Otto Erich Hartleben
Hanna Jagert
Komödie

[40] Personen

    • Eduard Jagert, Mauerpolier.

    • Sophie, seine Frau.

    • Hanna, ihre Tochter.

    • Lieschen Bode, eine Nichte der Frau Jagert.

    • Konrad Thieme, Schriftsetzer.

    • Alexander Könitz, Dr. med., Besitzer einer chemischen Fabrik.

    • Friedrich Freiherr von Vernier.

    • Bernhard Freiherr von Vernier, dessen Großneffe.

    • Freudenberg, Weinhändler und Hausbesitzer.

    • Personal bei Hanna.

1. Akt

Erster Akt

Szene: Das Jagertsche Wohnzimmer. – Das Zimmer sieht kahl und nüchtern aus. Peinliche Sauberkeit. Die Betten mit weißen Waffelbettdecken zugedeckt. Die Möbeln mit weißen gehäkelten »Schonern« belegt. Auf dem Kleiderschrank mehrere Stöße Zeitungen. Hinten ein Kanarienvogel im Bauer, darüber ein Regulator. Über dem Sofa links ein großer Stahlstich.

FRAU SOPHIE JAGERT
sitzt allein an dem Sofatisch links.

Sie hat die brennende Lampe nah zu sich herangezogen und strickt emsig. – Plötzlich legt sie das Strickzeug mit einem Ruck auf den Tisch und horcht nach rechts. Dann schüttelt sie den Kopf und seufzt laut. Wie sie ihre Arbeit wieder aufnehmen will, klingelt es. Sie fährt zusammen, freudig. Doch! Sie eilt nach rechts ab und öffnet. Man hört von draußen ihre Stimme mit einem Tone der Enttäuschung. Ach du bist's!

LIESCHEN BODE
ebenfalls noch draußen, beinahe gleichzeitig.
Guten Abend, Tante. Ja – ich bin's. Wenn's dir nicht paßt, brauchst's ja bloß zu sagen.Lacht.
SOPHIE
im Eintreten.
Na komm rein, komm!

Beide treten ein. Lieschen ist eine hübsche, blasse Blondine von zwanzig Jahren. Auffallend gekleidet, helles Jackett, Federhut.
LIESCHEN.
Brauchst's bloß zu sagen!
SOPHIE.
Nu! Komm man schon rin und pell dir aus – Ach Lieschen ...
LIESCHEN
hat sich den Hut abgenommen und reicht ihn Sophie.
Na?
SOPHIE
hält beim Anblick des Hutes inne.
Nimmt ihn, bewundernd. Nein, ist das ein feiner Hut!
LIESCHEN
indem sie sich das Jackett auszieht.
Sache! Mein neuer.
SOPHIE
streichelt die Feder.
Fein! Wirklich sehr fein! Kostet gewiß ... Na, du hast ihn wohl ge schenkt gekriegt?
LIESCHEN.
Nu natürlich. Jeklaut nich.
SOPHIE
melancholisch.

Ja – ja! Ach, weißt du, Lieschen: zu meiner Zeit – na! Ne kleene Weiße mit ne Strippe – det war allens. An sowat war jarnich zu [41] denken! Kein Mensch! Bloß später Ede – und da war er schon mein Bräutigam.

LIESCHEN.
Ja – Kunststück! Früher! Singend. Das ist schon lange her ...
SOPHIE.
Na nu komm! Setz dir uffs Kanapee!
LIESCHEN
setzt sich weiterträllernd in die vordere Sofaecke.
SOPHIE
an ihrem früheren Platze, nimmt das Strickzeug wieder auf.
Wat macht ihr denn? Wie jeht's denn Muttern?
LIESCHEN.

Ach die! Na – du weißt ja. Meistens sitzt sie jetzt im Lehnstuhl. Der Doktor sagt, sie soll sich legen. Aber will sie denn? – Na – und dies Geschimpfe! Zackeriert 'n janzen Dag! Als ob ick wat dafor kann? Aber sie gönnt es einem bloß nicht, daß man jung, jesund un verjniegt is. Immer und ewig soll man bei ihr in der Stube hocken. Das ist doch kein Vergnügen!

SOPHIE
traurig, leise.
Die arme Wally!
LIESCHEN.

Gott ja – es ist ja schlimm genug. Aber sie braucht es einem doch nicht immer vorzuklönen! So – und so – und immer wieder dasselbe. Ich kann's doch nu mal nicht ändern!

SOPHIE
seufzt laut.
Ja – ja ...

Pause.
LIESCHEN.
Wo ist denn übrigens Hanna?
SOPHIE
weinerlich.

Ach – dat Mächen! Nu seh mal einer an – nu ist es bald halb neune und sie ist noch immer nicht da! Ich sitze wie uf Kohlen – ach, Lieschen: du weißt ja noch gar nicht ... denk doch mal an ... sieh mal hier!


Sie reicht ihr ein auf dem Tisch liegendes Telegramm.
LIESCHEN
neugierig.
Na, was ist denn los? Liest das Telegramm. Was – was?! Be – gna – digt? Konrad begnadigt? Na nu!
SOPHIE.
Denk dir!
LIESCHEN.
Ist die Möglichkeit!
SOPHIE.

Und kommt heute noch. Ist überhaupt schon da. Sieben Uhr fufzehn kam der Zug. Jeden Oogenblick kann er da rinkommen und ...

[42]
LIESCHEN.
Er hat's also angenommen!
SOPHIE.
Was?
LIESCHEN.
Na – die Begnadigung.
SOPHIE.
Schaf. Wie wird er denn nicht.
LIESCHEN.

Na, na, na ... der mit seinem Dickkopp? ... Der kriegt et fertig ... daß er meinswegen sagte: was, erst habt ihr mich zu drei Jahre verknackt ... nu sitz ick knapp zwee und nu wollt ihr mir wieder raus haben? Ne – is nich; nu sitz ick jrade bis Schluß, – So is er!

SOPHIE.
Ach – red doch nich! Der wird ... Auffahrend, nach rechts horchend. Horch! Hörst du nichts?
LIESCHEN.

– Ne, aber wir können ja mal nachsehn.Sie läuft nach rechts zur Tür und horcht hinaus. Sophie folgt ihr. Lieschen schlägt die Tür wieder zu. Jarnischt. Allens mucksstill.


Beide kehren auf ihre Plätze zurück.
SOPHIE.

Nämlich, mußt du wissen: Ede ist zur Bahn gegangen mit 'ne Masse andre. Die holen ihn alle ab. Du weißt ja, wie das ist ...

LIESCHEN
affektiert.
Nein – dieses Glück für ... In anderem Tone. Na ja: wenigstens for'n selber.
SOPHIE.

Für de Hanna! Denk mal an! – Wie't so heute nachmittag um Viere rum war, fragt ich Eden, ob ich's ihr nicht ins Geschäft bringen sollte. Aber der –: ne laß man, wir wollen ihr überraschen, wenn sie abends kommt. Ach Lieschen – richtig geweint hab ick vor Freude – und nu kommt sie nicht.

LIESCHEN.

Na, wird schon noch. Man stille. Is ja 'n weiter Weg vom Spittelmarkt und wer weeß denn ... Nu sag mal! Aber seht ihr's ... seht ihr's nun? Was hab ich immer gesagt? Wenn unser Kronprinz mal an die Regierung kommt, hab ich gesagt, denn könnt ihr wat erleben! Hab ich nu recht, oder hab ich nicht recht?

SOPHIE.
Ja, Ede sagt zwar ...
LIESCHEN.

Ne, ne, ne, ne, ne Tante! Daran kannst du nu bei mir nicht tippen. Alle Achtung vor Onkeln, [43] aber in der Beziehung, der jeht nu mal immer mit de Partei, und ich kann dir bloß sagen: mein Max, wat der Einjährige ist, den ich neulich bei Sterneckern kennen gelernt habe, der hat es mir ganz absolut klargelegt – und da mögt ihr nu reden, was ihr Lust habt ... und zumal Onkel: der muß ja nu eben alles schlecht machen, das gehört ja nun mal dazu. Nicht die Spur von Patriotismus. So is es!

SOPHIE.
Gott, ich hab ja auch gar nichts gegen. –
LIESCHEN.
Du, Tante: nu werden sie wohl bald heiraten?
SOPHIE
in Gedanken.
Ich denke. Ja. – Hm ...
LIESCHEN.
Na – wo doch damals schon alles so weit war. Ich meine – die Aussteuer und so – wie?
SOPHIE.

Ja, ja. Deutet auf den neumodischen, in die übrige Einrichtung nicht hineinpassenden Kleiderschrank, vorn rechts. Da! Alles da drin. Eins auf dem andern und alles fein gezeichnet. Wird wohl schon ganz gelb geworden sein. Sie hat den Schlüssel – aber in die ganzen zwei Jahre hat sie nichts angerührt.

LIESCHEN.
Hm. Na und die Betten? Die habt ihr wohl wieder verkauft?
SOPHIE
entrüstet.

Verkauft? Du bist woll ... Hast du 'ne Ahnung von wegen verkauft! Mit einer Bewegung nach hinten. Willst mal sehn?

LIESCHEN.

Ne laß man, glaub's schon. – Na also: da sind sie ja fein raus. Brauchen bloß wieder anzufangen, wo sie aufgehört haben. Sie haben ja auch beide lang genug warten müssen – der arme Kerl! Lauernd. Na, und Hanna?

SOPHIE.
Was denn?
LIESCHEN.

Na – ick meine man ... die hat sich doch ... die ist doch wohl ... in de Zwischenzeit 'n bisken ... verändert. Wie?

SOPHIE
seufzend.
Ach ja! – Wenn sie nur erst käme!
LIESCHEN.

Hm ... ja ... Ich habe gehört: um die Versammlungen und so ... soll sie sich ja gar nicht mehr kümmern. Wie?

[44]
SOPHIE.

Ach! Von gar nichts will sie mehr was wissen. Ede zankt mit ihr alle Naselang. Denk mal: Hanna, die doch früher immer so ... so sehr für sowat war – nich?

LIESCHEN.
Die – na ich danke! Also is se woll gar nich mehr in de Partei?
SOPHIE.

Ich weeß nich. Aus'n Verein ist sie raus. Allem niedergelegt; und mit ihre frühere Freunde und Bekannte überhaupt ... kommt sie schon gar nicht mehr zusammen. Die sind jetzt auch alle furchtbar tück'sch auf sie, kannst dir ja denken.

LIESCHEN.
Hast de Wörter? Kordial. Sie bummelt woll tüchtig, he?
SOPHIE
laut.
O nein! O nein!
LIESCHEN.
Na? Ick meene: Sie hat sich so'n bisken als Dame frisiert, wat?
SOPHIE.

Nein, nein. Was ich dir sage! – Wo denkst du hin! Wie die aufs Jeschäft is! Und sie ist jetzt sowas Besseres, mußt du wissen ... wie 'ne Direktrise oder so.

LIESCHEN.
Immer noch in die Kindergardrobe?
SOPHIE.

Immer noch. Na, was glaubst du wohl. Sie kauft jetzt auch ein für sie ... denk mal! Und die Modelle, die sie macht! Dadrauf kriegen sie immer die allermeisten Bestellungen. Na – sie verdient ja auch ein schönes Geld. Vierzig Dahler im Monat! Ja, ja, mein liebes Lieschen: das is 'ne Sache!

LIESCHEN.

Ja, ja ... Ja: bei euch überhaupt! Wie dabei Onkel noch 'n Nörgler is ... wo er doch selber so gut verdient und du hältst es so zusammen und das eine Kind hat er man und die ... Ne, weeßte: ich kann es einfach gar nicht begreifen. Demütig vertraulich. Du weeßte, Tante, sieh mal: Mutter, unsere jute arme Mutter, die sitzt doch nun immer so da und kann sich kaum rühren und reine gar nischt verdienen ... und der Richard is auch so'n Schlingel und manchmal hab'n wer, weeß Gott nischt zu knabbern un zu beißen und ... und es is doch nu mal deine Schwester, Tantchen ...

[45]
SOPHIE.
Ach, die arme Wally. Ja – ja ... Na aber verdienst du denn noch immer nichts?
LIESCHEN.

Ach jawoll! Aber unser Oller, der verflixte Kerl hat uns ja schon wieder fünf Pfennig von's Dutzend Kragen abgeknöppt! Wirklich – es lohnt sich nicht mehr anzufangen! Tantchen! Möch'ste uns nich auf'n paar Tage einen Dahler borgen? Wir haben wahrhaftjen Jott balde janischt mehr im Hause.

SOPHIE
sieht zu Lieschen hinüber.

Hm. Na – ich will dir was sagen. Morgen früh werd ich mal ran kommen und werd mal sehen, was die Wally braucht. Verstehste?

LIESCHEN.
Aber Tantchen ... weshalb ...
SOPHIE.
Wie? – Ja, weißt du: es is man bloß – du vergißt es vielleicht wieder.
LIESCHEN.
Wa ...
SOPHIE.
Ja, ja. So, wie neulich. Gott, das kann ja vorkommen. – Wally wußte von nischt.
LIESCHEN
verlegen, aber doch frech.

Ach – von wegen ... Schweigen. Lieschen sieht umher, sie bemerkt den Tisch mit Büchern am Fenster links, steht auf und geht hin. Was liegt denn da eigentlich alles rum?

SOPHIE.

Das? Ach, das sind Hannas Bücher. Weiß der liebe Himmel, was das alles für Zeug is. Ach ne! Wo das Mädchen aber auch bleibt!

LIESCHEN
bissig.

No – das wird doch woll keene so'ne jroße Seltenheit sind ... sie hat doch jedenfalls 'n Hausschlüssel!

SOPHIE
sofort pikiert.

Na sei du man ganz stille, weeßte. In dein'n Alter durft sie mir überhaupt noch nich for die Türe, verstehste.

LIESCHEN.

So so. Na ja – aber später, wie sie immer in die Versammlungen ging und so ... nich wahr? Und immer ihre klugen Reden hielt, von denen keen Mensch was verstand ... wie? Nu ja: du konnt'st ja doch nich immer mitloofen ... es wär dir als Mutter woll'n bisken schenierlich gewesen, wenn du ihr so bei ihre Predigten hätt'st zuhören müssen un ... un ... un – hätt'st schließlich ooch nischt verstanden!

[46]
SOPHIE
wütend.
Lieschen! – – Nu borg ich dir den Dahler grade nich!
LIESCHEN.
P – hö!
SOPHIE.

Wo sie nu schon ihre siebenundzwanzig Jahr alt ist, und überhaupt so'ne verständige Person, wie unsere Hanna! Wegen der brauchen wir gottlob um sowas keene Bange zu haben. Die is nich so ... daß sie mal heute mit dem und morgen mit dem looft, wie – andere.

LIESCHEN.
So, so. Na, du mußt et ja wissen.
SOPHIE.
Ja: das weeß ich ooch!
LIESCHEN.

Ja, ja: ick weeß ooch –: die brave Hanna, die brave Hanna! Hab't ja oft genug zu hören gekriegt ... solang ich mir besinnen kann –: da nimm dir mal 'n Muster dran! Was die ihre Eltern für Freude macht! So – und so – und so – der reenste Tugendbesen – na! –: ich will dir mal was sagen, Tante: ich rede gewiß keinem gerne was Schlechtes nach – und am allerwenigsten meiner leibhaftigen Cousine – a – ber: das muß ich dir denn doch sagen: mir machste nischt weiß – und bei die wird ooch man bloß mit Wasser gekocht!

SOPHIE
außer sich, stammelt.
Li ... li ... lieschen ...
LIESCHEN
läßt sie nicht zu Worte kommen.

Lauter. Und wenn unsereins wirklich mal mit einem looft – du lieber Gott, nun ja: was hat man denn sonst vom Leben – die – die – nun ja: die fährt freilich lieber! Is jesünder for die Stiebelsohlen!

SOPHIE.
Mächen, du ...
LIESCHEN
schneidet ihr frech das Wort ab.

Ja, ja, ja, ja – sei man ganz stille –: wat ick jesehen habe, det hab ick jesehn! Da is nischt zu wollen! Ich wollt's dir zwar eigentlich nicht sagen – aber wenn du mir so kommst – grade! Vorgestern abend war's ... zwar schon duster ... aber bei des Elektrische –: ganz genau hab ich sie gesehn: mit 'n Herrn in 'ne Kutsche – nich in 'ne Droschke – ooch nich in 'ne erste Jüte –: i Jott bewahre: is ihr [47] ja allens viel zu poplich – in 'ne – in 'ne Privat equipage!

SOPHIE.
Das ist nicht wahr.
LIESCHEN.
Das ist wohl wahr. Siehste!
SOPHIE
schreiend.

Nein: Das ist nicht wahr! Das hast du gelogen! Sowas tut unsere Hanne nicht.Weinerlich. Da sterbt se lieber! Schluchzt.

LIESCHEN.
Na, man sachte, was ist denn schließlich dabei? Ich –
SOPHIE
mit plötzlichem Ausfall.

Du, ja du ... du möcht'st woll gerne, daß sie ooch so'n Flittjen wäre – aber ne – ne! Gottseidank! Solche Streiche brauchen wir uns bei der nicht zu besehn. Ich weiß ja: Du – Es klingelt. Das ist sie! Das ist sie ganz bestimmt! Eilt nach rechts. Sie wird's dir schon besorgen! Sie wird's dir schon anstreichen. Ab.

LIESCHEN
gleichzeitig und nachrufend.

Int Jesicht sag ick's ihr ... int Jesicht! Sie wird mir doch nicht ausreden wollen, was ich mit diese beiden Oogen jesehen habe!

SOPHIE
kommt mit Hanna zurück, die sie förmlich ins Zimmer zieht.

Stell dir bloß vor! Hier – det Mächen! Hab' dir doch erzählt, wie sie neulich is gekommen und hat mir'n Dahler abgeknöppt –: »für ihre arme kranke Mutter!« Andern Tags komm ich hin –: keen Dahler un keen Liesken! Is de ganze Nacht nich zu Hause gekommen. So'ne Pflanze! Und heute kommt sie wieder ran, will wieder 'n Dahler ... und wie 'ch 'n nu nich jleich geben will, denn wozu? die Wally braucht'n doch wirklich – wird se tück'sch und kommt mir mit Spitzfindigkeiten und will mir ärgern. Und weeßte, was se sagt? Weeßte, was se sagt?! Sie hätte dir mit 'n Herrn in 'ne Kutsche gesehen, sagt se ... Und nich in 'ne Droschke, ooch nich in 'ne erste Jüte, ne ... stell dir vor –: in 'ne Privatequipage!


Pause.
LIESCHEN
trotzig.
Mit zwee Rappen.
[48]
SOPHIE.
Det freche Frauenzimmer! Wie sie lügt!
LIESCHEN
frech zu Hanna.
He? Is woll nich wahr? Vorgestern abend! Unter die Linden! – He?
HANNA
groß, schlank, brünett.

Sie trägt die etwas spröden Haare, ohne jede Stirnlocke, gescheitelt. Ruhige, selbstbewußte Haltung, große Schritte, Altstimme. Sie ist schwarz, mit Einfachheit gekleidet. Sie hat die Eigentümlichkeit, bevor sie spricht, die Person, mit der sie spricht oder der sie antwortet, erst einen Augenblick überlegend anzuschauen. Zu ihrer Mutter. Du willst, daß ich ihr antworte?

LIESCHEN
höhnisch.
Na nu ne!
SOPHIE
gleichzeitig.
Aber ... na – jewiß doch!
HANNA
richtet den Blick auf Lieschen.

Ja. Es ist richtig. Ich bin Donnerstag abend mit einem Herrn ... in dessen Wagen ... die Linden entlang gefahren.


Sie geht an ihr vorbei nach links, wo sie ihre Sachen ablegt.
LIESCHEN
zu Sophie.
Na? Wie steh ich nu da?
SOPHIE
furchtsam.
Hanna ... wie ... wie ...
LIESCHEN
schneidend.
Da wird sich Konrad Thieme aber freuen!
HANNA.
Dem werd ich es schon rechtzeitig schreiben!
LIESCHEN
lacht hell auf.
Kannst'n ja och telephonieren.
SOPHIE.

Aber Kind, so ... so sprich doch, erkläre uns doch ... was soll denn Lieschen denken, wofür soll sie dich denn halten?

HANNA.
Was sie mag. Für ihresgleichen.
LIESCHEN
wie geohrfeigt, in heller Wut.

Was? Wie? Für meinesgleichen? Bitte, liebe Cousine, willst du mir mal erklären, was du damit sagen willst! Ja?

HANNA
zu Sophie.
Mutter! In Lieschens Gegenwart ... erlaß mir –
LIESCHEN
schneidend dazwischen.

Ach so, ja ja – versteh schon! Mich kann sie eben nicht dumm machen. Wir kennen den Rummel! Aber siehste! Det is es ja grade, worüber ick mir immer so schauderös ärgern muß! Dies Vornehmtun und dies – immer will se was Besseres rausbeißen und spielt sich uff wie 'ne [49] Jeborne! Ä! Ick gebe mir wenigstens for das, was ick bin, und habe mich nich so und mache aus meinem Herzen keene Mördergrube. – Aber laß man jut sin, Cousinchen, laß man jut sin –: wenn Konrad jetzt kommt, dem wer ick's schon stecken! Gleich heute! Auf der Stelle!

HANNA
verliert ihre bisherige Fassung.
Was ... heißt das?
LIESCHEN
triumphierend.

Ja, ja: Cousinchen: Konrad Thieme, dein Bräutigam Konrad Thieme! Ganz glücklich bin ich, daß ich die erste bin, die dir die frohe Nachricht bringt ... Jede Minute kann er jetzt hier hereinkommen: jede Minute! Zu Sophie. Siehst es, Tante, siehst es: das böse Gewissen! Das paßt dir woll nich – he? Du hättst'n woll nich begnadigt – was? Hättst'n lieber noch'n Jährchen brummen lassen – wie? Ja! – Ach ja! Spazierenfahren is ja so'ne schöne Sache, so'ne schöne Sache! – Aber dem soll 'n Talglicht ufjehn.

HANNA
furchtsam, leise.
Mutter – ist das – wahr?
SOPHIE
nickt traurig und beobachtet sie.
HANNA
zuckt zusammen.
SOPHIE
erschreckt aufschreiend.
Hanna!
LIESCHEN.

Ja ja: Kannst ruhig glauben, was ich dir sage. – »Unangenehm« – was? »Es ist im Leben häßlich eingerichtet« ...

SOPHIE.
Sie müßten schon längst zurück sein. Wir – wollten dich – überraschen.
LIESCHEN
lacht, schickt sich zum Gehen an.
HANNA
greift ebenfalls nach ihren Sachen.
Dann muß ich ...
SOPHIE
in Schluchzen ausbrechend.
O mein Gott, mein Gott ...

Läßt sich auf einen Stuhl fallen.
HANNA
bleibt mit sich kämpfend in der Mitte der Bühne stehen.
Sie richtet den Blick voll Verachtung auf Lieschen.
LIESCHEN
vor diesem Blick zurückweichend.

Na, nu kann ich ja gehn. Jetzt wird mir die Jeschichte zu plümerant. [50] Will det Wiedersehn nich stören ... Aber das wollt ich ja bloß sagen: man soll nicht mit Steine schmeißen, wenn man selber mang die Fenster sitzt. – Tjöh.


Es antwortet ihr niemand. Sie geht rechts ab. Pause.
HANNA
nähert sich langsam ihrer weinenden Mutter und legt die rechte Hand auf ihre Schulter.

Mutter. Liebe Mutter – weine doch nicht! – Ich weiß – was ich getan habe. Hab es auch gewußt – als ich es tat. Ich bereue nichts. Ich kann mich durchaus verantworten – vor mir selber. Hoffentlich auch vor dir, nur ... nur jetzt ... nach dem Ton, den Lieschen angeschlagen hat ... ich muß mich erst wieder ... zurechtfinden. Und dann .. ist auch jetzt keine Zeit, dir das alles zu erklären. Lebhaft. Mutter, liebe Mutter: ich bitte dich: laß mich ... ihm aus dem Wege gehn, heute den ersten Abend ... laß mich! Es ist besser.

SOPHIE
sieht mit einem durchdringenden, forschenden Blick zu ihr auf.
HANNA
kniet nieder, angstvoll.

Oh! ... Denke nicht schlecht von mir, Mutter! Mach mich nicht irre an mir! Hörst du? Nur das nicht! Du hast mir ja immer vertraut ... sonst ... allezeit ...

SOPHIE.
Ja – immer – bis heute.
HANNA.

Mutter! Um Gottes willen, sprich nicht so! Sprich nicht so! Wenn du mich dahin brächtest ... daß ich bereute ... Mutter!

SOPHIE
fährt in die Höhe.
Horch! Kommen sie nicht? Geh zur Tür, geh!
HANNA
springt auf, nach rechts, horcht hinab.

Man hört eine Tür ins Schloß fallen. Nein. Nichts. Es war unter uns. Alles still. – Es ist noch Zeit –

SOPHIE.
Noch – Zeit?
HANNA.
Ja. – Du sagst, Tante Wally wäre kränker geworden ... ich müßte bei ihr wachen. Später, morgen ...
SOPHIE.
Hanna! – Du traust'n dir nich in die [51] Augen zu sehn – und du willst ein gutes Gewissen haben?
HANNA.

Quäle mich doch nicht so furchtbar! – Wie für sich. Gewiß! Ja! Ich habe ein gutes Gewissen. Ein neues vielleicht, aber ... Ja! – Und dies ist nun der Kampf mit dem alten. Damit muß ich fertig werden, ich wäre ja sonst ... Mit einer abweisenden Gebärde. Nein! Es ist ja nur ... Ich habe noch nicht den rechten Mut ... diese dumme Überraschung, daß man so gar nicht daran dachte ... und noch dazu diese rohe Art, in der es einem mitgeteilt wurde ... Ich muß mir nur – Mit gesunkener Stimme. selber treu bleiben. Fest. Das ist alles!


Man hört plötzlich Lärm im Treppenhaus. Hanna, welche die letzten Worte eben noch mit einer erzwungenen Festigkeit gesprochen hat, fährt, ganz unvermittelt, jäh zusammen und beginnt vor Angst zu zittern. – Draußen lauter werdende Schritte.
SOPHIE.
Nun – mußt du wohl dableiben. Mit traurigem Spott. Oder willst du dich vielleicht verstecken?
HANNA.
Mutter –

Man hört, wie die äußere Korridortür geöffnet wird.
EINE TIEFE BASSSTIMME
draußen.

Nu noch einmal: Unser hochverehrter Freund und Genosse, der Strafgefangene a.D. Konrad Thieme – er lebe hoch, und abermals hoch – und zum drittenmale: hoch!Lachen, dann Hochrufe.

EINE SINGENDE STIMME.
»Ein Sohn des Volkes will ich sein ... will ich sein ... und bleiben!«

Alles fällt brüllend ein. Dann zahlreiche: »Pst!« »Pst!« »Ruhe!«.
KONRADS STIMME.
Danke, Genossen, danke, danke! Nu – aber nu – lebt wohl!
EDUARDS STIMME
einfallend.
Ne, so kommt doch mit rein! Ach was ... Immer rin in die gute Stube.
VERSCHIEDENE
durch Lachen unterbrochen.
Ne, ne, ne. Was würde deine Hanna sagen! Ne, ne ...
KONRADS STIMME
einfallend.
Ne, ne! Ich bin auch zu –
EINE BREITE STIMME
fast gleichzeitig.
Anjegriffen – wat? Gelächter.
[52]
KONRAD.
Na ja denn – gut. Gut' Nacht!
DIE STIMMEN
durcheinander.
Gut' Nacht! Viel Vergnügen! Gut' Nacht!

Verlieren sich.
Man hört, wie die äußere Korridortüre geschlossen wird. Während des Vorgangs draußen, spielt sich auf der Szene folgendes ab.
HANNA
steht angstvoll lauschend da.

Sowie sie Konrads Stimme hört, flüchtet sie in unwillkürlicher Angst zu ihrer Mutter. Flüsternd. Er ist es.

SOPHIE.

Ja. Bitter. Du hast wirklich nicht den rechten Mut. – Hast du das gehört: »Was würde deine Hanna sagen!«

HANNA
rafft sich auf.

Wir – müssen ihnen entgegengehen. Sie ringt nach Selbstbeherrschung und geht auf die Tür rechts los. Sobald sie mitten auf der Bühne angelangt ist, fliegt die Tür auf.

KONRAD
stürmt hinein.
EDUARD
erscheint hinter ihm in der Tür.
HANNA
bleibt fest an ihrem Platze.
SOPHIE
erhebt sich und geht den beiden entgegen.
KONRAD
mit ausgebreiteten Armen auf Hanna los, ekstatisch.
Hanna!
HANNA
weicht unwillkürlich ein wenig zurück.

Dann aber reicht sie ihm mit anscheinender Ungezwungenheit beide Hände. Leise. Konrad – willkommen! Will – kommen. Wie ... Welche ... Sie stockt. Einen Augenblick atemlose Pause.

KONRAD
hält Hannas Hände fest und beschaut sie erstaunt und bewundernd.
Sie senkt den Kopf.
SOPHIE
vortretend.
Welche Freude – meint sie.
EDUARD.
Ja, ja! Das is mal 'ne Überraschung! He? Die is nich von schlechten Eltern! Lacht dröhnend.
KONRAD
zu Sophie.

Ach – Frau Jagert! Na – da sind Sie ja auch wieder! Und sehn so gut und so gesund aus – ganz die Alte!

SOPHIE.
Ach ja – man wird alt. Aber kommen Sie ...
KONRAD
fröhlich.

Ne ... ne: Sie wollen mich bloß nich verstehn. Von wegen alt! – Keene Spur! Ich[53] meine nur: unverändert, ganz unverändert – wie vor zwei Jahren. Schaut sich um. Hier – hier ist über haupt alles unverändert! Wie – Hanna?

HANNA
versucht zu sprechen – schweigt – schüttelt den Kopf.
SOPHIE
gleichzeitig mit Eduard.

Ach ne, was denken Sie woll, Konrad. Hanna ist viel weitergekommen! Viel weiter! Hat sie Ihnen denn das nicht geschrieben? Sie ist zwar noch immer bei Lorenzen, aber ...

EDUARD
gleichzeitig beginnend.

Glaub nur sowas nich. Die is überhaupt – na! – Die is 'ne ganz andre geworden, die versteht keen Mensch mehr! Natürlich – was so'n Gelehrter ist, wie du – du wirst vielleicht dahinter kommen. Geld? O ja! Hat sie immer! Darin is se groß! Aber – denkt nur noch an sich – nur noch an sich, sag ich dir! Kooft sich Bücher, jeht ins Theater! Un bekieckt sich von innen. De Partei – nich sehn – nich in de Hand! Ja – ja! Na – aber komm! Setz dir mal erst hin. Du wirst schön müde sein. Geleitet ihn an den Tisch. Hier! Hier in de Sofaecke! So. – Willste was trinken?

SOPHIE.
Oder essen?
KONRAD
zerstreut, blickt nach Hanna.
Danke. Danke. Habe ja erst vorhin ... auf dem Bahnhof ... Setz dich doch hierher, Hans.
HANNA
setzt sich schweigend auf den Stuhl neben ihm.
KONRAD
nimmt ihre Hand und streichelt sie.
Nu ...? Sieh mich doch mal an ... ist es so?
HANNA
sieht ihn an.

– Ja. Ich – an all das – ich glaube nicht mehr recht daran. Das heißt – daß wir es noch erleben müßten. Sieh mal ...

EDUARD
brummig.
Hm? Und deshalb legt'se die Hände in'n Schoß. Schöner Grund!
HANNA.
Ich – meine: ich tue vielleicht viel mehr, wenn ich ... an mir, an mir selber ... arbeite ...
EDUARD.
Ja, ja – »man lebt bloß enmal« – nicht wahr?
HANNA.

Der einzelne Mensch – ja. Und der hat [54] vielleicht ... auch seinen Wert. Etwas lebhafter. Denn weißt du: das hab ich nun wirklich erfah ren –: die Menschen im allgemeinen werden nicht besser dadurch, daß sie die Macht bekommen.

KONRAD.

Hans! Siehst du! Da erkenne ich dich so recht dran wieder! Immer tüfteln und spintisieren! Ach ich merk schon: das ist alles nur halb so schlimm: du bist doch immer noch meine alte, kreuzbrave und kluge, riesig kluge Hanna – wie?

SOPHIE.

Ach, Konrad: sehn Sie: die Hauptsache is ja nur: sie hat ja zu viel Ärger gehabt. Wissen Sie: so 'ne Jemeinheiten, wie da immer vorgekommen sind ... na! Ich kann's ihr nich verdenken.

EDUARD.
Ach Unsinn!
KONRAD
zu Hanna.
Wirklich?
HANNA.

Ja – laß mich mal reden! – Sieh mal: wenn man schnell vorwärts geht – irgendwohin, auf ein bestimmtes Ziel los, das ganz nahe ist – oder man glaubt es wenigstens ganz nah – dann achtet man ja gar nicht so auf den Weg – man ... geht eben frisch drauf los. – Aber wenn man nun auf einmal merkt oder erfährt: das ... das Ziel ist gar nicht nahe – es ist noch weit, meilenweit – oder? – es gibt womöglich gar kein Ziel? – dann, siehst du, dann – bekümmert man sich plötzlich auch um den Weg – auf dem man geht. Und wenn man dann findet, daß der schmutzig ist – na! ... Und doch! Du hast im Grunde ganz recht, ich bin gewiß dieselbe geblieben, wie früher, nur –

KONRAD.
Hm?
HANNA.
Ich meine –: wenn man sich daran gewöhnt, über alles selber nachzudenken ...
EDUARD.

Na ja! Da hast es! Det is so die rechte Höhe! »Über alles selber nachdenken!« Na, ick danke! Wenn das alle machen wollten – da könnte wat Nettes bei rauskommen!

KONRAD.
Aber laß sie doch aussprechen. Nun? Also, was ist dann, wenn man sich daran gewöhnt hat?
[55]
HANNA.
Dann – nun, dann kommt man leicht zu neuen Ansichten – über –
KONRAD.
Worüber?
HANNA.
Über alles. Über das ganze Leben ... Verlegen. und so ...
KONRAD.
Aber – es gibt doch auch – Sachen, denk ich, die – na, die nicht »Ansichtsachen« sind – wie?
HANNA
sieht ihm ins Gesicht.
Nach kurzem Nachdenken. Nein.
KONRAD
will sprechen, schweigt betroffen.
EDUARD.

Na nu hört aber mal auf! Klugschmusen könnt ihr immer noch! Sehe gar nich ein, was ihr euch gleich in der ersten Stunde in so'n ungemütliches Gerede rinredet. – Zu Konrad. Komm mal hier!


Er steht dem Sofa gegenüber vor dem Tisch. Er winkt Konrad, aufzustehen und sich neben ihn zu stellen.
KONRAD
indem er gehorcht.
Was soll ich denn?
EDUARD
legt ihm die rechte Hand auf die Schulter und zeigt mit der linken auf den Stahlstich, ein lebensgroßes Porträt Lassalles.
Sieh mal da! Pathetisch. Dein Mobiliar!
KONRAD
erfreut.
Wahrhaftig! Da hängt es!
EDUARD.
Mehr haste nich jehabt.
HANNA
versucht sich zu entfernen.
SOPHIE.
Hanna, leucht doch mal!
HANNA
hält die Lampe in die Höhe.
KONRAD.
O! Und einen neuen Rahmen scheint mein Mobiliar auch gekriegt zu haben.
EDUARD.
Na, natürlich. Das war ja nischt mit dem alten. Aber fein jetzt – was?
KONRAD.
Sehr ...
HANNA
stellt die Lampe wieder hin.
EDUARD.

In Plötzensee hatten sie dir woll keinen Lassalle an de Wand jehangen – was? Ja, ja! Darin sind se komisch! Was 'n richtiger Zimmerschmuck ist – davor haben se keen Verständnis. Das kann man nur zu Hause haben – bei Muttern.

KONRAD.

Ja freilich – zu Hause ... Er faßt wie dankend Eduards Hand und drückt sie. Leise. Zu Hause. [56] Seufzt. Aber Hanna – soll ich dir was sagen? Ich glaub es nicht. Ich – fühle mich doch noch nicht so recht – so wirklich zu Hause – eh du mir nicht ... erst wieder ... einen Kuß gege – Da Hanna eine plötzliche Bewegung des Schreckens macht. Hm? Was meinst du?

SOPHIE
nähert sich ängstlich und will sprechen.
Auf einen fragenden Blick Eduards hält sie jedoch plötzlich inne.
HANNA
tritt mit niedergeschlagenen Augen langsam näher.
Schweigend bietet sie sich ihm an.
KONRAD
hat sie in atemloser Spannung beobachtet.

Plötzlich laut, freudig. Hanna! Er umfaßt sie leidenschaftlich und küßt sie wiederholt. Du – ach du! – du bist es ja doch noch! Meine Hanna, meine ... meine ...

HANNA
wird sich in seiner stürmischen Umarmung ihrer unsittlichen Feigheit bewußt.

In größter Scham und Aufregung macht sie sich gewaltsam von ihm los. Keuchend. Laß mich ... laß ... Eilt nach hinten.


Pause.
KONRAD
bleibt starr vor Staunen stehen, sieht ihr nach und blickt dann die beiden Alten fragend an.
Heiser. Was – was bedeutet das?
EDUARD
unwirsch.

Weiß ich's – was die wieder im Schädel hat! Ich sage ja –: kein Mensch wird mehr klug aus ihr. Überspanntes Frauenzimmer! Deutet auf die Stirn. Hier! Verstehste? Heiraten muß se. Is die höchste Pferdebahn! Geht durchs Zimmer. Sein Ärger wächst.

SOPHIE
macht sich verlegen zu schaffen.
EDUARD.

Aber laß man gut sin! Wir werden ihr schon Räson beibringen! Deuwel auch! Was sich so'n Frauenzimmer einbildet! Zu Sophie, barsch. Ruf sie rein!

SOPHIE
bittend.
Ach, Ede: willste ihr nicht ... Laß se doch man lieber zufrieden. Ihr fehlt jewiß wat.
EDUARD.
Ruf sie rin! sag ich. Paßt sich nicht: – so wegzulaufen. Keene Manier!
SOPHIE
geht zögernd nach hinten zur Tür.
KONRAD.
Na, aber – wenn deine Frau meint, wollen wir sie nicht doch lieber erstmal ...
[57]
SOPHIE
bleibt nah der Tür stehen.
KONRAD.
Ich meine –: sie ist vielleicht nur so überrascht, so ... ihre Nerven –
EDUARD
aufbrausend, höhnisch wütend.
Nerven?Gebieterische Handbewegung zur Tür.
SOPHIE
ab.
EDUARD
durchs Zimmer gehend.

Ooch noch! Ne, mein Junge! Det jibt's nich! Hier bei mir zu Hause, weeß man, Jottlob, noch nischt von de Nerven. Weibermucken! Sowas müßte erst injeführt werden. – Hier heißt et parieren, verstehste! Parieren – und damit Schluß! So setz dich doch! Rückt mit einer unwillig heftigen Bewegung einen Stuhl zurecht und setzt sich. Stopft sich eine kurze Pfeife. Pause.

KONRAD.
Wieviel – verdient Hanna jetzt?
EDUARD.
Ach – und wennse tausend Dahler verdiente ... Dat sind so'ne Ideen!
KONRAD.
Aber ...
EDUARD.

Weß schon! Weß schon: du bist auch so einer. Wie der Wilke ... quatscht ooch immer 'ne Naht zusammen von de »Frau – en – emen – zipa – tzion«! Ja – Kuchen! Möchte mal wissen, was das mit die Arbeitersache zu tun hat. Das einzige –: sie drücken die Löhne. Pä! Was gehen uns die Weiber an.

KONRAD.
Na, aber hör mal ...
EDUARD.

Ne, weeßte: damit mußte mir nu nich kommen. – Später – wenn du mal so weit bist und die Hanna ist deine Frau – na, denn kannst es ja halten wie der Pfarrer Aßmann ... denn kannste se meinswegen in Hosen rumloofen lassen. Lacht ingrimmig und steckt sich seine Pfeife an. Pä!

KONRAD.
Na, weeßte – mir is es nich zum Spaßen.
EDUARD.
Na, denkste vielleicht mir?

Pause.
KONRAD
setzt sich hinter den Tisch.
EDUARD
sitzt vorn.
Er trommelt mit der linken Hand auf den Tisch, von Konrad abgewandt.
KONRAD
aus seinen Gedanken heraus, indem er mit der Hand [58] auf den Tisch schlägt.

S' is doch kein Kind mehr! Mit ihre siebenundzwanzig Jahr ... Und hat im kleinen Finger mehr Verstand, wie so'n Dutzend werte Jenossen in ihre sämtliche Dickschädel! – Na also! Wo darfste die denn nu so mir nichts dir nichts kommandieren wollen wie'n Lehrjungen!

EDUARD.
Ich bin ihr Vater. Basta.
KONRAD.

Aber Mensch! Wie kannste nu so was sagen! Also deshalb bist du ihr Herr!? Das is doch nichts Natürliches! Das is doch nur 'ne Folge von ganz schauderöse ökenomische Zustände! Grade von solche Zustände, wie wir sie umschmeißen wollen. Verstehste denn das nich?

EDUARD
paffend.
Ne – ganz und gar nich.
KONRAD.

Na aber! Bedenk doch mal! Sieh mal: die Hanna ... die kann doch sehr schön leben – nicht wahr? Du gibst ihr doch nichts dazu. – Na also. So is es doch bloß ihr guter Wille und weil sie euch gern hat und sie ist es auch so gewohnt – sonst – sie kann doch jede Stunde auf und davon gehn ... und was willste denn da machen? Das ist doch 'ne ganz andre Sache, wie mit so'ne Bur schoatochter. Die natürlich hat nichts gelernt und hat von der ganzen Welt keine Ahnung. Und wenn sie nicht zufällig einer nimmt und macht se zur Gnädigen ... und der Vater macht mal die Augen zu – nu ja: dann sitzt sie da mit die Talente und mit's Klavierspielen, und kann froh sind, wenn sie noch irgendwo so als alte Junfernante unterkriechen kann. – – Siehste: bei so einer hat's en Sinn, wenn sie auch noch als 'ne ganz alte Schachtel Vatern parieren muß, wie 'n Rekrut. Was soll se denn machen? Se muß doch leben! – – Aber sind denn das etwa Verhältnisse, wie wir sie wollen? Ich dächte, da hätten wir sie selber schon besser. Denn das sind doch verrückte, das sind doch jradezu blödsinnige Zustände und so'n armes Mädchen kann einem doch bloß leid tun. Wie?

[59]
EDUARD
raucht schweigend.
KONRAD.

Freuen solltste dich, daß die Hanna so ganz anders dasteht! Siehste: das ist ja das Beste an ihr: diese Selbständigkeit! Das ist es ja grade, was ich so riesig an ihr verehre! Jawohl: verehre!

EDUARD
verstockt.
Na – ich danke.
KONRAD
hitzig.
Was denn! Das mußt du doch einsehen!
EDUARD.
Ne – das will nu jarnich in meinen verfluchten alten Schädel rin.
KONRAD.
Aber –
EDUARD.

Ja, ja – du kannst ja lange reden, eh mir was gefällt. – Meine Meinung is nu mal: Familie bleibt Familie – ob sie nu reich is – oder arm. Sonst hört ja alles auf. Du bist en Umstürzler.

KONRAD
steht auf.

So! – Und meine Meinung is: tyrannisieren bleibt tyrannisieren, ob's nu von so'n Landjunker jemacht wird ... mit de Hundepeitsche .. oder von 'n Vater, der sich einbildet Sozialdemokrat zu sein –

EDUARD
gereizt, steht ebenfalls auf.
Nu hör aber auf! Deuwel auch, das ist ...
KONRAD
jähzornig.

Ach was: »Deuwel auch!« ... Spießbürger seid ihr! Spießbürger alle zusammen, aber keine Sozialdemokraten!

EDUARD
vor Wut sprachlos.
KONRAD
in großer Erregung.

Es ist wirklich ... es, es kommt wie gerufen! Gleich am ersten Tage ... gleich in den ersten Stunden ... wo ich noch kaum raus bin aus dem Kasten ... gleich muß ich es wieder so recht mit Händen greifen ... dieses jammervolle Philistertum, dieses, dieses ä! Das kann ich dir sagen, Jagert –: hält ich vor fünf Jahren, wo ich in die Bewegung eintrat, all das gewußt, was ich jetzt –


Man hört im hinteren Zimmer einen Stuhl fallen. Konrad hält inne und sieht nach hinten.
HANNA
erscheint, hastig.
Sie trägt eine Reisetasche, die sie auf einen Stuhl stellt.
[60]
SOPHIE
kommt weinend hinter ihr her.
EDUARD
hat während der letzten hitzig hervorgestoßenen Worte Konrads verschiedentlich zum Sprechen angesetzt.

Durch das plötzliche Geräusch und das Auftreten Hannas ist auch er abgelenkt. Zu Sophie. Na, was is denn?

SOPHIE
flehentlich.
Laß sie zu Bett gehen, Ede! Bitte! Sie ist krank. Sie weiß gar nicht, was sie will, sie ... sie ...
KONRAD
hat ausschließlich Hanna beobachtet.
Er tritt ihr näher. Hanna – du – hast mir was zu sagen.
HANNA
sehr bleich, aber fest und sicher.
Sie erwidert seinen Blick und hält ihn aus. – Ja!

Pause.
HANNA
kommt langsam nach vorn.

Es war feige von mir .. vorhin, mein Benehmen. Wie die Dinge nun einmal liegen muß ich ... Aber glaube mir: es gehört Mut dazu. – Daß ich dir nicht ins Gefängnis geschrieben habe ... das wirst du wohl verstehn. Wir dachten ja alle, du würdest noch ein Jahr dort bleiben, und da wollt ich dir erst schreiben ... kurz vor der Entlassung ...

KONRAD
vor Angst bebend.
Leise. Hanna!
HANNA
ringt mit ihrer Kraft.
EDUARD
schlägt sich vor den Kopf.
Bin ich denn verrückt? Wo zum Deuwel soll denn das hinaus?
HANNA
mit einer ruhig abwehrenden Gebärde, den Blick auf Konrad gerichtet.
Laß mich jetzt, Vater! Erinnere dich, Konrad, wie es damals –
KONRAD
von einer plötzlichen Schwäche befallen, muß sich an den Tisch stützen.
HANNA
mitleidig.
Ach, siehst du – dir ist nicht wohl. Mutter ...
SOPHIE
jammernd.

Könnt ihr's denn nu wirklich nich bis morgen lassen. Konrad, Sie haben doch heute nun schon so ville durchgemacht ...

KONRAD
energisch.
Nein, nein, nein. Sprich nur: sprich nur weiter! – Also: woran soll ich mich erinnern?
[61]
HANNA
zögernd.

Daran, wie ... es damals eigentlich war. Ich meine: wie es so zugegangen ist ... daß wir uns ... verlobten.

KONRAD
der sich im folgenden mühsam aufrecht erhält, nervös.

O das weiß ich, das weiß ich ... Ich habe Zeit gehabt ... ich habe auch Gelegenheit gehabt ... darüber nachzudenken ... Nu?

HANNA.

Damals, wo ich noch so ganz und gar im Parteileben aufging – kaum etwas anderes kannte – da warst du für mich – ein Genösse. Ein Genösse, für den ich die größte Verehrung hatte, den ich als seine Schülerin bewunderte. Dagegen – als Weib ...

KONRAD.
Nun – »als Weib«?
HANNA.

Ach, Konrad: es ist so furchtbar schwer ... für zwei Menschen ... sich zu verständigen ... nach Jahren, wenn der eine sich während der Zeit weiter entwickelt hat ... und der andere ...

KONRAD.
... ist der alte geblieben. Ja.
HANNA.

Also sieh. Das hab ich dir ja auch damals nie verhehlt, daß ich nicht so wie du ... Ich dachte eben: ich wäre darin überhaupt anders, und solche leidenschaftlichen Gefühle wären mir nun mal versagt. Das glaub ich auch jetzt noch, und: ich bin darin immer ehrlich gewesen ... gegen dich – und gegen mich auch.

KONRAD.
– Ja.
HANNA.

Nun waren wir aber zusammen tätig ... für dieselbe Sache ... mit denselben Idealen ... und dazu –: unter demselben Druck. So rückten wir zusammen und gewöhnten uns aneinander. Und weil wir so vieles gemeinschaftlich hofften, fürchteten und liebten – vergaßen wir wohl, daß es sich um etwas anderes, Drittes, um etwas außer uns handle – und nicht um uns selber. Verstehst du mich?

KONRAD.
– Ja.
HANNA.

Es ist nötig, Konrad, daß du mich verstehst. Sieh: du warst mein Kamerad ... fast stets mein Nebenmann ... in all der Arbeit, die wir beide[62] für etwas Hohes, für etwas Heiliges hielten. Und wie sah ich zu dir auf, zu deinem ehrlichen, unerschütterlichen Mannesmut, zu deinem festen Glauben – ja! –: zu dem besonders! Der war mir das Wertvollste.

KONRAD.
– Weiter.
HANNA
leise.
So ... haben wir uns verlobt.
KONRAD
krampfhaft, heftig.

So? Nein! So nicht. Ich nicht! Ich ganz gewiß nicht! Bei mir ging's nicht so vornehm zu. Viel gewöhnlicher, viel einfacher. Ja – ganz simpel! Du mußt es wirklich schon verzeihn: ich – ich verliebte mich in dich – ich! Nimm's nicht übel. Das war ja damals, damals ... und ich habe mich inzwischen nicht so – entwickeln können – wie du!

HANNA.
Konrad! Du –
EDUARD
zu der leise schluchzenden Sophie.
Laß das Heulen! Verdammt! Paß auf! Hier kannst du was lernen.
KONRAD
immer nervöser.

Aber natürlich: du – du bist über so was erhaben! Was wäre denn das so Besonderes! Eine ... Liebe ... eine einfache natürliche Empfindung ... I Gott bewahre! So was hätt'st du ja schließlich mit jedem andern Frauenzimmer gemein – und Hanna – Hanna muß doch was Apartes haben. Hanna kann doch nicht ...

EDUARD
einfallend.

Siehste! Siehste! Da hast es mit deiner Selbständigkeit! Jawoll! hochnäsig! hochnäsig – und dabei kalt wie 'ne Hundeschnauze ... Da hast es!

KONRAD.
Und ... und ... ist das nun alles?
HANNA
leise.

Nein. – – – Vor einem Jahr etwa ... lernte ich einen Mann kennen. Der hat mich nach und nach zu einem ganz – ganz anderen Menschen gemacht. Und – ich habe mich ihm mit Leib und Seele hingeben müssen. Er ...

KONRAD
schlägt ein lautes Gelächter auf, aus dem er allmählich in ein krankhaftes Weinen übergeht.
HANNA
ohne jemanden anzusehn, wie für sich, bekennend, fest.
Ich tat, was ich mußte. Ich konnte nicht anders.
[63]
EDUARD
packt Sophie am Arm und schüttelt sie.
Hast es gehört, Alte? Hast's gehört? Schämst du dich nicht? Es ist deine Tochter!
KONRAD.

Betrügen! Mich zu betrügen, während ich ... während ich ... Oh wie niedrig! ... Also das war es! Das! Dazu die vielen klugen Worte! Weiß Gott, ja: du hast viel Verstand! Du bringst es fertig, die größten Gemeinheiten vor dir selber zu rechtfertigen! Das bringst du fertig. Rauh. Wer is es? Wie heißt er? Kenn ich ihn?

HANNA.
Nein.
KONRAD.
Na – was nich is, kann ja noch werden. Also, wie heißt er?
HANNA.
Könitz ... Alexander Könitz.
KONRAD.
Und was is er?
HANNA
zögernd.
Er ... er ist Chemiker.
KONRAD.

Chemiker? Chemiker. Nu ja ... aber, was, was heißt das? Wo arbeitet er denn? In welcher Fabrik, oder – – – He?

HANNA.
Er hat ... selber eine ... Fabrik.
KONRAD.

Hat se ...? Fa – brikbesitzer?!Einen Augenblick sprachlos. Dann mit tollem, rohem Lachen, brutal. Bravo! Vorzüglich! Fabrikbesitzer! Auch das noch! Also daher das viele Geld – verkauft hast du dich, richtig verkauft! Na ja –: deinen Bräutigam hielten sie ja fest – der saß. Da bist du – zu ihnen hingegangen und, und ... und hast dir eine Mitgift verdient, du ... In sinnloser Wut auf sie los. du ... Er hebt die Hand gegen sie. Sie sieht ihn ruhig an. Er taumelt plötzlich. Kreischend. Eduard! Er fällt.

EDUARD
springt ihm bei und fängt ihn auf.
SOPHIE
losjammernd.
Ach Jott, ach Jott, ach ...
EDUARD.
Wasser, Alte.
SOPHIE
läuft nach hinten ab.
HANNA
hat bereits vom Tisch die Karaffe geholt und will sie ihrem Vater reichen.
Hier!
EDUARD
stößt sie roh zurück.
Weg! Weg, du ... Er schlägt ihr die Karaffe aus der Hand, daß die auf der Erde zerschellt.
[64]
SOPHIE
kommt mit dem Waschbecken und einem Handtuch.

Weinerlich. Ne, ne ... was er aber auch heute schon alles hat durchmachen müssen ... ne, ne ... Sieht die Scherben. Ach Gott, was is denn das nu wieder .. Sucht die Scherben zusammen.

EDUARD
legt Konrad ein nasses Handtuch auf die Stirn.
Zwischen den Zähnen. Armer Kerl! So'n Luder ...
HANNA
hat sich zum Fortgehen angezogen, die Reisetasche genommen.
Leise, fast demütig. Mutter, adieu ...
SOPHIE
zittert, aber wendet sich nicht um.
HANNA.
Mutter ...
EDUARD.
Raus mit dir!
SOPHIE
wendet sich unwillkürlich nach Hanna um.
Als diese sich aber nähern will, streckt sie beide Hände wie abwehrend gegen sie aus.
HANNA
in großem Schmerz.
Mutter!
EDUARD.
Er kommt zu sich! – Hinaus, sag ich!
HANNA
tonlos, wie gedankenlos.
Hinaus. Sie zuckt heftig zusammen und geht schnell rechts ab.
SOPHIE
bricht, sobald Hanna die Tür zuschlägt, in ein bitterliches Weinen aus.
KONRAD
zu sich kommend.
Hm, hm ... Wer ... weint da?
SOPHIE.
Ich ...
KONRAD.
Wo ... wo ist ... Hanna?
EDUARD
ihn aufrichtend.
Fort. – Komm! Wir wollen nicht mehr an sie denken.
KONRAD
matt.
Doch – doch. Ich ... habe noch mit ihr ... abzurechnen. Und mit ihm – auch!

Vorhang.

2. Akt

[65] Zweiter Akt

Szene: Hannas Kontor.
Durch große Glasschiebetüren sieht man in den hinter dem Kontor liegenden, sehr tiefen Entresolraum, das Arbeitszimmer; und durch die bis zum Boden hinabreichenden Entresolfenster des Hintergrundes hinaus auf die gegenüberliegenden Häuser der Straße. – Das Kontor ist ohne Eleganz, aber streng gediegen eingerichtet. Rechts in der Ecke Schreibtisch und Geldschrank, links ein ledernes Ecksofa mit Tisch. – Vorn ist es schon dunkel; rechts über dem Schreibtisch brennt eine Gasflamme. Auch im Arbeitszimmer brennen schon einige Flammen, während es hinten an den Fenstern noch hell ist.

BERNHARD
fertig zum Fortgehen, steht in der Mitte der Bühne.
Verlegen. Ja ...
HANNA.

Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr von Vernier. Ich möchte Sie nicht zu einem Fanatiker der Arbeit machen. Sie gibt's genug. Mehr als genug. Nur ...

BERNHARD.
Bitte, Fräulein Jagert! Sprechen Sie's nur aus! Ich bin Ihnen ein bissel zu faul – wie?
HANNA.
Ja, wirklich.
BERNHARD.
Ja, ja ... aber ... im Grunde, was schadet es.
HANNA.
Ach doch. Es ist doch nicht gut, wenn wir zu viel Zeit haben, uns mit uns selber zu beschäftigen.
BERNHARD.
Hm.
HANNA.

Ich bin wenigstens manchmal recht froh, daß ich mir auf eine so einfache Art ... entgehen kann. Ich meine: den dummen Gedanken.

BERNHARD.
Ach, Fräulein Jagert, finden Sie nicht, daß die dummen Gedanken immer die schönsten sind!
HANNA.
Ich weiß nicht, was Sie darunter verstehen!
BERNHARD.
Dasselbe wie Sie. Aber Sie haben recht. Ich fühle, daß ich ... aus Not ... sehr unbescheiden bin.
HANNA.
Wieso?
BERNHARD.

Nun ja. Statt mir durch Arbeit selber Inhalt zu geben, bereichere ich mich, als echter Dilettant ... mühelos ... auf Ihre Kosten.

HANNA.
Das hab ich nicht sagen wollen.
[66]
BERNHARD.

Doch. Verzeihen Sie ... gerade das. – Sehen Sie, Fräulein Jagert, Sie waren für mich ... so in jeder Beziehung etwas ganz Neues. Unsere Damen hielten mich bereits für ein mauvais sujet ... mit Recht, denn ich ödete mich bei ihnen schrecklich. Da lernte ich Sie kennen – durch die Güte meines Freundes Könitz. Sie haben mir eine – par don! – eine neue Perspektive gegeben ... fröhliche Möglichkeiten, an die ich nie gedacht hatte ... zu all dem andern ... ein neues Ideal.

HANNA.
O! Zu all dem andern?
BERNHARD.

Nun ja, ich meine, zu der Freude, überhaupt mit Ihnen plaudern zu dürfen ... Schweigen. Hm, und das hab ich mal wieder mehr als genug getan. Tritt ihr näher und reicht ihr die Hand, sie erhebt sich. Fräulein Jagert, entschuldigen Sie bitte die Störung, empfehlen Sie mich dem Doktor und ... also morgen abend, nicht wahr?

HANNA.
Ich werd es ihm sagen. Auf Wiedersehen, Herr von Vernier.
BERNHARD.
Auf Wiedersehen! Ab.
HANNA
sitzt vorn rechts am Schreibtisch und arbeitet.

– Sie ist womöglich noch einfacher schwarz gekleidet als im ersten Akt. Auf den beiden langen, parallel von den Glastüren zu den Fenstern laufenden Arbeitstischen sind einige zwanzig Arbeiterinnen verschiedenartig beschäftigt. Die Glastüren sind geschlossen.

FREUDENBERG
tritt hinten links in den Arbeitsraum.

Bewegung unter den Mädchen. Er verbeugt sich wiederholt mit parodistischer Höflichkeit und spricht dann mit dem einen Mädchen. Die weist ihn an die Zuschneiderin. Er wendet sich an diese.

DIE ZUSCHNEIDERIN
legt die Arbeit nieder und kommt nach vorn durch die Glastür.

Sobald die Glastür – auch im folgenden – geöffnet wird, hört man gedämpfte Stimmen und den Lärm einiger Nähmaschinen.

HANNA
in ihre Arbeit vertieft, ohne aufzusehen.
Hm?
DIE ZUSCHNEIDERIN
verlegen nähertretend.
Ach – Fräulein ...
HANNA
aufsehend, ruhig.
Nun?
[67]
DIE ZUSCHNEIDERIN.

Ach, da ist der Herr von unten ... von der Weinstube ... der Hauswirt ... ich vergesse immer den Namen ...

HANNA.
Freudenberg heißt er. Freudenberg. Lassen Sie ihn eintreten!
DIE ZUSCHNEIDERIN
ab.
FREUDENBERG
mit Verbeugungen durch die Mitte.

Entschuldigen Sie, Fräulein Jagert ... guten Abend, guten Abend! Entschuldigen Sie gütigst: ich habe mir gedacht: Sie hätten schon Feierabend gemacht. Nein, was sind Sie für 'ne fleißige Frau ... verzeihen Sie: Fräulein, mein ich, Fräulein wollt ich sagen ... entschuldigen Sie: Sie verstehen mich.

HANNA.
Nun? – Sie bringen mir wohl den Kontrakt?
FREUDENBERG.
Bring ich, jawohl, jawohl. Wollen Sie so gütig sein? Reicht ihr einen Mietskontrakt.
HANNA
nimmt ihn.
Setzen Sie sich, bitte.
FREUDENBERG.
Danke sehr. Danke gehorsamst.Setzt sich.
HANNA
liest den Kontrakt durch.

Hm ... Nun ja ... »Mieter verpflichtet sich« ... Gründlich! Das kann man nicht anders sagen. Und dreizehn Paragraphen Hausordnung. Sind Sie ein – strenger Hausvater!

FREUDENBERG.
Bitte sehr, bitte sehr –: die Dinger sind mal so gedruckt. Fix und fertig.
HANNA.
Ja, ja. Daran liegt es. Also –: achthundert Mark. Viel Geld für die beiden Zimmer ...
FREUDENBERG.

Sagen Sie das nicht. Drei Zimmer sind es und eine Küche ist dabei und ein Hängeboden und ... was man alles braucht. Sagen Sie das nicht.

HANNA.

Und drei Treppen. Aber das müssen Sie mir ganz fest versprechen, Herr Freudenberg: wenn die zweite Etage jemals frei wird ...

FREUDENBERG.
Kein anderer wie Sie, Fräulein Jagert. Bei Gott: Sie sollen den Vorzug haben. Das sollen Sie!
HANNA.

Denn sehen Sie: ich ziehe ja hier nur aus, weil ich diesen Raum noch für's Geschäft brauche und mich doch nicht auf die eine Dunkelkammer da beschränken [68] kann. Aber ich will natürlich auch nicht zu weit vom Geschäft sein ... oder zu hoch darüber.

FREUDENBERG.

Ja, ja, Fräulein Jagert: ich seh das ja vollständig ein. Ich werde sehn, ich werde sehn ... Sie haben mein Wort!

HANNA
unterschreibt.
FREUDENBERG.
Fräulein Jagert?
HANNA.
Herr Freudenberg?
FREUDENBERG.
Darf ich Ihnen 'n neuen Witz erzählen?
HANNA.
Nein! Hier nicht! Um Gottes willen! Geben Sie das Nebenexemplar. Was denken Sie sich denn?
FREUDENBERG
gibt es ihr.

Fräulein Jagert, so wahr ich hier stehe: Sie werden's bereuen. Es wird ein anderer kommen: er wird ihn erzählen, und er wird ihn schlecht erzählen. Bei mir haben Sie 'ne Garantie. Fragen Sie den Herrn Doktor Könitz: der kennt mich. Er schätzt mich. Er wird Ihnen sagen ...

HANNA.
Hier! Reicht ihm das Nebenexemplar. Jawohl, Könitz liebt und schätzt Sie, aber ...
FREUDENBERG.
Der Herr Baron von Vernier nicht minder. Also bitte, erlauben Sie mir ...
HANNA.

Nein! Wenn wir mal wieder unten bei Ihnen sitzen. Übrigens, fällt mir ein: von dem Léoville können Sie mir mal zehn Flaschen heraufschicken.

FREUDENBERG.
Ich fall um! Is nicht möglich! Der Leichtsinn!
HANNA.
Nu, wenn Sie nicht wollen ...
FREUDENBERG.

Na nu ne: ich werde nich wollen! Aber Sie müssen verzeihn: es ist eine große Sache! Sie bestellen Wein bei mir, und was für'n Wein! Wenn ich offen sein soll: man sollte glauben, es wäre kurz vor Ihrem Ende. Verzeihen Sie!

HANNA.
So ... also für so geizig haben Sie mich gehalten?
FREUDENBERG.

Geizig, was heißt geizig! Ist ein häßliches Wort für 'ne schöne Sache! Aber »genau«, Fräulein Jagert –: genau! Sie werden nicht leugnen, [69] wenn ich sage, Sie sind genau. Nun: was nichts Genaues ist, das ist auch nichts Reelles. Sie bekommen noch heute den Wein. Kann ich vielleicht sonst noch was mitschicken?

HANNA.
Nein, zehn Flaschen Leovüle – »genau«.
FREUDENBERG.

Fräulein Jagert: machen Sie mich nicht unglücklich für's ganze Leben: nehmen Sie mir nicht übel, was ich gesagt habe. Genau, hab ich gesagt. Nun? Das ist ein großes Lob. So hat mein Vater zu meiner Mutter gesagt und wir Kinder durften dabeistehn.

HANNA.
Gewiß. Das hat Ihrer Erziehung auch sicher nichts geschadet.
EINE ARBEITERIN
lang, blaß, dürr und dämlich, kommt ängstlich durch die Mitte.
In weinerlichem Tone. Ach, Fräulein ...
HANNA.
Was ist Ihnen denn?
DIE ARBEITERIN.

Ach, ach ... ich hab in dem kleinen Plüschpaletot die Knopflöcher ... Schluchzend. in die Knopfseite geschnitten. Und der Stoff ist doch so teuer ...

HANNA
geschäftsmäßig, kühl, etwas ärgerlich.
Ja ... Sie wissen ja, das ... geht mich nichts an.
DIE ARBEITERIN
flehentlich.
Ach, Fräulein: ziehn Se's doch nur diesen Sonnabend nich ab. Wir brauchen's so furchtbar nötig.
HANNA
sieht sie an, lächelt flüchtig – dann ruhig.

Lassen Sie sich von der Zuschneiderin ein neues Knopfteil schneiden. Das verschnittene soll sie zu Ärmeln verbrauchen. Aber sehen Sie sich in Zukunft vor!

DIE ARBEITERIN
außer sich vor Dankbarkeit, aufatmend.
Ach, Fräulein, – ich danke Ihnen! Ab.
HANNA.
Sehn Sie: den »Leichtsinn« begeh ich heute auch zum erstenmal.
FREUDENBERG
treuherzig.
Fräulein Jagert: haben Sie mir was übel genommen?
HANNA.

Ich nehme Ihnen gar nichts übel. Sie haben ja ganz recht. Diese ganzen zwei Jahre hab ich ja tatsächlich an nichts anderes gedacht, als an den[70] Profit und an's Sparen. Sie haben sich nur geirrt, wenn Sie geglaubt – haben ... es wäre das meine – eigentliche Natur. Lächelnd. O nein! Von heut an wird das anders! – Was machen Sie denn für 'n Gesicht?

FREUDENBERG.
Verzeihn Sie mir's Gesicht. Aber was meinen Sie, wenn Sie sagen: von heut an?
HANNA.
Geschäftsgeheimnis.
FREUDENBERG.
Nu – dann weiß ich.
HANNA.
Sie wissen?
FREUDENBERG.
Spaß!
HANNA.
Na?
FREUDENBERG.
Nu – Sie werden heiraten! Den Doktor oder den Herrn Baron. Ausgerechnet: einen von beiden.
HANNA
verletzt.
So. – Ja, es scheint ... Sie ... Sie erraten eben alles mit Ihrem – natürlichen Zartgefühl.
FREUDENBERG.
Nu sind Sie mir wieder böse?
HANNA.

Nein. Das hätte keinen Reiz für mich, Aber ... ich muß Ihnen doch sagen: Sie irren sich diesmal. Es denkt niemand ans Heiraten. – Und nun entschuldigen Sie mich: ich habe noch zu tun.

FREUDENBERG.

Nun – sehn Sie: Sie sind doch böse. Und Sie haben recht. Was red ich von heiraten! Sind wir nicht vorgeschrittene Menschen? Was braucht man zu heiraten? Auf eine unwillige Bewegung Hannas. Ich geh – Hanna sieht ihn ungeduldig, streng an. schon, ich geh schon. Aber ich hab noch 'ne Mission, Gott, Fräulein Jagert: wenn Sie einen so ansehn, da fällt einem 's Herz immer gleich in die Schuhsohlen, aber – wahrhaftjen Gott: man bleibt so gern in Ihrer Näh.

HANNA.
Lassen Sie sich das Vergnügen nicht zu lang werden. Also: was ist das für 'ne – »Mission«?
FREUDENBERG
reibt sich die Hände.
Eine innere.
HANNA.
Herr Freudenberg!
FREUDENBERG.

Werden Sie nicht ungeduldig! Ich werd es kurz machen. Sehr geläufig. Also: Heute Nachmittag [71] zwischen Drei und Vier kommt ein Herr, ein kleiner, alter Herr in die Weinstube. Man kann nicht wissen, ob er über hundert Jahre alt ist, aber ich gebe Ihnen mein Wort: achtzig ist er gewesen. Wie er mit dem Diner fertig ist, bestellt er sich eine Pommery, schiebt sich seine goldene Brille auf die Stirn und beginnt so vor sich hinzumurmeln, so ... wissen Sie, so halblaut. Macht es nach.

HANNA.
Ja –
FREUDENBERG.

Warten Sie nur! Also: so saß er nun da. Nach und nach gingen alle anderen Gäste weg. Er blieb sitzen – trank weiter. Wie er die erste Flasche leer hatte, bestellt er sich 'ne neue, verstehn Sie, die zweite Pommery. Er ruft mich ran, schenkt mir ein Glas ein und fragt mich nach dem Wetter. Darauf hab ich ihm nach meiner ehrlichen Überzeugung die volle Wahrheit gesagt. Aber auf einmal fragt er mich: sagen Sie mal –: was ist das eigentlich für 'ne »Person«, die hier über Ihnen »den Kleiderhandel betreibt«? Wissen Sie, das sagt er so recht ... so recht ... nu: als ob man nicht mit Kleider handeln dürfte.

HANNA.
Na, was wollt er denn?
FREUDENBERG.

Ausforschen wollt er mich! Ausforschen! Na, da kam er an den Rechten. Wie 'n Erbbegräbnis – stumm! Mein Herr, sagte ich, wenn Sie irgend etwas zu wünschen wissen oder zu wissen wünschen über ... das von mir auf das Höchste verehrte Fräulein Jagert – bitte sehr: bemühen Sie sich gütigst eine Treppe höher und fragen Sie sie gefälligst selber! Von mir erfahren Sie nichts. – Und wenn ganz Berlin über sie klatscht – mein Mund bleibt rein. Sie ist mein Gast – und zahlt mir die Miete von zwei Etagen!

HANNA.
Na, war er damit zufrieden?
FREUDENBERG.

I Gott bewahre! –: »Nun, schön: ich werde hinaufsteigen!« Wie 'ne Drohung, wissen Sie, so: »Ich werde hinaufsteigen!« Zu drollig, sag ich [72] Ihnen. Dabei trank er immer weiter. Er kam mir vor wie einer, der sich mildernde Umstände antrinkt. – Nu hatt ich Ihnen doch versprochen ... von wegen dem Kontrakt. Ich sag also: mein Herr, sag ich, darf ich Sie bei Fräulein Jagert anmelden? Ich gehe jetzt hinauf. »Ja, das können Sie tun!« – Nun wollt ich doch gern den Namen wissen – aber ne! –: »Sagen Sie nur, ein alter Mann – muß mit ihr sprechen.« Na, also, Fräulein Jagert: »Ein alter Mann muß mit Ihnen sprechen!«

HANNA.
Achtzig, sagen Sie?
FREUDENBERG.

Mindestens! Klein, rote Nase, goldene Brille. Besondere Kennzeichen: trinkt Pommery und trägt Brillanten – so groß!

HANNA.

Aber wer kann denn das sein? Sie haben mich nun glücklich ganz neugierig gemacht. Und nun lassen Sie den alten Herrn da unten warten? Ich lasse bitten!

FREUDENBERG.

Ja, wissen Sie, Fräulein Jagert! Wenn ich sage: ich bin gern in Ihrer Nähe – so sag ich die reine Wahrheit. Aber zugleich, wenn ich bei Ihnen ein bißchen länger geblieben bin – hab ich mir gedacht: wird sich der alte Herr da unten – noch die dritte Flasche Pommery bestellen!

HANNA.
Na nu aber ...
FREUDENBERG.

Ich geh schon. Ich schick ihn herauf. Adieu, leben Sie wohl! Leben Sie wohl! Verzeihen Sie mir! Durch die Mitte ab. Man hört die Mädchen verstohlen lachen.

HANNA
schüttelt lächelnd den Kopf, schraubt die Gasflamme etwas in die Höhe und beugt sich wieder über ihre Arbeit.
DIE ZUSCHNEIDERIN
tritt schüchtern ein.
Hm ... Ach ... Fräulein ... ach bitte, entschuldigen Sie einen Augenblick ...
HANNA
wendet sich zu ihr.
DIE ZUSCHNEIDERIN.

Ich ... ich ... von dem Stück Double krieg ich, nach dem neuen Modell, »Doppelstern« absolut nicht heraus! Wenigstens nicht die Siebzehn, wie Fräulein sagten.

[73]
HANNA.
Na nu. Ich bitte Sie ... wieviel Meter hat denn dies Stück?
DIE ZUSCHNEIDERIN.
Vierzig.
HANNA.
Na – aber das begreif ich nicht. Und doch dieselbe Breite, wie die andern. Daß muß ja gehn.
DIE ZUSCHNEIDERIN
achselzuckend.
Tja! Ich habe alles ausprobiert.
HANNA.
Bringen Sie's mir rein.
DIE ZUSCHNEIDERIN
ab.
HANNA
wieder über der Arbeit.
DIE ZUSCHNEIDERIN
kommt mit dem Stück und den Mustern zurück und bleibt zweifelnd stehen.
HANNA
ohne aufzusehen.
Da drüben. Gleich.
DIE ZUSCHNEIDERIN
legt das Zeug links auf den Tisch vor dem Ecksofa.
HANNA
geht nach links, legt die Muster auf, probiert einige Male – – dann ruhig.
So.
DIE ZUSCHNEIDERIN
höchst verlegen, kleinlaut.
Ach ja. So – geht es. Entschuldigen Sie nur die Störung ...
HANNA
geht wieder nach rechts.

– Währenddem ist hinten im Arbeitsraum der alte Freiherr von Vernier von links eingetreten. Alle Mädchen staunen ihn an. Unbeholfen kommt er nach vorn. Von einem der Mädchen wird ihm die Glastür geöffnet, so daß er der mit dem Stück Stoff abgehenden Zuschneiderin begegnet.

DIE ZUSCHNEIDERIN
stößt einen leisen Schrei aus.
Ach ...
DER ALTE VERNIER
ein kleiner, achtzigjähriger Greis mit vollem, schneeweißen Haar.

Sein weingerötetes Gesicht verrät große geistige Beweglichkeit. Er trägt eine goldene Brille mit großen runden Gläsern. Er verbeugt sich vor der Zuschneiderin. Da hätt ich also wohl den Vorzug mit dem Fräulein Hanna Jagert ...

DIE ZUSCHNEIDERIN
sehr verlegen.
Nein – da ...Ab.
HANNA
steht rechts.
Ich heiße Jagert.
DER ALTE VERNIER.

So, so. Das ist sie. Hm. Tritt der verwunderten Hanna näher. So, so. – Nun, da ... muß ich mich Ihnen vorstellen. – Ich heiße Vernier. Ja. Ich bin der Großonkel des Freiherrn Friedrich Bernhard von Vernier. Der dürfte Ihnen ja wohl bekannt sein.

[74]
HANNA
freudig überrascht.
Ach! – Ja, o ja; der ist mir recht gut bekannt ... recht gut.
DER ALTE VERNIER
nickt.
»Recht gut.«
HANNA.

Es ist ja ein Freund des Doktor Könitz. Aber das freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, Herr Baron! Er ... hat mir schon so viel von Ihnen erzählt. Nach links hinübergehend. Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen.

DER ALTE VERNIER
in drollig unwirschem Ton.
Danke ... danke sehr. Wenn Sie gestatten ... möchte ich noch wachsen.
HANNA.
Aber! Hier im Entresol? Bitte.
DER ALTE VERNIER.
Bitte sehr! Bitte sehr! Bleiben wir ernst.
HANNA
befremdet.
Ja ... wie ...
DER ALTE VERNIER.
Bleiben wir ernst, mein Fräulein! Ist es mir erlaubt, einige Fragen an Sie zu richten?
HANNA.
Bitte.
DER ALTE VERNIER.
Ihr Herr Vater war ja wohl Maurer?
HANNA
erstaunt.
Ja – er ist auch jetzt noch – Mauerpolier.
DER ALTE VERNIER.
Mauerpolier – so, so. Und Ihr Herr Großvater, wenn ich fragen darf? Was war der?
HANNA.
Das weiß ich nicht.
DER ALTE VERNIER.

Sehen Sie! Das wissen Sie nicht. Das wissen Sie nicht! Ich hab es mir gedacht. – Hm. Nun – Fräulein Jagert: Sie sind ja wohl sehr – modern, nicht wahr?

HANNA
nachdenklich.
Modern?
DER ALTE VERNIER.

Modern – jawohl. Und ich zweifle nicht daran, daß Sie mit großer Geringschätzung auf einen Mann herabzusehen gelernt haben, der den Stand, dem er die Ehre hat, anzugehören, hochzuhalten gesonnen ist. Trotzdem halte ich mich in diesem Augenblicke zu dieser Hochhaltung in dem Grade für berechtigt, als ich mir bewußt bin, meinerseits diesen Stand nie durch Anmaßung oder [75] Überhebung entehrt zu haben. – Wissen Sie, wie alt das Geschlecht der Verniers ist? –

HANNA
überrascht, lächelnd.
Nein, Herr Baron. Aber ... nach Ihnen zu urteilen ... Hält inne.
DER ALTE VERNIER.
Wie?
HANNA.

Nun, ich meine: ich glaube wohl, daß es schon ziemlich alt ist. Aber bitte, es interessiert mich sehr, Genaueres darüber zu erfahren. Einen Augenblick! Sie zieht eine dunkle Portiere vor die Glastür. So. Bitte.

DER ALTE VERNIER.
Die Traditionen unserer Familie erstrecken sich zurück bis auf das Jahr Neunhundertundachtzig.
HANNA.
Nach Christi Geburt.
DER ALTE VERNIER.
Ja. – Aber sagen Sie –: ich kann mir kaum denken, daß Sie das wirklich interessiert ...
HANNA.

Doch, o doch ... bitte, Herr Baron! Ihr .. Herr Großneffe spricht darüber gar nicht. Sie wissen ja, er hat immer seine künstlerischen Interessen. Wir haben ihn grade danach schon oft vergebens gefragt.

DER ALTE VERNIER.

Hm. So. Nun ... unsere Familie stammt aus Poitou, dem alten französischen Herzogtum am Atlantischen Ozean. Die erste verbürgte Überlieferung datiert von dem Jahre Zwölfhundertundachtzig. Von diesem Jahre Zwölfhundertundachtzig an spielen die Verniers als Marquis, nach dem Rechte der Erstgeburt in ununterbrochener Stammreihe, in der Geschichte Frankreichs ihre ehrenvolle Rolle. »Marchiones« heißen sie in den älteren Urkunden.

HANNA
freundlich.

So? Aber Herr Baron, wollen Sie sich nicht doch lieber setzen? Die Geschichte Ihrer Familie reicht so weit zurück – bitte!

DER ALTE VERNIER.

Ja, es ist wohl besser. Danke. Setzt sich links in die Sofaecke. Hm. Also – im Jahre Sechzehnhundertfünfundachtzig ist dann Erneste Olivier de Vernier ins Fürstentum Lüneburg eingewandert. Die ältere Hauptlinie in Frankreich ist vor kurzem erloschen – so daß nun mehr ich und mein [76] Großneffe Friedrich Bernhard die letzten und einzigen Träger des Namens Vernier sind. Verstehen Sie?

HANNA.
Ich ... glaube.
DER ALTE VERNIER.

Aber: verstehen Sie auch: was das heißt? Was für eine Verantwortung ... Entschuldigen Sie, Fräulein Jagert, aber ich denke mir: Sie können das gar nicht verstehen. Ich ... muß es Ihnen erklären. Hm. Also – seit wir im Hannoverschen ansässig geworden sind – Sie ... wissen wohl, daß wir Westernach in Familienbesitz haben – seitdem haben fast durchgängig von Generation zu Generation zwei Brüder das Geschlecht – wie soll ich sagen – vertreten. »Die beiden Verniers« – wie wir seit einem Jahrhundert und länger am Hofe der Welfen genannt wurden. Von den beiden war gewöhnlich der eine der praktische Stammhalter, der sich verheiratete und das Gut übernahm. Der andere pflegte darauf zu verzichten ... sei es aus brüderlicher Gesinnung ... sei es aus innerem Beruf ... so wie ich.

HANNA.
Sie haben ... aus innerem Beruf ...
DER ALTE VERNIER.

Allerdings. Ja. Es hat unter den Verniers immer solche gegeben, die in irgendeiner gelehrten oder künstlerischen Liebhaberei ihre Befriedigung fanden und darin aufgingen. – Auch bin ich übrigens den Frauenzimmern niemals possierlich genug gewesen. – Hm. Also – in unserem Falle war es eben mein Bruder Ernst, der ... zwei ganz prächtige Jungen hatte. Soweit ging alles, wie es sollte. Da kam ... der siebenundzwanzigste Juni Achtzehnhundertsechsundsechzig. An diesem Tage schossen die Preußen die beiden jungen Verniers tot. – – Wir beiden Alten blieben zurück. – Außer uns eine todkranke Witwe und ein kleiner dreijähriger Junge. Das war der Bernhard. Na und den Mit komischem Ingrimm. ... nun ja: den kennen Sie ja wohl, Fräulein Jagert – wie? Sagten Sie nicht: Sie kennten ihn – »recht gut?«

HANNA
befremdet, kühl.

Ja, Herr Baron. Und zwar[77] sagte ich Ihnen schon, daß er der Freund meines Freundes, des Doktor Könitz wäre. Wir sind oft zusammen – mit ihm.

DER ALTE VERNIER.

So, so. Na. – Jedenfalls: Sie werden ja nun wohl verstehn ... was ich vorhin ... andeutete. Wie? Mein Großneffe Friedrich Bernhard ist der letzte ... An ihm ist es, seine Familie fortzu ... pflanzen. Verstehn Sie mich, Fräulein Jagert? –

HANNA
verlegen.
Ja ... das wird er ja wohl auch noch tun.
DER ALTE VERNIER.

Wie? Ja, es liegt mir daran, Fräulein Jagert, mich Ihnen ganz verständlich zu machen. Bloß darum bin ich so ausführlich. Sehen Sie: mein Bruder Ernst starb den Winter Sechsundsechzig. Konnt's ihm nicht verdenken. – Über die Söhne haben wir nicht wieder zusammen gesprochen. Wohl aber über den kleinen Enkel ... den Bernhard.


Schweigt.
HANNA
warm, leise.
Herr Baron, er – hat Sie ja auch sehr lieb.
DER ALTE VERNIER.

So, so. Hm. – Sie sind sehr gütig, Fräulein Jagert, sehr gütig. Aber bitte, wollen wir nicht mehr von mir reden. Wir sind jetzt zwei bis drei Generationen weiter, eben ... beim Bernhard. – Sehen Sie, einen Beruf gab es nicht für ihn ... ich hätte auswandern müssen. Und außerdem: er selber ... 's ist ein sensitiver Junge, bei dem der Hang, im äußerlichen Leben was zu bedeuten oder was zu wirken, kaum vorhanden ist.

HANNA.
Und darauf nahmen Sie Rücksicht?
DER ALTE VERNIER.
Ja. Das wundert Sie wohl?
HANNA.

O, von Ihnen nicht, Herr Baron, aber ich denke mir, daß so etwas immerhin selten ist ... in adligen Familien.

DER ALTE VERNIER.

Was wir Adel nennen, mein Fräulein, unterscheidet sich vielleicht nicht unwesentlich von dem, was ... Sie sich darunter vorstellen. Denn, Fräulein Jagert –: der Mensch ... fängt allerdings [78] erst mit dem Baron an. Aber: der Baron wird nicht als Mensch geboren – er muß dazutun.

HANNA
unwillkürlich.
O! Das ist schön!
DER ALTE VERNIER.
Was ... was ist schön?
HANNA.
Was Sie da sagen. Lächelnd. Ach, Herr Baron, bitte, halten Sie mich nur nicht für einen Demokraten.
DER ALTE VERNIER.
Nicht für ... ja, aber, Fräulein Jagert! Ist denn die Demokratie nicht – modern?
HANNA.
Modern? Ach pfui!
DER ALTE VERNIER
eifrig.

»Ach pfui« – bravo! Modern – ist der Pöbel! – Aber, Fräulein, Fräulein Jagert: wie, wie kommen Sie mir denn eigentlich vor?

HANNA
lächelnd.

Ja – ich weiß nicht. Es scheint mir nur: Sie sind nicht gerade zu mir gekommen, um eine – Übereinstimmung unserer Ansichten zu ... zu konstatieren – wie? Während der letzten Worte hört man aus dem Arbeitsraum lauteres Sprechen und Lachen. Hanna, plötzlich sich erinnernd. Ach! Es ist ja wahr! Zieht ihre Uhr. Entschuldigen Sie, Herr Baron: es ist Sieben durch: meine Damen wollen gehen. Sie werden schon ungeduldig. Zur Glastür gehend. Einen Augenblick.Sie öffnet die Tür. Hinaussprechend. Meine Damen – Feierabend. Fräulein Schwarz, Sie lassen wohl die fertigen Sachen nach dem Lagerraum schaffen. Ich werde Ihnen Friedrich vorschicken.


Sie geht nach links und klingelt.
DIE ZUSCHNEIDERIN
durch die Mitte, nur halb eintretend.

Ach, Fräulein ... die Maschinennäherin, die Sie heute Morgen engagiert haben ... kommt die schon morgen?

HANNA.
Ja.
DIE ZUSCHNEIDERIN
im Abgehen.
Wegen dem Zuschneiden. Ab. Draußen etwas Lärm, Türschlagen.
DER HAUSDIENER
von links.
HANNA.

Friedrich, lassen Sie sich die Sachen von Fräulein Schwarz geben. Die müssen heute noch verpackt werden. Dieselbe Adresse. London.

DER HAUSDIENER
nach hinten ab.
[79]
HANNA
in Gedanken.

Was ... n ... Ach ja! Nach hinten, ruft hinaus. Fräulein Schwarz, noch eins: sagen Sie doch bitte Ihrem Vater, daß er morgen Nachmittag mal heran kommt. Ich will doch zum Ersten die Möbel fertig haben. Vergessen Sie's nicht – nein?

DIE ZUSCHNEIDERIN
von außen.
Können sich drauf verlassen, Fräulein.
HANNA.
Also, adieu, meine Damen!
VIELE STIMMEN.
Adieu, Fräulein, adieu ...
HANNA
entfernt sich von der Tür.
DIE ARBEITERIN
welche die Knopflöcher in die Knopfseite geschnitten hatte, steckt den Kopf durch die Tür.

Fräulein, ich danke Ihnen auch noch vielmals! Verschwindet wieder, ehe Hanna, sich zu ihr umgedreht hat.

HANNA.
Bitte sehr.
DER HAUSDIENER
kommt wieder durch die Mitte mit einem großen Arm voll Kindergarderobe und geht links ab.
HANNA.
Also heute noch!
DER HAUSDIENER
im Abgehen.
Jawoll!

Das Letztere ist alles sehr schnell gesprochen. Der alte Vernier ist allen Bewegungen Hannas mit Spannung gefolgt. Schüttelt mit dem Kopf.
HANNA.
Verzeihen Sie, Herr von Vernier, jetzt steh ich wieder zur Verfügung.
DER ALTE VERNIER.

Schrecklich! Schrecklich! Schrecklich! Und Sie wollen nicht – modern sein? Diese ... diese Hast, dieses: hä-hä-hä ... Ahmt die schnellen, hastigen Bewegungen nach. Überhaupt dies Berlin! Diese plebejische Outrance, mit der hier gearbeitet wird. Man sollte meinen, sie bildeten sich noch was drauf ein, daß sie sich für andre zuschanden quälen müssen! Schrecklich! – Wie der Junge das aushält! Das so immer mit anzusehen! Hanna anschauend. Ich meine den Bernhard.

HANNA.
Ja. Das dacht ich mir.
DER ALTE VERNIER.

So, so. – Nun? Sie wundern sich aber wohl nicht, daß er's bei Ihnen ... hier in Berlin ... aushält – wie?

[80]
HANNA.
Nein. Das kann ich nicht sagen. Er hat hier so viel ...
DER ALTE VERNIER.
So, so. Das können Sie nicht sagen. Das können Sie nicht sagen! Sehr gut! Sehr gut! Sehr gut!
HANNA
ernsthaft.

Herr Baron, ich ... muß Sie nun doch ... höflichst bitten ... mir den Zweck Ihres Besuches ... was Sie eigentlich von mir wünschen – zu verraten. Ich habe keine Neigung, mir ... weiter Dinge anzuhören, die ich ... mir beliebig als ... als Beleidigungen deuten kann.

DER ALTE VERNIER
sich erbebend, ebenfalls sehr ernsthaft.
Fräulein Jagert! Der Junge soll sich nicht verplempern! Verstehen Sie? Das will ich. Das will ich.
HANNA
in Wut, aber sich beherrschend.
So! Und – da kommen Sie zu mir. Zu mir! Was wollen Sie bei mir?!
DER ALTE VERNIER.

Ich weiß nur zu gut, von ihm selber, wie – es um ihn steht. Seit er an mich seinen ersten kindischen Brief geschrieben hat ... hat er mir immer alles vertraut, was ihn bewegte. Er –

HANNA
ihn unterbrechend, mit schneidendem Hohn.

Ah! Jetzt versteh ich Sie! Endlich! Nicht wahr: Sie sind zu mir gekommen, um mir – die Liebe Ihres Großneffen zu gestehen! Wie?

DER ALTE VERNIER
verletzt.
Fräulein Jagert ...
HANNA
leidenschaftlich, ihm wieder das Wort abschneidend.

Gewiß! Gewiß! Natürlich! Etwas anderes kann es ja gar nicht sein. Denn bis auf den heutigen Tag ist zwischen Ihrem Großneffen und mir kein Wort gefallen, kein Wort, ... mit dem er sich hätte »verplempern« können! Bis auf den heutigen Tag haben wir uns nicht ein einziges Mal unter vier Augen gesprochen, sind wir immer nur in Gegenwart Alexanders zusammen gewesen, des Doktor Könitz, meines Freundes, dem ich viel zu verpflichtet bin, als daß ... und wenn Ihnen Ihr Großneffe etwas anderes [81] geschrieben hat, was ich mir aber gar nicht denken kann – so hat er einfach gelogen, einfach gelogen!


Pause.
DER ALTE VERNIER.

Mein Fräulein: Ihre Vorliebe für die starken Worte ist vielleicht ebenfalls sehr modern und daher mag es kommen, daß sie mir nicht gefällt.

HANNA.
Herr Baron: Sie sprachen von »Verplempern«. Und das ist doch wohl auch so ein Wort.
DER ALTE VERNIER.

Ja. Aber – das ist auch so 'ne Sache! – Na: aber gut. Jedenfalls kann ich Ihnen versichern, daß mein Großneffe in einem Briefe an mich weder einfach noch doppelt lügt. Ä –! Häßlich, Fräulein Jagert! Häßlich, so was zu sagen. Denken Sie, bedenken Sie: diese Briefe von Bernhard sind für mich, in meiner Einsamkeit – meine Familie, meine Familie. Und ich halte was auf meine Familie.

HANNA.

Herr von Vernier: ich sagte ja, daß ich es mir nicht denken könnte. – Aber was hat er Ihnen denn ... Sie stockt. Pause.

DER ALTE VERNIER.

Hm? – Ja, das ... das dürfte Sie ja dann wohl kaum noch interessieren. Wenn Sie sich dem Doktor Könitz so verpflichtet fühlen.

HANNA.

Ja, Herr Baron. Denn abgesehn von allem anderen: was der Doktor Könitz für mich getan hat – er ist um meinetwillen von einem tollen Menschen, der glaubte, ein Anrecht an mir zu haben – zum Krüppel geschossen worden!

DER ALTE VERNIER.

Och! ... Hm. – Aber das freut mich, das freut mich wirklich. – Hm. Aber ... Fräulein Jagert – entschuldigen Sie: es ist das ja auch eine gewisse Grobheit – aber: Sie machen nun eigentlich einen ganz guten Eindruck. Sie sind, was man so sagt – eine ordentliche Person.

HANNA
lacht und seufzt dann.
DER ALTE VERNIER.

Lachen Sie nicht, Fräulein Jagert: das ist mein Ernst. Na ... und was anderes hat vielleicht der Bernhard auch nicht gemeint ... in seinen Briefen an mich.

[82]
HANNA.
Wahrscheinlich. Halblaut, bitter. Was denn sonst?
DER ALTE VERNIER
kopfnickend, wie um sich selbst dabei zu beruhigen.

Ja ... ja ... ich denke ... ich denke. Freilich ... nun ja ... aber in seinen Ausdrücken war er immer ... schon als Kind so ... so extravagant. Also ... Er unterbricht sich, geht auf Hanna los und reicht ihr die Hand. Nein, das freut mich aber wirklich, wirklich! Klopft mit der linken Hand auf Hannas Rechte. Von Herzen! Von Herzen! Und wenn ich fragen darf: Ihr Geschäft ... ich meine, dieser ... Kleiderhandel, oder was es ist ... es geht doch ganz gut? Wie?

HANNA
zerstreut.
O ja, danke ...
DER ALTE VERNIER.

Hm. Wunderbar! Zu meiner Zeit gab's das gar nicht. Sie sind also wirklich ... richtig ... selbständig – wie?

HANNA.

Ja. Ich habe Glück gehabt. Früher, als ich dachte, bin ich in die Lage gekommen, das Geld, das ich natürlich für den Anfang brauchte, zurückzuzahlen. Grad heute – befrei ich mich von dem Rest.

DER ALTE VERNIER
sieht sie groß an.
Hm. Wie gesagt. Wunderbar! Ich kann offenbar ganz beruhigt sein. Famos.
HANNA
innerlich verletzt, in kaltem, spöttischen Ton.

Allerdings. Sie können ganz beruhigt sein, Herr von Vernier. Denn ... obgleich ich nun durch Ihre Liebenswürdigkeit die ruhmreiche Vorgeschichte der Familie Vernier kennen gelernt habe ... dürfen Sie trotzdem versichert sein, daß mir nichts – nichts ferner Hegt, als der Ehrgeiz, Freifrau von Vernier zu werden! Nehmen Sie mir das nicht übel!

DER ALTE VERNIER
bricht in ein behagliches Lachen aus.

Sehr gut! Sehr gut! Wie Sie das so sagen – famos! Wenn der Junge das hörte. Müssen ihm mal so was sagen ... haha: – Na jedenfalls: seine Schwärmerei beruht nicht auf Gegenseitigkeit: und das genügt mir. Denn das seh ich ja: an ders hat es keine Gefahr – bei Ihnen.

[83]
HANNA
bitter.
Offenbar!
DER ALTE VERNIER.

Ach ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie vergnügt mich das macht! Ja! Kommen Sie, Fräulein, kommen Sie mit mir herunter in die Weinstube: wir trinken noch ein Glas zusammen ... zur Versöhnung ... und dann reis ich vergnügt wieder ab. Kommen Sie, tun Sie mir den Gefallen, mein liebes ...

ALEXANDER KÖNITZ
wickelt sich während der letzten Worte schwerfällig aus den Portieren heraus.

Er trägt in jedem Arm ein in Papier geschlagenes Paket und kann daher nur mit den Ellbogen die Portieren auseinanderschieben. Er ist ein Mann von sechsunddreißig Jahren, etwas stark und schwerfällig, hinkt leicht mit dem rechten Bein. In Mantel und Schlapphut. Trocken. Guten Abend! Hanna und der alte Vernier wenden sich plötzlich überrascht zu ihm um.

HANNA.

Ah ... du. Guten Abend. Hab dich gar nicht kommen hören. Vorstellend. Herr Doktor Könitz – Herr von Vernier: der Großonkel unseres Freundes.

ALEXANDER.

Ah – Bernhards Onkel? Freut mich sehr, Herr Baron. Einen Augenblick ... erst mal ...Legt die beiden Pakete links auf den Schreibtisch. So. Geht auf Vernier los und reicht ihm beide Hände. Das ist recht! Das ist recht, lieber Herr Baron, daß Sie mal nach Berlin gekommen sind! Wird sich der Bernhard gefreut haben! Und wir tun's auch, was? Reicht Hanna die linke Hand und schüttelt sie. Bitte!


Fordert Vernier zum Sitzen auf und setzt sich selber, dann auch Hanna.
DER ALTE VERNIER
etwas verdutzt, schweigt.
ALEXANDER.

Hm? – Bitte! Nach Feierabend ist das hier erlaubt. Bietet ihm sein Etui an. Vernier nimmt eine Zigarre. Indem er ihm Feuer gibt. Das ist übrigens sehr ... sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Baron ... daß Sie sich auch hierher, zu Fräulein Jagert bemüht haben. Hm. Ich kann mir denken, daß Bernhard Ihnen – aber wo steckt er denn?Sieht beide an. Wo steckt er denn? Er läßt Sie allein? Wo treffen Sie sich denn? Ach, wohl unten? Ich hörte vorhin, [84] wie ich eintrat, sowas von heruntergehn – wie? Pause. Vernier, wie Hanna, setzen zum Sprechen an, verstummen aber. Ja, was ist denn?

DER ALTE VERNIER.

Herr Doktor: ich sitze so, wie Sie wohl wissen, so ganz allein da auf Westernach ... und da ... Ja. – Gott, Herr Doktor, man hat ja auf dem Lande so falsche Vorstellungen ...

ALEXANDER.
Ja – aber, entschuldigen Sie, was hat das mit Bernhard ...
DER ALTE VERNIER
lebhaft.

Nein! Nein! Nein! Sagen Sie ihm nichts! Sagen Sie ihm lieber gar nichts! Ich hab mich blamiert ... nun ja, ich will's zugeben. Aber du lieber Gott: wenn ich dadurch etwas von Bernhards Liebe und Vertrauen einbüßen müßte ... das wäre zu hart! Sehen Sie: die paar Jahre, die ich noch leben möchte ... Bernhard ... Er stockt, mit seiner Rührung kämpfend.

ALEXANDER
gedämpft zu Hanna.
Also Bernhard weiß gar nichts ...?
HANNA
schüttelt den Kopf.
DER ALTE VERNIER.
Nein: er weiß nichts davon. Er weiß nichts davon ...
ALEXANDER
faßt sich nachdenkend an die Stirn.
Ja, aber ...
DER ALTE VERNIER.

Ich sehe ja, ich sehe ja: ich ... ich müßte Sie alle Drei ... alle Drei um Verzeihung bitten. Ich hatte mir das ja alles so ganz anders ausgemalt, ich wußte ja das alles nicht so ... ich wußte vor allen Dingen gar nichts davon, daß Fräulein Jagert Ihnen so ... so verpflichtet ist ... und ...

ALEXANDER
fährt bei dem Worte »verpflichtet« heftig zusammen.
Hm?!
DER ALTE VERNIER
hält verdutzt inne.
ALEXANDER
steht auf und geht nach rechts.
Tiefinnerlich. Ach so ... ach so ...
HANNA
leise im Tone des Vorwurfs.
Aber – Herr Baron, wie können Sie ...
ALEXANDER
bezwingt sich, höflich.

Pardon! Aber das ... Freilich: wenn sich Fräulein Jagert mir so »verpflichtet« [85] fühlt – so muß ich ihr dafür natürlich sehr »verbunden« sein. – Also Sie fürchteten nach Bernhards Briefen ... Hm. – Zu Hanna. Und das war dann deine Antwort?

HANNA
sehr verwirrt, leise.

Das ... ich habe nur ... Herrn von Vernier zu beruhigen, mich an das Äußerliche gehalten. Man ... man spricht doch nicht gern von seinen ... innersten Gefühlen.

ALEXANDER.
Nein. Du hast recht. Nach einem langen Blick auf Hanna, mit tiefem Mitleid. Arme Hanna! –
HANNA
senkt den Blick.

Pause.
ALEXANDER
bitter.
Aber Sie sind doch nun auch beruhigt, Herr Baron – nicht wahr? Es war nichts!
DER ALTE VERNIER.

Lieber Herr Doktor Könitz: sein Sie mir nicht böse! Mir scheint: ich bin hier wohl ein rechter Störenfried geworden. Sehn Sie: Zeit meines Lebens, Zeit meines Lebens hat mir mein Temperament solche Streiche gespielt. Nachher, so wie zum Beispiel jetzt, da seh ich's ja ein.Seufzend. Ich wäre wirklich besser zu Hause geblieben. Ja! Steht auf und faßt erst Alexanders, dann auch Hannas Rechte. Aber nehmen Sie's mir nicht übel! – Sie auch nicht, Fräulein! Sie auch nicht! – Ich ... will nun wieder dahin ... wo ich hingehöre, nach Westernach ... in die Nähe unseres Familienbegräbnisses. – Leben Sie wohl! Alle beide ... zusammen. – – Meine Sachen hatt ich wohl ... ach ganz richtig: die hatt ich ja unten ge lassen. Also nochmals: adieu ... adieu ... Halb schon draußen. Und sagen Sie dem Jungen Heber nichts! Blamieren Sie mich nicht. Danke sehr! Das kann ich noch selber.

HANNA
hat ein Licht angezündet und begleitet ihn durch den Arbeitsraum.
ALEXANDER
bleibt allein zurück.

Er preßt beide Hände gegen die Stirn und steht einige Augenblicke in heftigster Erregung zitternd da. – – »Verpflichtet!« Oh ...

HANNA
kommt zurück, man hört ihre Schritte.
[86]
ALEXANDER
beherrscht sich wie mit einem plötzlichen Ruck und geht nach links.
HANNA
tritt wieder ein und geht nach rechts zum Schreibtisch.
Im Folgenden vermeiden beide, auch beim Sprechen, sich anzusehen.
ALEXANDER
während er sich seine Zigarre wieder ansteckt, im gleichgültigsten Tone.
Was haben wir denn eigentlich heute? Freitag!
HANNA
gleichzeitig.
Freitag. Mit den Paketen beschäftigt. Was hast du denn hier mitgebracht?
ALEXANDER.

Was ... ach so. Nichts weiter ... die beiden Bronzen, die dir neulich so gefielen. Setzt sich. Ich dachte mir, die würden vielleicht irgendwie in deine neue, fürstliche Einrichtung passen ... so in irgend 'ne Ecke.

HANNA
wickelt die Bronzen aus.
Ah – die. Erfreut. Ach, das ist aber nett von dir!
ALEXANDER.
Ja ... ja. Murmelnd. Man muß sich beizeiten sein Denkmal setzen.
HANNA.
Wie?
ALEXANDER.
Nichts, nichts. – Du, Hanna, ich habe einen Brief von unserem Attentäter.
HANNA
lebhaft.
Von Konrad! Ach! Was schreibt er denn? Woher denn?
ALEXANDER.

Aus New-York. Aber er wird jetzt schon nach London unterwegs sein. Er schreibt wenigstens – Nimmt den Brief aus seiner Brieftasche.

HANNA
nach links.
Darf ich ihn lesen?
ALEXANDER.

Na – nicht alles. Manches ist ... Ich will dir das Nötige draus mitteilen. Also ... Es ist nämlich ein Untier von einem Briefe. Blättert darin. Also im Anfang: hohes Pathos: »es ist mir ein innerliches Bedürfnis«, und so weiter. Natürlich. Ist ihm alles. – »Ja, mein Herr: ich habe auf Sie geschossen! Es war mir nicht zu verdenken nach dem, was ich dazumal annehmen mußte ... Jetzt, zwei Jahre nach meiner Entfernung, wo ich inzwischen fortwährend und von den verschiedensten Seiten Nachrichten über Sie und Hanna gesammelt habe, gebietet mir indes [87] eine innere Stimme, Ihnen zu gestehen, daß ich damals irregeleitet, von der Leidenschaft verblendet war.« Dummkopf! Als wenn der jemals nicht von Leidenschaft verblendet wäre. »Zur Wut ward ihnen jegliche Begier.« – Na und nun kommt er denn natürlich auf die Partei zu sprechen, und wie anders er das jetzt alles ansähe, du hättest ganz recht gehabt, nur der einzelne könne heute kämpfen, der einzelne – und allein. In seiner Weise. Und so weiter! Die alten Geschichten. Will den Brief wieder einstecken. Das können wir uns schenken.

HANNA.
Das ist alles?
ALEXANDER.

Ja, so ziemlich. Zögernd. Noch so einige ... dumme Redensarten über dich. Doktrinäres Zeug ... torheitsvolle Deklamationen ...

HANNA.
Aber, Alexander, das mußt du mir doch mitteilen. Ich bitte dich!
ALEXANDER.

Na, Gott ... es ist eben einfach ... dieselbe Borniertheit, wie früher. Dabei riesig gute, liebe Kerle – diese Atriden. Wenn sie einen auch manchmal in die Knochen schießen. Suchend. Wo ist es denn? Hier. Also: »Ich denke an sie bei Tag und Nacht. Noch hab ich nicht mit ihr abge rechnet! Vielleicht – wird es auch nicht mehr nötig sein. Wenn alles so bleibt, wenn sie selbständig neben Ihnen, in freier aber treuer Neigung«, na: und so weiter! Kannst dir ja denken. Ä! »Es schmiedete der Gott um ihre Stirn ein ehern Band.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Sag mal, Hans ... nicht wahr: du bist nun neunundzwanzig Jahre alt. Weißt du noch, was ich dir damals ... schon vor drei Jahren immer gesagt habe .. wo du dir einredetest ... nur noch einrede test... du hättest die »Aufgabe«, dafür zu sorgen, daß ... ich weiß nicht ... später einmal ... übermorgen ... die Menschheit glücklicher würde, als heute. Weißt du noch? Denk mal dran! – Ich pflegte dir zu sagen: mein guter Hans, bis zum fünfundzwanzigsten [88] Lebensjahre ... da ist das ja ganz schön ... da kann so was recht wohl zu unseren Freuden dienen und also echt sein. Aber nachher ... nachher wird man entweder ein Philister ... so'n Mensch ohne innere Begeisterung für sich selber ... so'n Epigone seiner Jugend ... »Demokrat von Achtundvierzig« ... Reichstagsabgeordneter, kurz ein Steinesel – oder man sucht sich neue Ideale ... man wird sich etwa klar, besinnt sich darauf, daß man doch eigentlich selber auch – da ist, sozusagen! Daß ich, daß du doch wohl gewissermaßen lebst ... verstehst du? Lebst! Erhebt sich. Und wenn man dann auch nur eine Spur von gutem Gewissen als Mensch hat ich meine, auch nur 'n bißchen Ehrgeiz, ein Individuum zu bedeuten, so daß man es riskieren kann, zu sich selber ja zu sagen – – dann jagt man die ganze Resignationsfatzkerei, all das wehleidige Gejammere um die lieben Mitmenschen der nächsten Jahrhunderte schönstens zum Teufel und sagt sich: ich und noch einmal ich – will ein ganzer sein! Ein ganzer – ein einziger – ich selber! Er humpelt einmal hastig durchs Zimmer und setzt sich dann wieder.

HANNA.

Alexander! Wenn man dich so sprechen hört, sollte man meinen, du wärst der krasseste Egoist von der Welt. Und dabei hast du es noch nie im Leben fertig gebracht ...

ALEXANDER.

Ach bitte, das ist Sache des Geschmacks. – Aber in gewissen Dingen ist es nicht nur geschmacklos, wenn man zu viel an andere denkt, sondern auch – unsittlich. Was wir so nennen müssen. – In ganz anderem, herzlich warmen Tone. Hanna! Du fühlst dich ja nicht frei ... nicht glücklich ...

HANNA
setzt zum Sprechen an.
Schweigt.
ALEXANDER.

Nein, Hans: du bist nicht glücklich. Du bist nicht glücklich. Die ganzen zwei Jahre ... meinst du denn, ich fühlte das nicht? Dieses dumpfe, besinnungslose Arbeiten und Arbeiten die ganze Zeit her – hältst du mich denn für so dumm, meinst [89] du: ich hätte nicht begriffen, wie wenig das nach deinem Herzen war? Wie wenig du – du selber gewesen bist – all die Zeit her? – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Hanna, es kommt ja selten vor, daß wir ... wir Egoisten uns – aussprechen. Auch das geht uns zu vielfach wider den Geschmack. Aber jetzt. Wir sind nun mal dabei. Ich wenigstens. – Sieh mal: wir wollen es uns doch nicht verhehlen: es ... ist anders mit uns gekommen, als wir es uns gedacht haben. – Woran es gelegen hat, das ist schwer zu sagen ... und im Grunde ... jetzt kann es uns gleich sein. – Damals, als die bewußte Katastrophe mit all ihren aufdringlichen Begebenheiten und dummen Knalleffekten vorüber war ... meine Wunde geheilt war, und ich wieder laufen gelernt hatte ... als du dann hier eingerichtet warst und so weiter – da hätte ja eigentlich zwischen uns wieder alles sein sollen, sein können wie vorher. Aber ...

HANNA
flehend.

Aber Alexander! Gewiß! Und noch ganz anders! Sprich doch nicht so! Wie unendlich mußte ich dir – Beider Blicke treffen sich, sie schweigt.

ALEXANDER
eisig.

– verpflichtet sein. Jawohl. Möglich, daß es grade daran lag. – Es war eben tatsächlich alles anders geworden. Du hattest dir auch wohl zu viel zugemutet ... Hm.


Pause. In andern Ton.

Na aber, was nutzt das Reden. Lassen wir das! Wir quälen uns ja nur, indem wir darüber sprechen. Dazu sind wir doch nicht für einander geboren.Nervös. Wir sind überhaupt nicht für einander geboren. Das ist Verfolgungswahn. – –


Pause. Er seufzt. Dann gleichgültig.

Ja, ja ... Da fallt mir übrigens ein: erst das Geschäft und dann das Vergnügen. Wolltest du mir nicht tausend Mark zahlen heute?

HANNA
lebhaft, geht zum Schreibtisch.

Ach, ja. – Ich [90] hatte dir auch schon die Quittung geschrieben. Wo ist sie denn? Durch die Besuche ... der Freudenberg war auch oben ... Sie hat das Papier gefunden. Ach hier. Willst du dich herbemühen oder soll ich dir ...

ALEXANDER.
Ich komme schon. Geht zum Schreibtisch.
HANNA.

Der alte Herr hatte sich bei ihm nach mir erkundigt. Reicht ihm den Federhalter. So, bitte. Datum hab ich schon.

ALEXANDER
unterschreibt.
So, damit sind wir ja dann wohl quitt?
HANNA
steht am Geldschrank, dem sie einen Tausendmarkschein entnimmt.
Jawohl. Damit bin ich dich – Sie schweigt.
ALEXANDER
lachend.
Aber Hans, was ist denn das heute mit dir? Du sprichst ja deine besten Einfalle nicht aus.
HANNA
gibt ihm den Schein.
Bittend, leis. Alexander!
ALEXANDER.

Nein, nein: das war wirklich ein ganz gescheiter Einfall. Damit bist du mich allerdings – los! Er steckt den Schein ein. Ich wünschte nur, du hättest erst den Mut zu ... zu deinen Einfallen. So den rechten Frauenmut. Das ist was Besonderes! Es ist eine Eselei, immer bloß von Mannesmut zu sprechen. – – Na, aber nun will ich auch gehn.

HANNA.
Gehn?! – So plötzlich?
ALEXANDER
zieht sich den Mantel an.

Ja. Ich habe noch – was vor. Eine wichtige Sache. Etwas Menschenfreundliches. Entschuldige mich heute Abend. Du wirst auch müde sein ...

HANNA
leise, traurig.
Du quälst mich ...
ALEXANDER
beinah heiter.

Das – ist ein Irrtum. Also, adieu, du ... du Schülerin. Und hast noch immer nicht ausgelernt. Schäm dich was! – Adieu!Er reicht ihr die Hand. Adieu.

HANNA
mit niedergeschlagenen Augen, ergreift mit beiden Händen seine Rechte.
... Adieu.
ALEXANDER
geht zur Tür.

Dort wendet er sich noch einmal um und faßt Hannas Kopf in beide Hände. Mit tiefem Gefühl. Leb wohl, du ... Leb wohl ... Er küßt sie auf die Stirn.

[91]
HANNA
mit ausbrechenden Tränen.
So geh doch nicht, Alexander! Laß uns doch noch sprechen ...
ALEXANDER
sich losmachend.

Bitte, bitte ... Nur kein Mitleid! Das verbitt ich mir! Das schickt sich nicht für dich! So! Er reicht ihr noch einmal die Hand. Sie schlägt ein. Er sieht sie voll an und schüttelt ihr kräftig die Hand. So. – Tonlos. Leb wohl. Schnell hinaus.

HANNA
wirft sich schluchzend in den Sessel vor dem Schreibtisch.

Oh, ich ... Plötzlich aufspringend, ruft sie laut. Alexander! Ab. Man hört sie draußen rufen. Alexander! Sie kommt zurück und bleibt einen Augenblick schwer atmend stehen. Dann geht sie erschöpft nach links, wo sie sich niederläßt. Sie trocknet ihre Augen und schüttelt sinnend den Kopf. – Sie schlägt ein Geschäftsbuch auf und taucht die Feder ins Tintenfaß.


Vorhang.

3. Akt

[92] Dritter Akt

Szene: Zimmer in Hannas Privatwohnung. – Die Möbel sind zum Teil dieselben, wie im zweiten Akt. In der Mitte des Zimmers ein großer Tisch mit hochlehnigen Stühlen. Darüber eine brennende Lampe. Die Mitte des Hintergrundes nimmt ein großer Bücherschrank ein. Rechts davon die Tür zum Korridor, links das Ecksofa mit Tisch. – Auf der rechten Seite vorn steht der Geldschrank, dahinter ein Füllofen, der einen Feuerschein ausstrahlt. – An der linken Seite vorn der Schreibtisch, dahinter die Tür ins Nebenzimmer. – Die Einrichtung ist ernst und gediegen, mehr in der Art eines Herrenzimmers. Dunkle Portieren und Decken.

HANNA
in einem schwarzen Kleide von eleganter Einfachheit, sitzt vorn am Mitteltisch und liest einen Brief.
LIESCHEN
sitzt, in befangener, kerzengerader Haltung, rechts am Mitteltisch.
Sie trägt ein hochmodernes Promenadenkostüm und sieht sich mit neugieriger Scheu im Zimmer um.
HANNA
läßt den Brief sinken.
Bewegt. Die gute Mutter. – Aber persönlich traut sie sich doch nicht her.
LIESCHEN
in einem gezierten Ton, aus dem sie nur hin und wieder herausfällt.

Ach, sie tät es ja wohl. Aber du weißt ja, wie dein Vater ist. Ich geh selber immer nur hin, wenn ich bestimmt weiß, daß er nicht zu Hause ist.

HANNA
nachdenklich.
Hm. – Heut, nach Tisch hat sie dir den Brief gegeben?
LIESCHEN.
Ja, sie ist extra deswegen zu uns gekommen. Sie hat ja so 'ne Bange!
HANNA
ernst, ohne Lieschen anzusehen.

Die gute Mutter! – – Ach was! Es ist ja nichts! Nichts! Sie erhebt sich. Sie beurteilt Konrad ganz falsch. Ich – will ihn erwarten.

LIESCHEN.

Ach, Hanna: er ist jetzt noch viel rabiater, wie früher. Du glaubst gar nicht, wie er sich verändert hat. Ich denke mir, er wird sich in Amerika oder in London so 'n stillen Suff ergeben haben. Von wegen der Seeluft, weeßt du.

HANNA.
Das kann ich mir nicht denken.
LIESCHEN.

Ach doch, ja. – Nein: wir sind alle schrecklich besorgt um dich. Ne wirklich: wir haben mächtige Manschetten um dir!

[93]
HANNA.
So. – Ach, das sind ja Einbildungen.
LIESCHEN.

Na, na: sag das nicht! Erst gestern hab ich wieder im Lokalanzeiger gelesen, wie einer aus Liebe zwei Mädchen auf einmal totgeschossen hat. Bloß: er wußte nicht, welche sollt er nehmen. Na, und nu dein Vater! Der putscht ja nu noch immer! Der macht ihn nu erst ganz wild! Weißt du, was er ihm nach London geschrieben hat? Ach ne: das will ich dir doch lieber nich sagen. Na, aber, du darfst es mir nich übelnehmen! »Sie avanciert,« hat er geschrieben. »Sie avanciert. Jetzt ist sie schon die Maitresse von einem Grafen.« Ja. Weißte, dein Vater kennt eben absolut nich den Unterschied zwischen einem Grafen und einem Baron. – Er hat eben keene Bildung.

HANNA.
Das hat ... mein Vater geschrieben?
LIESCHEN.

Was ich dir sage! Darauf ist ja eben Konrad hergekommen. Ohne an die eigene Polizeisicherheit zu denken – umgehend! Denk doch mal, wenn sie den kriegten!

HANNA
schüttelt traurig den Kopf.
Also das ...
LIESCHEN.
Ja. Und du wärst eine Begehrliche!
HANNA.
Eine Begehrliche? Was heißt denn das?
LIESCHEN.

Ja, ich weiß nicht. Davon spricht er auch so immer. Was die richtigen Arbeiter wären, die hätten die Begehrlichkeit nicht. Das wär 'ne Lüge. Die wollten bloß ihr gutes Recht. – Aber die Reichen – was er so die Bürgerlichen nennt, und auch die Adligen – die hätten die Begehrlichkeit und wollten immer noch mehr haben. Und du wärst auch 'ne Begehrliche. So is es.

HANNA
bitter.

»So is es.« Ja. Er hat recht. Sie – haben die Begehrlichkeit nicht. Es ist schlimm. – – Also, mein liebes Lieschen: ich danke dir sehr für deine freundlichen ... Eröffnungen, und ... Bitte, geh noch heute Abend zur Mutter, ja? Sag ihr, sie solle keine törichte Angst haben. Mit Konrad würde ich schon fertig werden. Ja – es würde mich[94] freun, wenn er käme. Ihm gegenüber kann ich mich rechtfertigen. Er ist nicht wie mein Vater. Der wird mich freilich nie mehr verstehn.

LIESCHEN.

Ja, da hast du wirklich sehr richtig. Geradeso geht's mir mit Mutter. Die versteht mich auch partout nich.

HANNA.
So?
LIESCHEN.

Partout nich. Gott, und es ist doch so einfach! Was soll man denn machen, wenn man weiter kommen will und ... und will was vorn Leben haben. Is nich wahr? Heiraten tut einen ja doch kein anständiger Mensch mehr, und schließlich: was hab ick denn davon, wenn da nu auch wirklich so'n Maler oder Maurer kommt, der selber nichts zu brechen und zu beißen hat ... und Kinder will er womöglich auch haben. Ne, ne! Wenn man erst mal mit feine Herrn so in besserem Verkehr gestanden hat – nachher paßt einem das schon lange nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Hab ich nicht recht?

HANNA.
Gewiß, Lieschen – und es ist schön, wenn man recht hat. Aber ...
LIESCHEN.

Nicht wahr! Ach! Weißt du, Hebe Cousine: die andern ... die waren ja einfach alle viel zu dumm. Aber ich ... ich kann wohl sagen: von allen Anfang an habe ich allein immer die richtigste Auffassung über dich gehabt! Und wenn ich früher manchmal so'n bißchen eklich gegen dich gewesen bin ... so is das immer bloß Neid gewesen. Wahrhaftigen Gott!

HANNA
belustigt.
Ja, ja: ich hab das ja auch niemals anders aufgefaßt.
LIESCHEN
beteuernd.

Hand aufs Herz –: bloß aus Neid! Niemals so wie die andern, aus Moral, oder so. Keine Spur! Denn wozu? Heutzutage muß man modern sein.

HANNA
lächelnd.
Woher weißt du das?
LIESCHEN.

Ach, das hab ich nu allmählich selber rausgekriegt. – Nein, wirklich, liebe Cousine: du[95] glaubst gar nicht, wie lange ich mich schon danach gesehnt habe, mich einmal so recht ordentlich mit dir auszusprechen. Wirklich wahr! Denn im Grunde, mußt du wissen, in meinem Innern, hab ich dir eigentlich immer recht gegeben. »Ganz recht hat sie, hab ich immer gesagt –: ganz recht! Was kann das schlechte Leben hel fen!«

HANNA
lacht auf.
LIESCHEN
in das Lachen einstimmend.

Na ja – is doch aber auch wahr! – Siehste: und deshalb, liebe Cousine, mein ich: wir beide sollten doch ... He? –

HANNA
weicht Lieschen, die ihre Hand fassen will, aus.

Ernst und kühl. Verzeih! Ich hab jetzt keine Zeit mehr. Ich muß noch mal hinunter ins Geschäft. – Also nochmals: sag der Mutter meinen besten Dank für ihre ... »Warnung«, aber ... du weißt ja nun. Kann ich dir sonst noch mit ... etwas dienen?

LIESCHEN
affektiert-verletzt.

Nicht, daß ich wüßte. Danke sehr. In anderm Ton, schnell. Das heißt ...Vertraulich. Du, Hanna ... sei doch mal offen gegen mich! Gibt dir denn dein Baron viel?

HANNA
heftig.

Ach, bitte, Lieschen ... geh jetzt! Weshalb meine Mutter gerade dich zu mir geschickt hat ... Na ... jedenfalls ... Sie zieht ihr Portemonnaie. ... Ich will nicht undankbar sein: da, hier – Gibt ihr ein Goldstück. Für den Weg.

LIESCHEN
nimmt das Geld und betrachtet es einen Augenblick unschlüssig schwankend, dann steckt sie es ein und sagt kühl, fast herablassend.

Bitte sehr, bitte sehr – hat nichts zu sagen. Ich will nicht länger stören. Wendet sich zum Gehen. – Adieu.

HANNA
abgewendet.
Adieu. Setzt sich links an den Schreibtisch.
LIESCHEN
zuckt die Achseln.
P – hö! Nach hinten ab.
HANNA
nachdenklich vor sich hin sehend, schüttelt den Kopf.

– Pause. – Aus ihren Gedanken heraus, halb lachend. »Was kann das schlechte Leben helfen!« Steht auf und klingelt. Dann geht sie zum Schreibtisch zurück, nimmt einige Briefe an sich und schließt ihn zu.

[96]
HEDWIG
tritt von links ein.
HANNA.

Hedwig, ich bleibe heute Abend zu Hause. Legen Sie noch nach. Ich gehe jetzt hinunter. Wenn der Herr Baron kommt, bitten Sie ihn, hier oben auf mich zu warten. Geht zur Tür. Es klingelt draußen. Sie bleibt stehen. Sollte er das schon sein? Sehen Sie nach.

HEDWIG
nach hinten ab.
HANNA.
Oder gar ... Sie nestelt nervös an ihrem Haar.
BERNHARD
tritt schnell ein.

Laut und lebhaft. Guten Abend! Guten Abend. Ach Pardon! Ich vergesse immer, draußen erst abzulegen. Schnell wieder ab.

HEDWIG
tritt durch die offene Tür ein, geht über die Bühne und links ab.
BERNHARD
von draußen, durch die offene Tür sprechend.
Könntest du dem guten Mädchen nicht angewöhnen, mir hierbei behilflich zu sein?
HANNA
lächelnd.
Aber Bernhard ... Selbst ist der Mann.
BERNHARD
im Eintreten.

Na ja, schon gut, weiß schon ... Wie geht's? Tritt zu ihr und küßt ihr die Hand. Gut, natürlich. Wie?

HANNA.
Dir auch. Danke. – Aber du kommst ja heut so früh. Ich muß noch herunter.
BERNHARD.

Herunter! Immer herunter! Schrecklich! Gepreßt. Oh, Hanna, du ... Zieht sie an sich und küßt sie, dann läßt er sie los und wendet sich ab. du ahnst ja nicht, wie traurig du mich machst mit deinem ... mit diesem ewigen »Geschäft«.

HANNA.

Aber mein lieber Bern! Du mußt doch vernünftig sein! Selbst wenn ich nun das Geschäft verkaufen wollte –

BERNHARD
lebhaft.
Wie? – Nun?
HANNA
lächelnd.

Ich meine: selbst dann müßte ich doch bis zum letzten Tage in alter Weise darin tätig sein. Darauf beruht doch nun mal – meine Freiheit.

BERNHARD.
Eine schöne Freiheit!
HANNA.

Ja! Dem einen kommt sie teuer – dem andern billig zu stehn. Das ist nun mal nicht anders –[97] einstweilen. – – Aber jetzt laß mich. Die Mädchen warten auf mich. Laß dir die Zeit nicht lang werden! Da! Sie deutet auf den Bücherschrank. Falls du etwas für deine Bildung tun willst. Auf Wiedersehn. Geht zur Tür. Dort bleibt sie stehen. Leise, zärtlich. Bern?

BERNHARD.
Ja?
HANNA.
Ich habe dir nachher ... etwas zu sagen.
BERNHARD.
Ja? Was denn?
HANNA.
Nachher! – O, wir wollen so frohe Menschen werden, Bern ...
BERNHARD
nähert sich ihr.
Hanna!
HANNA
hebt abwehrend die Hand.
Pst! Nachher.Schnell ab.

Pause.
BERNHARD
ist sehr ernst geworden.
Er seufzt laut und geht nach links. Gepreßt. Wie ein Kind! Wie ein Kind! –
HEDWIG
von links, mit Kohleneimer, geht zum Ofen.
BERNHARD
auffahrend.
Was?! Sie wollen doch nicht etwa gar noch einheizen?
HEDWIG
unbeirrt.
Fräulein hat's befohlen.
BERNHARD.
Aber, mein Gott, es ist ja schon eine tropische Glut hier!
HEDWIG
unbeirrt, antwortet nicht, sondern schüttet Koks auf.
BERNHARD
mit Selbstironie.

Freilich –: wenn's Fräulein befohlen hat ... Setzt sich an den Ecksofatisch und schlägt ein Buch auf. Legt es wieder weg. Ä! – Sagen Sie mal, Hedwig, ich wollte Sie schon immer mal fragen ...!

HEDWIG
unbeirrt am Ofen beschäftigt.
BERNHARD.

Ich meine: gesetzt den Fall, es vollzöge sich hier eine plötzliche, oder sagen wir wenigstens eine baldige ... Veränderung ... daß Fräulein von Berlin fortzöge, oder so – ich meine: Sie würden doch mitgehn – was?

HEDWIG.
Das ist gar nicht möglich.
BERNHARD.
So? Na ...
HEDWIG.
Fräulein wird niemals von Berlin fortziehn.
BERNHARD
ärgerlich.
Sehr gut! Woher wissen Sie denn das?
[98]
HEDWIG
ohne sich umzuwenden, mürrisch.
Fräulein wird sich hüten und wo anders wieder von vorn anfangen.
BERNHARD
abbrechend.
Na! –
HEDWIG
ist fertig und erhebt sich.
Kalt. Herr Baron kennen eben unser Fräulein erst oberflächlich.
BERNHARD
streng.
Ach bitte! Es klingelt.
HEDWIG
sieht Bernhard einen Moment feindselig an, zuckt dann die Achseln und geht ruhig nach hinten ab.
BERNHARD
allein, wütend.
's is ... es ist wirklich ...
HEDWIG
öffnet Alexander die Tür.
Höflich. Bitte, Herr Doktor! Sie ist ihm beim Ablegen behilflich. Dann ab.
BERNHARD
in höchstem Erstaunen.
Herr Doktor! Sie!?
ALEXANDER.
Ja – ich. Guten Abend.
BERNHARD
tritt näher und reicht ihm die Hand.
Guten Abend.
ALEXANDER
hält die Hand fest, ernst.

Ich ... muß vor allem noch um Verzeihung bitten, daß ich Ihnen auf die traurige Nachricht vom Ableben Ihres Herrn Onkels ... nur schriftlich geantwortet habe. Aber ... mein Pedal war mal wieder ... nicht in Ordnung ... ist es auch eigentlich jetzt noch nicht. Ich wäre sonst längst über alle Berge.

BERNHARD.
Ja, ich hörte schon, Sie wären in Sizilien.
ALEXANDER
hinkt nach dem Stuhl rechts am Mitteltisch.
Bin ich auch. Wenigstens ... Wollte heute schon unterwegs sein. Hm. Setzt sich.
BERNHARD
im Tone freundlichen Vorwurfs.
Die ganze Zeit haben Sie sich nicht wieder sehen lassen. Seitdem!
ALEXANDER.
Sie meinen: Ruinen gehören zur Landschaft.
BERNHARD
herzlich.
O, pfui. Wir wollten doch gute Freunde bleiben!
ALEXANDER.
Ja. Na, und aus – Feindschaft bin ich nicht weggeblieben. Oder meinen Sie?
BERNHARD.
Lieber Freund!
ALEXANDER.

Na also. – Ach hier ist es hübsch warm. Ganz wie in Sizilien. Überhaupt, riesig behaglich! Seufzt. Ja, ja! Wer sich hier so festsetzen[99] könnte, der – wär ein Esel, wenn er – auf Reisen ginge. Wie?

BERNHARD.
Na sehn Sie. Weshalb kommen Sie da nicht!
ALEXANDER.

Tja ... wer weiß! Vielleicht ist es eine angeborne Scheu ... das dritte Rad am Bicycle zu spielen. Vielleicht ... ist das so der Stolz meiner Männerseele, wie Lasker sagte. Lassen wir's unentschieden. Soviel ist sicher: heute hab ich einen hinreichend legitimierenden Grund zu kommen.

BERNHARD.

Bitt um Entschuldigung, Herr Doktor, aber ich sollte meinen, Sie als alter Junggeselle hätten eigentlich immer berechtigte Ursache ...

ALEXANDER.

Andre Leute zu stören? Nein! Da faß ich nun meine Situation doch menschenfreundlicher auf. Das wird mir auch gar nicht so schwer, wie Sie glauben. Denn, abgesehn von der einen denkwürdigen ... Ihnen ja nicht unbekannt gebliebenen Episode, hab ich mein Leben lang eigentlich immer draußen gesessen ... verstehn Sie? draußen. Ich bin das also gewohnt.

BERNHARD
verlegen.
Aber, lieber Herr Doktor ...
ALEXANDER.

Ja, ja. Sie vergessen immer: es ist noch gar nicht so unmenschlich lange her, daß ich ein ... bettelarmer Student war ... der geborene Bildungsproletarier ... eben: bis ich eines Tages meine Entdeckung machte. Ich bin also gar nicht verwöhnt, wirklich nicht. Hab es früh genug gelernt, mit mir allein zu sein. – Hm. – Na, aber ... davon ist ja gar nicht die Rede. Sagen Sie mir vor allen Dingen: wie geht es Ihnen denn? Ich meine: wie gut? Was macht die Kunst? Oder: die Künste, muß man bei Ihnen fragen. Haben Sie sich nun für eine entschieden? Hat die Violine gesiegt? Die Hebe Violine! Wie geht es ihr?

BERNHARD.
Na, ich danke. Besser wie mir. Sie hat Ruhe. –
ALEXANDER
sieht ihn an.

Hm. Er nimmt eine Zigarre aus [100] seinem Etui. Ja: das ist nun eine äußerst schwierige Sache –: Sie rauchen nicht?

BERNHARD.
Nein. Aber bitte ...
ALEXANDER.

Infolgedessen wird die Herrin den Tabaksgeruch gar nicht mehr gewöhnt sein. Und Sie ... sind hier eigentlich doch zu wenig kompetent .. Er hat währenddem die Zigarre abgeschnitten, in Brand gesetzt und raucht jetzt mit Behagen die ersten Züge. ... sonst würd ich Sie nämlich um die Erlaubnis gebeten haben.

BERNHARD.
Na ja: da haben wir's?! Nun fangen Sie auch noch an!
ALEXANDER.
Aber, was denn?
BERNHARD.

Ach, liebster Herr Doktor –! Sie haben ja keine Ahnung, wie ich hier in diesem Hause behandelt werde ... Das spottet einfach jeder Beschreibung!

ALEXANDER
behaglich.
Na ... dann beschreiben Sie's mal.
BERNHARD.

Wenn mir das früher einer gesagt hätte! und ich ... säße infolgedessen jetzt ... wegen Totschlags aus Jähzorn im Gefängnis – mir wäre wohler.

ALEXANDER.
Na nu!
BERNHARD.

Sehn Sie ... ehemals, wenn ich so in den Ferien nach Hause kam ... und so sah, wie mein guter alter Onkel so hin und wieder saugrob wurde gegen die Leute ... das konnt er werden ... da fand ich, als empfindsamer Musensohn, das einfach schrecklich, einfach schrecklich. Einmal hab ich meinem Onkel sogar eine richtige Rede darüber gehalten ... A-ber, wissen Sie – das war ja alles Kinderei, das war ja der reine Humanitätsdusel im Vergleich mit der Art und Weise, wie man hier mit mir umspringt! – – Und, was das Schönste ist, nicht bloß die Herrin behandelt mich so ... na, wie soll ich sagen ... so als liebenswürdigen Zimmerschmuck ... auch die Sklavin, diese gußeiserne Hedwig ... glauben Sie, die hätte irgendwie eine begründete Überzeugung von der Zweckmäßigkeit meines Daseins? Keine Spur.

[101]
ALEXANDER
lacht.
BERNHARD.

Ach, lachen Sie nicht! Das ist sehr schlimm. – Noch hab ich ja wenigstens einigen Galgenhumor ... aber auf die Dauer ... wie soll man sich selber dabei den guten Glauben ... an die Wichtigkeit der eigenen Existenz erhalten!

ALEXANDER
trocken.
Sie haben recht. Das muß furchtbar schwer sein.

Pause.
BERNHARD
in verändertem Ton, sehr ernst.
– Und es geht auch nicht so weiter. –
ALEXANDER
ebenfalls ernst, beinah erschrocken.
Was – sagen Sie?

Pause.
BERNHARD.

So was paßt eben nicht für jeden. Bei Ihnen war das was anderes. Bei Ihnen hatte es keine Gefahr ... mit der Selbständigkeit. Sie standen ihr in anderer Beziehung nicht nur gleichberechtigt gegenüber, waren ihr nicht bloß gewachsen – Sie waren ihr sogar von vornherein entschieden überlegen, als ihr Lehrer gewissermaßen. Sie hatte sich Ihnen geistig ein für allemal untergeordnet.

ALEXANDER.
Leider, ja.
BERNHARD.

Ich dagegen besitze Gott sei Dank nicht die geringsten pädagogischen Talente! Und da Hanna nach dieser Richtung hin bisher offenbar – verwöhnt war – so gelt ich ihr nicht für voll. Ein Erzieher wird gesucht!

ALEXANDER.
Na, na, na ...
BERNHARD.

Ja, ja! Sie hat mich gewiß sehr lieb – das weiß ich – aber die Art und Weise, wie sie mich behandelt, das ist doch ... das ist doch nicht ...

ALEXANDER.
Nun?
BERNHARD.
Ach! Das ist doch so nicht das richtige Verhältnis zwischen Mann und Weib.
ALEXANDER.
Hm, hm!
BERNHARD.

Nie und nimmer nicht! Wissen Sie, wie mir das vorkommt? Direkt verdreht kommt mir das [102] vor: gerade umgekehrt! Als ob ich – ihr Geliebter wäre.

ALEXANDER.
Ja – ist das denn nicht der Fall?
BERNHARD.
Mein Herr!
ALEXANDER.
Mein hoher Herr!
BERNHARD.
Ach! Sie verstehn mich ja ganz gut.
ALEXANDER.

Ja – wer weiß! Vielleicht ... verstehe ich Sie so, daß nach Ihrer Ansicht die Sache in Ordnung wäre, wenn Hanna – Ihre Geliebte wäre.

BERNHARD
verdutzt.

Wie? – Na nehmen Sie's mir nicht übel, aber – es ist doch wirklich arg, in welcher Weise sich Menschen wie Sie ... das Einfachste und Natürlichste, was es überhaupt auf der Welt gibt .... das Verhältnis zwischen Mann und Frau ... künstlich verzwickeln und verzwackeln, bis kein gesunder Mensch mehr draus gescheit wird. Ja, ja! Darin sind Sie Virtuose! Von Ihnen hat auch Hanna alle ihre Schrullen.

ALEXANDER
qualmend.
Wenn ich von Ihnen absehe ..
BERNHARD.
Von mir nimmt sie gar nichts an.
ALEXANDER.

So. Na, wie Sie meinen. Jedenfalls –: Menschen wie ich glauben eben nicht daran, daß ... das Verhältnis zwischen Mann und Frau ... heutzutage wirklich so einfach, so natürlich gegeben sei. Menschen wie ich sind vielmehr der Überzeugung, daß es zurzeit einmal wieder Problem geworden ist.

BERNHARD.
»Problem!« – Ich bin kein Nußknacker.
ALEXANDER.
Nein. Es wäre unrecht, das zu behaupten.

Pause.
BERNHARD
treuherzig.

Lieber Herr Doktor! Mir ist das Herz so voll! Und Ihnen gegenüber hab ich von jeher ein so unbegrenztes Vertrauen gehabt. – Sie haben mir noch nicht gesagt, weshalb Sie herkommen, aber es ist gut, daß Sie da sind. Lassen Sie mich mal wahnsinnig offen gegen Sie sein. Sie sind der einzige Mensch, den ich kenne, vor dem man sich damit nichts vergibt. Er reicht ihm die Hand.

[103]
ALEXANDER
nimmt die Hand und sieht ihn an.
Ernst. Ich danke Ihnen. –
BERNHARD.

Sehn Sie: wenn ich mir Hannas Wesen klarzumachen versuche ... ich weiß ja so schrecklich wenig darüber, wie sie eigentlich – geworden ist. Ich habe sie durch Sie als eine fertige, in sich abgeschlossene Natur kennen gelernt ...

ALEXANDER.
Meinen Sie? Nun – ich und die Tatsachen, wir können Ihnen darin nun leider doch nicht recht geben.
BERNHARD.
Ja ...
ALEXANDER.

Aber einerlei. Sie wollen von mir etwas über die Zeit hören, wo ich ... Hannas Erzieher war. Nicht wahr? Nun ja: ich versteh schon. –


Pause.

Ja, also – das Einmaleins hab ich ihr nicht beigebracht. Und daß es im Leben häßlich eingerichtet sei, auch nicht. Solche Elementarkenntnisse brachte sie mit. – Aber andre Sachen, daß es sehr schöne Verse gäbe ... und sehr schöne Bilder und ... und auch guten Rotwein ... Und daß das Leben überhaupt um des Leben willen schön sei. Solche Dinge, wissen Sie. – – Hm. Ja. Wenn ich an dieses Erwachen, dieses Aufkeimen, an diesen Frühling in ihren Sinnen denke! ... Hungrig und durstig war sie zu mir gekommen. Es war ja wie eine neue Welt für sie! Wie eine neue Religion – der Schönheit – der Kunst – des Genusses. Bis dahin war die Partei ihr ein und alles gewesen. Solange da der holde Glaube an die baldige Revolution ... vorgehalten hatte, war das ja gegangen. Aber nun war er weg. Und was noch blieb – du lieber Gott! Das war doch alles gar zu schnell vom Verstande verzehrt – von einem solchen Verstande! Und nun das Herz ... das Gemüt ... und die lieben Sinne? Die hungerten und dürsteten, wie gesagt – es war ein Jammer mit anzusehn. – – Da hab ich ihr nun alle Türen weit geöffnet! Und was hab ich mich da aus innerstem[104] Herzen freuen dürfen, wie sie alsbald, nachdem so die erste Schüchternheit überwunden war, mit naivem Appetit an all die guten Dinge des Lebens heranging! – Mit einem tiefen Seufzer. Ja! – – Und noch jetzt ... an Wintertagen ... werd ich warm, wenn ich daran zurückdenke. – Vor dem Frühling selber aber ... flucht ich ... nach Italien. Der ist mir nun mal ... verleidet. Und da unten, da ist er jetzt schon – überstanden.


Pause.
BERNHARD.

Hm. – Und ... Herr Doktor ... entschuldigen Sie ... haben Sie nun damals nie daran gedacht, Hanna ... zu heiraten?

ALEXANDER
fährt vor Überraschung ein wenig zusammen.
Ach – haben Sie vielleicht einen Aschenbecher?
BERNHARD.
O Pardon! Stellt ihm einen hin.
ALEXANDER.
Danke schön. Hm. – O ja, mein Lieber: daran hab ich wohl gedacht.
BERNHARD.
Aber?
ALEXANDER.
Aber sie nicht.
BERNHARD.
Was?! Sie wollte nicht?!
ALEXANDER.
Nein.
BERNHARD.
Unmöglich! Pardon, aber – das versteh ich nicht. Das ist mir neu.
ALEXANDER.

Nicht wahr? Das geht wider die Natur! Aber trösten Sie sich, Herr Baron –: ich als Plebejer hab es damals auch nicht gleich – kapiert. Ja, ja. Seufzt. Na, das soll uns aber nicht abhalten, die Fahne der Wissenschaft und ... und der »Philosophie des freien Menschentums« aufrecht zu erhalten, und wenn Sie so viel Einfluß auf Ihre Freundin, die gußeiserne Hedwig zu besitzen glauben, so bitte, klingeln Sie mal und bestellen mir irgend was Trinkbares: mein Abenddurst meldet sich.

BERNHARD
klingelt.
Verzeihen Sie: ich hätte schon dran denken können.
HEDWIG
von links, zu Alexander.
Herr Doktor befehlen?
BERNHARD
scharf.
Ich habe geklingelt. Bringen Sie eine Flasche Zu Alexander. Rotwein, nicht wahr?
[105]
ALEXANDER
lächelnd, nickt.
HEDWIG.
Ich habe keinen Schlüssel.
BERNHARD.
Ach bitte, dann gehen Sie gefälligst hinunter und lassen ihn sich von Fräulein geben.
ALEXANDER
gibt der noch zögernden Hedwig hinter Bernhards Rücken einen Wink, worauf sie nach hinten abgeht.
Na, sehn Sie, wie sie gehorcht.
BERNHARD.

Gehorcht? Das nennen Sie gehorchen? Solche Augen hab ich ihr erst machen müssen!Schaut Alexander gebieterisch an. Da haben Sie's nun mal selber gesehn. Das muß ich mir nun gefallen lassen. Ich! – Nein, nein! Es geht nicht! Ich bin nun einmal nicht der Mensch dazu. Das hab ich einfach nicht gelernt! Es scheint, ich soll mir erst durch kordiale Formen die Schwesternliebe dieser Person erschleichen – ehe ich sie um etwas bitten darf. Wetter auch! Das ist mir nicht gegeben! – – – Aber wenn ich Hanna das sage, dann ... dann lacht sie!

ALEXANDER.
Ja, sie ist ein herzloses Weib.
BERNHARD.

Sie ist das herrlichste Weib der Welt, aber in einer Weise egoistisch –: es existiert für sie nichts – absolut nichts – außer ihr.

ALEXANDER.
Gott sei Dank.
BERNHARD.

Und was ist aus mir geworden! Ich habe ja gar keine Konturen mehr. Ich ... Aufgeregt. Aber es hat ein Ende. Heute noch! Ich wollt's Ihnen schon vorhin sagen ... es ist das ein Entschluß, mit dem ich mich schon lange trage. Ganz einerlei ... alles einerlei ... ich frage sie heute noch, ob sie – meine Frau werden will – meine Frau.

ALEXANDER.
Oh! – Warum wollen Sie sich den schönen Abend verderben? –
HEDWIG
kommt von links mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern.
Sie serviert und geht wieder ab.
ALEXANDER
schenkt sich ein und kostet.
BERNHARD
unruhig auf und ab.
ALEXANDER
besieht die Etikette der Flasche.

Lächelnd, für sich. Ach ja. Hm. Laut zu Bernhard. Na – aber schließlich: [106] sie hat ja Humor. Vielleicht nimmt sie's doch ganz gut auf. Hoffen wir das Beste.

BERNHARD.
»Wir wollen doch so frohe Menschen werden« ... Sagte sie!
ALEXANDER
gemütlich.

Hm. Mein lieber Herr von Vernier, bitte: kommen Sie her! Setzen Sie sich mal hübsch zu mir! So. Schenkt ihm ein. Prosit!Stößt mit ihm an. Sein wir vergnügt! Wissen Sie, wer uns heute Abend noch besuchen wird?

BERNHARD
apathisch.
Nein.
ALEXANDER.
Ein gewisser Konrad Thieme.
BERNHARD
springt erregt auf.
Was?! Der Mensch, der auf Sie geschossen hat?
ALEXANDER.
Nun ja: weshalb meinen Sie denn, daß ich sonst hier wäre?
BERNHARD.
Heute noch?
ALEXANDER.
Ja.
BERNHARD.
Was kann der Mensch denn wollen?!
ALEXANDER.

Ja, das weiß er wohl selber nicht. Jedenfalls kommt er. Ich weiß es von einem meiner Arbeiter, einem alten Freunde von ihm. Dem hat er dummerweise sein Herz ausgeschüttet, und bei der Gelegenheit ... ist auch ein funkelnagelneuer Revolver zum Vorschein gekommen.

BERNHARD.
Revolver!
ALEXANDER.

Ja. Ach dabei müssen Sie sich weiter nichts denken. Das sind die schlechtesten Menschen noch lange nicht, die gern bewaffnet unter die Leute gehn. Die transatlantischen Umgangsformen, die Theorie der persönlichen Exekutive ...

BERNHARD.
Und Sie haben ihn nicht verhaften lassen?
ALEXANDER.

Verhaften? Nein. Das ist nicht mein Geschmack. Überdies, wer weiß denn –: wahrscheinlich hat der Mann ganz recht. Er hat doch seine Informationen jedenfalls aus Hannas Familienkreisen. Na und da kann ich's ihm gar nicht übelnehmen, daß er herkommt, um sie totzuschießen. Ich würde [107] das an seiner Stelle vielleicht auch tun, wenn es mir sonst ... die Mittel meines Temperaments erlaubten.

BERNHARD.

Ich ... ich bin noch ganz ... verwirrt. Sie sagen das alles mit einer Ruhe, als ob Sie selber gar nichts befürchteten ... als ob das alles nur Scherz wäre. Und doch kommen Sie selber her und ...

ALEXANDER.

Ja, sehn Sie: ich möchte doch nicht, daß Hanna allein wäre, wenn der junge Mann ihr ... seine Visite macht. Ich halte es immerhin für zweckmäßig, wenn jemand da ist, der dem Komparenten mit ... Vernunftgründen begegnen kann. Hanna gegenüber wird er vermutlich ... sinnlos rasen. Sie werden ... ihm gegenüber vermutlich auch nichts Besseres tun: da könnte ich ihm vielleicht ... bei meiner ausgesprochenen Begabung zum Akademiker ... mit einer lichtvollen Klarlegung der tatsächlichen Verhältnisse dienen. Das ist manchmal viel wert. – Na und im Notfall – Er zieht einen Revolver aus der Tasche und zeigt ihn Bernhard. Ich hatte auch noch so 'n Ding liegen.

BERNHARD
sehr aufgeregt.

Das ist ja ... Mit plötzlichem Schreck. Wo bleibt Hanna? Finden Sie nicht, daß sie längst oben sein könnte? Es ist halb Acht! Wenn der Mensch ihr aufgelauert hätte! Ich will hinunter ...

ALEXANDER
ruhig.

Sein Sie unbesorgt, mein lieber Herr von Vernier –: der schießt nur en face. Das kenn ich. Der weiß auch, daß sie ihn vorläßt, wenn er zu ihr will.

BERNHARD.
»Vorläßt«!? Um Gotteswillen! Man muß die Hedwig instruieren. Eilt zur Klingel.
ALEXANDER.

Ich fürchte, daß Ihnen in diesem Falle selbst Ihre gußeiserne Freundin nichts helfen wird. Was Hanna will – hat sie noch immer durchgesetzt. Ah ...

HANNA
öffnet von außen die Tür im Hintergrunde.

Spricht nach außen. Es ist gut. Sie können dann schließen. Fordert Konrad zum Eintreten ein. Bitte. Komm.

KONRAD
ausländisch gekleidet, beträchtlich gealtert, bleich und bartlos, tritt ein.
[108]
BERNHARD
am Schreibtisch links, wie angewurzelt.
ALEXANDER
ist bei Hannas Stimme unwillkürlich heftig zusammengefahren, hat sich aber gefaßt, sich langsam erhoben und zu den Eintretenden umgewendet.
KONRAD
hat anfangs Alexanders Blick erwidert, ohne ihn zu erkennen.
Plötzlich heftig erregt. Sie! Sie sind es! Hier! Was heißt das? Was bedeutet das?
ALEXANDER
geht ruhig auf Konrad zu und reicht ihm die Hand.

Herr Thieme –: ich bin nicht Ihr Feind. Er hält ihm die Rechte hin, indem er die Linke flüchtig Hanna reicht, die sie schnell drückt.

KONRAD
zögert erst.
Dann, auf einen Blick Hannas, schlägt er ein.
ALEXANDER
hält seine Hand einen Augenblick fest, beide sehn sich an.
HANNA
zu Alexander.

Ich hörte schon, daß du gekommen wärst. Mit einem Blick des Einverständnisses. Ich danke dir. Zu Bernhard. Nun ... Bernhard ... du stehst ja so abseits? Zu Konrad, mit einer vorstellenden Handbewegung. Der Herr Graf, von dem dir mein Vater schrieb –

BERNHARD
aufs äußerste verletzt.
Aber Hanna, ich bitte dich, wie kannst du nur ... ich begreife dich nicht ... ich ... Stockt.
HANNA.
Wie? – Ach du weißt wohl nicht ...
BERNHARD
schroff.
Ich weiß genug.
HANNA
streng.
Bernhard! –
BERNHARD
unter dem Zwange ihres Blickes mühsam höflich.

Herr ... Thieme ... Sie werden es wohl nicht so unbegreiflich finden ... daß ich, der gar nicht weiß ... in welchen Absichten, mit welchen Gedanken Sie ... Mit Betonung. zu meiner Braut kommen ... daß ich zögere, Sie hier willkommen zu heißen ... Sagen Sie uns, was Sie hier wollen! Was Sie herführt! Ich hoffe, daß Sie vor meiner Braut ... die Achtung hegen, die sie beanspruchen darf und die ich fordre!

KONRAD
unsicher.
Herr Graf, Sie sprechen von Ihrer Braut?
[109]
BERNHARD
kurz.
Ich bin nicht Graf. Ich heiße von Vernier.
KONRAD
aufbrausend.
Herr! Es ist mir auf der ganzen Welt nichts gleichgültiger. –
BERNHARD
einfallend, heftig.
Wollen Sie nun –
ALEXANDER
laut.
Vernier!
HANNA
gleichzeitig.
Bernhard!

Pause.
HANNA
zu Konrad.

Ja – er sprach von seiner – Braut. Zu Bernhard. Du meintest wohl mich damit. Zu Konrad. Aber daran mußt du dich nicht stoßen. Bernhard kennt dich ja nicht. Er meint vielleicht, du würdest vor der ... Braut des – Entschuldige, Bernhard! – des Herrn von Vernier – mehr Respekt haben, als vor – einem selbständigen Menschen – vor mir.

BERNHARD.

Ich habe allerdings noch nicht den Vorzug, Herrn Thieme zu kennen, und halte mich daher für sehr wohl berechtigt, ihn zu fragen, was er hier will.

KONRAD
schwer.

Ich tue ... was ich tun muß ... damit ich ... ich ... nicht ersticke. Und ich habe noch nie danach gefragt, ob das ... gerade andern genehm ist.

ALEXANDER
zu Bernhard, diesem das Wort abschneidend.

Wie ich Herrn Thieme zu kennen glaube ... hat er selber gar keinen leidenschaftlicheren Wunsch, als ... seine frühere Braut hoch achten zu dürfen. Nur – er ist über sie sehr schlecht unterrichtet worden, man hat sie verleumdet, ihr Bild verzerrt ... und er kommt nun hierher, um sich – von der Wahrheit zu überzeugen. Zu Konrad. So ist es doch. Nicht wahr?

KONRAD.
... Ja ...
ALEXANDER
jovial.
Nun also. – Nun kommen Sie, Herr Thieme: setzen Sie sich hierher ... in meine Nähe ... so ...
KONRAD
ist im Begriff seiner Aufforderung nachzukommen.
Auch Hanna und Bernhard nähern sich dem Mitteltisch, um sich zu setzen.
ALEXANDER.
Den Brief, den Sie mir vor einem halben Jahr –
[110]
BERNHARD
flüstert, während Alexander spricht, Hanna schnell etwas zu.
HANNA
schüttelt mit dem Kopf.
KONRAD
der dies bemerkt, plötzlich mit großer Heftigkeit, überlaut.

Nein! Nein! Nein! Ich will nicht! Ich will mich hier nicht einlullen lassen! Zum Teufel mit den glatten Redensarten! Ich will ausführen, weswegen ich gekommen bin. Weiter nichts. Hanna! Mit dir habe ich zu sprechen! Mit dir ganz allein!

BERNHARD
sucht sich zwischen Hanna und Konrad zu drängen.
HANNA
weist ihn mit einer Handbewegung zurück.
ALEXANDER
der sich bereits wieder gesetzt hatte, erhebt sich schnell und faßt Konrad scharf ins Auge.
Alles dies geschieht, während Konrad spricht. Dann kurze Pause.
HANNA
ruhig, indem sie Konrad voll ansieht.
So sprich!
KONRAD
mit verhaltener Leidenschaft.

Hanna, wir ... wir haben uns vor Jahren wohl verstehen können. – Ich weiß nicht, ob es jetzt überhaupt noch möglich ist. Damals kämpftest du – und das tue ich noch heute – für die Menschheit! Ihr Elend rührte dich noch ... das Unrecht, das sie litten, erbitterte dich noch ... und du wolltest mitarbeiten an ihrer Befreiung ... an ihrer Erlösung! – – Und jetzt?

HANNA.

Konrad, ich habe mir die Menschen ... meine lieben Mitmenschen ... wie ich mir einbilde, gründlich angesehn. Glaube mir: nicht die äußeren Feinde einer Partei sind es, die einen von ihr entfremdeten. Jeden, der kein Schwächling ist, werden die nur härter machen. Aber all jene zahllosen bitteren Enttäuschungen, die man jahraus, jahrein an Freunden und Genossen zu erleben hat, diese kleinen jämmerlichen Intrigen und lächerlichen Niedrigkeiten aller Art –: und über dem Ganzen – dies indolente Protzentum der gesinnungstüchtigen Hohlköpfe – das war es, siehst du, das alles, was mir das Parteileben schließlich zur Hölle gemacht hat! – Dazu kam, daß ich mit der Zeit jede Form der Vergewaltigung hassen gelernt hatte. Nicht bloß die ein oder andere. [111] Ich sah, wie sie es trieben – diese Menschen, die vorgaben, eine bessere Zukunft gepachtet zu haben. Der Glaube, daß man die Welt erlösen könne, indem man eines Tages an die Stelle einer ... fertigen Gewalt ... diese hoch unfertige setzt – der ist mir da freilich abhanden gekommen. – Und so hab ich mich denn auf eine Art von innerer Mission resigniert und mit der ... bei mir angefangen. Du magst das meinetwegen Egoismus nennen. Mir scheint ... die Menschheit würde schneller vorwärts kommen ... wenn es mehr solche – Egoisten gäbe.


Pause.
KONRAD
dumpf.

Auch ich ... glaube nicht mehr ... an vieles nicht mehr. Fanatisch. Aber trotzdem – ich ... Abbrechend. Aber davon wollen wir jetzt nicht weiter sprechen. Ich kann begreifen, wie du so geworden bist. Nur das eine! Sag mir nur das eine –: dieser Mann hier, was ... was hat er für ein Anrecht an dich?

HANNA
hell.
Ich – liebe ihn!
BERNHARD
losplatzend.
Was berechtigt Sie ...
HANNA
schnell.

Bernhard! Was berechtigt denn dich? Er ist ja zu mir gekommen. Zu mir – nicht zu dir. Und ich will ihm Rede stehn. – Konrad: das ist alles, was ich zu sagen habe. Ich – liebe ihn. Ein anderes – Anrecht hat er nicht an mich. – Leise, warm und eindringlich. Konrad: was hast du von mir denken können! Du – von deinem alten Kameraden? – – Vorhin fragtest du, wie es möglich sei, daß Könitz hier wäre. Sieh – ich weiß – ihn hab ich tief ... tief verwundet ... damals, als er fühlte ..... Aber meinst du: er wäre einen Augenblick an mir irre geworden? Nein! In seiner vornehmen Güte ...

ALEXANDER
brummt mißbilligend.
Na, na ...
HANNA
sieht zu ihm hinüber, mit Betonung.

In seiner vornehmen Menschengüte hat er damals noch Ruhe und Humor erheuchelt – nur damit es mir leichter [112] würde, das zu tun, was auch in seinen Augen meine Pflicht war – mich freizumachen – von ihm. Indem sie Alexander die Hand reicht. Hab ich dich verstanden, Alexander?

ALEXANDER
drückt ihre Hand.
Bewegt. Hm ... hm. –
HANNA
wieder zu Konrad.

Und Bernhard – der Graf, zu dessen Maitresse ich avanciert bin ... Bewegung aller. Ja, ja –: es klingt nicht hübsch. Aber ich muß es mir noch öfter wiederholen –: es ist das Urteil eines Vaters über seine Tochter. Nicht wahr? So stand es doch in dem Briefe, den er dir nach London schrieb?

KONRAD
nickt.
HANNA.

Nun – Bernhard hat mich vorhin seine Braut genannt. Das war unrecht von ihm. Sehr unrecht. Denn – frage ihn nur –: ob schon jemals, seit wir uns lieben, zwischen uns beiden von Heirat die Rede gewesen!

BERNHARD.
Bis jetzt noch nicht, nein. Aber ...
HANNA
lebhaft.

Siehst du! Siehst du! Heftig. Denn du mußt wissen: ich möchte doch immer noch lieber seine Maitresse heißen – als seine Braut. Bewegung aller. Ja. Leidenschaftlich. Weit erbärmlicher wär's mir, wenn ich in meiner Position auf eine solche Ehe spekuliert hätte – als von so einem armen dummen Mädel, das ... nun ja: das man nachher, wenn sie auf einen hereingefallen ist, Maitresse schimpft! – Sieht sie an. Das kann euch nicht wundern. – Wieder ruhiger. Und – verzeih mir, Bernhard – aber gerade das hat öfter störend zwischen uns gelegen ... zumal seit dem Tode deines Onkels –: »Ist sie nun am Ziele?« – Aus Furcht vor diesem quälenden Gedanken – glaube mir! – hab ich oft meine ... meine Grenzen eifersüchtiger bewacht, meine Unabhängigkeit eigensinniger betont, als mir mein ... Gefühl gebot. Bernhard – sag es hier – vor diesen – nicht wahr: dir ist niemals, – niemals der Gedanke gekommen ... der Verdacht: als ob ich hätte – »Gnädige Frau« werden wollen.

[113]
BERNHARD.
Aber Hanna, wie kannst du nur ...
HANNA.
Sag: nein!
BERNHARD.
Nein! Nein! Inniger Händedruck der beiden.

Pause.
ALEXANDER
zu Konrad.
Nun, Herr Thieme? –
KONRAD
wie aus einer Erstarrung auffahrend.

Ja ... Ich ... muß fort. Er tritt auf Hanna zu und spricht stoßweise mit mächtig arbeitender Brust. Hanna ... es ist wahr ... ich ... habe dir ... Unrecht getan ... Unrecht getan. Menschen, die dich nicht kennen, die dich nie begreifen werden ... haben mich belogen. Du – bist niemandem Rechenschaft schuldig – du hast deine Gesetze hier ... in dir. Das fühl ich jetzt. – Wenn du willst ... verzeih mir und ... Weiter nichts. – Leb wohl!


Er geht, ohne auf die andern zu achten, mit schnellen Schritten ab.
ALEXANDER
sich erbebend.

Herr Thieme! Herr Thieme! So warten Sie doch. Ich wollte Ihnen ja noch ... Da läuft er nun wieder drauf los ... Zu Hanna. Einen Augenblick, ich – Sieht die beiden an. Fürchte übrigens nicht, durch meine Abwesenheit zu stören. Ab.

BERNHARD.
Hans! Er zieht sie an sich.
HANNA
an seiner Brust, leise.
Bernhard ... ich sagte dir doch ... vorhin ... daß ich dir etwas ... zu sagen hätte ...
BERNHARD
zärtlich.

Daß wir frohe Menschen werden wollten ... ja, Hans ... das sagtest du ... und ich, ich weiß nur einen Weg dazu, nur einen Weg, Hanna – werde mein Weib!

HANNA
lächelnd, leise.
Bin ich das nicht?
BERNHARD
leidenschaftlich.

Hanna – zeige mir, daß du mich liebst – einfach – warm und natürlich, wie wir sterblichen Menschen es sollen. Opfere mir ... opfere mir nur ein weniges ... von deinem Stolze ... von deiner unausstehlichen Selbstherrlichkeit. Zeige mir, daß ich nicht auch etwa bloß – dein Lehrer bin. – Sieh: ich – kann es nicht länger ertragen. Ich unterliege unter den kleinen Demütigungen, die mir [114] deine ... unnahbare Überlegenheit, diese ... diese schreckliche Unabhängigkeit bereitet. Und daß ich so wenig teil an dir habe ... Ich bin nun einmal so. Du mußt mich doch auch – nehmen wie ich bin ... Nur ein Weniges opfere mir. Werde meine Frau! Verkauf diesen Trödel! Verlaß mit mir Berlin!

HANNA
mit fröhlich erstauntem Lächeln.
Aber Bernhard ...
BERNHARD
eindringlich.

Wenn du die Herrin von Westernach sein wirst ... Hanna! Du glaubst es doch wohl selber nicht, daß du je das Geringste von deiner geliebten Souveränität verlieren könntest! Nur schöner wird sie dir stehn ... vornehmer vor aller Welt! Und dann, Hanna: sieh – du hast eben noch zugegeben, daß du allzu eigensinnig auf deine jetzige Selbständigkeit pochst, weil du immer in Furcht bist, es könne in mir der Gedanke aufkommen, du wolltest geheiratet werden ... Nun sieh –: du hast es ja in der Hand –: heirate mich – und du bist die Furcht für ewig los.

HANNA
fröhlich lachend.
O Bernhard – was ist das für eine Logik!
BERNHARD.

Zum Teufel mit der Logik! Es handelt sich um unser Glück! Was gilt dir mehr: deine Prinzipientreue oder ... oder du und ich.

HANNA.
Du und ich und ...
BERNHARD
fast erschrocken.
Was?! Hanna – du ... du willst also? Ja?
HANNA.
Ja. Ich will. Ich will.
BERNHARD
stürmisch.
O du, du ... Das war wohl ... Wolltest du mir das sagen? Das? Ja?
HANNA.
Nein ... das nicht. Aber ...
BERNHARD.
Nun?
HANNA
leise.

Ach, Bern: ich für mich allein ... ich hätte nie daran gedacht ... aber ... Ihre Stimme ist leiser geworden, sie verbirgt sich an seiner Brust.

BERNHARD
macht einen Augenblick ein sehr dummes Gesicht.
Für dich allein ...?
HANNA
vorwurfsvoll, daß er sie nicht versteht.
Bernhard!
[115]
BERNHARD
begreift.

Ah ... Außer sich vor Glück. Hans! Hans! Jetzt bist du erst mein Weib ... wie?Setzt sich und zieht sie auf seinen Schoß. Jubelnd. Jetzt bist du mein Weib!

ALEXANDER
kommt außer Atem wieder.
Gott Sei Dank – hab ihn noch gekriegt! Bemerkt die beiden. Na nu?
BERNHARD
jubelnd.
Doktor! Sie sagt ja! Sie sagt ja! – Wer hat nun recht?
HANNA
verbirgt den Kopf an Bernhards Brust.
ALEXANDER.
Ich. – Sie hat eben Humor.

Ende.

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TextGrid Repository (2012). Hartleben, Otto Erich. Dramen. Hanna Jagert. Hanna Jagert. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-37D4-0