschland« weissagt die Umkehr des weltdurchrasenden, gierigen, lärmenden Taumels (der alle Schöpfung entleert und entkräftet, indem er sie benutzt) .. Umkehr durch das letzte Geheimnis der Mächte, durch Heraufkunft neuen Raums in den Raum, das heißt: Aufbruch unverbrauchten Lebens aus dem gehegten Herzen des Volkes, das dem Dichter Glauben gegeben durch menschliche Gestalten, Ereignisse, Begegnungen – Vorgänge seines unscheinbaren, leisen Tages und zu gleich Wunderzeichen des mythensichtigen Auges.

Die nächsten Gedichte legen Georges Spannung (oder Erfahrung) seines steten Weilens im gegenwärtigen Leben und der keimhaft darin sprengenden Wandlung – Umkehr, Umsturz, Einbruch – auseinander in Zwiesprache. »Der Gehenkte« antwortet dem Frager, der ihn vom Galgen schneidet, als die Stimme der Schmach, der Verfehmung, des Frevels, wodurch die gehegte und sittige, gültige und stattliche, schein-und schattenhafte Vorhandenheit allein insgeheim bestehen kann und insgeheim gewendet wird. Was jeweils Tugend, Ordnung, Macht dünkt, bedarf eines unterirdischen Tilgers, zugleich Hegers und Erneuerers, des Trägers der künftigen Gottesgesichte. Genauer ertönt hier eine Lehre Georges, die schon der »Siebente Ring« verkündet: sein Glaube an die Erneuerung der Welt aus dem Fernsten, an ihren Umbau auf dem Stein des Anstoßes, der Grundstein wird .. an den Vollzug jeder heilsamen Tat durch die jeweiligen Verbrecher, ja Zuchthäusler. In solchen Gedichten (auch der »Täter« im »Teppich des Lebens« gehört dazu) verrät George den Abgrund, woraus seine vielgepriesene und vielbelächelte Schönseligkeit steigt. Mit Genießertum hat sie nichts zu tun, sondern setzt – wie der griechische Apollo Gäa und die Titanen, wie Dantes Paradies seine Hölle, wie Shakespeares Lustspiele seine Tragödien, den Aufenthalt in der unbarmherzigen Schrecknis voraus.

[279] Das Zwiegespräch zwischen Mensch und Drud, das heißt zwischen dem erdverheerenden Forsch- und Nutzgeist und der nährenden, zeugenden geheimen Lebenskraft, kündet dieselbe Einsicht, die der »Gehenkte« sittlich-gesellschaftlich versinnbildet, aus der Natur:


Uns tilgend tilgt ihr euch ... ..
Nur durch den zauber bleibt das leben wach.

Das ist keine romantische Sehnsucht nach glücklicheren Urzuständen oder gar nach gesetzloser Freiheit des geistfeindlichen Lebensschwelgers, sondern der nüchterne Spruch des Mannes der vermöge seiner innersten Spannung Geist gegen Leben, Leben gegen Geist schützt, grenzt, wägt, den Göttern gebend was den Göttern ist: den verborgenen Kräftewandel .. dem Menschen das seine: Gestalt, Sinn und Gesetz.

»Das Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann«, abermals fern von den schwülen Gemütsnebeln und der Glaubensgeilheit, römisch sachlich, aber im mythischen Raum, gibt den Fragern Bescheid welche die Erlösung von außen her erwarten ohne Fülle und Glut des eigenen Wesens. Es empfängt jeder, auch vom Heiland nur, so viel er geben kann, und Gott offenbart sich nur dem der sein Geheimnis wenn nicht weiß so doch wächst. Die Gotteskunde ist aufgehendes und übergehendes Menschtum, die Gnade von oben nur verwirklichtes Herz von innen: auch hier in christlichem Gleichnis Georges Lehre von der Verleibung des Gottes und der Vergottung des Leibes, wobei Leib den erscheinenden Augenblick, Gott die menschensinnvolle Allkraft bedeutet.

»Der Brand des Tempels« – nicht mehr Dialog, sondern schon echt dramatisches Geschehnis- und Gebärdenbild – rückt die Zusammenbrüche des großen Krieges auf das Blickfeld des Sinnsehers: Priester und Greise empfangen vor dem belagerten Tempel, der alle Schätze und Überlieferungen ihres Volkes enthält, die Botschaft von Art, Tun und Wort des erobernden Hunnen, seinen Bescheid an die verschiedenen Bittsteller: Händler, Bürgerfrauen und an die schöne Königstochter, die ihn um Gnade angeht. Sein Aussehen, sein Gehaben, seine Vorgeschichte, sein Verhalten zu Heer und Volk, zur Mutter und zum nächsten Freund, der ihn verraten, erscheinen in kurzen Berichten, welche ewige menschliche Verhältnisse vergegenwärtigen, in der [280] Stunde des Untergangs. Das gesamte sichere Dasein, behütete Erbschaft eines Gemeinwesens, seit Jahrhunderten Besitz und Bildung, Alltagsgier, Neid und Furcht von Bürger und Pöbel auf der einen Seite .. auf der andern der Kriegsfürst mit seiner Mann- und Weibszucht, seiner Härte um des richtigen Fugs willen und seiner auch gegen ihn selbst unerbittlichen Bindung an erkannte Gesetze, jenseits von Wünschen persönlicher Güte, Rache oder Liebe – all diese gedrungenen, mit nackter Einfalt und feierlicher Stärke vorgestellten Verhängnisse, richtet und sichtet der Dichter von dem Zusammenbruch her, der die bequemen Werte in Frage stellt, die geheimen in die Erscheinung drängt. Das Drama wird beherrscht von der Gestalt des Gebieters, die nicht selbst erscheint, sondern entrückt und gegenwärtig zugleich aus den Berichten der Sprecher herein wirkt: eine Durchdringung derjenigen inneren Kräfte deren George selbst sich mächtig weiß, seiner eigenen Einsichten, Wünsche, Zwänge mit solchen die als mythische Machtbilder im Völkergedächtnis weiterleben, zumal die Gottesgeisel Attila. Den Sinn des sagenhaften Verheerers faßt und formt der heutige leise Dichter aus der von ihm überall wahrgenommenen, erlittenen und gefeierten Spannung zwischen dem kaum merkbaren Lebenskeim einer neuen Welt, die aus ihm selbst werden will, und dem offenbaren, bald verkörperten, bald chaotischen Umsturz einer fertigen Welt. Wie George selbst sich zur steigenden und stürzenden Zeit verhält im Herzen, zu den Bindungen des Blutes, der Gemeinschaft und der Freundschaft, zu Volk, Weib und Schar – oft ausgesprochen in einzelnen Bildern, Winken, Lehren .. seit dem »Siebenten Ring« zumal im »Stern des Bundes« – das rückt er hier in straffe Gebärdenbilder dramatisch zusammen, zugleich Gesichte und Kunde. Die gierige, neidische Menge, die in Krisenzeiten ihren Verderb nicht merkt, aber schafft .. die ratlosen Ratsherrn und Pfleger, Hüter und Mehrer jetzt entwerteten Erbes, die »Eingereihten und die Rückgewandten«, das ziellose Wirrsal von »Hunger und Liebe« von Besitz und Geschlecht, die gesammelte, von ihm erleuchtete und geblendete Wucht seines Heeres, des menschlichen Werkzeuges und Wirkkörpers – der Abfall auch und gerade des getreusten Helfers, die Hemmnis und die Abwehr auch und gerade der engsten Naturbindung: der mütterlichen .. die Ehrfurcht und der Verderb gerade [281] der holdesten Versuchung, der schönen, reinen, hohen Frau, die um Gnade fleht – all das steigt aus Befehlen des Georgeschen Geheimsinnes, woran er mehr leidet als seine Opfer, aus dem Gerichtetsein des Richters, hier empor in gestaltige Bekenntnis und Erkenntnis. Noch die Vorgänge und Figuren umwittert hier die schaurige Helle mythischen Landes. Noch die nüchtern klaren Sätze, römisch hart und lapidar, pochen von der finsteren Leidenschaft eines Verhängnisses. »Das Gleichgewicht der ungeheuren Wage« zwischen der geheimen Bürde des einen Wandelträgers und der herausgestellten Widerwelt, gibt Georges Versen im »Brand des Tempels« zugleich die Dichte eines selbstsicher geschlossenen Ich und die Weite einer öffentlichen Monumentalität, worin eine starke Seele ihre räumliche Macht gefunden, worin ein ungeheurer Nu sich gezeitigt, verewigt.

Die »Sprüche an die Lebenden« übergehen wir: es sind Winke vertrauter Gemeinschaft, ganz deutbar nur von denen die sie verlangt oder veranlaßt haben .. getragen (wie alle Dichtung Georges) von dem einmaligen Augenblick als dem höchsten Gott und von dem steten Gesetz dieses Charakters. Noch als Lehrer und Liebender unter dem Wandel der grenzensprengenden oder grenzenerfüllenden Stunden, der bezaubernden Begegnungen, der erschütternden Trennungen hält und lenkt er das Auge auf die Übergänge des Eingeweihten und Einzuweihenden. Bald sind es gemeinsame Erlebnisse auf dem Weg durch die Landschaft, bald die Formeln – Warnung oder Ermunterung – für das Lebensgesetz einer Alterstufe, für die Schicksalsgefahr dieses und jenes Gefährten, Schülers, Jüngers, bald Lehren aus der Ernte eines langen Lebens, niemals abgelöst vom einmaligen Wirken und darum nicht als Allgemeinsentenzen verwendbar, doch gesättigt mit dem Wissen eines Mannes dernicht anders kann .. dessen Dasein ein Gesetz mitverkörpert und wahrsagt, indem er es wahrnimmt.

Die »Sprüche an die Toten« sind Nachrufe an Opfer des Krieges, aus dem Gemeinschaftsverhängnis deren besonderen Sinn deutend, beleuchtend, verherrlichend, sühnend .. unheimlich abermals durch das mythische Schauen von Einzelschicksalen, die nach Hunderttausenden zählen und doch dadurch daß dieser Dichter sie wahrnimmt teilhaben an seiner überzeitlichen Bildkraft.

[282] Wir wenden uns dem letzten Kreis des »Neuen Reichs« zu, den mythischen Liedern und Balladen, dem Ausschwingen der gedrungenen Seele vom jahrzehntelangen Sinnen und Fügen. Es sind die leichtesten, holdesten Töne vielleicht in Georges gesamtem Schaffen und dabei doch nicht in romantisches Geträller und Geklingel zerlöst, sondern fest und klar, mit der markigen Einfalt der besten Volkslieder und zugleich mit der schaurigen Ferne, wie von einem anderen Stern her .. Gesichte bannend aus dem Bereich alter Mären und Bräuche und doch zugleich seine heutige Weisheit mit eindeutend: »Das Lied« von dem Knecht, der im Wunderwald verirrt seine fremde Kunde nach langen Jahren wieder heimbringt, und von der Gemeinde nicht verstanden, als verwahrloster Hirt dienstbar, nur den Kindern sein Lied weitergibt


Bis in die spätste zeit ...


Das ist als Ballade ein Grundglaube Georges: die Herkunft des dauernden Zaubers aus der Entrückung und Verwandlung, die Geburt und Bewahrung des Wunders in den schlichten und lauteren Seelen. Auch dies Gedicht ist keine sinnige Allegorie, sondern umwittert von dem reinen Fernhauch und dem Einkehrglück woraus es schwingt. Im »Schifferlied« tönen schlicht und sacht die Mordgefahren des leidenschaftlichen Herzens (wie sie Georges ganzes Werk vom »Algabal« über »Verrufung« und »Der Täter« im »Teppich des Lebens« und das »Zeitgedicht«: und »Porta nigra« im »Siebenten Ring« bis zu den Flüchen im »Stern des Bundes« durchschüttern) zusammen mit der sehnsüchtigen Andacht zum lieblichen Wesen: böse Tat, frommer Verzicht und karger Abschied ins Dunkel .. sechzehn Verse voll harten Geschehens und wilden Gefühls im verhaltenen Klang.

Ein weiteres seiner Gedichte (Horch, was die dumpfe Erde spricht) wägt in ähnlicher Weise die freie Schwebe des Einzelnen, seine geflügelten und wallenden Augenblicke, seine Gesellungen, Begegnisse, Träume zusammen mit dem dumpfen Natur- und Schicksalsgrund, seinen lockersten Flug mit dem unterirdischen Zwang des unlenkbaren Nu – ein Sibyllenspruch, immer wieder nächtig raunend aus dem durchlebten ungelösten Geheimnis und schwingend in seliger Weisheit.

[283] Auch im »Seelied« wird ein einziger schöner Anblick, Augenblick ausgewogen gegen ein gesamtes Dasein:


Mein herd ist gut, mein dach ist dicht,
Doch eine freude wohnt dort nicht.
Die netze hab ich all geflickt
Und küch und kammer sind beschickt.
So sitz ich, wart ich auf dem strand,
Die schläfe pocht in meiner hand:
Was hat mein ganzer tag gefrommt,
Wenn heut das blonde kind nicht kommt.

In dem nächsten, »Die törichte Pilgerin«, versinnbildlicht sich der Wahn der die unwiderbringliche Gnade, das rechte Begegnen verkennt, der erlisten oder erzwingen will was dem Kairos zusteht: das Mädchen dankt dem Helfer der die Hingestürzte aufhebt und merkt nicht im Zufall, der nicht wiederkehrt, Schicksal und Willen zugleich.

»Der Letzte der Getreuen« stellt sein Leben auf den Augenblick des Untergangs mit dem verbannten König. Im Gedicht »Das Wort« bannt sich dasselbe Grunderlebnis vom Augenblick, der Wesen schafft, zeugt oder aufhebt, durch den es erscheint, wirkt und dauert, in die Mär von der Norn, die einem Wunder-und Schätzefinder seine Beute benamt und sichert oder verschweigt und vernichtigt. Hier ist der schöpferische Augenblick ein Wort, wie in den vorigen Gedichten eine Gestalt, ein Ziel, ein Erinnern – immer die heilige Hochzeit zwischen dem unwägbaren Hier und Jetzt und dem faßbaren Immer und Überall, bald fruchtbar, bald verderblich.

Dasselbe Mysterium das in der Natur aus dem Samen fleischlich, stammlich, gesellschaftlich, geographisch, politisch und wie immer durch allgemeine Gegebenheiten bestimmter und deutbarer Menschen in einem unbestimmbaren und undeutbaren Einungsnu einen Heros oder Heiland für Jahrtausende zeitigt – dasselbe Mysterium offenbart und birgt sich in jedem menschlichen Geschick. George, der strengste Gesetzesfröner, hat dies Mysterium immer wieder, in erschütternden und beseligten Gesichten, in ergebenen und drohenden Gebeten verkündet. Als Gesinnung ist das Leben im Geheimnis des Augenblicks, das in den Liedern des »Neuen Reichs« mannigfach [284] erscheint und ertönt, für immer formuliert in Shakespeares »Reif sein ist alles« .. als Ereignis und Verhängnis in dem Wort »jacta est alea«. Auch das Verhängnis des Würfels winkt aus Georges letztem Werk im Gedicht »Die Becher«. Dann aber schwingt er aus in die Feier der unfaßlich innigen und weiten Elemente, worin und woraus die Menschenstunde reift und zeugt. »Das Licht« das einzige Sekunden des Sehers verherrlicht und doch für alle leuchtet .. Sturm und Meer, von fernher sausend, um einen Stamm zu brechen und in einer Muschel zu dröhnen .. und zuletzt der liebliche Zauber der Erde haftend an der unersetzlichen Gestalt und alles beginnend, alles durchdringend, alles vollendend, unfaßbar wie die Welt und wirklich wie der heilige Nu.

[285]

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TextGrid Repository (2012). Gundolf, Friedrich. Schriften. George. George. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-20EE-4