Friedrich Hebbel
Die einsamen Kinder
Märchen

[274] 1

Es war ein schauerlicher Winterabend. Der Sturm brauste um die Dachhaube, als ob er sie abreißen wollte, der Regen schlug in dicken Tropfen an die kleinen, hier und da mit Papier verklebten Bleifenster, und in dem elenden Kämmerlein, in welches ich euch hineinführe, brannte kein lustiges Kaminfeuer. Dennoch hatten Wilhelm und Theodor, die armen, verwaisten Kinder, sich dicht nebeneinander auf die kalte Ofenbank gekauert, vielleicht, um dort von einem warmen Ofen und hinreichenden Abendbrot zu träumen, vielleicht, um sich glücklicherer Stunden an dem Platze, wo sie sie vorzugsweise genossen haben mochten, zu erinnern. Doch die Kälte war zu scharf, der Hunger zu groß, als daß sie von Träumen warm oder von Erinnerung satt hätten werden können; sie seufzten, sie sahen einander mit tränenvollen Blicken an, und als zuletzt gar die armselige Lampe, welche bisher noch einen schwachen Schimmer in der großen, leeren Stube, die sich bei dem gänzlichen Mangel an Möbeln fast unheimlich ausnahm, verbreitet hatte, ganz und gar ausging, schauderte der kleine Theodor zusammen und sagte halbleise zu seinem Bruder:

»Wilhelm, ich fürchte mich, laß uns zu Bett gehen!«

»Ich fürchte mich nicht«, gab Wilhelm zur Antwort, »aber ich friere und hungere, und wenn ich auch zu Bett gehe, so kann ich doch vor Hunger nicht schlafen!«

»Schlafen kann ich«, erwiderte Theodor, »und ich träume dann immer sehr angenehm, ich gehe mit Vater und Mutter spazieren im Walde, wir pflücken Erdbeeren, Mutter schneidet mir große Butterbröte, oder Vater bringt mir etwas mit aus der Stadt.

Träumst du nicht, Wilhelm?«

»O ja«, versetzte dieser, »aber meine Träume sind anderer Art.

Einmal sah ich, wie die Hütte über uns zusammenstürzte, ich sprang aus dem Fenster, du warst zu langsam und wurdest zerschmettert; [274] ich sehe dich noch unter den Balken liegen mit dem blutigen, zerquetschten Kopfe. Ein anderes Mal gingen wir zusammen im Walde; du fandest eine schöne Frucht, wie wir noch niemals gesehen hatten, als wir sie aber essen wollten, kam plötzlich ein großer Raubvogel und riß sie dir mit dem hungrigen Schnabel aus der Hand; ich erhaschte ihn bei den Flügeln; er aber hackte mir ins Auge, so daß ich ihn loslassen mußte.«

»Armer Wilhelm«, sagte Theodor, »ich wollte, daß ich dir meine Träume mitteilen könnte! Es ist doch schlimm, daß du in dem selben Augenblick, wo mir träumt, du begleitest mich, issest mit mir und teilst meine Freuden, in Angstschweiß liegen und mit Ungeheuern kämpfen mußt.«

»Ach was«, entgegnete Wilhelm unwillig, »mit meinen Träumen wollte ich leicht fertig werden, wenn wir nur am Tage etwas zu essen hätten. Du bist auch viel ungeschickter als ich; weißt du wohl, daß ich gestern und vorgestern beide Male eine Drossel fing? Wenn es mir aber mit dem Fange nicht geglückt, du bringst nie das Geringste nach Hause. Ich weiß kaum, warum ich noch immer mit dir teile; wärst du nicht gewesen, so hätte ich noch Kartoffeln und Brot die Menge gehabt.«

»Du bist wieder einmal recht sehr hart gegen mich«, antwortete Theodor nach einer ziemlich langen Pause, »ich weiß wohl, daß ich selten oder niemals Glück habe, wenn ich in den Wald gehe, um Wurzeln zu suchen oder ein kleines Tier, einen Vogel usw. für unseren Tisch zu fangen, aber ich lasse es doch an gutem willen nicht fehlen und bin ja auch noch nicht so groß wie du.«

Ein tiefes Stillschweigen entstand. Schauriger brauste der Sturm. Nach einer Weile sagte Theodor:

»Wilhelm, ich lege mich zu Bett; es ängstigt mich gar zu sehr, ich meine bei jedem Windstoß, daß die Hütte zusammenbricht.«

»Gehe nicht zu Bett, lieber Theodor«, versetzte Wilhelm und faßte seine Hand, »fühlst du nicht, wie ich zittere? Es war mir eben, als ob Vater vor mir stände, so blaß und entstellt, wie er draußen in der Kammer liegt; weiß du noch, wir sahen ihn zum letztenmal, als wir Mutter hineintrugen. Er drohte mir mit dem Finger, o, Theodor, ich will dich recht lieb haben!«

»Ach, Wilhelm«, entgegnete Theodor leise, »mich grauset bei deinen Worten. Ich glaubte, unsere Mutter zu sehen, sie schaute [275] mit trüben, ernsthaften Blicken auf dich und schlug ihre Augen dann gen Himmel. Sollten unsere Eltern wirklich noch leben; sollten sie in einem tieferen Schlafe liegen und nur selten er wachen dürfen? Wollen wir einmal in die Kammer gehen?«

»Nein, nein!« antwortete Wilhelm hastig, »ich gehe nicht in die Kammer. Vater und Mutter sind tot; sie haben uns oft gesagt, daß die Toten vor dem Jüngsten Tage nicht wieder erwachen.«

»Wie, Wilhelm«, versetzte Theodor, »wenn heute der Jüngste Tag wäre? Hast du jemals einen solchen Sturm erlebt? Es ist, als ob alle Bäume aus der Erde gerissen würden.«

»Wir wollen beten«, sagte Wilhelm, »bete, Theodor!«

»Und ich will den lieben Gott um den Jüngsten Tag bitten«, antwortete Theodor und faltete seine Hände.

Plötzlich ließ sich vor den Fenstern ein wildes Gelächter vernehmen, und es war, als ob an die Tür gepocht würde.

»Was war das?« rief Wilhelm.

»Bruder, Bruder, bete!« rief Theodor.

Das Gelächter wurde stärker und wilder wiederholt, ein helles Licht drang in das Fenster, und seltsame Gestalten huschten, wie Schattenbilder, vorüber. Theodor klammerte sich ängstlich an seinen Bruder, dieser aber rief: »Laß mich los, laß mich los, ich will hinaus!«

»Um Gottes willen nicht, Bruder!« ermahnte Theodor. Doch Wilhelm ließ sich nicht halten, sondern eilte fort. Kaum hatte er die Tür geöffnet, als der Sturm auf einmal schwieg; liebliche Klänge und Gesänge schallten ihm entgegen, schöne Blumen erfüllten die Luft mit Wohlgerüchen, und es war heller Tag. Wilhelm traute seinen Augen nicht und fragte sich selbst: hab ich denn einen von Theodors Träumen? Plötzlich stand ein langer, hagerer Mann mit einem eingefallenen, düsteren Gesicht vor ihm und rief ihm mit dumpfer Stimme zu: »Laß die Gedanken an den Bruder und sieh dich hier um!« Wilhelm wagte kaum, den Mann anzusehen, obgleich dieser sich auf alle Weise bestrebte, ungewöhnliche Freundlichkeit in seine Mienen zu legen; umso lieber aber folgte er dem Geheiß desselben, sich umzusehen, und bewunderte die seltene Pracht und Herrlichkeit, die ihn umgab und die sich mit jeder Minute veränderte. Bald sah er einen großen, von köstlichen Gärten eingefaßten, dunkelblauen See, in welchem [276] das Bild der Sonne schwamm, wie eine goldene Kugel, und dessen sanfte Wellen, sowie ein leiser Luftzug sie bewegte, in allen Farben spielten; bald ein lustig grünendes Wäldchen mit Rehen, Hirschen und Eichhörnchen; jetzt schaute er in einen mächtigen Palast hinein, mit Pforten von gediegenem Silber und Wänden von Stahl, und jetzt stieg ein riesenhafter Turm vor seinen Blicken in die Höhe, und all diese ungeheuren Erscheinungen schienen nicht tote Massen zu sein, sie schienen ein eigentümliches Leben zu haben und nach eigener Willkür zu kommen und zu verschwinden. Wilhelm verwandte kein Auge von dem Turm, denn ihm war, also ob er ganz oben in einem der vielen Erker das Bild seiner Mutter gewahre, die ihn unverwandt und wehmütig, fast bittend ansah; der hagere, finstere Mann sah auch hinauf, ein düsterer Schatten lief über sein Gesicht, und er fragte den Knaben hastig, um ihn von der Betrachtung des Turmes abzuziehen, ob er auch vielleicht hungrig sei.

»Ach, recht sehr«, antwortete Wilhelm, »ich habe den ganzen Tag nichts gegessen.«

»Den ganzen Tag nicht?« entgegnete der Hagere, »ei, ei, wo waren denn deine Eltern, daß sie dir nicht zu essen gaben?«

»Meine Eltern sind tot, mein Vater starb vor vierzehn Tagen, meine Mutter vor acht.«

»Tot« versetzte der Hagere mit einer unangenehmen höhnischen Lache, »ja, ich weiß, ich weiß! Faul Volk, faul Volk! Wenn das nicht mehr arbeiten mag, so legt sichs auf den Rücken und stellt sich tot! Hä! hä! hä!«

»Lache nicht, Mann«, sagte Wilhelm, und kalte Schauer rieselten ihm durch Mark und Bein, »mein Vater und meine Mutter sind tot!«

»Es gibt keinen Tod«, erwiderte der Hagere, »es gibt nur Leben, nur Leben. Was sich tot stellt, das kehrt die alte Spielerei um, schläft bei Tage und verlädt bei Nacht sein Grab, um zu hüpfen und zu springen. Wo liegt dein Vater und deine Mutter? führ mich hin, führ mich hin, sollen schon heraus, mögen wollen oder nicht!«

Wilhelm starrte ihn an. Dann sagte er: Mein Vater und meine Mutter liegen in der Kammer, den Vater trug die Mutter dahin, als er gestorben war, die Mutter wir, ich und mein Bruder. Da [277] sah ich meinen Vater zum letztenmal; seine Augen waren aufgesprungen, seine Wangen entsetzlich aufgedunsen – »o, er ist wohl tot!«

Der Hagere lachte. Wilhelm war es, als ob er durch dies Gelächter vernichtet würde, er schrie laut auf und wollte entfliehen. Doch auf einmal stand ein mit den schönsten Speisen besetzter Tisch vor ihm, und der Hagere rief ihm zu:

»Dummer Knabe, willst denn verhungern? Bleib doch! Iß, iß! Hab dich längst gerufen, hab dich lieb!«

Der Hunger erwachte wieder mit aller Gewalt in Wilhelm, als er die Gelegenheit, ihn zu stillen, vor sich sah. Er aß und trank gierig und war schon halb gesättigt, als er sich seines armen Bruders erinnerte und den Hageren bat, doch auch diesen herbeizurufen. Der aber machte ein falsches Gesicht und sagte:

»Davon kein Wort. Sorge für dich! Siehst du jenen Baum? Neben ihm steht einer, der dem Ausgehen nahe ist; er kümmert sich nicht darum, er saugt ruhig aus Luft und Erde seine Nahrung ein.«

»Das klingt ganz anders, als Vater und Mutter mir sagten!« erwiderte Wilhelm schüchtern.

»Weiß wohl«, erwiderte der Hagere, »hab aber recht, hab immer recht.«

Wilhelm schwieg, doch aß er nur noch wenig mehr.

»Willst zurück in deine Hütte?« fragte der Hagere, »will dich heut abend nicht länger aufhalten, werden uns schon noch kennenlernen. Nimm mit zu essen, was du willst, habs übrig!«

Er steckte Wilhelm alle Taschen voll Obst und Backwerk. Dann fuhr er fort:

»Sollst lieben Vater, liebe Mutter doch schnell noch einmal sehen, siehst sie wohl gern?«

Auf einmal war es eine kalte Mondnacht, Wilhelm befand sich mit dem langen, hageren Manne auf einem luftigen Revier, ihm klapperten die Zähne, halb vor Angst, halb vor Frost. Der Mond verhüllte sich hinter Wolken; Na erschien tänzeln und spielend ein langer Zug kaum sichtbarer Gestalten, unter welchen Wilhelm mit Entsetzen seine Eltern erkannte. Diese gebärdeten sich vor allen lustig; sie hüpften an ihm vorüber und warfen, obgleich sie ihn wohl bemerkten, gleichgültige Blicke auf ihn. Der Hagere nickte ihm mit grinsendem Lächeln zu und sagte: [278] »Hast dus gesehen? Hätte Theodor hier gestanden, wären sie freundlicher gewesen; wirsts glauben!«

Plötzlich kehrte die alte Dunkelheit zurück, der Sturm brauste fürchterlich, der Regen klatschte, und Wilhelm stand vor der Hüttentür. Er trat schnell hinein.

»Ach, Wilhelm, bist du wieder da?« rief Theodor ihm entgegen, »ich fürchtete, daß ich dich niemals wiedersehen würde, denn ich sah dich in einem wilden Meer von Flammen, die sich immer dichter um dich zusammenringelten und dich zuweilen ganz zu verschlingen schienen; ja einmal kam es mir sogar vor, als ob du Flammen äßest. Ich stand am Fenster und rief dir zu, du möchtest beten; dann aber lachte es auf gräßliche Weise hinter mir; ach, Wilhelm, laß mich nicht wieder allein.«

»Ich bringe dir etwas zu essen mit«, erwiderte Wilhelm einsilbig, »nimm hin, Obst und Kuchen!«

Der kleine Theodor streckte hastig die Hand aus nach den dargebotenen Leckerbissen, doch kaum hatte er sie zum Munde geführt, als er ausrief: »Pfui, Wilhelm, das ist unartig von dir, mich jetzt zu necken; du gibst mir ja nichts als faules Holz!«

»Was?« versetzte Wilhelm, »diese Kuchen und diese schönen Birnen wären faules Holz? Dich hat der Hunger wohl schon verrückt gemacht. Mir schmecken sie vortrefflich!«

Mit großem Vergnügen verzehrte er noch einen der Kuchen.

Theodor versuchte sie abermals, als er sie indes wieder ausspeien mußte, fing er an, bitterlich zu weinen.

2

Es war schon spät am Morgen, die Sonne schaute in die trüben Fenster, als Wilhelm erwachte. Seltsame Träume, die unvermeidlichen Ergebnisse der Vorgänge des vorigen Abends, hatten ihn umgaukelt, und wie er die Augen aufschlug, stieß er seinen Bruder in die Seite und rief: »Theodor wo ist doch der lange, hagere Mann geblieben, der mich die fremden Spiele lehrte und mir einmal sogar Flügel an die Schultern setzte, womit ich mich hätte in die Lüfte aufschwingen können, wenn mich die Angst nur nicht zurückgehalten hätte?« Theodor aber gab keine Antwort, sondern ächzte und stöhnte tief Wilhelm wandte sich nach ihm um und [279] sah, daß sein Gesicht kreideweiß war; er erschrak heftig und schrie ängstlich: »Theodor, bester Bruder, was fehlt dir?« Theodor richtete einen matten Blick auf ihn und sagte: »Ich weiß es selbst nicht, lieber Bruder, ich fühle mich gelähmt an allen Gliedern, ich habe die ganze Nacht keine Luft schöpfen können, mir war, als ob dicker Qualm die Stube erfülle, und du lagst in einem so schweren Schlaf, daß ich geglaubt haben würde, du wärest schon erstickt, wenn ich nicht deine regelmäßigen Atemzüge hätte hören können. Ach, Wilhelm, ich glaube, der Rauch kam von den Sachen, die du mitgebracht hast, ich wäre gern aufgestanden und hätte sie aus dem Fenster geworfen, aber ich konnte mich nicht rühren; wirf du sie doch fort und gehe des Abends nie wieder hinaus!«

»Das Fieber spricht aus dir«, erwiderte Wilhelm verdrießlich, indem er aufstand; »siehst du diese schönen Kuchen? Sie sollen uns köstlich zum Morgenimbiß munden!«

»Komme mir nicht nahe damit«, schrie Theodor entsetzt, als Wilhelm ihm ein Stück Kuchen hinreichen wollte; »ach, Bruder, wirf sie weg, denn gewiß hat sie dir kein anderer gegeben als der böse Geist, von welchem Mutter uns erzählte, daß er im Walde rumore und uns feindlich gesinnt sei.«

»Der böse Geist!« antwortete Wilhelm und fuhr dann leise und von Schauern gerüttelt fort: »ja, der Mann war sehr finster, und ich zitterte und bebte, als ich ihm zum ersten Male in die hohlen Augen sah; doch er belustigte mich ja durch allerlei Wunderwerke, die er mich sehen ließ, und statt mir etwas zuleide zu tun, gab er mir zu essen. Er konnte unmöglich der böse Geist sein! Und gesetzt, es wäre der böse Geist gewesen – warum zürnte er auf uns?«

»Das weiß ich auch nicht!« erwiderte Theodor und bat seinen Bruder um etwas kaltes Wasser, welches dieser ihm in einem irdenen Napf hinreichte.

»Auf Vater und Mutter«, begann Wilhelm abermals, »mochte der Geist zürnen; sie erzählten uns von ihm ja nichts als Böses, und das würde mich selbst verdrießen.«

»Weißt du wohl noch«, sagte Theodor, »wie Vater eines Abends nach Hause kam und von Blut triefte? Das hatte der böse Geist getan!«

[280] »Dies machte die Mutter uns weis«, entgegnete Wilhelm, »weil der Vater unserer Fragen wegen ärgerlich wurde; nachher sagte sie mir, der Vater wäre mit einem Jäger im Walde zusammengekommen, der habe ihm das Schießen verbieten und ihn ergreifen wollen und den Vater, als er sich zur Wehr gesetzt, in den Arm geschossen.«

»Was ist das, ein Jäger?« fragte Theodor.

»Ein Mann«, entgegnete Wilhelm, »der Tiere schießt, wie unser Vater, denn es leben noch viel mehr Menschen als wir beide auf der Welt, und die Welt ist viel größer als dieser Wald.«

»Das weiß ich«, versetzte Theodor, »Vater ging ja manchmal des Abends, wenn er einen großen Rehbock oder gar einen stattlichen Hirsch ausgeweidet hatte, zu den Menschen und brachte dann Brot und sonstige Lebensmittel mit; aber er war dabei immer so scheu und ängstlich, daß er sie gewiß sehr fürchtete, und daß ich selbst zittere, wenn ich daran denke, es könne einmal einer den Weg zu unserer Hütte finden.«

»Darum zittere ich gar nicht«, erwiderte Wilhelm, »ich wollte nur, daß ich aus dem dicken Walde herauszukommen wüßte; dann suchte ich die Menschen sogleich auf, Vater und Mutter waren ja auch Menschen.«

»Ach, Wilhelm«, klagte Theodor, »ich bin so hungrig, solltest du nicht einige wilde Wurzeln ausgraben können?«

»Ich wills versuchen«, entgegnete Wilhelm, »da du nun einmal glaubst, daß du meine Kuchen nicht essen kannst.«

Er ging hinaus. Der Tag war unfreundlich geworden, ein trübes, unangenehmes Grau bedeckte den Himmel. Wilhelm ging tiefer in das Gebüsch. Da stand auf einmal ein kleines Männchen mit einem aschfarbenen Gesicht vor ihm und fragte, wo er hinwolle.

»Ich will einige Wurzeln suchen«, war seine Antwort.

»Ei, ei«, fuhr das Männchen fort, »was sollen die Wurzeln denn?«

»Mein Bruder will sie essen!« entgegnete Wilhelm.

»Aha, der Bruder«, erwiderte das Männchen, »was gibt der Bruder dir denn dafür, daß du bei dieser Kälte für ihn in den Wald hinausläufst und Wurzeln suchst? Doch, du bist ja einmal solch ein Narr, daß du es tust; komm mit mir, ich will dir zeigen, wo die schmackhaftesten stehen.«

[281]

Das Männchen setzte sich in einen sonderbaren Trab, und Wilhelm wagte es nicht, es dadurch, daß er nicht folgte und so seinen guten Willen zurückwies, zum Zorn zu reizen. Er eilte ihm nach; es ging in die Kreuz und Quer, und oft schlugen die bereiften Zweige der Bäume den armen Knaben ins Gesicht. Endlich stand das Männchen still; Wilhelm befand sich in einer wildfremden Gegend, wo er noch niemals gewesen war, und er sah nicht ohne Herzklopfen umher. Das Männchen zeigte mit seiner kleinen, spitzigen Hand auf eine Stelle, wo Wurzeln zu stehen schienen; Wilhelm zog sein Messer aus der Tasche und begann sie auszugraben. Dies gelang ihm, obgleich die Erde hart gefroren war, über die Maßen schnell. Als er die Wurzeln in sein Taschentuch gepackt hatte, sagte das Männchen zu ihm: »Nun habe ich mein Wort gehalten und muß eilen, daß ich nach Hause komme; ich wohne auf dem Abendstern und bin meines Berufs ein Scharfrichter!«

Wilhelm starrte das Männchen sprachlos an; dieses wandte sich gleichgültig ab und setzte sich wieder in seinen Trab, Wilhelm aber ergriff den einen Zipfel seines Rockes und schrie:

»Ich lasse dich nicht, du mußt mir erst den Weg zeigen, allein finde ich mich nicht zu der Hütte zurück.«

»Das kann geschehen«, versetzte das Männchen trocken, »wenn wir über den Preis, den ich dafür fordern muß, einig werden können. Ich habe mir eine köstliche Sammlung von Edelsteinen angelegt, die mir viel Vergnügen macht, und wenn ich dir den Weg, den du allein allerdings nicht finden wirst, zeigen soll, so mußt du dich schon bequemen, diese meine Sammlung mit einem guten Stein von echtem Feuer zu vermehren.«

»Ich habe keine Edelsteine«, entgegnete Wilhelm, »und kann dir deswegen auch keine geben.«

»Doch, doch«, erwiderte das Männchen, »ich meine keine anderen Edelsteine als deine braunen, blitzenden Augen.«

Er streckte gierig seine Hände aus, und jetzt erst bemerkte Wilhelm, daß die Finger des Männchens keine gewöhnlichen Finger, sondern vielmehr spitzige Krallen waren, wie er sie wohl früher an großen Vögeln gesehen hatte. Wilhelm sprang entsetzt zurück, das Männchen aber lief ihm nach und rief:

»Mußt das Auge lassen, das Auge lassen für den Bruder!«

[282] Wilhelm suchte ihm zu entlaufen, aber es half ihm nichts, er verwickelte sich im Gesträuch und fiel erschöpft zu Boden. Das Männchen warf sich über ihn hin und sprach:

»Dein Auge muß ich haben, ich muß meinen Kindern etwas mitbringen und bin stärker als du. Leide geduldig, daß ich es dir ausnehme, sonst heile ich die Wunde nicht einmal wieder zu und zeige dir noch weniger den Weg.«

Wilhelm bedeckte seine Augen mit beiden Händen, das Bild seines Bruders glitt an seiner Seele vorüber, und er rief in dumpfer Verzweiflung vor sich hin:

»O Theodor, Theodor! wenn du den Kuchen hättest essen wollen, so läge ich nicht in dieser entsetzlichen Todesangst!«

Das Männchen erwiderte: »Ja, ja, mein Junge, so ist es, solch ein Bruder ist oft nichts anderes als der böse Geist in eigener Person; solange die Eltern noch leben, ist er es, dem alle Liebe und Pflege zuteil wird, und nachher steht er allenthalben störend im Wege, kann selbst nichts tun und verlangt tausend Dienstleistungen!«

Diese Worte des Männchens erweckten in Wilhelms Brust einen tiefen Groll gegen seinen Bruder; er erinnerte sich, daß dieser von Vater und Mutter immer vorgezogen worden war, und nur kaum unterdrückte er die Verwünschung, die ihm schon auf den Lippen saß.

»Jetzt mache dich bereit«, rief das Männchen, »ich zögere nicht länger.«

Es streckte die grimmigen Krallen aus, es riß Wilhelm die Hände vom Gesicht weg; da schrie er laut auf, und in demselben Augenblick vernahm er die Stimme des hageren Mannes. Das Männchen ließ von ihm ab und fing an zu weinen; der Hagere schrie ihm zornglühend zu: »Wenn du dich noch einmal an diesem Knaben vergreifst, der mein Liebling ist, so sperre ich dich in eine Muschel ein und werfe dich ins Meer, wo du liegen kannst bis in alle Ewigkeit.« Je länger der Hagere das Männchen schalt, um so dünner wurde es, so daß es zuletzt zu einem bloßen Schatten zusammenschmolz und seine vorige Gestalt erst wiedergewann, als jener sich von ihm abgewendet hatte. Der Hagere kehrte sich nun zu Wilhelm und sagte:

»Warum schriest so? Wär früh genug gekommen, bin immer bei dir; was willst nun?«

[283] »Mit meinen Wurzeln zum Bruder zurück!« entgegnete Wilhelm.

»So! So! zum Bruder«, versetzte der Hagere; »leb wohl, denk an mich, hier ist der Weg!«

Damit verschwand er, Wilhelm aber erblickte gerade vor sich einen gebahnten Weg, den er bisher noch nicht bemerkt hatte. Er verfolgte diesen und langte bald wieder in der Hütte an.

Mißmutig, ohne sich um Theodor zu bekümmern, warf er die Wurzeln auf den Tisch und machte dann mit dürrem Reisholz, wovon noch ein kleiner Rest in der Küche lag, Feuer im Ofen an.

Als er hiermit fertig war, rief er Theodor, der noch immer im Bette lag, unwillig zu: »Willst du denn heute nicht aufstehen? Es ist bereits Mittag!« Theodor antwortete nur mit einem unverständlichen Ach, doch der Ton, worin er dies Ach ausstieß, zerschnitt Wilhelm das tiefste Herz, er bereute seine harten Worte und trat zu seinem Bruder ans Bett. Dieser lag da in einem erbarmungswürdigen Zustande, die Augen geschlossen, die Hände krampfhaft ausgestreckt und herzzerreißende Wehlaute ausstoßend. Wilhelm erinnerte sich mit Entsetzen, daß so die Mutter ebenfalls gelegen, ehe sie verschieden war; er warf sich über seinen Bruder, er schrie: »Ach, Theodor, Theodor! Du darfst nicht sterben!« Er bedeckte seinen Mund mit glühenden Küssen. Der Mund war kalt, die Brust röchelte schwächer und schwächer, der Odem stand. Wilhelm sprang wild auf und heulte: »Er stirbt! er stirbt!«

»Das tut er!« rief eine Stimme ins Fenster; »was machst?«

Wilhelm bemerkte den Hageren, der mit einem unheimlichen Lächeln ins Zimmer hineinsah.

»Er darf nicht sterben! Er soll nicht sterben!« schrie Wilhelm, »du mußt ihn retten!«

»Wie du meinst«, antwortete der Hagere, »ganz nach deinem Belieben!«

Er trat herein.

»Siehst du diesen Becher:« sagte er zu Wilhelm; »hierin ist ein Trank befindlich, der zwingt jeden ins Leben zurück. Wenn du diesen deinem Bruder einflößest, so fangen seine Pulse wieder an zu schlagen, und er ist so gesund, wie vorher. Doch eins mußt du dabei beobachten: Du mußt alle deine Gedanken auf deinen [284] Bruder richten und alle deine Wünsche in dem einen Wunsch, daß er am Leben bleiben möge, vereinigen, wenn du ihm den Trank eingibst. Nun tu, was dir gut dünkt, ich überlasse dir alles, vorher aber genieße ein kleines Frühstück!«

Er stellte den Becher auf den Tisch und zog eine Flasche heraus, die er Wilhelm hinreichte. Dieser trank, ein seltsames Feuer ergoß sich durch alle seine Glieder, und die Welt um ihn her schien ihm verwandelt. Er stand nicht mehr in der Hütte, sie war zu einem ungeheuren Edelstein geworden, der rosenrote Strahlen schoß und mit dem dunkelblauen Himmelsgewölbe in eins zu verschwimmen schien; dunkelrot glänzten alle Bäume im Walde, und wunderbare, liebliche Gestalten schwebten vom Himmel herab und stiegen aus Schluchten und Gebüschen hervor; herrlich vor allen aber stand der lange, hagere Mann da: das Düstere, Grauenhafte seines Gesichts löste sich auf in ernste, gebietende Schönheit, ein weiter, mit Gold und Silber reich gestickter Mantel umwallte ihn, und alle Gestalten neigten sich vor ihm in Demut und Liebe. Auch Wilhelm fühlte sich unwiderstehlich zu ihm hingerissen; doch, wie er sich zu seinen Füßen werfen wollte, lag ihm plötzlich sein Bruder mit dem leichenblassen, kalten Gesicht im Wege; er wollte, von rasender Begier getrieben, über ihn hinwegeilen, da stieß Theodor einen Schrei aus, all die Herrlichkeit verschwand wie ein Wolkenbild, und er stand wieder in seiner nackten, armseligen Hütte.

»Bist du denn wirklich mein böser Geist?« rief Wilhelm fast außer sich, »der bestimmt ist, alles zu vernichten, was mich beglücken kann?«

»Er ist es!« entgegnete kalt und höhnend der Hagere, der, wie Wilhelm jetzt erst bemerkte, noch neben ihm stand; »doch es wird Zeit, daß du ihm den Trunk einflößest, darum muß ich mich entfernen.«

»Ich flöße ihm nimmer den Trunk ein!« sagte Wilhelm.

»Du tust es doch!« erwiderte der Hagere, häßlich lachend, und ging hinaus.

Wilhelm stand einen Augenblick in tiefen Gedanken verloren; ihm war, als habe er bisher nur noch immer geträumt, als sei eben das Leben mit all seinen Schätzen an ihm mit leichtem Gruß vorübergegangen, als sei er aber sogleich in den alten, dunklen [285] Traum von einer Hütte im Walde, von einem Bruder, dem er Wurzeln graben müsse, zurückgesunken. Doch da fiel sein Blick von ungefähr auf Theodor, der still und regungslos in seinem Bette lag. All die Liebe, welche er einst für den Bruder gefühlt hatte, erwachte in seinem Herzen, und schnell ergriff er den Becher und flößte ihm den Trunk ein. Er bestrebte sich, all seine Gedanken auf den Bruder zu richten und all seine Wünsche in dem Wunsch für dessen Leben zu vereinigen; aber dennoch erinnerte er sich einmal mit sehnsüchtigem Verlangen der Wunderwelt, in deren Umkreis er noch vor wenigen Minuten verweilt hatte; da wurde die Wange seines Bruders, die schon zu erröten anfing, merklich blässer, sein Auge schloß sich wieder, und er machte mit den Händen krampfhafte Bewegungen. Als Wilhelm dieses bemerkte, war es ihm, als sei er der Mörder seines Bruders geworden; er warf sich vor dem Bett auf die Knie nieder und schrie mit tränenerstickter Stimme: »Ach Theodor, mein Theodor!«

»Was ist dir, Bruder,« antwortete Theodor hell und klar, »was fehlt dir?«

»Ach«, sagte Wilhelm, »ich glaubte, du wärest gestorben.«

»Du hast geträumt«, antwortete Theodor, »ich bin munter und so gestärkt, als hätte ich eine gute Mahlzeit gehalten!«

Gesund stand er auf.

3

Wilhelm erzählte nun seinen Bruder, was sich mit ihm zugetragen habe. Dieser hörte ihm mit immer wachsender Aufmerksamkeit zu. Als Wilhelm geendet hatte, sagte Theodor:

»Bruder, ich will dir nicht verhehlen, daß deine Erzählung mich mit tiefstem Grausen erfüllt hat. Es ist mir, als hättest du in mir die Erinnerung entsetzlicher Träume angefacht, die ich ganz und gar vergessen hatte, obwohl sie mich erst in der Zeit deiner Abwesenheit gefoltert haben. Die seltsamen Gestalten, deren du erwähnst, sind mir im Traume nahegetreten, wie dir im Leben. Du warst nur kaum fortgegangen, als mich ein schwerer, unwiderstehlicher Schlaf befiel; ich konnte die Augen nicht offenhalten, so gern ich es auch, von sonderbarer Angst ergriffen, geht hätte.

[286] Im Traume kam es mir nun vor, als sähe ich dich im Walde auf der Erde liegen; ein kleines, widerwärtiges Männchen, welches du nicht von dir abzuwehren vermochtest, lag über dir und schrie: ›Ich will dein Auge, ich will dein Auge!‹ Ich warf mich vor dem Männchen auf die Knie und hob flehend die Hände auf; das Männchen aber rief mir drohend zu: ›Sei du nur still; er oder du!‹ In diesem Augenblick bemerkte ich einen finsteren, hageren Mann, der schon lange im Gebüsch gestanden zu haben schien, obgleich ich ihn keineswegs gesehen; dieser blickte bald hohnlachend auf mich, bald auf das Männchen; als aber das Männchen dir die Hände vom Gesicht riß, begann der Hagere es heftig zu schelten, und ich hörte dieselben Worte, die du ihn hast ausstoßen hören. Das Männchen stellte sich, als ob es weine; es schnitt mir aber, sowie der Hagere einmal wegsah, die abscheulichsten Gesichter zu und stürzte sich, sowie jener sich mit dir entfernt hatte, über mich. Es dauerte nicht lange, so kam der Hagere zurück. Ich freute mich und hoffte, er werde mich aus der Gewalt des Männchens retten; er aber warf dem Männchen einen freundlichen Blick zu und ging vorüber. Da fühlte ich einen stechenden Schmerz; zugleich aber ließ das Männchen mich los. Es jubelte und hüpfte fröhlich umher; dann stand es vor mir still und zeigte mir etwas Glänzendes. Das war mein Auge; es funkelte wunderbar im Strahl der Sonne, und, so sehr es dich befremden mag, ich sah nicht ohne Vergnügen hinein. Plötzlich kletterte oder sprang vielmehr das Männchen in einen Baum, dann entfaltete es Flügel und schwang sich auf in die Lüfte. Es war schon ganz verschwunden, da hörte ich seine heisere Stimme, ich vernahm die Worte: ›Dein Auge hab ich, jetzt mußt du mir nach!‹ Und wirklich erwachte in mir ein rasender Trieb, dem Männchen nachzueilen; ich heulte, ich schrie, ich versuchte in die Bäume zu steigen, und eine gräßliche Angst befiel mich, als es mir anfangs gar nicht gelingen wollte, hineinzukommen. Endlich gelang es mir, eine hohe Tanne zu erklettern; noch aber hatte ich den Wipfel derselben nicht erreicht, als du mit dem Hageren vorbeigingst. Der Hagere sah zu mir hinauf; dann fragte er dich, ob du hungrig seiest. Als du seine Frage mit Ja beantwortetest, zeigte er auf mich und sagte: ›Dort sitzt ein Eichhorn, das wollen wir braten.‹ Er riß mich vom Baume herunter; du betastetest mich [287] und sagtest: ›Das Tier ist fett.‹ Ich konnte lange vor Angst kein Wort hervorbringen; dann stöhnte ich: ›Wilhelm! Wilhelm!‹ ›Willst du beißen, giftiges Ding?‹ riefst du und schlugst mich auf den Mund. Jetzt zündete der Hagere ein Feuer an, du trugst selbst hurtig dürres Holz hinzu. Da kam es mir in den Sinn, ich mußte beten; laut wollte ich rufen: ›Gott im Himmel, verlaß mich nicht!‹ Aber, sowie ich die Lippen bewegte, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, daß ich wirklich unverständliche Töne, wie die eines Eichhorns, von mir gab und keineswegs auf meinen Füßen stand, sondern vielmehr auf behaarten Pfoten herumkroch. Nun schwanden mir die Sinne.«

Wilhelm stand nachdenklich; dann antwortete er: »Ich weiß nicht, worüber ich mich am meisten verwundern soll, ob über das unbegreifliche Zusammen treffen deines Traumes mit demjenigen, was mir mit dem Männchen begegnet ist, oder vielmehr darüber, daß es mir in diesem Augenblick vorkommen will, als müßte ich auch von einem Eichhorn etwas wissen, welches der Hagere mir gebraten und mit mir verzehrt habe.«

»Höre, Bruder«, sagte Theodor, »laß uns aus diesem Walde fliehen! So große Scheu ich ehemals vor Menschen hatte, so sehr ich vor der Möglichkeit, mit ihnen zusammenzukommen, zitterte, so groß ist jetzt mein Verlangen, mich zu ihnen zu flüchten.«

»Ging da nicht der hagere Mann vorbei,« rief Wilhelm. Da hörte er auf dem Hausflur ein Gewinsel und tiefes Seufzen.

»Wilhelm, was war das,« sagte Theodor ängstlich.

»Laß uns hinausgehen und zusehen!« entgegnete Wilhelm.

»Nein, um keinen Preis!« erwiderte Theodor.

»So gehe ich allein!« versetzte Wilhelm; »es ist ja noch hell.«

Er öffnete die Tür. Ein altes, sieches Weib, welches an Krücken ging und sich kaum aufrechterhalten konnte, streckte ihm die ausgedörrte Knochenhand entgegen und bat ihn um Speise und Trank. Dies war die zweite Bettlerin, die Wilhelm in seinem Leben sah; einmal, vor vielen Jahren, hatten seine Eltern eine Zigeunerin beherbergt und wohl bewirtet. Ihn jammerte das alte Weib, und mit großem Schmerz erinnerte er sich seiner grenzenlosen Dürftigkeit; sie wiederholte ihre Bitte, da antwortete er ihr: [288] »Ich habe nichts als einen Trunk Wasser; den könnt Ihr bekommen!«

»Keinen Bissen Brot? kein Stücklein Fleisch;« fragte sie unter jämmerlichen Gebärden.

»Nichts, nichts!« erwiderte er.

»Willst du mir geben, was du hast;« fuhr sie fort.

»Ich sage dir, daß ich nichts habe!« versetzte er.

»Du hast doch einen Bruder«, entgegnete sie, »überlaß mir den Bruder!«

»Weib, entsetzliches Weib, was willst du mit meinem Bruder;« rief Wilhelm und trat einen Schritt zurück.

»Menschenfleisch schmeckt süß!« antwortete die Alte und wollte in die Stube. Wilhelm aber ergriff den im Winkel stehenden ehemaligen Handstock seines Vaters, der mit Eisen beschlagen war, und versetzte dem häßlichen Weibe damit einen heftigen Schlag auf den Kopf. Das Weib fiel mit einem dumpfen Schrei zu Boden; sie lag unbeweglich. Kalte Schauder durchrieselten Wilhelm, er hoffte, sie sollte wieder aufstehen, er warf den unseligen Stock von sich, er kauerte sich neben die Alte hin, er beugte sich über sie, und als er bemerkte, daß sie keinen Atem mehr hatte, daß ihre Gesichtszüge sich mehr und mehr verzerrten, ergriff ihn eine entsetzliche Angst, er fühlte, daß er einen Menschen getötet habe, und vermochte kaum, sich wieder vom Boden zu erheben. Plötzlich klopfte ihm jemand von hinten auf die Schultern; als er sich umsah, bemerkte er den hageren Mann, der sich an die Wand gelehnt und, wie es schien, ihn schon lange betrachtet hatte. Da erinnerte sich Wilhelm jenes Tranks, durch den sein Bruder genesen war, und dringend bat er den Hageren um den Becher. Der aber lachte und meinte, Wilhelm sei ein gar zu großer Tor, wenn er glaube, daß er den Becher beständig bei sich führe.

»So hole ihn«, schrie Wilhelm, »du mußt ihn holen!«

»Ich habe keine Zeit« entgegnete der Hagere, »ich muß Steine sammeln. Du siehst, dem Bruder zu Gefallen bist du ein Mörder geworden; nun, was tuts? Einem Mörder schmeckt Fleisch und Brot so gut, wie jedem anderen!«

»Ein Mörder, ja ein Mörder!« wiederholte Wilhelm dumpf und schwieg dann lange. Der Rabenstein, von welchem die Mutter [289] ihm oft in langen Winterabenden erzählt hatte, wenn er den Bruder in heftigem Jähzorn gescholten oder geschlagen, schwankte in schaurigen Umrissen an seiner Seele vorüber.

»Du kannst ja die Toten auferwecken«, sagte er darauf furchtsam zu dem Hageren, »wecke diese auf!«

»Über diese hab ich keine Macht«, antwortete der Hagere, »bloß Menschen kann ich ins Leben zurückrufen, diese ist kein Mensch.«

In demselben Augenblick kam es Wilhelm, der einen trostlosen Blick auf die Alte warf, vor, als ob sie sich bewegte. Er sah abermals hin und hatte sich nicht getäuscht, sie bewegte sich wirklich. Doch, ihre Augen hatten sich in Vogelaugen verwandelt, ihre Arme waren zu Flügeln geworden, und mit einem häßlichen Geschrei schwang sie sich auf in die Lüfte.

»Nun muß sie tausend Jahre in Sturm und Regen, in Hagel und Schnee durch die Wolken irren«, sagte der Hagere, »eh sie ihre vorige Gestalt wieder annehmen darf Knabe, du hast viel an ihr verschuldet!«

Wilhelm aber antwortete: »Diesen großen Vogel, der eben an uns vorbeihuschte, habe ich schon einmal im Traume gesehen!«

»Ich weiß, ich weiß«, versetzte der Hagere, »das war vor acht Tagen!«

»Du weißt?« fragte Wilhelm, »du weißt, was ich träume? Wer bist du denn?«

Der Hagere berührte unter seltsamem Lächeln mit seiner Hand die Wand. Da tat diese sich auf, und Wilhelm sah in eine Welt hinein, die sich von derjenigen, die einst an ihm vorübergezogen war, aufs bestimmteste unterschied, und die dennoch seine Seele ergriff. Einst waren es harmlose Erscheinungen und phantastische Gestalten, die ihn mehr neckten als angezogen, und vor denen er in ihrer Ungeheuerlichkeit zurückbebte; jetzt aber waren es Menschen, verwandte, aber glücklichere Wesen, in deren Verhältnisse er einen Blick tat, und die er beneidete. Da sah er Könige in ihrer Pracht und rotwangige Pagen, von welchen sie bedient wurden; tapfere Krieger auf ihren mutigen Rossen, die sich in den Kampf stürzten; ernste Gelehrte in ihrer einsamen Kammer, mit Augen wie Blitze und Worten wie Donner; Kaufleute, Reisende,[290] Künstler, und in seiner Brust erwachte zum ersten Male das schlummernde Selbstbewußtsein, er fühlte die Kraft in sich, zu werden, was jene waren; auch begriff, er wieviel er in den Jahren, die ihm im Walde nutzlos verschwanden, für ein glänzendes Ziel, welches ihm in weiter Ferne vor der Seele stand, hätte tun können, und der tiefste Unmut erfüllte ihn. Auf einmal erblickte er eine Jungfrau; leuchtend in prangender Schönheit, siegend, wo sie erschien, schritt sie daher. Könige und Fürsten neigten sich vor ihr; das Geräusch des Kampfes verstummte, wo sie sich nahte. Wilhelm war es, als hätte er jetzt den Zusammenhang aller Dinge erfaßt; die Schönheit erschien ihm als der ewige Pol, um den alle Erscheinungen des Lebens sich in rastlosem Kreislauf bewegten; jetzt wußte er, warum die Blume nur dann duftet, wenn sie im vollen Glanz ihrer Farben dasteht, warum der Vogel nur dann singt, wenn sein Gefieder sich entfaltet hat; er ahnte eine tiefe, innige Verbindung zwischen Sein und Gestalt; er war überzeugt, daß in dem Augenblicke, wo die Jungfrau sich niederlegen würde zum ewigen Schlaf, Himmel und Erde zusammenstürzen und alles, was lebt, mit ihr zugleich den Tod erleiden müsse; er selbst aber, glaubte er, würde sterben, sobald er sein Auge von der Herrlichen verwandte. Da trat ein Maler hervor mit Pinsel und Palette und zeichnete ihr Bild auf ausgespannter Leinwand; die Jungfrau belohnte ihn mit einem Blumenkranz. Ein Dichter sang seine Liebe in feurigen Gesängen; sie belohnte ihn mit einer Träne. »Und ich? und ich? was kann ich für sie tun?« schrie Wilhelm in rasender Verzweiflung.

»Du könntest sie aus einer Todesgefahr erretten«, sagte der Hagere, »und das würde sie mit einem Kusse belohnen; aber du wirst es nicht tun!«

»Ich werde es tun, ich muß es tun!« wollte Wilhelm antworten, aber er stieß bloß einen unverständlichen Schrei aus, denn er sah wie ein schöner Jüngling auf die Jungfrau zuschritt, wie sie die Arme gegen ihn ausbreitete und an ihre Brust zog. Einen Augenblick stand Wilhelm bewegungslos da, dann ballte er die Hand und wollte sich auf den Jüngling stürzen. Doch, sobald er einen Schritt vorwärts tat, rannte er heftig mit dem Kopf gegen die Wand, die sich auf einmal wieder zwischen ihm und jener bunten Welt auftürmte. Sprachlos schaute Wilhelm sich nach dem [291] hageren Manne um, der ihm durch ein Gelächter zu erkennen gab, daß er noch anwesend sei.

»Wo ist sie geblieben?« rief er dann aus.

»Bei dem Jünglinge, hasts ja gesehen!« versetzte der Hagere, noch immer lachend.

»Ich muß aber zu ihr!« rief Wilhelm aus.

»Das geht nicht sogleich«, antwortete der Hagere, »dazu bedarfs noch einer Kleinigkeit!«

»Wessen bedarf es?« fragte Wilhelm heftig.

»Du hast nicht länger Zeit«, entgegnete der Hagere, »dein Bruder wartet; er hat dir etwas zu sagen. In der Christnacht sehen wir uns wieder in der Stadt Hamburg.«

»Wo liegt Hamburg?« fuhr Wilhelm fort.

»Du wirst den Weg schon finden!« sagte der Hagere und schritt aus der Tür, die er hinter sich zuwarf, daß alle Pfosten der Hütte erzitterten.

4

Wilhelm stand noch lange in Gedanken, dann ging er in die Stube. Theodor war seinetwegen in großer Angst gewesen; er hatte das Ächzen des alten Weibes, dann die Stimme des hageren Mannes gehört, sich aber nicht getraut, hinauszugehen. Es war dunkel geworden; dumpf heulte der Sturm. Wilhelm stellte sich ans Fenster; er sagte zu seinem Bruder kein Wort und antwortete nicht einmal auf seine Fragen, er sah unverwandt hinaus, obwohl er der Dunkelheit wegen nichts bemerken konnte. Endlich kehrte er sich um und sprach:

»Ich denke, wir verlassen die Hütte.«

»Ja«, antwortete Theodor, »das laß uns um Gottes willen tun. Wären wir nur aus dem Walde heraus!«

»Komm!« versetzte Wilhelm und öffnete die Tür.

»Noch in dieser Nacht!« fragte Theodor erstaunt.

»Noch in dieser Nacht!« entgegnete Wilhelm.

»Wohlan«, sagte Theodor, »ich folge dir; doch laß mich das kleine Gebetbuch mitnehmen, worin unsere Mutter so oft las und dann immer weinte.«

»Gut, daß du mich erinnerst«, versetzte Wilhelm, »bald hätte [292] ich vergessen, den blanken Dolch mitzunehmen, den der Vater immer zu sich steckte, wenn er zuweilen auf mehrere Tage die Hütte verließ. Mir sagt eine innere Stimme, daß der uns nützen kann.«

»Laß den Dolch liegen, Bruder«, erwiderte Theodor, »mich schaudert, wenn ich ihn ansehe.«

»Sei kein Narr«, antwortete Wilhelm spöttisch, »ich will einen Kienspan anzünden, damit ich den Dolch finde.«

»Du wirst ihn gewiß liegen lassen«, versetzte Theodor, »wenn ich dir etwas erzähle, was ich dir noch niemals erzählt habe und was ich gern ewig verschwiegen hätte.«

»Nun? was ist es denn?« fragte Wilhelm ungeduldig, indem er zugleich einen Kienspan anzündete und in einer alten Schublade aufzukramen begann.

»Du weißt«, begann Theodor, »daß ich im vorigen Winter das Fieber hatte. Da saß eines Abends die Mutter spät bei mir auf, um mir zu trinken zu geben, wenn ich durstig wurde. Der Vater war schon mehrere Tage abwesend gewesen, und ich bemerkte, daß die Mutter zu wiederholten Malen tief aufseufzte. Ich meinte, daß sie sich wegen meiner Krankheit gräme, und richtete mich einmal auf, ihr die Hand drückend. Sie streichelte mir die Wange; ich sah aber wohl, daß sie an mich nicht gedacht hatte. Es dauerte noch eine ziemliche Weile, und ich war fast eingeschlafen, als der Vater kam. Er war sehr still, setzte sich auf einen Stuhl, stützte das Haupt auf den Tisch und antwortete der Mutter, als diese ihn fragte, ob sie ihm etwas zu essen bringen solle, er sei nicht hungrig. Die Mutter setzte sich zu ihm; erst schien sie nicht zu wagen, ihn anzureden; denn du weißt, daß er zuweilen sehr hart gegen sie war und sie schlug; zuletzt faßte sie ein Herz und fragte: ›Friedrich, was fehlt dir?‹ ›Schlafen die Kinder?‹ entgegnete er und warf einen scheuen Blick zu mir hinüber. Ich hatte mich noch eben unruhig hin und her gewälzt; jetzt aber lag ich mäusestill und stellte mich, als ob im tiefstem Schlafe läge. Die Mutter stand auf, ging erst zu meinem Bett und dann zu deinem; darauf sagte sie: ›Sie schlafen süß!‹ und setzte sich wieder nieder bei dem Vater. Nun zog der Vater den Dolch hervor und legte ihn mit einem gräßlichen Lächeln auf den Tisch. Die Mutter nahm ihn in die Hand; aber entsetzt ließ sie ihn fallen und schrie: ›Abscheulicher, [293] es ist ja Blut darauf!‹ ›Weib, schweige!‹ rief jener wild und ergriff sie heftig beim Arm. Mit der anderen Hand nahm er den Dolch auf; ich zitterte, nie hat der Vater so schrecklich ausgesehen, wie in diesem Augenblick. Die Mutter sah ihn nicht wieder an; sie weinte still. Er stand auf und ging einige Minuten auf und ab in der Stube; dann trat er vor sie hin, faßte sanft ihre Hand und sagte: ›Marie, fasse dich, was geschehen ist, das ist geschehen!‹ ›O, wärest du geblieben, was du warst, als du mich heiratetest‹, antwortete sie, und zog ihre Hand zurück, ›wärest du noch Tagelöhner! Hättest du niemals eine Flinte in die Hand genommen! O, der abscheuliche, fremde Jäger, der den Hang, die Wälder zu durchstreifen, zuerst in dir aufweckte und nährte!‹ ›Fluch ihm nicht, Weib‹, entgegnete der Vater ernst, ›er hat uns in diese sichere Höhle hineingeführt und mir in mancher Nacht die Fährte eines edlen Wildes gezeigt; und jetzt bedarf er überhaupt keines Fluches mehr!‹ ›Friedrich, ist das Menschenblut?‹ fragte die Mutter leise und langsam, indem sie auf den Dolch zeigte. ›Es ist Menschenblut‹, entgegnete der Vater dumpf und trocknete den Dolch in einem Tuche ab, welches er darauf aus dem Fenster warf. O Wilhelm, wie wurde mir zumute, als ich dies alles hörte. Ich hätte laut aufschreien mögen, aber meine Angst war so groß, daß ich kaum atmen und viel weniger einen Laut von mir geben konnte.«

»Fahre fort«, sagte Wilhelm, der seinen Bruder mit fieberhafter Aufmerksamkeit angehört hatte, »unterbrich dich nicht!«

Theodor seufzte tief auf; dann fuhr er fort:

»Der Vater sah nun einige Augenblicke aus dem Fenster, welches er geöffnet hatte, um das blutige Tuch herauszuwerfen. Darauf machte er es heftig zu, daß es klirrte, und setzte sich an den Tisch. ›Ich kann dein Stillschweigen und dein Gewimmer nicht ausstehen, Weib!‹ rief er nach einer langen Pause der Mutter zu, ›laß dein Heulen und sprich mit mir!‹ ›Ich kann nicht mit dir sprechen‹, antwortete sie, ›ich kann dich nicht ansehen, du bist ein Mörder!‹ ›Schweig, oder ich morde dich auch‹, fuhr er auf und schlug wütend auf den Tisch, ›mir ist nun alles einerlei! Gott, Friedrich, du bist tief gesunken!‹ antwortete die Mutter mit einem schmerzlichen Lächeln. ›Willst du mich verhöhnen?‹ schrie der Vater wie außer sich und sprang auf. Da sah die Mutter [294] zu ihm auf; er konnte ihren Blick nicht aushalten, er taumelte auf seinen Stuhl zurück und sagte kein Wort mehr. Als die Mutter ihn aber so zerknirscht sitzen sah, ergriff sie inniges Mitleid; sie stand auf, fiel ihm schluchzend um den Hals und rief: ›Ach Friedrich, wie war es möglich!‹ Er drückte sie sanft von sich; doch plötzlich sprang er vom Stuhle auf und rief: ›Was ich getan habe, das kann ich auch sagen.‹ Nun ging er einige Male in der Stube auf und ab; dann fuhr er fort: ›Du weißt nicht, Maria, daß der allergnädigste König auf den Kopf des verruchten Wild schützen einen Preis gesetzt hatte, und daß die Gefahr, beim Verkaufe der nächtlichen Beute entdeckt und dann lebenslänglich eingekerkert, wenn nicht gar an den Galgen gehängt zu werden, sich täglich steigerte; du weißt nicht, daß mich einmal sogar ein Schurke von Bauer, dessen Acker ich von manchem gefährlichen Feinde befreit hatte, verriet und meinen Verfolgern fast in die Hände spielte. Alles dieses weißt du nicht; um dich nicht zu ängstigen, um gegen deine Lamentation gesichert zu sein, habe ich es dir bisher verschwiegen. So aber steht es mit mir, ich bin nicht sicherer wie das Reh im Walde, das ich hetze, wie die Drossel im Baum, die ich fange; ich muß auf andere Erwerbsmittel sinnen, die Kinder werden von Tag zu Tag größer. Da begegne ich gestern abend auf einmal, nachdem ich den ganzen Tag vergebens umhergestrichen hatte, dem hageren Jäger. Du weißt, wie zerlumpt er aussah, als er zum ersten Male, wie wir noch im Dorfe wohnten, bei uns einsprach; du hast ihn seitdem nicht wiedergesehen, mir ist er indes noch oft zur Dämmerungszeit in den Weg geraten, und immer war er ein Jammerbild des Hungers und des Elends. Gestern abend aber war er stattlich in Samt und Seide gekleidet, eine neue, blankgeputzte Büchse prangte auf seiner Schulter, und einige wohlgenährte Hunde sprangen lustig um ihn herum. Ich sah ihn mit Erstaunen an; er tat, als ob ers nicht bemerkte und zog eine goldene Uhr aus der Tasche.‹«

Theodor fuhr fort:

»›Ich gestehe dir, Weib‹, sagte der Vater, ›daß sich meiner die tiefste Unzufriedenheit mit meinem Schicksal bemeisterte, als ich diesen Menschen sah, der seiner elenden Lage so plötzlich, wie durch Zauberschlag, entrissen zu sein schien, während es mit mir von Tag zu Tag schlechter ging; mich beleidigte jeder seiner [295] Blicke, der Glück und Freude verkündigte, und ich konnte die hämische Frage nicht unterdrücken: ob er in die Lotterie gesetzt und das große Los gewonnen habe? In eine Lotterie, wo man immer gewinnt‹, war seine Antwort, ›die Zahlen sind eins und zwei, ein Messer und zwei Fäuste, und der Gewinn sitzt in meiner Tasche.‹ Dabei zog er eine volle Börse hervor und zeigte mir Goldstücke. Ich verstand den Sinn seiner zweideutigen Redensarten sehr wohl, dennoch gab ich mir den Anschein, als ob ich sie nicht enträtseln könne, und fragte, was er meine. Er warf einen schnöden, verächtlichen Blick auf mich und sagte: ›Ihr seid zu dumm, um so etwas auch nur zu begreifen, und gewiß zu feig, um es je zu versuchen!‹ Damit wollte er gehen. Diese vornehme Abfertigung verdroß mich aber über die Maßen; ich rief wütend: ›Ihr irrt Euch!‹ zog den Dolch und stieß ihm denselben in die Seite. Er kehrte sich, ohne einen Schrei von sich zu geben, zu mir um und drohte mir mit dem Finger; dann sank er tot zu Boden. Es war nicht meine Absicht gewesen, ihn zu töten. Da er aber einmal tot war, wußte ich mich bald darin zu fassen, es war mir nicht viel anders zumute, als ob ich ein Wild erlegt hätte, und, wie ich dieses auszuweiden pflege, zog ich ihm Uhr und Börse aus der Tasche. Kaum war ich hiermit fertig, als mich plötzlich eine Schar Soldaten umringte; sie drangen auf mich ein, sie wollten mich gefangennehmen; ich aber rief ihnen zu: ›Was, an mir, dem treuesten Diener eures Königs, wollt ihr euch vergreifen, und eben habe ich den Wilddieb, dem ihr schon so lange vergeblich nachstellt, niedergestochen und mir den Preis verdient, der auf seinen Kopf gesetzt ist?‹ Hierdurch wurden sie stutzig gemacht; als sie nun mit der Laterne, die sie bei sich führten, den Körper des Ermordeten beleuchteten, rief einer aus ihrer Mitte: ›Dies ist derselbe, auf den ich mehrere Male geschossen, ihn aber beständig verfehlt habe!‹ Jetzt glaubten fast alle, in dem Toten einen Menschen zu erkennen, der ihnen auf ihren Streifzügen zuweilen begegnet und aufgefallen, aber immer wieder auf unbegreifliche Art verschwunden war. Der Offizier des Korps klopfte mich auf die Schultern und sagte mir, daß, wenn er mich gleich ersuchen müßte, ihn zu begleiten, mir doch meine wohlverdiente Belohnung nicht entgehen werde. Ich konnte es nicht ablehnen, mit ihnen in die Stadt zu gehen;[296] hier wurde ich einem weitläufigen Verhör unterzogen, in welchem ich aussagte, daß ich dem erstochenen Jäger schon längst auf der Spur gewesen sei und ihn betroffen habe, wie er eben auf einen Hirsch angelegt; ich wurde wegen meines Mutes belobt und erhielt die Prämie in baren, blanken hundert Gulden; von diesen, sowie von der Börse und der goldenen Uhr des Jägers können wir lange leben; der Leichnam des Jägers ist heute an den Galgen gehängt worden! Als der Vater seine Erzählung geendet hatte, legte er den Dolch in die Schieblade; du wirst ihn nun wohl liegen lassen, Wilhelm!« Theodor schwieg, Wilhelm sah ihn lange an; dann sagte er:

»Ich könnte dir auch etwas erzählen, wovor sich dir die Haare emporsträuben würden; ich weiß, daß unser Vater den Dolch mehr als einmal gebraucht hat, und eben, weil ich dies wußte, war ich in der letzten Zeit oft so widerspenstig gegen ihn. Aber wir wollen uns nicht noch mehr ängstigen; nimm du dein Gebetbuch, dann wollen wir gehen.«

Theodor antwortete nichts und tat, wie ihm geheißen war. Wilhelm steckte, ohne daß sein Bruder es gewahr wurde, den Dolch zu sich; dann verließen beide die Hütte.

Die Nacht war so freundlich, wie eine Winternacht nur irgend sein kann. Der Mond schien hell, und so schwer Wilhelm und Theodor es sich vorgestellt hatten, sich aus dem dichten Walde herauszufinden, so leicht schien es ihnen zu gelingen. Schon waren sie auf einen gebahnten Steig gelangt, den sie munter verfolgten; da hörten sie über sich ein dumpfes Rauschen, wie von den schweren Flügelschlägen eines Raubvogels, und eine heisere Stimme erscholl: »Du bist ein Mörder, ich verfolge dich, Mörder!«

Wilhelm erkannte die Stimme, es war die Stimme des alten Weibes; alle Angst, die er gefühlt hatte, als die Alte leblos zu Boden gesunken war, ergriff ihn wieder; er zitterte, und seine Füße versagten ihm den Dienst. Theodor indes, als er sah, daß sein Bruder fast ohnmächtig zusammensank, erglühte von ungewohntem Mut; als es noch einmal aus den dunkeln Lüften herunterscholl: »Du bist ein Mörder!« rief er laut mit feierlicher Stimme: »Wer du auch sein magst, du lügst; wir sind fromme Kinder und stehen in Gottes Schutz!« Wilhelm hielt ihm aber die Hand vor den Mund und sagte ängstlich: [297] »Schweig, Bruder, reize die Alte nicht, ich bin ein Mörder!« Theodor starrte ihn sprachlos an, Wilhelm aber, in ungeheurer Angst, ergriff seine Hand und zog ihn hastig mit sich fort; ohne einen Augenblick zu rasten, eilten sie über die Landstraße, bis der kleine Theodor endlich keuchend, fast atemlos zu Boden stürzte und dadurch auch seinen Bruder, der noch immer die heisere Stimme des alten Weibes über sich zu hören glaubte, zum Stehenbleiben bewog.

5

Theodor erholte sich bald wieder und stand früher vom Boden auf als Wilhelm, der sich neben ihm hingekauert hatte und tief in die tolle Zauberwelt versunken war, die ihn auf jedem seiner Schritte zu verfolgen schien. Er dachte sich, durch die gespenstische Stimme im Innersten erschüttert, lebhaft, wie es sein müsse, wenn er nun plötzlich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen in einen Vogel verwandelt würde und die unendlichen Räume des Himmels, die er jetzt nicht ansehen konnte, ohne zu schwindeln, in rastlosem Fluge durcheilen müßte; ihm war, als sähe er schon aus den Wolken auf steile Felsen und brausende Meere hinunter; Entsetzen ergriff ihn, wenn er hinabsah, und größeres Entsetzen, wenn er den Blick in die ewige Höhe erhob; ein Adler rauschte mit raubgierigen Fängen auf ihn hernieder, und wie er, um diesem gefährlichen Feinde zu entgehen, sich auf einen Baum herniedersenkte, gewahrte er die mörderische Flinte eines Jägers, die auf ihn gerichtet war. Je größer die Angst war, mit welcher diese ungeheuren Bilder seiner Phantasie ihn erfüllten, um so fluchwürdiger erschien ihm der Mord, den er an der Alten begangen hatte. Er rief sich verzweifelnd zu: »Du hast die Gebote des Herrn übertreten und bist verflucht auf immerdar!« Er schlug sich mit der geballten Faust ins Gesicht und zerraufte sich das Haar.

»Mein Gott, Bruder, was fehlt dir:« rief Theodor, indem er den Arm um Wilhelms Nacken schlang und ihn zu beruhigen suchte, »träumst du?«

Wilhelm wurde durch diese Worte einigermaßen wieder zur Besinnung gebracht; er stand auf und strich sich, wie man zu [298] tun pflegt, wenn man aus einem ängstlichen Traume erwacht, die Haare aus dem Gesicht.

»Siehst du«, fragte ihn Theodor nach einer Pause, »jenes sonderbare, dreibeinige Ding und den dunklen Gegenstand, der darin hängt, und mit dem der Wind zu spielen scheint?«

Wilhelm verfolgte mit seinem Auge die Richtung, welche Theodor ihm angab.

»Ich weiß nicht, was das bedeutet«, entgegnete er nach langem Stillschweigen, »wir wollen näher darauf zugehen.«

Dies geschah; sie hatten aber kaum einige Schritte getan, als ihnen ein Mann begegnete. Wilhelm faßte sich ein Herz und fragte diesen, indem er auf das seltsame Gebäude, welches aus drei zusammengestellten Bäumen zu bestehen schien, zeigte, was es vorstelle.

»Das ist der Galgen«, war die Antwort, »an den sie den Wilddieb gehängt haben, von dem die Rede geht, daß die Krähen ihn nicht anrühren, daß er nicht verwest, und daß, sooft sie ihn auch abnehmen und verscharren, er in der nächsten Nacht immer wieder aus dem Grabe hervorsteigt und seinen alten Platz ein nimmt.«

»Der Galgen!« wiederholte Wilhelm und starrte den Mann an.

»Hüte dich, daß du nicht daran gehängt wirst!« sagte dieser, den es verdroß, daß die Knaben ihn mit ihren Fragen aufhielten, und ging vorüber.

»Wilhelm, Wilhelm!« sagte Theodor, »wie konntest du den fremden Menschen anreden!«

»Daran müssen wir uns wohl gewöhnen!« entgegnete Wilhelm und schwieg dann wieder. Ohne zu wissen, was er tat, näherte er sich dem Galgen mehr und mehr, und Theodor folgte ihm, obgleich er sich sehr fürchtete.

Nun standen sie am Fuße des Galgens. Wilhelm sah hinauf und wäre vor Entsetzen fast zu Boden gesunken, als er bemerkte, daß es der Körper des langen, hageren Mannes war, der schaurig im Winde hin und her schwankte. In diesem Augenblicke setzte sich der Vogel, in den die Alte sich verwandelt hatte, auf den Galgen und schrie herunter: »Mörder! Mörder!« Da reckte der Tote seinen Arm aus und berührte mit den steifen, ungelenken Fingern den häßlichen Vogel. Der Vogel dockte sich und gab Wehlaute von [299] sich, die Wilhelm das Herz zerrissen; dann erhob er sich, laut schreiend, in die Lüfte. Der Arm des Toten fiel schlaff am Körper nieder, nachdem dieses geschehen war, und der Mond schien hell in das blasse Gesicht mit den geschlossenen Augen und dem blauen, zusammengebissenen Munde.

Wilhelm stand regungslos. So sehr hatte ihn nicht der plötzliche Tod der Alten, nicht die heisere Stimme des Vogels durchschauert, als dieser Anblick. Also auch der Hagere war tot. Ihm war, als wären Himmel und Erde vergangen, und als wäre er allein von allen Menschen übriggeblieben, das letzte Leben in einer unendlichen Einsamkeit. Und wie er sich in diesen Gedanken mehr und mehr vertiefte, verwechselten sich in ihm die Begriffe von Tod und Leben wunderbar; er glaubte in einem dumpfen Traume vor der Geburt zu liegen; noch hatten die Elemente Macht über ihn, von denen er genommen war: die Erde, das Feuer, die Luft und das Wasser; auch war er nicht ganz getrennt von der Masse, dem ungeheuren Inbegriff alles Entstehens und Vergehens, er fühlte an sich das Rauschen des Windes, die Glut der Sonne, das Brausen des Meeres und die geheimen Wehen der Erde; ihn drückte das All, weil er des elektrischen Schlages harrte, der ihn, als abgesondertes Wesen, davon losreißen sollte. Da hörte er einen süßen Klang, der immer heller und heller wurde und sich zuletzt in den sanften Ruf einer melodischen Mädchenstimme: »Wach auf, Wilhelm!« auflöste, und das Bild jenes Mädchens, welches der Hagere ihn in der Hütte hatte sehen lassen, ging wieder vor ihm auf in strahlendem Liebreiz. »O, wo bist du! wo bist du!« rief er aus; da faßte ihn Theodor, der bisher starr gestanden hatte, bei der Hand und sagte leise: »Hier bin ich, lieber Bruder!« Wilhelm aber stieß ihn zurück, und rief: »Ich muß sie sehen, ich muß zu ihr!«; in demselben Augenblick fiel sein Blick auf den Galgen, und sein Blut gerann wieder zu Eis.

»Du wirst sie niemals wiedersehen«, sagte er dumpf vor sich hin, »denn der hagere Mann ist tot.«

Da fiel ihm ein, daß seine Mutter ihm oft von Menschen erzählt hatte, die ein Bündnis mit dem Teufel gemacht und dadurch alles erlangt hätten, was ihr Herz begehrt habe, und er wünschte sehnlichst, daß der Teufel ihm erscheinen möchte. Zwar erbebte seine Seele in ihren innersten Tiefen, als er sich [300] diesen Wunsch zum ersten Male zu gestehen wagte; doch er dachte an seinen Mord und daran, daß er von Gott ja doch verstoßen sei; das Bild des Mädchens trat immer deutlicher vor seine Phantasie und erfüllte ihn mit Vergessen seiner selbst, und, zitternd vor Wonne, unfähig, länger zu widerstehen, faltete er rückwärts die Hände und rief dreimal mit lauter Stimme: »Teufel, erscheine!«

Theodor, als er dieses hörte, fiel bewußtlos zu Boden; von dem Galgen herunter scholl es aber: »Ich habe dir gesagt, daß du mich vor Weihnachten nicht siehst!«

Die Stimme kam von dem Toten, obgleich er die Augen nicht aufschlug und die Lippen nicht bewegte; Wilhelm stürzte ohnmächtig neben seinem Bruder hin, als er dieses bemerkte.

6

Als am andern Morgen die Sonne aufging, standen die beiden Knaben unter einem Baume, der schauerlich öde über ihnen rauschte. Theodor hauchte sich auf die Fingerspitzen, um diese zu erwärmen; Wilhelm starrte mit trüben, ausgebrannten Augen in den Himmel hinein. Der Baum stand an einer Landstraße, Menschen gingen vorüber, die sie mit neugierigen Augen betrachteten; in der Ferne lag ein einsames Haus.

»Ach, Wilhelm«, sagte Theodor, »wie freu ich mich, daß diese Nacht vorüber ist.« »Alles wird vorübergehen«, antwortete Wilhelm mit matter Stimme, und Tränen flossen ihm über die Wangen; »alles, alles!«

»Gottlob!« entgegnete Theodor, »daß du einmal wieder sprichst; seit den entsetzlichen Worten, in welchen du den Bösen anriefst, hast du den Mund nicht wieder geöffnet. Ach, Wilhelm, warum tatest du das! Ich glaubte schon, daß Gott dir für deine entsetzliche Lästerung die Zunge gelähmt hätte und wenn ich dir ins Auge sehe, so fürchte ich mich vor dir!«

»Geh von mir, Bruder!« sagte Wilhelm, »geh! geh!«

»Niemals, niemals, teurer Bruder!« erwiderte Theodor und umschlang ihn.

»Tu es!« rief Wilhelm und entwand sich seinen leidenschaftlichen [301] Umarmungen, »verlaß mich auch, wie Gott mich verlassen hat.«

»Das hat er nicht«, versetzte Theodor lebhaft, und höhere Glut färbte seine Wangen; »weißt du nicht mehr, was Mutter uns sagte, daß die heiligen Engel uns auf allen unseren Wegen umschweben?«

»Sie haben mich in dieser Nacht nicht umschwebt!« antwortete Wilhelm und schauderte zusammen.

»Nein, nein!« fuhr er nach einer Pause fort, »ich bin von Gott verlassen!«

»Das kannst du nicht sein«, entgegnete Theodor, »ich fühl es.«

In diesem Augenblicke öffnete sich in dem oben erwähnten Hause eine Tür, eine Frau trat heraus und ging auf die Knaben zu. Sie war in den mittleren Jahren, sah freundlich, aber sehr traurig aus, und bot den Knaben mit wohlklingender Stimme einen guten Morgen. Sie betrachtete sie einige Minuten; dann sagte sie:

»Wer seid ihr, liebe Kinder, und wo wollt ihr hin?«

»Wir haben unsere Eltern verloren und sind auf der Reise nach Hamburg«, versetzte Wilhelm.

»Gerechter Gott!« entgegnete die Frau mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens, »ihr wollt nach Hamburg, welches über acht Meilen von hier entfernt ist,«

»So weit?« fragte Theodor, der erst scheu und ängstlich sich zurückgetreten war, den das herzliche Entgegenkommen der freundlichen Frau aber bald vertraulich gemacht hatte.

»Liebe Kinder«, versetzte die Frau, »wie wollt ihr nach Hamburg kommen in dieser rauhen Jahreszeit! Habt ihr denn keinen Freund, keinen Verwandten, der euch begleiten könnte, oder er wartet euch in Hamburg ein liebender, teilnehmender Kreis?«

Wilhelm wollte antworten, doch die Frau unterbrach ihn, in dem sie sagte:

»Es ist unrecht, daß ich euch hier draußen so lange stehenlasse in der strengen Kälte; kommt mit herein in mein Haus, die Stube ist warm, und ein Frühstück soll euch schmecken, wie ich denke. Ich habe schon eine Weile euch von meinem Fenster aus betrachtet, und das innige Mitleid, welches ich mit euch und hauptsächlich mir dir (dies sagte sie zu Theodor), der du meinem [302] kürzlich verstorbenen Sohne so ähnlich siehst, empfand, trieb mich heraus. Drinnen könnt ihr mir auch erzählen!«

Sie ging voraus, und die Knaben folgten ihr in ihr Haus. Die Frau bereitete ihnen ein Frühstück; Wilhelm genoß nur wenig davon, Theodor ließ es sich desto besser schmecken.

Jetzt erzählte Wilhelm alles, was sich seit dem Tode seiner Eltern mit ihm und seinem Bruder zugetragen hatte. Die Frau hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn durch voreiliges Bezeugen von Beifall oder Mißfallen zu unterbrechen oder auch nur durch eine Miene, die ihr Urteil im voraus hätte erraten lassen, zu stören. Sie befolgte hierin ein Gebot der Humanität, welches am häufigsten übertreten wird und dennoch das heiligste von allen ist, so daß es auch gegen den Sünder niemals vernachlässigt werden sollte. Das Leben ist wie eine Freskomalerei, in seinen Einzelheiten leer, widerwärtig und unharmonisch; wer es nicht als Ganzes in sich aufzunehmen strebt, wird es schwerlich begreifen. Es ist so unendlich leicht, den Menschen zu vergöttern oder zu verdammen, wenn man ihn als das Produkt der Stunde betrachtet; man bedenke, daß auch die Seele ihre Jahreszeiten hat, die sich bloß dadurch von den äußeren Jahreszeiten unterscheiden, daß jeder wiederkehrende Winter die geheimnisvolle Geburtsnacht eines schöneren Sommers ist. Welch ein Unglück für den Baum, wenn man ihn nach seiner Armut im Winter beurteilen wollte! Was aber im allgemeinen über das Leben gilt, das gilt auch über seine einzelnen Momente, insofern diese wieder als Resultate einer langen Kette von mehr oder minder gewichtigen Augenblicken ein Ganzes ausmachen. Jede wirkliche Tat ist die Wiege oder der Leichenstein einer geistigen Epoche; unser Auge aber dringt nicht in Wiegen und Särge. Das freie Bekenntnis, wie es einer edlen Brust in Stunden der Rührung oder der Liebe entströmt, ist der Auferstehungsengel für die geistigen Toten und der Wahrsager für die geistigen Säuglinge; o, wie grausam, den Menschen in diesem reinsten Ergusse seiner Individualität, der ihm oft das tiefste Bedürfnis sein kann, zu stören!

Als Wilhelm geendet hatte, schwieg die Frau, in Nachdenken verloren, noch eine ganze Weile still. Dann sah sie den Knaben ernst an und fragte ihn, was er über sich denke.

»Ich denke«, entgegnete Wilhelm, »daß ich der unglücklichste [303] aller Menschen bin. Mir ist, als ob ich mich in einer einsamen Wüste befände, die keinen Ausgang hat.«

Ach, er hatte recht! Die tollen Zauberkreise, in die er geraten war, hatten ihm alles, alles geraubt. Der Gedanke an seine Eltern war ihm peinlich; er konnte die kalten, gleichgültigen Blicke, welche sie, als luftige Phantome der Gespensterwelt, auf ihn geworfen hatten, nicht vergessen, und durch diese Blicke war die schmerzliche Erinnerung an den Vorzug, der seinem Bruder bei ihren Lebzeiten immer von ihnen erteilt wurde, lebhafter als jemals in ihm aufgeregt worden. Er liebte seinen Bruder nur noch deswegen, weil er ihn nicht zu hassen vermochte; er konnte sich eines Grolls gegen ihn nicht erwehren, wenn er sich es gleich nicht verhehlte, daß dieser Groll ein völlig ungerechter sei. Hieraus entsprang wieder eine grenzenlose Verachtung seiner selbst, und aus dieser jene gänzliche Erschlaffung, die sich vorzugsweise einer starken, kräftigen Natur bemeistert und sie bis in ihre innersten Tiefen hinein zerstört. Hätte nicht ein solcher Zwiespalt seine Brust zerrissen, so würden die Schauer der letzten Nacht, die an jedem Grundpfeiler seines Wesens gerüttelt und das Band, welches zwischen Leib und Seele besteht, fast gelöst hatten, elektrisch auf seine Kräfte gewirkt und ihn nur darum zerschmetternd durchzuckt haben, um ihn zu erheben. Jetzt aber ging es ihm, wie dem Scharbockkranken; träumend, schlafend, taumelte er dem Abgrunde entgegen; Wonne war es für ihn, hineinzustürzen; er strengte sich an, das Bild des Mädchens, welches durch die Verbindung, worin es zu dem Hageren, der sich als Teufel offenbart hatte, zu stehen schien, in dunkle Nebel verhüllt war und nur noch wetterleuchtete, in der alten, verlockenden Gestalt hervorzurufen; kurz, er verübte jene gräßlichste Art des Selbstmords, die aus jeder Minute eine Pistole und aus jedem Gedanken oder Gefühl eine vergiftete Kugel macht.

»Du bist unglücklich, ja«, versetzte die Frau, »wohl dir, daß du nicht ebenso schuldig bist! Aber dieser Augenblick wird dich lossprechen oder verdammen; fasse ihn wohl in seiner Bedeutung für dich! Du bist zur Erkenntnis gekommen, deine Erzählung zeigt es mir; was bisher geschehen ist, kann und muß vergeben werden; doch von jetzt an bist du für jeden deiner Schritte verantwortlich, und jeder ist entscheidend!«

[304] Wilhelm schwieg lange Zeit; endlich sagte er:

»Ich verstehe nicht, was du meinst!«

»Du wirst es fühlen«, entgegnete die Frau, »wenigstens in derselben Stunde, die dir den Zweifel bringt. Dein Herz sei deine Wünschelrute!«

Die Frau ging in die Küche; als sie nach einer Weile wieder hereinkam, nahm sie den kleinen Theodor auf den Schoß und fragte ihn, ob er wohl bei ihr bleiben möge?

»Du bist«, erwiderte der Knabe, »so freundlich gegen mich, daß ich mich fast fürchte, dich wieder zu verlassen.«

Wilhelm sah ihn von der Seite mit einem finsteren Blicke an. Die Frau bemerkte dieses nicht, sondern sagte:

»In der Tat, liebe Kinder, ich habe so viel, daß ich euch zu essen geben kann, und will euch Mutter sein!«

Wilhelm antwortete ihr nicht; Theodor streichelte ihr die Wangen.

7

Die Frau fühlte zu tief, um dem Zuge ihres Herzens zu folgen; sie ließ es Wilhelm daher auf keine Weise merken, daß sie ihm seinen Bruder vorziehe, und der Tag verstrich unter den heitersten Beschäftigungen, in die sie die Knaben einführte. Am Abend wies sie ihnen in einer Kammer ein reinliches Bett zum Schlafen an, sagte ihnen dann gute Nacht und legte sich darauf, nachdem sie vorher noch im ganzen Hause nach den Türen gesehen hatte, selbst zur Ruhe. Kaum aber war es still geworden, als Wilhelm wieder aufstand und sich eilig ankleidete; die Freundlichkeit der Frau erdrückte ihn, weil er sich bewußt war, sie nicht verdient zu haben, und die Nacht, die ohnehin alles Leben, was sie nicht durch Traum und Schlummer zu beschwichtigen vermag, zu gedoppelten Flammen aufregt, reizte ihn unwiderstehlich mit ihren phantastischen Wolkenbildern, die im bleichen Mondlicht am Himmel dahinzogen, und mit den ersten dumpfen Akkorden eines anbrechenden Sturmes. Es gibt körperliche Wunden, aus denen der Mensch zweimal bluten muß, wenn sie nicht tödlich werden sollen, er pflegt dieses zu fühlen und sie in fieberhafter Angst aufzureißen, wenn sie sich eben schließen wollen; dann [305] sinkt er ohnmächtig zurück, aber, wenn er wie der erwacht, fließt das Blut, welches schon vergiftet war, ihm rein und gegeläutert durch die Adern, und frische Lebenskraft hüpft in allen seinen Pulsen. So gibt es auch geistige Wunden, die tödlich sind, weil sie nicht tief genug sind; und wenn Wilhelm, der der Versuchung, den Hageren noch einmal zu sehen, nicht widerstehen konnte, auch wohl ahnte, daß ihm irgendein Ungeheures entgegentreten werde, so mochte doch diese Ahnung von der geheimen Hoffnung, daß größere Krankheit ihn zur Gesundheit führen müsse, begleitet sein. Der Mensch ist oft sein Arzt, wenn er sein Mörder zu sein scheint.

Wilhelm öffnete leise das Fenster der Kammer, welches auf die Landstraße hinausging, und wollte hinaussteigen. Er hatte beschlossen, seinen Bruder nicht zu wecken, da er erkannte, daß dieser in einen Kreis gekommen war, der sich für seine Kräfte und seine Neigungen vollkommen eignete. Schon war er hinausgestiegen und hatte das Fenster wieder angelehnt, als es ihm mit einem Male schwer aufs Herz fiel, daß seine heimliche Entfernung den Bruder im tiefsten verletzen, ja, ihm den heiteren Seelenfrieden, den er sich, wie Wilhelm, nachdem er den seinigen verloren, mit Klarheit fühlte, rein und ungetrübt bewahrt hatte, auf lange Zeit rauben könne. Schnell stieg er wieder hinein und trat zu Theodor ans Bett. Der Mond schien hell in die Kammer.

Es gibt wohl nichts, was das Herz inniger bewegte, als der Anblick eines Schlafenden. Wenn der Mensch schläft, so ist er wieder, was er sein soll, das Meisterstück der Natur, in welchem die Endpunkte der Schöpfung zusammenlaufen. Dann sind es nicht die Schlagschatten der Sorge, die sich auf dem in ruhiger Schönheit dahingegossenen Angesicht abspiegeln, dann ist es nicht der trübe Widerschein verzehrender Leidenschaften, der sich in seinen Zügen bricht; es sind die Gedanken der ewigen Mutter selbst, die sie in geheimer Hieroglyphenschrift an dem Telegraphen, durch den sie mit der Gottheit korrespondiert, ausdrückt; es sind ihre verborgensten Regungen, die Zuckungen, die einer Weltrevolution voraufgehen; sie ist wie ein Musikmeister, der sich eine Harmonika erbaut hat und sie um Mitternacht in einsamer Begeisterung spielt. Wilhelm stand lange in tiefem Schweigen vor dem Bette seines [306] Bruders. Dann war es ihm, als hätte er ihm großes Unrecht getan; er mochte erkennen, wie dies in einzelnen, seltenen Augenblicken geschieht, was sein Bruder sei; der ganze reiche Frühling, der sich in dieser anspruchslosen, schlichten Natur still, aber unaufhaltsam vorbereitete, mochte ihn berühren in magnetischem Gruße. Das Herz floß ihm über, er beugte sich in tiefster Rührung über Theodor hin und sagte: »Leb wohl, lieber Bruder!«

Theodor erwachte; er erstaunte nicht wenig, als er Wilhelm, der sich mit ihm zur Ruhe niedergelegt hatte, völlig angekleidet vor sich stehen sah; er fragte »Was willst du, Wilhelm?«

»Ich will fort«, war Wilhelms Antwort, »es duldet mich hier nicht!«

»Wilhelm«, erwiderte Theodor nach einer langen Pause, »ich zittere für dich. Erinnerst du dich nicht mehr der warnenden Worte unserer freundlichen Wirtin? Sie waren mir dunkel; aber mir ist, als ob ich in diesem Augenblicke ihren Sinn verstehe.«

»Leb wohl, Theodor!« rief Wilhelm unmutig und ging zum Fenster.

»Nein, Bruder«, versetzte Theodor, indem er aus dem Bette sprang und sich ankleidete, »wohin du auch gehst, ich begleite dich. Aber, warum sagtest du es der Frau nicht sogleich, daß du nicht bei ihr bleiben wolltest?«

Wilhelm verstummte und errötete. Nach einigen Minuten sagte Theodor: »Jetzt bin ich fertig, wir können gehen!« »Wohlan!« erwiderte Wilhelm und stieg aus dem Fenster. Theodor folgte, aber nicht, ohne einen letzten, wehmütigen Blick auf das Haus, welchem sie so liebreich aufgenommen worden waren, zu werfen.

Trotz ihrer Unbekanntschaft mit den Landstraßen, trotz der großen Ungemächlichkeiten des Winters kamen die Knaben dennoch in verhältnismäßig kurzer Zeit in Hamburg an. Wie war ihnen, als sie in diese Stadt, in welcher der Handel eines Weltteils sich konzentriert, eintraten! Jeder Mensch ein Zauberer, jedes Haus ein Wunder; alles blendend und unbegreiflich. Und doch fanden sie bald einen Verknüpfungspunkt zwischen ihrer ehemaligen und ihrer jetzigen Umgebung; die ungeheure Stadt, von der sie weder Anfang noch Ende sahen, wirkte ganz auf sie, wie der große, undurchdringliche Wald, in welchem sie aufgewachsen [307] waren; die schwindelndhohen Häuser erinnerten sie unwillkürlich an die majestätischen Bäume mit ihren dunkeln, geheimnisvollen Kronen, und die unendliche Menschenmasse in ihrem Auf- und Abfluten und ihrem ewigen Geräusch an das Gewühl des Laubes und an den brausenden Wind, der es unaufhörlich bewegt und verändert.

Sie durchwanderten die Straßen ohne Plan und Zweck; plötzlich standen sie vor der Petrikirche. Staunend sahen sie zu dem in die Wolken hineinragenden, schlanken Turm hinauf Ein ältlicher Herr ging eben über den Kirchhof, Wilhelm trat auf ihn zu und fragte ihn nach der Bedeutung des gewaltigen Gebäudes.

»Es ist«, antwortete der Herr mit Freundlichkeit, während er die Knaben aufmerksam betrachtete, »das älteste Gotteshaus in dieser Stadt und vor mehr als tausend Jahren erbaut!«

»Ein Gotteshaus!« wiederholte Wilhelm verwundert, und gab durch den Ausruf zu erkennen, daß er zum ersten Male von einem Gotteshause höre und keinen Begriff damit zu verbinden wisse.

»Dies ist das Haus«, fuhr der Herr fort, »in welchem wir alle, arm oder reich, jung oder alt, uns versammeln, um demjenigen, von dem wir alles haben, was uns auf Erden zuteil geworden ist, für seine Güte und Liebe zu danken.«

»O, wie gern möchte ich einmal hineintreten!« sagte Theodor schüchtern.

»Das kann heute«, erwiderte der Herr und klopfte Theodor auf die Wange, »nicht geschehen; aber morgen feiern wir das Geburtsfest unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, dann ist es jedem geöffnet.«

Wilhelm zuckte zusammen. »So ist ja heute Weihnachtsabend!« versetzte er hastig.

»Ja, freilich«, erwiderte der Herr; »aber wer seid ihr, liebe Kinder, daß ihr das nicht wißt, was man in eurem Alter niemals zu vergessen pflegt?«

»Wir kommen aus der Fremde«, entgegnete Wilhelm, »und sind hier unbekannt.«

»Arme Kinder!« versetzte der Herr, »was wollt ihr denn in Hamburg anfangen? Ich wollte, daß ich euch –«

[308] Er unterbrach sich, langte aber in die Tasche und drückte Theodor ein großes Stück Geld in die Hand. Dann ging er fort.

»Gott verläßt uns nicht, Wilhelm«, sagte Theodor, tief gerührt, »weißt du noch, wie unser Vater sich freute, wenn er zuweilen solch einen Taler nach Hause brachte?«

Wilhelm antwortete ihm nicht; er hatte sich an die Mauer der Kirche gelehnt und war in Gedanken versunken.

8

Es war Nacht geworden. Theodor und Wilhelm durchwanderten noch immer die Straßen von Hamburg; Theodor ergötzte sich kindlich an all den Herrlichkeiten, die besonders zur Weihnachtszeit in den festlich geschmückten Buden aufgestellt sind; nur zuweilen machte er seiner Freude und Verwunderung in einem Ausrufe Luft; denn er mochte seinen Bruder, der ihm still und bleich zur Seite ging, nicht stören.

Wilhelm ergriff von Stunde zu Stunde tiefere Unruhe, bald wünschte er meilenweit von Hamburg entfernt zu sein; bald sehnte er sich nach der Erscheinung des Hageren; zuletzt versank er ganz und gar in jene Art trüber Gleichgültigkeit, die vielleicht unter allen Gemütszuständen die meiste Ähnlichkeit mit dem Tode hat.

Die Uhr schlug elf, da standen die Knaben wieder auf dem Petri-Kirchhofe. In demselben Augenblicke schritt der hagere Mann auf sie zu; er sagte Wilhelm guten Abend und musterte Theodor mit einem stechenden Blick, der diesen, wie ein glühender Pfeil, durchdrang.

Theodor fühlte sich im Innersten wie von dem Finger des Todes berührt; er ahnte, daß ihm eine feindliche Natur, mit welcher er nichts gemein habe, gegenüberstehe; er faßte seinen Bruder, der den Hageren sprachlos anstarrte, bei der Hand sagte: »Laß uns diesen Ort verlassen, Wilhelm!«

Wilhelm zuckte zusammen; aber er preßte die Hand seines Bruders heftig in die seinige und rief: »Jawohl, wir wollen gehen!«

Der Hagere lachte laut auf, wandte sich um und bog um die Ecke der Kirche. Noch einmal schaute er zurück; da fühlte [309] Wilhelm sich unwiderstehlich fortgerissen; er ließ die Hand seines Bruders los und schrie:

»Ich muß ihm nach, er darf nicht fort!«

»Ich warte!« rief der Hagere zu ihm herüber, Wilhelm stürzte auf ihn zu.

»Gib mir die Hand und sei kein Tor!« sagte der Hagere.

Wilhelm gab sie ihm; aus den kalten Fingerspitzen des Hageren schien sich ein elektrisches Feuer in ihn zu ergießen; ihm war wie damals, als er aus der Flasche getrunken hatte; eine wunderbare Welt umgaukelte ihn; noch einmal, wie einst in der Hütte, ging das Leben in all seinen Erscheinungen an ihm vorüber; noch einmal stand das Mädchen in vollem Liebreiz vor ihm da.

Wilhelm schloß vor Entzücken seine Augen; als er sie wieder aufschlug, fiel sein erster Blick auf das unheimliche Gesicht des Hageren, der ihn mit steinernem Ernst betrachtete. Er tat einen Schritt zurück; dann fragte er mit unsicherer Stimme: »Wer bist du?«

»Was kümmerts dich, Knabe, wer ich bin!« antwortete der Hagere mit finsteren Stirnfalten, »du weißt, was ich kann!«

»Du sagtest, du wärest der Teufel«, fuhr Wilhelm fort, »bist du der Teufel?«

»Schweig!« rief der Hagere zornig und trat dicht vor Wilhelm hin. Wilhelm zitterte, ihm brachen die Knie zusammen, und er wäre zu Boden gesunken, wenn der Hagere ihn nicht schnell bei der Hand ergriffen hätte. Doch, sobald dies geschehen war, fühlte er sich wieder stark, wie zuvor; er schlug seine Augen wieder zu dem Hageren auf und begriff nicht, wie er sich vor ihm habe fürchten können.

»Ich will dich jetzt einführen in die Tiefen der Natur und in die Geheimnisse deines Lebens«, begann der Hagere; »ich will den Fluch von deinem Haupte nehmen, der dich erdrücken würde; ich will dir den Feind zeigen, der sich all deinen Bestrebungen in den Weg stellen wird, wenn du ihn nicht vernichtest!«

Wilhelm erglühte; unverwandt, mit leuchtenden Blicken hing sein Auge an dem Munde des Hageren; seine Hand ballte sich, ihm selber unbewußt, zusammen; er fragte:

»Wer ist mein Feind,«

»Dein Bruder!« erwiderte der Hagere.

[310] »Du lügst, du lügst!« rief Wilhelm heftig, »mein Bruder ist mir zugetan in ewiger Liebe; er ist besser als ich.«

»Und doch dein Feind!« versetzte der Hagere ruhig. »Wer war der Liebling deiner Eltern? Er oder du,«

»Es ist wahr«, erwiderte Wilhelm, innerlich zerknickt, »ihm steckte die Mutter täglich Leckerbissen zu, ihm schnitt der Vater zuerst Brot, und selten trug ich ein so gutes Kleid wie er.«

Er hielt inne, denn er erinnerte sich, daß auch die Frau ihn und seinen Bruder nur deswegen so freundlich bei sich aufgenommen hatte, weil Theodor ihrem Sohne glich.

»Versenke dich tief in die Vergangenheit«, sagte der Hagere nach einer langen Pause, »und dann frage dich, ob es nicht immer dein Bruder war, dem du deine schmerzlichsten Stunden verdanktest.«

Wilhelm schwieg; aber das Andenken einer Stunde, durch die er einst in seinen heiligsten Gefühlen verletzt und seinen Eltern ohne sein Zutun entfremdet worden war, ging schauerlichdüster an seiner Seele vorüber. Die Mutter hatte einmal eine schöne Tasse zerbrochen gefunden; sie hatte geglaubt, daß Wilhelm, den sie immer den Ungestümen, den Wilden zu nennen pflegte, am Zerbrechen der Tasse schuldge wesen sei; sie hatte ihn zur Rede gesetzt und, ohne auf die flehenden Beteuerungen seiner Unschuld zu hören, ihn hart gezüchtigt. Späterhin, als Theodor von einem Spaziergange mit seinem Vater aus dem Walde zurückgekehrt war, hatte dieser bekannt, er habe die Tasse unvorsichtigerweise an die Erde geworfen, und statt ihn zu strafen, hatte die Mutter ihm seine Unvorsichtigkeit kaum in einigen gelinden Worten verwiesen und ihn dann, als ihm eine Träne über die Wangen floß, gleich wieder geliebkost.

»O, das war hart!« rief Wilhelm aus. Er war zu tief in Erinnerungen versunken, um zu wissen, daß er seinen Gedanken Worte gab.

In diesem Augenblicke rauschte es über Wilhelms Haupt; er kannte dieses Rauschen und zitterte heftig; da scholl es aus der Luft herunter: »Mörder! Mörder!«

»O Gott!« rief Wilhelm aus.

»Laß das, Knabe«, sagte der Hagere, und eine unheimliche Glut flammte in seinem Auge auf, »du hast einst den Teufel an [311] gerufen, und er hats nicht vergessen. Denk lieber an deinen Bruder; wär er nicht gewesen, so wärest du nimmer ein Mörder geworden.«

»Nimmer, nimmer!« wiederholte Wilhelm langsam und biß die Zähne zusammen.

»Fühlst du dies? erkennst du dies?« versetzte der Hagere lebhaft, »nun, so wirst du jenen Tag verfluchen, an welchem du den unnützen Bruder durch meinen Trunk vom Tode errettetest. Ich wollte dir nicht verweigern, was dein Unverstand von mir verlangte – hätt ichs getan, dir wäre besser!«

»Was geschehen ist, das ist geschehen!« sagte Wilhelm in dumpfem Hinbrüten.

»Aber, du hast ihm das Leben gegeben – du mußt es ihm wie der nehmen«, versetzte der Hagere leise.

»Entsetzlicher!« rief Wilhelm und starrte den Furchtbaren an.

»Höre mich an«, fuhr der Hagere fort, »ich muß dich etwas fragen. Ich habe dir die Welt gezeigt in ihrer Herrlichkeit; du sahest Krieger und Künstler, den Kaufmann und den Gelehrten. Hast du keinen unter ihnen beneidet?«

»Ich möchte werden wie sie!« erwiderte Wilhelm.

»Ich zeigte dir die Schönheit in ihrer Allmacht; du sahest die Jungfrau, die Blume der Schöpfung, vor welcher der Erdkreis sich beugt. Blieb dein Herz kalt bei dem Anblick der Schönheit.«

»Ach, ich verging in unendlicher Sehnsucht«, sagte Wilhelm und gab dem Hageren die Hand, nach welcher er faßte, willig hin, »und eben jetzt ist es mir, als stiege jenes Bild leuchtender vor meiner Seele auf, als jemals. Kann ich denn leben, wenn ich sie nimmer besitzen soll;«

»Und auch sie«, fuhr der Hagere fort, »ist mit unauflöslichen Banden an dich geknüpft, wie du an sie; doch sie wird sich deinem Bruder zuneigen in unwiderstehlicher Verblendung, und sie wird verbluten und du wirst verbluten, denn also beschloß es die Natur, als sie neben dir deinen Bruder hervorbrachte. Auf sein Haupt wird sich alles häufen, was von Ewigkeit her für dich bestimmt war; er ist wie die unverschämte, breitblätterige Sonnenblume, ohne Duft und Farbenpracht, die den Tau auffängt, der das an ihrer Seite aufgeschossene Veilchen erquicken sollte; die Bahn der Ehre ist für dich verschlossen, damit sie sich für ihn eröffne; [312] ihm wird alles Schöne zuteil werden, und du wirst ewig darben!«

Der Hagere, dessen Stimme immer voller und gewaltiger geworden war, schwieg einen Augenblick; dann sagte er: »Armer Knabe!« und drückte Wilhelm die Hand. Dieser Händedruck durchdrang Wilhelm bis ins Innerste, seine Sinne verwirrten sich, er rief: »Was soll ich tun!«

»Ihn töten, töten!« antwortete der Hagere.

»Ich nicht, du! du!« sagte Wilhelm, und seine Zähne klapperten.

»Wohlan, ich, wenn du es befiehlst«, versetzte der Hagere trocken; »er kommt eben auf uns zu. Ich will seine Gebeine zerschmettern, daß keine Spur von ihm übrigbleibt!«

Seine Augen sprühten Funken, seine Gestalt wuchs ins Unendliche, er tat einen Schritt vorwärts. Wilhelm sah, daß Theodor sich schüchtern nahte; da schrie er laut auf: »Nein, Schrecklicher, nicht du, ich selbst, ich selbst!« Zugleich stürzte er in entsetzlicher Angst auf seinen Bruder und rief: »Theodor, Theodor!

Du mußt fliehen oder sterben!« »Bruder, wie bist du blaß – was fehlt dir,« sagte Theodor im Tone des innigsten Mitleids.

»Ach, ich –« Die Stimme brach Wilhelm, die Anrede seines Bruders hatte ihn im tiefsten erschüttert, der Zauber, der ihn bisher geblendet hatte, wirkte nicht mehr; mit dem Ausrufe:

»Schütze mich! Schütze mich!« fiel er Theodor an die Brust.

In diesem Augenblicke erscholl eine Weihnachtsmusik vom Turme. O, Musik, heilige Stimme der Natur, worin sie alles aus spricht, was zu flüchtig ist für die Gestaltung in einer ihrer tausendfachen Formen und zu zart für die Gedanken des Menschen, welcher die Wasserlilien, die sich aus ihren ewigen Tiefen empor ringeln, nur pflücken, aber nicht bis an die Wurzeln verfolgen kann! Du entblätterst die Welt wie eine Rose, aber nur, um in ihr Innerstes einzudringen und von der Kraft nippen, die ewig neue Blüten treibt, du führst den Geist in schwindelndem Fluge bis an seine Grenze, aber nur, weil diese Grenze der Anfang der Gottheit ist.

Theodor und Wilhelm hatten nie eine Musik gehört. Brust an Brust gelehnt, standen sie da, ohne Worte, nur Empfindung, [313] Vergangenheit Gegenwart und Zukunft schwebten an ihnen vorüber; jede Saite, die bisher in den Tiefen ihrer Brust nur noch gezittert hatte, erklang. Es gab für Theodor nichts mehr, was er fürchtete, für Wilhelm nichts mehr, was er hoffte. Das Gemüt gab sich kund, hier in der Zerknirschung, die, wie jeder Tod, der Herold unsterblichen Lebens war, und dort in der Erhebung zum Zenitpunkte geistiger Freiheit.

»Das ist der Gesang der Engel«, sagte Theodor leise, »von dem Mutter uns so oft erzählte; mir ist, als ob ich in diesem Augen blicke den lieben Gott sähe; ich will beten.«

»Bete mit für mich«, sagte Wilhelm, »ich sterbe!«

Theodor hörte nicht, was sein Bruder gesagt hatte; er war auf seine Knie gesunken und hatte die Hände in frommer Andacht gefaltet. Wilhelm sah ihn beten; er wandte sich von ihm ab, und Tränen stürzten ihm aus den Augen. Er glaubte vor dem unsichtbaren Richterstuhl desjenigen zu stehen, der die Gedanken erkennt, bevor sie ausgesprochen werden, und Schauer des Todes rieselten ihm durch die Gebeine. Doch jener unvorsätzliche Totschlag in der Hütte war es nicht mehr, der seine Seele beängstigte; auch die letzte, finstere Stunde folterte ihn nicht. Aber es wurde ihm klar, daß er immer die Kraft in sich getragen hatte, den unheimlichen Blend- und Zauberwerken, die sich ihm entgegendrängten, zu widerstehen, und das Bewußtsein, den Hageren nicht in heiligem Ernst von sich gestoßen, sondern sich seinen Verlockungen willig hingegeben und um das Höchste des Lebens aus Trotz und Eitelkeit freventlich gespielt zu haben, zermalmte ihn.

Die tiefen, langgezogenen Töne des Horns bohrten sich wie Keile in seine Seele, und er fühlte zugleich, daß sie ihn zum Himmel würden erhoben haben, wenn sie ihn nicht in die Hölle hätten hinunterstürzen müssen. All die reizenden Lebensbilder, die der Hagere an ihm vorübergeführt hatte, grüßten ihn auch jetzt, aber reiner, lauterer, und ohne sein Herz zu rasender Begierde zu entflammen, wie einst. »Mir selbst und dem Himmel hat der Entsetzliche die Blumen gestohlen, durch die ich mich verlocken ließ!« rief er aus. Dies war sein größter und sein letzter Schmerz.

Die Musik verstummte. »Ach, Wilhelm,« sagte Theodor, tief [314] aufatmend, indem er wieder aufstand, »ich glaubte, schon oft gebetet zu haben, aber ich habe zum ersten Male gebetet!«

»O Bruder, Bruder!« rief Wilhelm aus und bedeckte mit der Hand das Gesicht, »sag mir, wie werd ich wie du?«

Theodor wollte Wilhelm umarmen, doch schnell trat er, von einem großen Gedanken ergriffen, zurück und sagte:

»Bruder, hebe deine Hände empor zu den Sternen und schwöre, wie ich eben geschworen, allem, was edel und gut ist, ewige Treue!« Da faltete Wilhelm seine Hände und blickte zum Himmel auf und stammelte: »Ewig, ewig!« Sein Angesicht leuchtete.

In diesem Augenblicke gingen an den Knaben mehrere Männer mit Blasinstrumenten unter dem Arme vorbei. Es waren die Musikanten, die vom Turme kamen.

Da klopfte plötzlich der Hagere Wilhelm auf die Schulter und sagte, indem er auf die Musikanten zeigte: »Siehe, Knabe, das sind deine Götter!« Dann verschwand er mit einem heiseren Gelächter.

Jetzt sind wir zu dem Punkte gekommen, wo wir den Zwiespalt, der Wilhelms Natur zerriß, geschlichtet sehen. Wir wollen nun von den einsamen Kindern Abschied nehmen und nur noch bemerken, daß sie zu der Frau, die sie einst so freundlich aufgenommen hatte, zurückkehrten, und daß diese sich späterhin, als Theodors Gebetbuch ihr zufällig in die Hände kam, als die Schwester ihrer Mutter auswies.

Wilhelm, von seinem inneren Zwiespalt genesen, ward sich, unter freundlichen Verhältnissen, bald der Kraft bewußt, die in jedem Menschen lebt, der Kraft: dem Bösen widerstehen zu können, sobald man nur ernstlich will. Das Gemüt war in ihm erwacht, und dieses, in Verbindung mit der Religion, von der er bald die gehörigen Begriffe bekam, beschützte ihn gegen spätere Verirrungen. Er wurde gut und fromm, wie sein Bruder, und wenn er einmal vom Pfade des Guten abweichen wollte, erinnerte er sich der Schrecknisse, in die ihn seine frühere Gemütlosigkeit und Begehrlichkeit gestürzt hatten, und kehrte schaudernd der Versuchung den Rücken.

[315]

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TextGrid Repository (2012). Hebbel, Friedrich. Märchen. Die einsamen Kinder. Die einsamen Kinder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-3AD1-2