[144] Gründeutschland

So hängt denn mit den »grünen Jungen«
Auch mich und schindet mein Gedicht!
Schach eurem Spott! Er ist mißlungen.
Ihr merkt den neuen Pulsschlag nicht.
Ja, »Jungen« haben heiß empfunden,
Was alt und kalt ihr nie gespürt,
Wild bluteten die Herzenswunden,
Von Widerhaken aufgerührt.
Der Parzenfluch zerrissner Zeiten
Peitscht' unser berstendes Gefühl
Bis in die tiefsten Heimlichkeiten
Zu sinnverwirrendem Gewühl.
Die Odyssee im Bücherriemen
Und Roms Rhetoren in der Hand,
Entdeckten wir die neuen Kiemen
Schon an der glühenden Schläfenwand.
Wie frostig fieberten die Stunden,
Wie schauderte die tote Müh,
Wenn wir den zarten Geist geschunden
Mit Ochsenziemern spät und früh!
Wir fühlten in die Flut der Massen –
Die Großstadt ist kein Internat –
Und mit Erröten, mit Erblassen
Sind wir der Zwingburg scheu genaht.
[145]
In weiche Rinden dumm-verlogen
Ward eingegerbt der Spuk und Spott,
Des Lebens Wogen aber flogen
Fern dem gequälten Griechengott.
Gründeutschland hoch! Wir reihten wacker
Schon damals gründeutsch Reim an Reim,
Auf frischgebrochnem Musenacker
Sproß unsre Traumsaat, Keim an Keim.
Wir stöhnten Verse, wir umrissen
In Prosa, was das Herz zerstückt,
Wir schrieben Briefe dem Gewissen
Und suchten Seelen, gleichbedrückt.
O Schmerz, der unsrer Jugend Säulen
Mit wahrer Föhngewalt durchkracht!
Wer hört nicht das Verhängnis heulen,
Dem Moloch wehrlos dargebracht?
Die Knaben haben's nur empfunden,
Ihr Kopf war heiß, ihr Herz war schwer,
Sie siedeten aus ihren Wunden –
Jetzt sind wir keine Knaben mehr.
Jetzt ist das Wähnen Mann geworden,
Erkenntnis ward des Fühlens Braut,
Jetzt wird in ehernen Akkorden
Das kommende Jahrhundert laut:

[146]

Die neue Zeit


Es hat ein Hammer aufgeschlagen
Im menschlichen Maschinensaal,
Der Amboß klang, und fortgetragen
Wird sein Getön von Tal zu Tal.
Die Berge zittern seinem Dröhnen,
Die Meere wälzen seinen Ruf;
Er bebt ans Ohr der Erde Söhnen
Und lebt im Schönen, das er schuf.
Aus ihrem dunklen Mutterschoße
Wächst auf zur Kraft durch Not und Leid,
Mit Mut gesäugt, die schöne, große,
Freiblickende, die neue Zeit.
Der Dampf umbraust des Kindes Wiege,
Zur Hochzeit blühn ihr sternenklar
Zum seltnen Lohn vollkommner Siege
Leuchtblumenketten durch das Haar.
Glückauf, du junge Zeit der Milde,
Der Unschuld, die nur Wahrheit kennt,
Die nach dem kühnen Geistesbilde
Sich höher zu gestalten brennt!
Wir richten unser Haupt zum Gruße
Entgegen deiner edlen Zier,
Wir streuen Blüten deinem Fuße
Und huldigen und psalmieren dir.
[147]
Gründeutschland Heil! Dir will ich widmen
Zum Angebind dies Segenslied,
Das mir mit hell und hellern Rhythmen
Vorleuchtend durch die Seele zieht.
O laß vom Wohlklang dich ergreifen!
So klingt der Wahrheit Kehle nur.
O laß von ihres Schleiers Streifen
Zitternd umschweifen die Natur!
Scharf schneide von dem Ton der Dinge
Die Bildwelt, die du selbst erfüllst,
Aus Leidenschaft den Meißel schwinge,
Mit dem du meißelst, was du willst!
Du bleibst nicht an der Fläche haften,
Denn dich durchzuckt vom Kopf zur Zeh
Die lauterste der Leidenschaften,
Der Lebensatem der Idee.
Wenn dich des Jammers Faust geschüttelt,
Der Herzen mörderische Qual,
Wenn dich das Elend wachgerüttelt
Im großen Menschheitshospital;
Wenn all dein Mitleid, all dein Schrecken
Dich rührte mit dem grünen Reis
Aus unsrer Zukunft Sonnenhecken,
Schwebt dir aufs Haupt die Krone leis.
Gründeutschland Heil! In deinem Spiegel
Gewahre tief sich aller Schuld!
[148]
In der Gedanken Schöpfertiegel
Koch deine Säfte voll Geduld!
Die Kräfte brausen in dem Kessel,
Zart sprießt der Schönheit Diamant,
Aus seiner Schlacken Fluß und Fessel
Löst ihn des Genius Zauberhand.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Henckell, Karl. Gründeutschland. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-4E41-B