[Der eine Fuß steht schon im Grabe]

[87] Todesgedancken eines verlebten Greises.

Mel. Wer nur den lieben Gott läst walten.

Der eine Fuß steht schon im Grabe
Und wittert die Vergängligkeit.
Welt, was ich von dir weis und habe,
Ist Unruh, Sorgen, Müh und Streit.
Drum seh ich dort zum Voraus hin,
Wo ich in kurzem glücklich bin.
Mein Gott, du Herr von Zeit und Tagen,
Womit bezahl ich deine Treu?
Du läst mich noch im Alter tragen
Und legst mir so viel Kräfte bey,
Als unter tausend kaum ein Mann
Bey meinen Jahren wüntschen kan.
Du hast dich meiner angenommen
Und in der schwersten Zeit erbarmt;
So oft ich in Gefahr gekommen,
Hat deine Hülfe mich umarmt
Und öfters, eh ich selbst gedacht,
Aus Kummer Freud und Lust gemacht.
Ich bin ein Baum, woran dein Seegen
Auf achtundneunzig Zweigen blüht,
Und darf mein Haupt nicht eher legen,
Als bis es an den Enckeln sieht,
Was jedem, der die Eltern ehrt,
Auf Erden vor ein Wohl gehört.
Es kan wohl nicht mehr lange werden,
Mein Seiger ist gewis bald leer,
Ich sehne mich auch von der Erden
Und bin mir schon fast selbst zu schwer.
[88]
Herr, halt mich fertig und bereit
Und zeuch mich aus der Eitelkeit!
Die Kraft der eußerlichen Sinnen
Läst, wie ich fühle, mercklich nach.
Erneure du den Mensch von innen,
Und wird der Schenckel kranck und schwach,
So halt den Glauben starck und fest,
Bis daß der Geist den Leib verläst.
Mein fleischlich Auge will fast brechen;
Es breche denn auch immerhin.
Ich kan mir beßern Glanz versprechen
Und seh gleichwohl schon, wo ich bin:
Ich bin in Hofnung allbereit
Im Lichte jener Herrligkeit.
Die Sprache scheint sich zu verlieren.
Was thuts? Mein Heiland zeiget sich,
Das Wort einmahl vor mich zu führen;
Drum, Satan, fleuch und schäme dich:
Wo so ein großer Mittler spricht,
Da gilt dein böses Klagen nicht.
Geht endlich auch bey andern Schmerzen
Der Nachdruck des Gehöres ein,
So hör ich dennoch in dem Herzen
Den Geist der Warheit Abba schreyn,
Und dieser Trost bezeugt mir frey,
Daß ich in Gottes Kindschaft sey.
Dies zuversichtliche Vertrauen
Behalt und nehm ich aus der Welt;
Der Tod gebiehrt mehr Lust als Grauen,
Dieweil mein Creuz durch ihn zerfällt.
Es nimmt mein Schlafgemach, das Grab,
Der Glieder schwere Kleidung ab.
[89]
Herr, las mich nun in Frieden fahren
Und Simeons Gefehrte seyn.
Die Schuld von meinen jungen Jahren
Hüllt Jesus in sein Schweißtuch ein
Und läst sie ewig in der Gruft,
Woraus mich seine Zukunft ruft.
Die Kinder, so du mir gegeben,
Las allzeit deine Wege gehn
Und dermahleinst in jenem Leben
Mit mir vor deinem Throne stehn;
Von Gütern aber dieser Welt
Gieb jedem, was dir selbst gefällt.
So freut euch nun, ihr mürben Glieder,
Der Lauf ist aus, der Kampf vollbracht.
Hier legt euch endlich ruhig nieder,
Hier habet ihr die stille Nacht,
Wo euch kein böser Traum betrübt.
Herr, komm nun, wenn es dir beliebt.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Günther, Johann Christian. [Der eine Fuß steht schon im Grabe]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-2416-2